ZEITGESPRACH Lobbyismus und Politik Der Parteispendenskandal schärft das Bewußtsein der Öffentlichkeit für den Einfluß von Interessengruppen auf die Politik. Welche Rolle spielt der Lobbyismus in der Demokratie? Besteht hier ein Bedarf an zusätzlichen Regelungen? Hans Herbert von Arnim* Staat und Verbände D ie Beurteilung von Interessenteneinflüssen auf die Politik und sogar von Geldzahlungen an Abgeordnete ist in Deutschland merkwürdig unsicher. Eine Mischung aus Eigeninteresse der Politiker, Ideologie und mißverstandener pluralistischer Pseudotheorie hat es geschafft, den Eindruck zu erwecken, als seien finanzielle Einflußnahmen von Lobbyisten der pluralistischen Demokratie wesenseigen und jedenfalls harmlos. An sich ist nichts dagegen einzuwenden, daß sich Verbände konstituieren, um gleichgerichtete Interessen ihrer Mitglieder in den wirtschaftlichen und politischen Prozeß einzubringen. Interessenverbände sind nicht selten das einzige Medium, mittels dessen der Bürger in der Massendemokratie seinen Interessen überhaupt Gehör verschaffen kann. Was unorganisiert ist, bleibt meist unberücksichtigt. •' Die Existenz und die Aktivitäten von Interessenverbänden als Ausfluß grundrechtlicher Freiheiten grundsätzlich zu akzeptieren bedeutet aber noch lange nicht, daß die Unabhängigkeit von Politikern * Der Verfasser hat sich mit Fragen des Lobbyismus wiederholt befaßt, besonders eingehend in Hans Herbert von A r n i m : Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, Frankfurt am Main 1977, und vor kurzem in d e r s . : Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung - am Volk vorbei, Verlag Droemer, München 2000. WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IM nicht schützenswert sei, und schon gar nicht, daß auch finanziell-materielle Einflußnahmen auf Abgeordnete zu akzeptieren wären. Die Gegenmeinung von der angeblichen Harmlosigkeit solcher Aktivitäten beruft sich auf die These, jedes Interesse könne sich entsprechend seiner Bedeutung verbandlich organisieren und werde sich sozusagen von selbst die erforderliche Geltung verschaffen. Drohe ein wichtiges Anliegen zu kurz zu kommen, bilde sich eine entsprechende Gegenmacht („countervailing power"), die die Dinge wieder ins^ Lot bringe. Auf diese Weise werde eine angemessene Berücksichtigung aller Interessen gewährleistet. Nicht mehr haltbare Harmonielehre Diese in den Schul- und Lehrbüchern noch verbreitete pluralistische Harmonielehre, die auf anglo-amerikanischen Pluralismustheoretikern beruht, unterstellt also, im pluralistischen Kräftespiel werde das Gerechte, das materiell Richtige, schon von selbst herauskommen. In unserer Demokratie orientiere sich die Politik damit quasi automatisch am Wohl des Volkes. In dieser Sicht ist die Einflußnahme von Interessenten, ja selbst die finanzielle Einflußnahme, nicht nur unbedenklich, sondern erscheint geradezu als Voraussetzung für eine ausbalancierte ge- meinwohlorientierte Politik. Nach dieser Vorstellung könnten die Abgeordneten in letzter Konsequenz eigentlich sogar alle Interessen Vertreter sein, ohne daß dies gemeinwohlschädlich wäre, eben weil man glaubt, darauf vertrauen zu können, die Interessen pendelten sich im freien Spiel der politischen Kräfte aus, so daß im Parallelogramm der Kräfte ein angemessener Kompromiß zustande komme. Doch ist die Harmonielehre heute in Wahrheit nicht mehr haltbar. Aus verbandssoziologischen, politikökonomischen und verfassungstheoretischen Analysen wissen wir: Je allgemeiner Interessen sind, je mehr Menschen sie teilen, desto schwieriger ist ihre verbandliche Organisation und desto geringer sind meist ihre Durchsetzungschancen im Gesetzgebungsverfahren (und auch sonst in der Politik). Diese Auffassung ist allerdings nicht ganz neu. So hatte schon der Staatsrechtslehrer Ernst Forsthoff darauf hingewiesen, in der Wirklichkeit unserer politischen Willensbildung fänden gerade die allgemeinsten Interessen „keinen gesellschaftlichen Patron"; sie seien so allgemein, daß sie „die Grenzen gesellschaftlicher Patronage" überstiegen. Der Staatsrechtslehrer Joseph Kaiser hatte als Hauptbeispiele dafür die Interessen der Steuerzahler und Verbraucher angeführt: Steuerzahler (zumindest von indirekten 139 ZEITGESPRACH Steuern) und Verbraucher sind wir ja alle. Die Frage, welches die eigentlichen tieferen Ursachen für die mangelnde verbandliche Organisationsfähigkeit allgemeiner Interessen sind, blieb allerdings lange offen. Pluralismusdefizite Hier setzt nun der politische Ökonom Mancur Olson an; in seinem Buch Logik des kollektiven Handelns (1967) hat er schlüssig nachgewiesen, warum sich zwar enge Partikularinteressen, nicht aber allgemeine, weite Bevölkerungskreise umfassende Interessen in ausreichender Stärke verbandlich organisieren lassen. Olson legt dar, daß große Gruppen selbst bei vollständiger Übereinstimmung nicht im Gruppeninteresse handeln, „denn wie vorteilhaft die Erfüllung von Funktionen auch sein mag, die man von großen freiwilligen Vereinigungen erwartet, es besteht für ein einzelnes Mitglied einer latenten Gruppe dennoch kein Anreiz, einer solchen Gruppe beizutreten". Olsons Thesen verbinden sich mit der Analyse von Anthony Downs, der - auf Vorarbeiten Joseph Schumpeters aufbauend - schon 1957 in seinem Buch Ökonomische Theorie der Demokratie dargelegt hatte, daß die Verfolgung allgemeiner Interessen auch für Parteien oft nicht lohnend erscheint. In der Wirklichkeit der Gesetzgebung fehlt es am Gleichgewicht der organisierten Kräfte. Bestimmte machtvoll organisierbare Interessen kommen regelmäßig eher zum Zuge, und allgemeine Interessen kommen häufig genug zu kurz. Die von der Macht der organisierten Interessen bestimmte pluralistische Wirklichkeit weist deshalb eine Schlagseite zu Lasten nichtorganisierbarer, insbesondere allgemeiner Interessen auf. Schaut man genauer hin, so ergibt sich allerdings ein differenzierteres Bild: Sonderinteressen las- 140 sen sich in der Regel schlagkräftiger organisieren als allgemeine Interessen, Gegenwartsinteressen sind politisch virulenter als Zukunftsinteressen, wirtschaftliche sind stärker als ideelle, Einkommenserwerbsinteressen werden nachdrücklicher vertreten als Ausgabeninteressen. Da aber auch die wichtigsten Ausgabeninteressen solche der Allgemeinheit (der Konsumenten und der Steuerzahler) sind und man auch Zukunftsinteressen in einem weiteren Sinn als allgemeine Interessen ansehen kann, bleibt die Feststellung von der Schwäche der Allgemeininteressen typischerweise richtig. Das Gewicht dieser Feststellung kann man schwerlich übertreiben. Wenn Interessen desto weniger politische Berücksichtigung finden, je größer der Kreis der Betroffenen ist, läuft das praktisch auf einen „Mechanismus umgekehrter Demokratie" hinaus. Die Autoren unseres Zeitgesprächs: Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, 60, lehrt Öffentliches Recht und Verfassungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Prof. Dr. Ulrich von Alemann, 55, ist Inhaber des Lehrstuhls II für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Prof. Dr. Erwin K. Scheuch, 71, ist Professor em. für Soziologie an der Universität zu Köln. Prof. Dr. Siegfried F. Franke, 57, lehrt Wirtschaftspolitik und Öffentliches Recht an der Universität Stuttgart und ist Dekan der Fakultät für Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Daß diese Pluralismusdefizite in jüngster Zeit immer stärker in Erscheinung treten, ist kein Zufall. Solange das Sozialprodukt stark wuchs und deshalb der Zugriff der Partikularinteressen immer noch genug für die Erfüllung allgemeiner Interessen übrigließ und solange der Wettbewerb der politischen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Systeme die Partikularismen zur Zurückhaltung mahnte, ließen sich die Mängel des Systems noch leichter überspielen. Doch die früheren Bedingungen sind seit einiger Zeit entfallen. Das wirtschaftliche Wachstum stagniert, der äußere Druck hat sich gelöst, und zudem haben die Herausforderungen, denen sich das Gemeinwesen gegenübersieht, ungeheuer zugenommen. Erweist sich nun aber die pluralistische Harmonie- und Gleichgewichtslehre als unrealistischer Mythos, kommt es offenbar darauf an, die Gegengewichte gegen Pluralismusdefizite zu aktivieren und zu stärken. Daß die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik in Wahrheit selbst gar nicht von einem demokratischen Automatismus ausgeht, bestätigt die Existenz zweier Institutionen, die den politischen Prozeß ergänzen. Sie machen deutlich, wie begrenzt in Wirklichkeit unser Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der sich selbst überlassenen Parteien und Verbände ist. Die eine Institution ist die Rechtsprechung, besonders die des Bundesverfassungsgerichts. Die Rechtsprechung ist immer mehr an die Stelle der Politik getreten und hat teilweise die Rolle eines Ober- und Ersatzgesetzgebers angenommen. Die Ersetzung der Politik durch Richterrecht und die politische Korrekturrolle der Justiz kommen immer unverhüllter zum Vorschein. Erinnert sei nur an die Urteile des BundesverfassungsgeWIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN ZEITGESPRACH richts zur Schwangerschaftsunterbrechung, zum Maastricht-Vertrag, zum internationalen Einsatz der Bundeswehr und zur Familienbesteuerung. Diese Rechtsprechung wird nach demoskopischen Umfragen - trotz gewisser zwischenzeitlicher Irritationen - von zunehmenden Vertrauenswerten für das Gericht und abnehmenden Vertrauenswerten für das unter dem Druck der Verbände stehende Parlament begleitet; sie entspringt weniger einem usurpatorischen Anspruch der Karlsruher Richter, sondern ist für jeden, der ein Gespür für Gewichtsverlagerungen zwischen den Verfassungsorganen hat, ein unübersehbarer Indikator für zunehmendes Versagen der Politik. Die zweite Institution war lange die Deutsche Bundesbank in Frankfurt. Sie ist in Sachen Geldpolitik weisungsfrei und von Regierung und Parlament unabhängig. Der Hauptgrund ist: Man will die Bundesbank vom Spiel der politischen Parteien und der Interessenverbände separieren, da man diesen die Sicherung des Geldwerts vor Inflation - in Anbetracht der Versuchung zu kurzfristiger und partikularer Politik - nicht zutraut. Wo könnte das - strukturell bedingte - Versagen der Politik deutlicher zum Ausdruck kommen als in dieser Konstruktion? Auch auf Europaebene mißtraut man der Leistungsfähigkeit des von den Parteien und Verbänden dominierten pluralistischen Prozesses: Zur Sicherung der Stabilität der neuen europäischen Währung setzt man wiederum auf eine unabhängige Zentralbank - diesmal eine europäische. Direktwahlen und Volksentscheide Um Mißverständnisse zu vermeiden: Der Verfasser möchte das Augenmerk auf die zentrale Frage WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN der Leistungsfähigkeit des pluralistischen Systems lenken, eine Frage, von der sehr viel mehr abhängt, als ihre öffentliche und leider zum Teil auch wissenschaftliche Nichtbehandlung glauben macht. Der Verfasser plädiert jedoch nicht für die Ausweitung unabhängiger Instanzen. Diese sind ihrerseits nicht unproblematisch, etwa weil die politische Klasse, insbesondere bei der Besetzung der Positionen, zu starken Einfluß nimmt und wirkliche Unabhängigkeit der Institutionen und ihrer Mitglieder nur schwer erreichbar erscheint, wie die Erfahrungen etwa mit einigen Rechungshöfen und Verfassungsgerichten bestätigen. Zugleich entbehren solche Institutionen der (direkten) demokratischen Legitimation. In dieser Situation stellt sich deshalb die Frage, ob nicht die Wahl der Mitglieder oder des Leiters solcher Institutionen direkt durch das Volk der bessere Weg wäre, wie dies Bruno S. Frey zum Beispiel für die Präsidenten der Rechnungshöfe vorgeschlagen hat. Die Direktwahl vermag Legitimation und zugleich Handlungsfähigkeit zu schaffen, auch durch eine gewisse Distanz zu Parteien und Interessenverbände. Dies illustriert in Deutschland besonders das Beispiel des direkt gewählten Bürgermeisters. Es geht darum, die vielfach verlorengegangene Verantwortlichkeit der Politik gegenüber der Allgemeinheit der Wähler zu stärken und zu diesem Zweck die abgeschotteten und verkungelten Nominierungs- und Wahlverfahren zu öffnen. Zudem sollte den Bürgern die Möglichkeit gegeben werden, wichtige Sachentscheidungen durch Volksbegehren und Volksentscheid selbst in die Hand zu nehmen. Wichtig ist natürlich auch, die Interessentenabhängigkeit der Abgeordneten, insbesondere die durch materielle Zuwen- dungen hervorgerufene, möglichst zu verringern. Das Grundgesetz und die Länderverfassungen mit ihren die Unabhängigkeit der Abgeordneten postulierenden Bestimmungen (siehe für den Bund Art. 38 I 2, 48 III 1 GG) sind deshalb nicht Ausdruck eines überholten „frühkonstitutionellen" oder „frühpluralistischen" Verfassungsund Parlamentsverständnisses, wie Parlaments- und politikernahe Autoren gelegentlich formulieren, sondern stehen auf der Höhe der aktuellen verfassungstheoretischen Entwicklung. Das Postulat der Unabhängigkeit des Abgeordneten muß bestehen bleiben und sollte durch gesetzliche Vorkehrungen gestützt werden. Nur leider ist der von den Abgeordneten selbst gemachte Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung (§ 108e Strafgesetzbuch) so eng gefaßt, daß er praktisch nie zur Anwendung kommen wird. Wirkungslos ist auch das Verbot von Interessentenzahlungen an Abgeordnete geblieben, das das Bundesverfassungsgericht aus den genannten Verfassungsbestimmungen entnommen, das der Bundestag aber nie vollzogen hat. Verlust an Maßstäben Es bleibt ein Skandal, wenn Abgeordnete neben ihrem Mandat noch als Hauptgeschäftsführer eines Lobbyverbandes agieren und dafür üppig bezahlt werden. Der Abgeordnete erhält die Diäten zur Sicherung seiner Unabhängigkeit. Dann darf er sich nicht gleichzeitig als vollbezahlter Funktionär in die Abhängigkeit eines Interessen Verbandes begeben. Was an solchen Fällen erschüttert, ist weniger der Mißbrauch des Amts durch einzelne Abgeordnete - das hat es schon immer gegeben - als vielmehr die Tolerierung und Ermutigung solcher Vorgänge durch die politische Klasse und der darin 141 ZEITGESPRACH zum Ausdruck kommende Verlust der Maßstäbe. Nach den jüngsten Erfahrungen sollte auch die unbeschränkte Zulässigkeit von Spenden an politische Parteien überdacht werden. Ich plädiere dafür, Spenden von juristischen Personen sowie Großspenden von natürlichen Personen, die einen Betrag von 20000 DM überschreiten, überhaupt zu verbieten. Als die staatliche Parteienfinanzierung 1958 in der Bundesrepublik eingeführt wurde, war es politische „Geschäftsgrundlage", daß im Gegenzug Großspenden verboten werden sollten. Mit ihnen erkauft der Geldgeber nicht selten willfähriges Verhalten der Politik, auch wenn man dies im Einzelfall nicht beweisen kann. So hat 1998 ein Hamburger Ehepaar beim Verkauf von über 30000 Eisenbahnerwohnungen des Bundes den Zuschlag für 7,5 Milliarden DM bekommen, obwohl es ein Konkurrenzangebot gab, das eine Milliarde höher lag. In zeitlichem Zusammenhang damit hat das Ehepaar an die damalige Regierungspartei CDU mehrere Millionen gespendet. Ausschlaggebend ist nicht einmal, ob das Geld wirklich die politische Entscheidung beeinflußt hat. Es genügt schon der böse Schein, der solche Großspenden leicht in den Dunst der Korruption rückt, weshalb es mir geboten erschiene, sie überhaupt zu verbieten. Derartige Zahlungen und ihre rechtliche Zulassung sind geeignet, das Vertrauen der Menschen in die Demokratie zu erschüttern. Es ist eine jahrhundertealte Erkenntnis, daß in der Demokratie, soll sie nicht zur Plutokratie entarten, wirtschaftliches Kapital nicht unbegrenzt in politische Macht transformiert werden darf. Es wäre wirklich überraschend, wenn diese Erkenntnis für deutsche Abgeordnete und Parteien plötzlich nicht mehr gültig sein sollte. Ulrich von Älemann Lobbyismus heute - Neue Herausforderungen durch Globalisierung, Europäisierung und Berlinisierung I n Deutschland hat Lobbyismus keinen guten Klang. Der Begriff weckt immer noch pejorative Assoziationen - wie manipulierte Machenschaften von Interessenvertretern, illegitime Einflußnahme in Hinterzimmern, wenn nicht gar Anklänge an Patronage und Korruption. Im Mutterland des Lobbyismus, im amerikanischen Kongreß, d.h. insbesondere in Washington D.C., bzw. „inside the beltway", ist das längst anders geworden. Das Begriffsbild hat sich neutralisiert, negative Wertungen sind in den Hintergrund getreten, positive Konnotationen beginnen zu dominieren. Deshalb propagieren dort nicht nur wirtschaftliche Interessengruppen, sondern auch gesellschaftlich-politische Bürgerbewegungen, wie z.B. „Common Cause" ganz unbefangen „we lobby for democracy" (oder peace, the poor, the people, the minorities etc.). Politischen Einfluß nehmen, Druck machen, für die eigenen Klientel 142 etwas herausholen, das bedeutet to lobby in den USA heute. Der Interessenrepräsentant, der in der Lobby des Capitöl Hill auf Senatoren und Abgeordneten des Repräsentantenhauses wartet, die er umgarnen kann, das ist weitgehend Vergangenheit. Natürlich ist damit die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Interessenvertretung und -Wahrnehmung nicht untergegangen. Ganz im Gegenteil: Sie hat sich professionalisiert. Zwar sind noch die großen klassischen Interessenorganisationen präsent, wie die Gewerkschaften AFL/CIO oder die National Association of Manufacturers und die National Chamber of Commerce oder auch die berühmt-berüchtigte National Rifle Association sowie neuerdings unzählige Umwelt- uiid Minoritätenorganisationen. Aber zwei andere Formen der Vertretung wirtschaftlicher Interessen sind in den USA typischer geworden: Die Selbst- repräsentanz der Großunternehmen einerseits und die advokatorische Fremdvertretung durch professionelle (Anwalts-) Kanzleien und Agenturen für kleinere Unternehmen und Interessen andererseits. Insgesamt ist der US-amerikanische Lobbyismus extrem zersplittert, zumal da jeder der hundert Senatoren und der 435 Haus-Abgeordneten als Chef-Lobbyist seiner eigenen „constituency" fungiert, was sowohl Wahlkreis als auch Wählerklientel bedeutet und immer die wirtschaftlichen Interessen der örtlichen Industrie und Arbeitsplätze mit einschließt. Und dies wird als absolut legitim geachtet. Traditionelle deutsche Staatszentriertheit Werden wir auch in dieser Hinsicht, wie das in Wahlkämpfen oft beschworen wird, amerikanisiert? Auch hier ist, so werde ich zeigen, wie im übrigen bei den Wahlkampagnen genauso, höchstens WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN ZEITGESPRÄCH die Hälfte der herbeispekulierten Trends zutreffend. Warum hat denn in Europa und insbesondere in Deutschland der Begriff Lobbyismus noch einen so deutlich abwertenden Beigeschmack? Hat doch die Erforschung von Lobbyismus und Interessenverbänden immer wieder die Legitimität von pluralistischer Wahrnehmung und Durchsetzung von Interessen betont. Die Erklärung ist wohl, daß hier noch viel traditionelle deutsche Staatszentriertheit mitschwingt, eine Staatsverliebtheit, die allein schon Gemeinwohlgarant sei. Einzelinteressen, ob als Parteien oder als Verbände, haben sich dem unterzuordnen. Vor Jahren schon sagte der Klassiker der Pluralismusforschung, Ernst Fraenkel, an die Stelle der alten deutschen Parteienprüderie sei die Verbandsprüderie getreten. Direkte Demokratie keine Alternative In den letzten Jahren behaupten allerdings viele, auch mit den Parteien sei kein Staat mehr zu machen. Eine pauschale Parteienverachtung ist in einer Demokratie aber genauso gefährlich wie eine Verachtung von organisierten Interessen generell. Direkte Demokratie kann in großen Flächenstaaten keine Alternative, höchstens eine partielle Ergänzung sein. Ohne die Bündelung politischer Willensbildung in großen Parteien, die freilich reformbedürftig sind, entstehen Populismus und akklamatorische Politik - wie man beispielsweise an der Demokratieentwicklung in den GUS- und MOEStaaten ablesen kann. Ohne Bündelung sozio-ökonomischer Interessenvermittlung in großen Verbänden, die Effizienz, Transparenz und Partizipation in Organisation und Aktion verknüpfen müssen, entstehen eine Zersplitterung der InteressendurchWIRTSCHAFTSDIENST 2000/111 setzung und die Gefahr des überproportionalen Abwanderns in Informalität und schließlich Illegalität. In der Schweiz führen die schwache Parteienkonkurrenz und die starke direkte Demokratie wie bei einem System kommunizierender Röhren zu überproportionaler Macht und Einfluß von Verbänden, gerade in Referendumssituationen. Ob Verbände ihre Macht demokratischer wahrnehmen als Parteien, darf bezweifelt werden. Mit dem Rückgang der Bedeutung der Legislative gegenüber der Exekutive ist auch das Parlament, d.h. in unserem Fall der Deutsche Bundestag, in seiner Bedeutung als Hauptanlaufstelle für Lobbyismus zurückgetreten. Dies ist ein seit Jahrzehnten konstatierter Prozeß, wird doch der Großteil von Gesetzen, Verordnungen, Fördermaßnahmen und auch staatlichen Investitionsentscheidungen von der Regierung vorbereitet und getätigt. Neben Bundesregierung und Bundestag zielen die Aktionen der Interessengruppen aber auch auf die Parteien,^ konkurrieren sie mit Wettbewerbern in der Interessenvertretung gegenüber anderen Verbänden und versuchen insbesondere, Einfluß auf die Öffentlichkeit zu gewinnen - mit eigenen Aktionen, Kommunikationen und Public Relations . Parteienfinanzierungsgebote einhalten Der bekannte Politologe Klaus von Beyme hatte in seinem Lehr1 buch die „Methoden der Interessengruppen" noch unterschieden in: „Korruption und Bestechung; Überzeugung, freundschaftliche Kontakte; Drohung, Nötigung, Gewalt; gewaltloser Widerstand; alternative Strategien". Diese etwas martialische Typologie dürfte wohl keine Prioritätenliste des Verbändeeinflusses heute verkörpern Schwarzgeld aus der CDU-Parteienfinanzierung hin oder her. Sicher liegen hier Probleme auf der Hand - oder auch nicht, da sie natürlich hinter dem Rücken verborgen werden. Aber illegale Parteienfinanzierung und politische Korruption gehören sicherlich nicht zu den zentralen Problemen oder den repräsentativen Spitzenthemen des Lobbyismus in Deutschland. Bei der Finanzierung von US-Wahl kämpfen durch Political Action Committees (PACs) steckt man dort in einem deutlich tieferen Schlamassel. Den Maßstab gerade zu rücken, soll allerdings nicht heißen, die deutschen Probleme kleinzureden. Die Parteienfinanzierung gilt es zunächst so zu fassen, daß längst bestehende Transparenzgebote eingehalten und respektiert werden. Ob generell Parteispenden juristischer Personen - neben Unternehmen sind in den jährlichen Rechenschaftsberichten regelmäßig zahlreiche Wirtschaftsverbände als Großspender insbesondere an die bürgerlichen Parteien vertreten, im Gegensatz zu den hier ganz abstinenten Gewerkschaften - eingeschränkt oder abgeschafft werden sollen, das ist Gegenstand der öffentlichen Debatte und bleibt noch zu prüfen. An den Grundlagen des Lobbyismus in Deutschland wird aber durch die CDU-Spendenaffäre nur ein bißchen gerüttelt. Die Fundamente sind davon nicht tangiert. Dies erscheint mir eher der Fall bei drei großen „Megatrends" der Interessenpolitik, die ich so bezeichnen möchte: Globalisierung, Europäisierung und Berlinisierung. Neue Lobbyismusstrukturen Die Globalisierung - viel beschworen, wenig konkretisiert verlagert Unternehmensstrukturen, Kapitalflüsse, Investitionsstrategien, aber auch ökonomische Leitbilder und Identitäten von Massen-' kulturen weg von nationalstaatlichen Bindungen hin zu transna143 ZEITGESPRÄCH tionalen Räumen und virtualisier.ten Netzen. Das betrifft Strategien und Strukturen von Lobbyismus im Kern: Wer ist der übernationale Ansprechpartner von Daimler-Chrysler, Vodaphone-Mannesmann oder Aventis? Weltbank, IWF oder WTO? Vielleicht demnächst einmal die UNO? In der Tat hält die jüngere Forschung zur internationalen Politik Begriffe und Theorien bereit, um solche Entwicklungen zu identifizieren und zu erklären. Die Lehre von den „internationalen Regimen" thematisiert Politikfelder (z.B. Handelspolitik oder Umweltschutz), in. denen sich Regelsysteme und Entscheidungsstrukturen auf der Basis freiwilliger Ver1 einbarungen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren herausbilden. Gerade die nichtstaatlichen Akteure - Großunternehmen, Verbände und „NGOs" (non governmental organizations) - erhalten hier einen viel größeren Aktionsspielraum, so daß schon von einem „Regieren ohne Regierung" (Czempiel) gesprochen wird. Auf den von der UNO gesponserten Großkonferenzen in Rio, Kopenhagen oder Peking waren die NGOs schon zahlreicher vertreten als die Regierungen. Handlungsbedarf, den Wildwuchs der Regelungsdichte bzw. die „regulierte Anarchie" (Rittberger/Zürn) hier nicht überhandnehmen zu lassen, existiert sicherlich, ist aber ein Sisyphus-Projekt. Immerhin hat die OECD Initiativen gegen Korruption in Wirtschaft und Politik ergriffen, und eine internationale, von einem Deutschen geführte NGO, „transparency international", unterstützt sie dabei. Europäisierung des Lobbyismus Die Europäisierung - der zweite Megatrend für den Lobbyismus kann man als Unterfall der Regimelehre betrachten, und zwar als Region, in der die Regelungs- 144 dichte am stärksten angewachsen ist, insbesondere in den Politikfeldern Agrar- und Außenhandelspolitik. Aber die • Regelungsdichte wächst von Verordnung zu Verordnung in allen übrigen Politikbereichen täglich weiter und darauf stellt sich der europäische Lobbyismus ein. In der EU kann man wohl kaum von „regulierter Anarchie", eher von „regulierender Bürokratie" sprechen. Das Netzwerk an Interessenorganisationen in Brüssel ist dichtmaschig, es wurden Anfang der 90er Jahr über 3000 vermutet, darunter sind über 500 internationale und europäische (Dach-) Verbände, 200 Einzelunternehmen und 100 Beratungsfirmen, die nach US-Muster professionelles Lobbying anbieten. In einem European Public Affairs Dictionary von 1995 werden sogar über 6500 Interessenvertretungen geschätzt. Unter den Dachverbänden ragen heraus die Industrie- und Arbeitgeberverbände UNICE, die Bauernverbände COPA, für den Handel EUROCOMMERCE und für die Gewerkschaften der EGB. Der „Wirtschafts- und Sozialausschuß" der EU, als institutionalisierte Begegnungsstätte der Lobby mit der Politik konzipiert, schleicht freilich als ziemlich zahnloser Tiger durch die Brüsseler Arena. Der Brüsseler Lobbyist versteht sich nicht als Proponent von Pressure groups, sondern als Informationsdienstleister. Der Informationsvorsprung der Verbands-Experten vor der Brüsseler Bürokratie ist zum Teil beträchtlich und beschert so manchen Interessenvertretern übermäßig viel Einfluß. . Für die Beamten der Kommission existiert zwar ein Verhaltenskodex zum Umgang mit Lobbyisten, nicht aber eine Regulierung, Registrierung oder ein code of conduct für die Interessengruppen. Darüber wird diskutiert zwir sehen Kommission, Europäischem Parlament und den Interessenorganisationen. Das ist dringend geboten, denn nirgends ist der Lobbyismus so stark in Regulationen und Entscheidungsstrukturen einbezogen wie in Brüssel. Auch hier macht sich ein Defizit kritischer europäischer Öffentlichkeit und wohlorganisierter europäischer Parteien bemerkbar. In das Vakuum stoßen Bürokratie und Lobbyismus. Bewegung im deutschen Verbändewesen Die Berlinisierung - ein zugegeben nicht sehr klangvoller Begriff soll schließlich den Wandel des deutschen Lobbyismus nach der deutschen Einheit auf dem Weg in die Berliner Republik bezeichnen. Es handelt sich um mehr als um einen Umzug mit dem Möbelwagen wie bei den Behörden. Die Verbände müssen über die Art ihrer Repräsentanz bei Bundesregierung und Bundestag neu entscheiden. Geht man gleich mit dem Schwerpunkt nach Brüssel? Schließt man sich mit anderen zusammen? Es ist sowieso einiges im Fluß im deutschen Verbändewesen. Welche Kompetenzen bleiben dem DGB als Dachverband angesichts der Konzentration in wenige mächtige Einzelgewerkschaften? Er wird sich aus der Fläche mit seinen Kreisorganisationen zurückziehen. Werden ihm dann noch genug Kompetenzen auf Landesund Bundesebene bleiben? Wie tarieren sich die Gewichte zwischen BDI und BDA aus? Welche Rückwirkungen hat die Tarifvertrags- und Verbandsflucht vieler Unternehmen auf die Schlagkraft der Unternehmerlobby? Wird das „Bündnis für Arbeit" langfristig erfolgreich und in zentrale Funktionen der Interessenorganisationen eingreifen, diese gar transformieren und substituieren? Dieses letztere erscheint mir allerdings, auch WIRTSCHAFTSDIEN.ST 2000/III ZEITGESPRÄCH auf der Folie der Erfahrungen mit der seinerzeitigen Konzertierten Aktion, eher unwahrscheinlich. Die Regulierung des deutschen Lobbyismus ist in den Geschäftsordnungen von Bundesregierung und Bundestag normiert, wo Anhörungsrechte und -prozeduren beschrieben werden. Die sogenannte „Lobbyliste" beim Deutschen Bundestag nimmt eine Akkreditierung der Interessengruppen vor, die an offiziellen Hearings und sonstigen amtlichen Kommunikationsformen teilnehmen wollen. Viel mehr an Regulierung existiert nicht, das ist allerdings schon mehr als in vielen anderen Staaten. Ein Verbändegesetz, das die FDP in den siebziger Jahren vorgeschlagen hatte, um gemeinwohlwidriges Verhalten negativ und innerverbandliche Demokratie positiv zu sanktionieren, ist am einhelligen Widerstahd der großen Parteien, aller großen Verbände und der öffentlichen. Meinung desaströs gescheitert. Seither ist es still darum geworden. Auch um eine „Unregierbarkeit" des Staates angesichts der Anspruchsinflation der organisierten Interessen, die ebenfalls in den siebziger Jahren in konservativen Wissenschaftszirkeln ventiliert wurde, ist es still geworden. Es war nur heiße Luft. Der Staat regiert kräftig weiter. Er hat sich auch nicht darum geschert, daß Systemtheoretiker dem Staat völlige Unfähigkeit bescheinigt haben, überhaupt Steuerungsleistungen erbringen zu können. Kein grundsätzlicher Regulierungsbedarf Der Lobbyismus regiert ein bißchen mit. Und das ist gar nicht übel. Einen grundsätzlichen.Regulierungsbedarf sehe ich deshalb auch auf nationaler Ebene kaum. Die Gebote der Transparenz müssen immer wieder eingefordert werden. Hier haben die Medien ihre Hauptaufgabe. Die Effizienz des Lobbyismus und seiner Organisationsformen gilt es immer neu zu überprüfen. Gerade Verbände verkrusten leichter als Unternehmen. Insgesamt muß die Partizipation im Pluralismus breit gestreut bleiben. Dann droht weder der „Verbändestaat", noch die „Unregierbarkeit". Eine „Amerikanisierung" des Lobbyismus ist auch in der Berliner Republik (noch) nicht zu beobachten. Wohl aber auf dem Brüsseler Parkett, wo Einzelunternehmen und Lobby-Agenturen immer stärker vertreten sind. Wenn mehr Regulierung des Lobbyismus notwendig ist, dann dort. Erwin K. Scheuch Lobbyismus und Verbandswesen in unserem politischen System L obby" als Wort und als Vorgang sind Übernahmen aus dem amerikanischen System der Politik. Im Englischen wird mit Lobby die Vorhalle bzw. der Wandelgang eines Parlamentsgebäudes bezeichnet. Im übertragenen Sinn wurden damit die Vertreter von Gruppeninteressen gemeint, die außerhalb der Sitzungssäle, in eben diesen Nebenräumen, Einfluß auf Abgeordnete zu nehmen versuchen. Werden die Sitzungsräume der Mandatsträger als die einzig legitimen Orte der politischen Willensbildung verstanden, dann ist „Lobby" eine tadelnde Bezeichnung. Wird dann „Lobbying" noch eingeengter verstanden als einseitiges Durchsetzen wirtschaftlicher Interessen, dann bezeichnet dies eine Hauptform der WIRTSCHAFTSDIENST 2000/111 Kritik an unserem Parlamentarismus. Im Englischen wird parallel hierzu noch die Bezeichnung „pressure group" benutzt für Gruppierungen, die ihre Interessen durch Druck auf Widerspenstige durchsetzen. Hierfür hat sich im Deutschen die etwas neutralere Bezeichnung „Interessenvertretung" durchgesetzt und für den Personenkreis, der qua Amt oder Beruf diesen Einfluß auszuüben versucht, der Name „InteressenVertreter". Interessen Vertreter und Interessengruppen sind in allen modernen politischen Systemen ein Bestandteil der Willensbildung. Nach Form und Inhalt der Einflußnahmen sind sie eng rückverbunden mit dem Verbandswesen einer Ge- sellschaft. Deutschland gilt in seiner Struktur als „korporatistisch" darin ähnlich Österreich, aber weniger extrem als dies die Schweiz und ganz besonders Japan sind. Im Mittelalter waren insbesondere in den Städten die Organisationen von Berufen und von Wirtschaftsbereichen der Kern der Sozialstruktur. Bei den damals sehr schwachen gesamtgesellschaftlichen Einrichtungen nahmen sie wesentliche Staatsfunktionen wahr und ordneten die wirtschaftlichen Abläufe. |n Erinnerung an diese Realitäten, aber in romantischer Verklärung, entstand der Wunsch nach einer berufsständischen Ordnung als „drittem Weg" zwischen Marktwirtschaft und So145 ZEITGESPRACH zialismus. Die in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg eingeführte Mitbestimmung wurde von den Gewerkschaften in Anlehnung an die Ideen von Fritz Naphtali als Ersatz für die Sozialisierung der Betriebe verstanden. Sind die Bündelungen von Gleichartigkeiten (des Berufs, der wirtschaftlichen Interessen, der gesellschaftspolitischen Überzeugungen) in Verbandsform und die Respektierung der in und zwischen diesen „Bündeln" ausgehandelten Entscheidungen auch durch staatliche Instanzen bestimmend für eine Gesellschaft, so hat sich in den Sozialwissenschaften hierfür der Begriff Korporatismus durchgesetzt. Drei Konjunkturen des Themas Das Thema Entscheidung über Interessen in und durch Verbände hat in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften dreimal Konjunktur gehabt. Ein jedes Mal wechselte dabei die Perspektive. Die erste Konjunktur ist eng mit dem Namen Robert Michels verbunden, der Verbände unter dem Gesichtspunkt der innerverbandlichen Willensbildung thematisierte. Ergebnis seiner Untersuchungen in linken Parteien und in Gewerkschaften ist das „Eherne Gesetz der Oligarchie". Für alle kopfstarken Verbände soll hiernach gelten: „Wer Organisation sagt, der muß auch Oligarchie meinen." Die wichtigste neuere Untersuchung mit dieser Perspektive ist von Seymour Martin Lipset bei der internationalen Druckergewerkschaft der USA durchgeführt worden. Die zweite Konjunktur des Themas fällt bei uns in Deutschland in die Zeit des wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbaus nach 1945. Beherrscht wurde die Diskussion durch Theodor Eschenburgs „Herrschaft der Verbände?" 1956. Eschenburg war irritiert über den großen Einfluß, den insbesondere wirtschaftliche Verbände auf 146 Personal und Inhalte der Politik hatten - und zwar auf allen Ebenen. Daß Lobbyismus in Demokratien ein alltäglicher Vorgang ist, erschien damals den Deutschen noch als Scandalon. Inzwischen hat sich diese Verbändefurcht gelegt, nicht zuletzt wegen der Bedeutungsminderung großer Verbände - nicht jedoch des Verbandswesens allgemein - ab Mitte der sechziger Jahre. Hierzu trägt auch ein weniger blauäugiges Verständnis von Demokratie bei, als es in der Frühzeit der Republik vorherrschte. Die dritte Konjunktur des Themas fällt in die achtziger und neunziger Jahre und wurde diesmal angeregt durch Untersuchungen in den USA. Die zentrale Figur ist hier Phillippe C. Schmitter. Dieser brachte 1979 gemeinsam mit dem Deutschen Gerhard Lehmbruch ein Buch mit dem Titel heraus „Trends Towards Corporatist Intermediation". Bei uns ist die repräsentativste Veröffentlichung dieser dritten Konjunktur ein Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift von Wolfgang Streeck „Staat und Verbände". Aus der umfangreichen Literatur sei noch die Habilitationschrift von Martin Sebaldt 1996 „Organisierter Pluralismus" hervorgehoben. Kern der Vorstellung des Neokorporatismus ist ein gegenseitiges Durchdringen von Politik und Verbänden. Die Realität eines korporatistischen Landes Ausgerechnet in den USA wurde zuerst thematisiert, daß das Demokratiemodell, wie es durch die Bundeszentrale für politische Bildung in den Schulen zum Unterrichtsgegenstand wird, der Realität nicht gerecht werden kann. Staatliches und darüber hinaus politisches Handeln sind in hochdifferenzierten Gesellschaften nicht möglich ohne ein Bündeln von Interessen. Zugleich kann hier der Staat dieser Differenzierung nicht gerecht werden, wenn darauf nur im Stil und mit dem Wissen von Behörden reagiert wird. Im Gegensatz zur Thematisierung bei Eschenburg erscheinen in der neokorporatistischen Perspektive Interessenverbände und Interessenvertretung als notwendig für eine freiheitliche Demokratie. Damit wird zum vorrangigen Thema empirischer Untersuchungen nicht die bloße Tatsache einer Einflußnahme von Verbänden auf Staat und Parteien und auch nicht die verbandsinterne Demokratie; vorrangig ist die Art und Weise, wie solcher Einfluß geltend gemacht wird und was seine Folgen sind. In der Realität eines korporatistischen Landes, wie es die Bundesrepublik ist, sind die Beziehungen zwischen Verbänden und Staat gestaffelt intensiv. Da ist zunächst auf das zu verweisen, was in den Wirtschaftswissenschaften Parafisci genannt wird und in unserer Rechtssprache oft Kammern. Beispiele sind die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern, der TÜV oder der DINVerband. Das Deutsche Rote Kreuz, das Technische Hilfswerk und die Gewerkschaften sind im Gegensatz zu manchen Kammern Verbände mit freiwilliger Mitgliedschaft, beanspruchen Staatsfreiheit und erhalten doch vom Staat Privilegien eingeräumt. Hierzu gehören Steuerbegünstigungen, Entsenderechte in alle möglichen Aufsichts- und Entscheidungsgremien, Vorschlagsrechte für Gerichte und bei den Gewerkschaften die gesetzlich verankerte Verpflichtung der Betriebe und Behörden auf Mitbestimmung (durchweg durch Gewerkschaftsfunktionäre). Funktion der Verbände Unter Verbänden versteht man in den Sozialwissenschaften Vereinigungen mit formeller Verfassung, die vorwiegend Außenwirkung anstreben; meist beanspruchen sie gegenüber Parteien und Staat WIRTSCHAFTSDIENST 2000/NI ZEITGESPRACH Distanz. Darüber hinaus lassen sich weitere Formen von Zusammenschlüssen ausmachen, die bis hinüber zum reinen Vereinswesen für Freizeit abgestuft tätig werden. Sie sind hier nicht Thema, wiewohl auch sie für das politische System von Belang sind. Nicht einmal über die Zahl der Verbände i.e.S. liegen verläßliche Angaben vor. Thomas Ellwein ist der Autor einer Faustregel, wonach „auf jeweils tausend Einwohner mindestens drei bis vier Vereinigungen kommen". Das ergäbe über 200000 Vereinigungen, was oft zitiert, aber über DaumenSchätzungen hinaus nicht belegt wird1. Von den verschiedenen in Literatur und Forschung verwandten Funktionskatalogen empfiehlt sich der folgende von Jürgen Weber: D Artikulation wird die Aufgabe genannt, auf wirksame Weise Interessen und Kenntnisse einer Vereinigung zu verbreiten. Die Formen reichen von Gesprächen zwischen einzelnen Personen bis hin zur Public-Relations-Arbeit. Es entspricht der Entwicklung des Medienwesens für öffentliche Angelegenheiten, daß für wichtige Verbände die Grenze zwischen der Interessenartikulation als Verband und einer allgemeinen Pressearr beit fließend werden. D Aggregation. Artikulation mag die auffälligste Form der Verbandsarbeit sein, aber Aggregation dürfte für das Funktionieren unseres Gemeinwesens auch die wichtigste sein. Mitglieder in Verbänden haben oft sehr gegensätzliche Interessen und haben sehr verschiedene Kenntnisse über unterschiedliche Bereiche. Würde diese Vielfalt unvermittelt öffentlich vertreten, dann hätten Behörden und politische Institutionen keinen Ver1 Vgl. Ernst-Bernd B l ü m l e , Peter S c h w a r z (Hrsg): Wirtschaftsverbände und ihre Funktion, Darmstadt 1985. WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN handlungspartner.. Den gibt es erst, wenn ein Verband die verschiedenen Ansichten und Prioritäten zu einer Stellungnahme vereint. D Selektion als Funktion steht im engen Zusammenhang mit Aggregation und bedeutet, daß nach entsprechenden Versuchen der Bündelung von Interessen zu entscheiden ist, welche zu übergehen sind. D Integration ist für die Partner eines Verbandes eine besonders wichtige Funktion. Damit ist gemeint, daß die nach außen vertretene Position auch nach innen durchgesetzt werden kann. Bedeutung der Länderebene Am besten sind Struktur und Wirken der Verbände im Bereich der Wirtschaft untersucht. Hieraus wird deutlich, daß die Struktur der Organisation von Interessen in der Bundesrepublik recht genau den Besonderheiten der politischen Zuständigkeitsstruktur folgt. Es ist auch eine Folge der tatsächlichen Gewichtung der verschiedenen Ebenen im politischen System. Bund und Länder geben tendenziell ungefähr gleichviel an Steuergeldern aus, und der größere Teil aller im öffentlichen Dienst Beschäftigten sind Landesbedienstete. Schon fachlich muß das Gewicht der Länder bedeutsam sein, und dem paßt sich denn auch die Gliederung der Interessenvertretungen an. Auf Bundesebene steht im Vordergrund der Versuch, auf die Gesetzgebung Einfluß zu nehmen. Bei der Interessenvertretung gegenüber Ländern geht es vorrangig um die Umsetzung solcher Gesetze und Verordnungen im Verwaltungsvollzug. Beispiel hierfür ist neben der Bildungspolitik auch der neue Bereich der Umweltpolitik. Noch in den siebziger Jahren war es üblich, daß Behörden und Interessenvertretungen auf Landesebene auf zweifache Weise miteinander verschränkt waren: einmal durch personelle Vertretungen von Verbandsfunktionären in den Landtagsfraktionen und daneben durch fortwährende Kontakte zwischen Landesbehörden und Interessengruppen. Die personelle Verflechtung ist nach unseren Beobachtungen insbesondere aber nicht nur - auf Landesebene geringer geworden. Hier haben die Berufspolitiker über den gewachsenen Einfluß der Kreisebene in der innerparteilichen Willensbildung Verbandsvertreter verdrängt, wenngleich sie sich dann als Mandatsträger bei der Ausübung ihres Amtes wieder an Interessen verbände wenden. Selbstverständlich wird Einfluß nicht nur über Verbände ausgeübt, sondern auch durch Spitzenmanager unmittelbar. Einfluß direkt als Einzelpersonen und über Verbände ist allerdings in der Praxis kaum auseinanderzuhalten, weil auf der Führungsebene großer Unternehmen die Vorstandsmitglieder auch zugleich Verbandsämter innehaben. Wir hatten in unserer eigenen Erhebung im Jahre 1995 die Manager von Großunternehmen nach regelmäßigen Kontakten außerhalb ihrer eigenen Betriebe befragt. Hiernach bestätigte sich unser Eindruck, daß Länder und Bund nebeneinander entscheidende Bühnen für die Wahrnehmung von Interessen sind. Das erweist sich auch als richtig, wenn wir Ergebnisse einer Auszählung berücksichtigen, welche Akteure nun ihrerseits Einflußnahme auf Spitzenmanager versucht hatten. Dabei gibt es einen leichten Vorrang der Einflußnahme auf Bundesebene vor derjenigen auf Landesebene. Kontaktpartner der Lobbyisten Nach den Ergebnissen unserer eigenen Erhebung bei Spitzenmanagern berichteten 46% von dem Versuch einer direkten Einflußnahme auf sie durch einen der Ministerpräsidenten der Länder. Von 35% wurde für solche Versuche 147 ZEITGESPRACH Bundeskanzler. Kohl selbst, genannt. Das dürfte inzwischen in den USA nicht anders sein, auch wenn dies der Darstellung des Lobbyismus in der Literatur nicht entspricht. Nach der bereits erwähnten Habilitationsschrift von Martin Sebaldt waren die wichtigsten Kontaktpartner der Lobbyisten in dieser Reihenfolge: D Interessengruppen mit gleichen oder ähnlichen Interessen; D Bundesministerien; D Medien; D Bundestagsausschüsse; D wissenschaftliche Institutionen; D Landesministerien; D Bundestagsfraktionen der Opposition; D Bundestagsfraktionen der Regierungskoalition. Der Lobbyist wird also in einem Personen- und Institutionenkranz, in dem die Regierung, die Presse, andere Lobbyisten und die Parlamentarier eine Rolle spielen, tätig. Politische Parteizentralen sind als Partner für Interessenvertreter deutlich nachrangig, weil sie durchweg mit laufenden Gesetzgebungsverfahren weniger befaßt sind als mit längerfristigen Themen. Zudem sind im Nebeneinander von Partei und Fraktion inzwischen die Fraktionen eindeutig wichtiger. Im Lobbyalltag muß die Einflußnahme beim frühen Nachdenken der Beteiligten - Mandatsträger, hohe Beamte, andere Interessenvertreter - über einen Regelungsbedarf erfolgen. Nach amerikanischen Untersuchungen ist hier die Reputation eines Interessen Vertreters als sachlich, kompetent und einigermaßen objektiv für seinen Erfolg von entscheidender Bedeutung. Das spiegelt sich auch in den Angaben der befragten deutschen Interessen Vertreter über Verhal148 tensregeln wider. Hiernach sind die wichtigsten Eigenschaften des Lobbyisten seine Ausstrahlung von Kompetenz und Seriosität sowie sein Ruf, Diskretion und Fairneß zu wahren. Eine solche Art von Beziehung kann nur über eine längere Zeit aufgebaut werden. und erfordert auch Kontakte jenseits der Zeitpunkte, in denen ein Thema tagesaktuell wird. Sebaldt zitiert den Funktionär eines großen Handwerkerverbandes anonym: „Ich meine: Das Wichtigste ist, daß man mit glaubwürdigen Argumenten hantiert und nicht immer in den Vordergrund rückt: 'Wir haben also so und soviel Stimmen im Rücken und wenn Du nicht unseren Argumenten folgst, dann wird's Dir ganz schlimm ergehen'...". Eigene Vorleistungen bei Ministerialbeamten und Mandatsträgern haben für erfolgreiche Lobbyisten eine große Bedeutung. Das Drohen mit Wählern ist von Einfluß eigentlich nur auf die Spitzenvertreter einer Partei - Kanzler oder Oppositionsführer -, die ihr Schicksal mit dem Abschneiden der Parteien verbinden müssen; Beamten kann man mit der Mobilisierung der Straße kaum drohen. Vorrangig ist beim Lobbyismus in Deutschland die Einflußnahme auf die Willensbildung im Frühstadium des Prozesses. Hat die Willensbildung in den Behörden und den parlamentarischen Gremien das Stadium eines Beschlußentwurfes oder der Formulierung einer Richtlinie bzw. einer Beschlußvorlage für den Bundestag erreicht, dann sind Einflußnahmen wenig aussichtsreich. In einem politischen System wie dem deutschen sind für eine Vorlage so viele Verhandlungen zwischen verschiedenen Partnern und Kompromisse nötig gewesen, daß gegen das Aufschnüren eines einmal zusammengefügten „Pakets" größte Widerstände üblich sind. Deswegen setzt- erfolgreiche Lobby-Tätigkeit einen hohen Informationsstand voraus und dieser wiederum die Anwesenheit am Regierungssitz. Kontrolle der Lobbyisten In Amerika wurde ein Mechanismus zur Kontrolle des Einflusses von Lobbytätigkeit entwickelt. Lobbyisten dürfen ihre Tätigkeit, in Verwaltung und Politik Verbündete für ihre Ansichten zu gewinnen oder sie zumindest zu beeinflussen, nur dann ausüben, wenn sie als Lobbyisten in einem öffentlichen Register verzeichnet sind. Abgeordnete müssen ihrerseits eidesstattlich am Ende einer Wahlperiode anführen, mit welchen Lobbyisten sie über welche Inhalte Kontakt hatten. In der Bundesrepublik wurde am 21.9.1972 eine abgeschwächte Kopie dieses Kontrollmechanismus durch den Bundestag beschlossen: Um in die „öffentliche Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertreter" aufgenommen zu werden, müssen Verbandsvertreter u.a. die Funktionsträger, den Interessenbereich, Art und Anzahl der angeschlossenen Organisationen und Sitz des Büros angeben. Mit der Registrierung wird Lobbying in der Bundesrepublik etwas transparenter. 1996 waren in dieser Liste 1614 Personen und Organisationen verzeichnet. Im Gegensatz zu den USA besteht aber keine Berichtspflicht über Lobby-Aktivitäten, weder für die Lobbyisten selbst noch für Mandatsträger und erst recht nicht für Entscheidungsträger in den Ministerien. Mißtrauen ist gegenüber Art und Umfang der Lobbytätigkeiten angebracht, und eine wesentlich größere Transparenz, als heute gegeben, ist ebenfalls dringlich. Als Fälle problematischer Lobbytätigkeit werden u.a. genannt die ZigaretWIRTSCHAFTSDIENST 2000/III ZEITGESPRACH tenlobby, die wirksame Informationen über die Schädlichkeit von Zigaretten sehr verzögert haben soll; oder die Autolobby mit ihrem erfolgreichen Kampf gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen; oder der Kampf des Bundesverbandes der deutschen Brot- und Backwarenindustrie gegen die Aufhebung des Nachtbackverbotes. Lobbyarbeit betreiben aber auch Ministerien wie das Umweltministerium, wenn es mit der Dramatisierung eines Problems zugleich die eigene Bedeutung erhöht. Und selbstverständlich dient Lobbying auch guten Zwecken. Hier wird als Fall eine neue Antriebstechnik für Loko- motiven genannt, welche der ABBKonzern entwickelt hatte. Obgleich die neue Technik von Fachleuten bevorzugt wurde, sperrte sich die Bundesbahn. Durch Lobbytätigkeit und Pressearbeit und nicht durch Fachargumente wurde die Bundesbahnspitze umgestimmt. Die wirksamste Form der Einflußnahme auf die politischen Instanzen und die Ministerialbürokratie ist heute das Einbringen von Sachverstand und daraus folgend der Aufbau eines Kapitals an Vertrauen. Bei dem Differenzierungsgrad einer Gesellschaft wie der deutschen muß sehr oft der Kennt- nisstand selbst auf der Ebene eines Fachreferats, erst recht bei den Mitgliedern eines sachlich zuständigen Parlamentsausschusses, unzureichend bleiben. Bereits in der sehr viel älteren Studie „The Washington Lobbyist" wurde dieser Schwerpunkt in der Wirkung von Verbänden in einem hoch differenzierten Sozialsystem ausgemacht. Unter dem Verdacht, eigene Interessen zu wichtig zu nehmen, bis hin zur maßstabslosen Förderung einer „idee fixe" steht in einem pluralistischen System allerdings jeder maßgebliche Akteur. Siegfried F. Franke Politik und Wirtschaft: Eine notwendige, aber reformbedürftige Verbindung jie jüngste Spendenaffäre der 'CDU und die Flugaffäre der SPD in Nordrhein-Westfalen haben die latent stets vorhandenen Fragen nach dem politischen Einfluß der Verbände oder einzelner großer Unternehmen virulent werden lassen. In der derzeitigen hektischen Atmosphäre mischen sich naive Vorstellungen von einer »keimfreien« Politik, die unbeleckt von Interessen gestaltet wird, mit pharisäerhaften Moraiansprüchen und dem bösen Verdacht der Käuflichkeit der Politik. Bei allem Verständnis für den Wunsch nach Sachaufklärung und klaren Verhältnissen gilt es indes1 Statt vieler Anmerkungen sei auf zwei Publikationen des Verfassers (mit umfangreichen Literaturangaben) hingewiesen. Differenzierungen, die hier aus Umfangsgründen nicht näher ausgeführt werden können, sind dort erläutert: Siegfried F. F r a n k e : Sind die Volksparteien am Ende? Zur Kritik an den Volksparteien: Bestandsaufnahme und Ausblick, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 44. Jg., 1999, S. 9 ff.; d e r s . : (Irrationale Politik? 2., Überarb, und erw. Aufl., Marburg 2000. WIRTSCHAFTSDIENST 2000/NI sen, die Einsicht zu stärken, daß Politikgestaltung ohne den ständigen Kontakt mit den organisierten Gruppen der Gesellschaft - dazu zählen insbesondere die Wirtschaftsverbände - nicht denkbar ist. Hochindustrialisierte, arbeitsteilige und pluralistisch strukturierte Gesellschaften, die sich zudem immer stärker im internationalen Feld behaupten müssen, haben eine Fülle von kaum überschaubaren und zudem stetig wachsenden Aufgaben zu bewältigen, die ein im Sinne von Fritz W. Scharpf und Niklas Luhmann außerordentlich ausdifferenziertes System auf politisch-administrativer Ebene erfordern1. Politik als offenes System Das politisch-administrative System ist ein offenes System, das laufend Kontakt mit seinem Umfeld pflegt. Nur so kann es unter wechselnden Bedingungen seinen Bestand sichern. Das Motiv der Existenzsicherung ist zugleich für die einzelnen Subsysteme - vor allem für die Regierung - von zentraler Bedeutung. Folglich sind Regierung, Parteien, Parlament, Bundesrat und Ministerialbürokratie über zahlreiche „Schnittstellen" mit den gesellschaftlichen Interessengruppen verknüpft. Bereits die Regierung reagiert mit ihrer Einteilung (Kabinett, Kanzler, Minister, Staatssekretäre; Referatszuschnitte) in unterschiedlicher Weise auf die mannigfach an sie herangetragenen Forderungen. Sie stützt sich staatssoziologisch gesehen auf die Mehrheit der sie im Parlament tragenden Partei(en) und auf die Ministerialbürokratie. Dabei kann die Regierung die Staatsangelegenheiten nicht selbst steuern. Sie muß vielmehr versuchen, von den beteiligten Akteuren in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und der eigenen Administration jene Informationen zu erhalten, die sie für eine zielführende Politik und damit für ihr eigenes „Überleben" 149 ZEITGESPRACH braucht, um auf dieser Basis das Verhalten eben dieser Akteure zu beeinflussen. Als Informationslieferanten kommen vor allem das Parteiensystem, die Ministerialbürokratie und die Verbände in Betracht. Das bipolare Mehrparteiensystem Das deutsche Parteiensystem ist durch das Zusammenspiel zweier großer Volksparteien und einer begrenzten Zahl kleinerer Parteien gekennzeichnet. Die zentralen politischen Ausrichtungen von CDU/ CSU und SPD haben historischweltanschaulich bedingte Gründe. Zum einen sind sie auf den als Folge der Industrialisierung aufgebrochenen Großkonflikt zwischen Arbeit und Kapital zurückzuführen. Zum anderen spielte die Zeit des Nationalsozialismus, aber auch die rüde Art und Weise, in der mit liberalen, konservativen und christlich ausgerichteten Parteien bereits im vorigen Jahrhundert umgegangen wurde, eine wichtige Rolle. Diese Erfahrungen führten zur interkonfessionellen Ausrichtung in der CDU/CSU. Mittlerweile haben sich die großen Parteien jedoch zu Volksparteien gewandelt, d.h., sie sprechen möglichst viele Schichten des Volkes an, um ihre Politik im kritischen Dialog mit den betreffenden Gruppenrepräsentanten zu gestalten, ohne dabei ihre Wurzeln und Grundsätze zu verleugnen. Das bedeutet nichts anderes, als daß sie ihre vormals deutlich „links" oder deutlich „rechts" zu verortenden Positionen so erweitert und teilweise verschoben haben, daß sie auch breitere Wählerschichten in der Mitte erreichen können. Dieser Ansatz bescherte den beiden Volksparteien zusammen regelmäßig überdurchschnittlich hohe Stimmenanteile. Den Wäh- 150 lern ist nämlich im Laufe der ökonomischen Entwicklung bewußt geworden, daß es im Konflikt zwischen Arbeit und Kapital nicht um den Vorrang für die eine oder andere Seite geht, sondern um einen schonenden Ausgleich, der letztlich für alle Gruppen von Vorteil ist. Von den Parteien wird also - bei Wahrung ihrer Identität - ein solcher Ausgleich erwartet. Das Streben der beiden großen Parteien zur stark besetzten Mitte bewirkt, daß Randgruppen und weniger stimmenträchtige Interessen keine hinreichende Berücksichtigung finden. Zum Teil können die Parteien schon aus personellen Gründen nicht mit allen Interessen gleichermaßen im Dialog bleiben. Auch gibt es in der Mitte zahlreiche Wähler, die wegen der bereichweise großen Deckungsgleichheit der Wahlaussagen der großen Parteien unsicher sind, welche der beiden denn die wirklich besseren Alternativen zu bieten hat. Schließlich ist nicht zu verhehlen, daß die großen Parteien eine aus ihrer Größe resultierende Unbeweglichkeit aufweisen, die es ihnen immer wieder schwer macht, rechtzeitig und nachdrücklich auf sich ändernde Umstände zu reagieren. Die vernachlässigten Interessen sind häufig langfristig orientierte Belange, die sich nicht - wie etwa die des Umweltschutzes - in ein einfaches „Rechts-Links-Schema" einordnen lassen. Weil die Integrationsfähigkeit der großen Volksparteien mit der Berücksichtigung aller Interessen überfordert wäre, kommt den kleineren Parteien die wesentliche Funktion zu, unbeachtete oder im Kampf der Großen gar zerriebene Interessen aufzugreifen, zu artikulieren und in die Politik einzubringen. Auf diese Weise halten sie nicht nur das Parteiensystem, sondern zugleich das po- litische System insgesamt funktionsfähig. Ebenso wichtig ist, daß jede der beiden Volksparteien einen ebenbürtigen Partner hat. Die Sorge der SPD, daß die CDU auseinanderbrechen oder zu einer unwesentlichen Schrumpfpartei degenerieren könnte, ist kein reines Lippenbekenntnis; weiß die SPD doch, daß sie wegen der Gefahr von Flügelkämpfen das dadurch frei gewordene Spektrum selbst nicht abdecken könnte. Sich dort etablierende Splitterparteien würden jedoch die politische Stabilität erheblich gefährden. Die Ministerialbürokratie Regierung, Parlament und Parteien bedienen sich des Sachverstands der Bürokratie, weil sie nur mit deren Hilfe ihre Grundsatzentscheidungen in konkrete Regelungen umgießen, mögliche Auswirkungen abschätzen und negative Folgen minimieren können. Dabei geht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Bedeutung der Verwaltung über die einer rein ausführenden Gewalt hinaus; sie soll vielmehr einen bewußt ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen. Wenn auch die Verwaltung direkt keine politischen Ziele festlegt, so ist damit nicht gesagt, daß sie weder Einfluß auf die Ziele nimmt noch selbst Ziele hat. Zielvorgaben und mögliche Lösungswege sind immer interpretationsbedürftig, woraus sich Spielräume für die Verwaltung ergeben. Ihre eigenen Ziele vermag sie in der Regel hinter ihrer dienenden Funktion zu verbergen, gleichwohl ist klar, daß die Ministerialbeamten einen wesentlichen Beitrag zur Präzisierung und Umsetzung der politischen Ziele nur insoweit leisten, WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN ZEITGESPRACH als sich dies mit ihren individuellen Interessen.deckt. Hier liegt das Einfallstor für die weit geübte Praxis der Ämterpatronage. Die Durchsetzung der Bürokratie mit „eigenen Leuten" hilft zugleich, die Kontinuität einer einmal eingeschlagenen politischen Richtung zu wahren, selbst wenn die Regierungsgewalt verlorengeht. Weil das eigene berufliche Fortkommen wesentlich von einer möglichst konfliktfreien und Nachteile vermeidenden Umsetzung der Gesetze abhängt, ist die Ministerialbürokratie selbst an engen Kontakten zu den Repräsentanten relevanter Gruppen der Gesellschaft interessiert, denn sie erlangt so aus erster Hand Informationen über die externe Akzeptanz geplanter Maßnahmen und deren möglicher Auswirkungen. Die „Schnittstellen" Regierung und Bürokratie wollen in erster Linie Unsicherheiten vermeiden oder wenigstens begrenzen. Organisationssoziologisch entspricht dem der Versuch, durch permanente Kontaktpflege und Kooperation mit anderen externen Entscheidungsträgern ein Umfeld zu schaffen, das als „negotiated environment" zu bezeichnen ist. So ist es erstens üblich, Repräsentanten wichtiger gesellschaftlicher Gruppen, z.B. der Gewerkschaften oder starker regionaler Parteigliederungen, ins Kabinett oder in Spitzenpositionen der Ministerialbürokratie zu berufen. Zweitens ist eine große Verzahnung zwischen gegenwärtig oder ehemaligen hauptberuflich tätigen Verbandsfunktionären und Bundestagsabgeordneten zu verzeichnen. Drittens ist den Verbänden ein Dauerpetitionsrecht garantiert, das ihnen den permanenten Zugang zu den Ministerien erlaubt. Darüber hinaus ist es erklärter Zweck zahlreicher parteiinWIRTSCHAFTSDIENST 2000/111 terner Arbeitskreise, Kontakte zu den Verbänden zu pflegen. Wichtig ist schließlich der direkte Zugang zu den Spitzenpolitikern, z.B. durch die Teilnahme an „Bündnissen", „Runden Tischen" o.a. Im übrigen vermag die Möglichkeit, den Bundeskanzler als Verbandsvertreter oder Journalist bei wichtigen Auslandsreisen begleiten zu dürfen, sicher auch Bindungswirkungen zu entfalten. Daß die Verbände ihrerseits auch mit Spenden ein „negotiated environment" fördern, dürfte seit dem berühmten Wort von der „Pflege der politischen Landschaft" (Eberhard von Brauchitsch) unbestritten sein. Natürlich dienen Zuwendungen, neben dem Bekenntnis zum Allgemeinwohl und jenseits konkreter Absichten im Einzelfall, sicher zugleich dem Ziel, ein bestimmtes „Klima" herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Nachteile des Verbandseinflusses Der Einfluß der Verbände geht über die Vorstellung simpler „pressure groups" hinaus. Sie werden als Informationslieferanten, Mittler und Adressaten direkt in den Prozeß der politischen Willens- und Entscheidungsbildung eingebunden. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, weil Unsicherheiten abgebaut und Informationen über Sachzusammenhänge und Wählereinstellungen erlangt werden, die sonst kaum beschaffbar wären. Nachteilig ist, daß wegen der begrenzten zeitlichen und geistigen Problemverarbeitungskapazität der Politiker und Bürokraten nur jene Interessen Berücksichtigung finden, die durchsetzungsfähig sind. Um mit den verschiedenen Ebenen des politisch-administrativen Systems gleichzeitig in Kontakt bleiben zu können, ist ein beträchtlicher Aufwand nötig: Weil Regierungswechsel möglich sind, weil der Bundesrat in vielen Fällen ein entscheidendes Wort mitredet und weil die Ausführung der meisten Gesetze Ländersache ist, muß eine wirksame Interessenvertretung nicht nur die Regierungspartei und die Ministerialbürokratie ansprechen, sondern zugleich die Pflege der Oppositionsparteien auf Bundesebene und die Beziehungen zu den Ländern im Auge behalten. Es liegt auf der Hand, daß das mit nur einem Repräsentanten in Berlin nicht zu bewältigen ist. Hinzu kommt, daß vom politisch-administrativen System im allgemeinen nur solche Interessen wahrgenommen werden, die mit relevanten Informationen verknüpft sind und die homogen organisiert sind, so daß ein mehr oder weniger dezenter Wink mit einem etwaigen Stimmenentzug glaubwürdig ist. Mandatsträger und Ministerialbürokraten wenden folgerichtig ein überdurchschnittlich hohes Maß an Zeit für die Kontaktpflege und Konsensbeschaffung im Sinne der hier beschriebenen Interessen auf. Interessen, die dem beschriebenen Raster nicht entsprechen, werden vernachlässigt, selbst wenn sie langfristig gesehen außerordentlich wichtig sind. Sie sind nämlich oft nicht organisationsfähig, weil sie die Bürger nicht zentral ansprechen, sondern nur einen Aspekt unter vielen berühren, oder weil ihre Träger noch gar nicht geboren sind. Daher wird verständlich, daß der Höhe und Sicherheit der Bezüge von jetzt lebenden Rentnern oder bald in den Ruhestand tretenden Bürgern mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als der Frage, welche Folge dies für die jetzt 30jährigen oder für. die noch gar nicht Geborenen hat. 151 ZEITGESPRÄCH Ähnliches gilt für die Bildungspolitik, den Umweltschutz und die überbordende Staatsverschuldung. Wie erwähnt bietet es sich insbesondere für die kleineren Parteien an, als Fürsprecher solcher vernachlässigter Interessen zu fungieren. Systemverbessernde Vorschläge Das politisch-administrative System kann mit seinen Subsystemen eine Unmenge von zum Teil gegensätzlichen Interessen aufnehmen und verarbeiten. Allerdings dient ein beträchtlicher Teil der Systemkapazität dazu, sich im Falle von Fehlleistungen zu exkulpieren. Weil zudem überhaupt nur bestimmte Interessen aufgegriffen und in den Problemlösungsweg des Systems gelangen, sind massive Fehlsteuerungen zu beklagen. Bereits seit langem liegen Vorschläge vor, mit denen diese Nachteile vermieden werden können. Sie sind abschließend zu skizzieren. Das Plenum des Bundestages sollte bereits in der Ersten Lesung stärker in die Beratung der Gesetzesvorlagen eingebunden werden. Darüber hinaus ist die Parlamentsarbeit und hier insbesondere die Arbeit der Opposition, die sich im Gegensatz zur Regierung nur begrenzt der Hilfe des Ministerialapparats bedienen kann, durch eine Verstärkung des parlamentarischen Hilfsdienstes effektiver zu gestalten. Um die Entscheidungsabläufe zwischen Regierung, Ministerialbürokratie und Verbänden transparenter und kontrollierbarer zu machen, wären die - leider in der Versenkung verschwundenen - Überlegungen zu einem Verbändegesetz wieder aufzugreifen. Dadurch könnten die gesellschaftlichen Kräfte aus dem Dilemma befreit werden, das sie oft genug 152 nur zu kräfteverschleißenden NullSummen-Spielen führt. Die konstitutionelle Ergänzung dieser Vorschläge setzt an der Berücksichtigung der systematisch vernachlässigten Interessen an, und zwar durch eine plebiszitäre Ergänzung des repräsentativen Systems. Auch könnte ihre vikarische Wahrnehmung in Anlehnung an die bereits eingeführten Institutionen des „Wehrbeauftragten" und des „Datenschutzbeauftragten" einem „Steuerbeauftragten", einem „Umweltbeauftragten" sowie einem „Generationenbeauftragten" anvertraut werden. Die Sensibilität der Parteien hinsichtlich der sinkenden Wahlbeteiligung würde erhöht, indem die Zahl der Mandate an die Höhe der Wahlbeteiligung geknüpft wird. Auch dürften die wegen der 5%Klausel wegfallenden Mandate nicht mehr den Parteien zugute kommen, die diese Grenze überschritten haben. Auf diese Weise könnte nach wie vor der Zersplitterung des Parteiensystems begegnet werden, ohne Parteien mit Sitzen zu belohnen, denen eigentlich keine Wählerstimmen zugrunde liegen. Der kaum zitierte Art. 137 Abs. 1 GG bietet die Möglichkeit, die Ämterpatronage zu begrenzen. Die quotenmäßige Beschränkung des Anteils von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes im Parlament würde nicht nur die „Selbstbedienung" eindämmen, sondern zugleich der Gefahr begegnen, daß von der Sozialstruktur des Parlaments einseitige und zu enge Entwicklungstendenzen der Politik ausgehen. Nicht zuletzt ist an eine institutionelle Trennung des bisher für konstitutionelle und einfach-gesetzliche Regeln zuständigen Parlaments zu denken. Dieser auf Friedrich A. v. Hayek zurückgehen- de Vorschlag eines „Zwei-Kammer-Systems" würde weite Teile des öffentlichen Rechts, darunter das Parteien- und Spendenrecht sowie das Steuer- und Abgabenrecht der rechtsetzenden Kammer zuordnen, die für einen erheblich längeren Zeitraum gewählt ist als die Kammer, die im wesentlichen dem bisherigen Parlament entspräche. Nur so können sich die regierenden Politiker gegen ein Übermaß an Sonderinteressen wehren, weil sie nicht mehr über die Mittel verfügten, ihnen durch entsprechende Gesetzesgestaltungen zu entsprechen. Die von James M. Buchanan und seinen Schülern immer wieder vorgebrachte Idee einer konstitutionellen Beschränkung von Ausgaben und Einnahmen würde auf diese Weise überhaupt erst möglich. Die genannten Reformen würden das politisch-administrative System funktionsfähiger machen, indem sie bisherige Mängel und Fehlsteuerungen vermeiden helfen. Problematisch daran ist, daß diese Reformen ihre Wirksamkeit erst in langfristiger Sicht entfalten. Kurzfristig aber bringen sie die bestehenden Parteien in Hahdlungsund Begründungszwänge, weil sie ihnen Privilegien nehmen und eine erhöhte Aufnahmebereitschaft für die Interessen der Bürger abverlangen, ohne garantieren zu können, daß sie keine Mandatseinbußen erleiden werden. Ohne ihre Einsicht und Mitwirkung ist allerdings keiner der Reformvorschläge zu verwirklichen. Bislang ist auch noch niemandem eingefallen, auf welche Weise die Parteien für die Reformen gewonnen werden könnten. Das politisch-administrative System wird also nach wie vor halbwegs befriedigend arbeiten, aber seine volle Effizienz nicht erreichen, und - der nächste Skandal kommt gewiß. WIRTSCHAFTSDIENST 2000/IN