Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands Gott und die Würde des Menschen Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands Gott und die Würde des Menschen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagbild: Fotolia © Composer Umschlaggrafik: Karin Cordes, Paderborn © 2017 by Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn und Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig ISBN 978-3-89710-702-1 (Bonifatius) ISBN 978-3-374-04958-5 (Evangelische Verlagsanstalt) Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme. Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Inhaltsverzeichnis Vorwort ……………………………………………………………………………….. 9 Einleitung …………………………………………………………………………… 12 1. Die ökumenische Dimension der Debatte über die Menschenwürde ………………….…………… 19 1.1 1.2 Menschenwürde in der öffentlichen Debatte ........... Das Menschenwürde-Argument in der Debatte ethischer und rechtlicher Probleme Ausgewählte Beispiele ............................................... Am Anfang des Lebens: Stammzellforschung ………….. In der Mitte des Lebens: Kinderarmut und Bildung ….. Am Ende des Lebens: Sterbehilfe …………………………….. 21 28 30 32 35 2. Prinzipien der ethischen Urteilsbildung im Lichte konfessioneller Traditionen ………….. 39 2.1 Unterschiedliche konfessionelle Zugänge zur ethischen Reflexion ….……………………………………….. 39 Wachsende ökumenische Verständigung in der ethischen Reflexion ………………………………………. 41 Ethische Urteilsbildung als gemeinsame Aufgabe der Kirchen ................................................................. 41 Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums als Grundlage der gemeinsamen ethischen Verständigung ............................................................ 45 Gottebenbildlichkeit als Fundamentalartikel Theologischer Anthropologie ........................................ 46 Sozialverkündigung als gemeinsame ökumenische Aufgabe der Kirchen ………………………………………………… 47 Theologische Grundlegungen der ethischen Reflexion .................................................................... 48 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 5 2.3.1 Schrift und Tradition – eine theologische Grundlagenbestimmung im ethischen Kontext ......... 2.3.2 Gesetz und Evangelium – eine theologische Unterscheidung im ethischen Kontext ...................... 2.4 Erkenntnisse durch das Gespräch mit nichttheologischen Wissenschaften .................................. 2.5 Grundformen ethischer Argumentation im Christentum ............................................................... 2.5.1 Naturrecht und natürliches Sittengesetz ................... 2.5.2 Verantwortungsethik ................................................. 2.5.3 Diskursethik ……………….. ............................................. 2.5.4 Tugendethik ……………………………………………………………. 2.5.5 Güterethik ........................................ ………………………… 2.6 Individuelle und institutionalisierte Formen der ethischen Entscheidungsfindung ......................... 2.6.1 Gewissen und synodale Prozesse .............................. 2.6.2 Gewissen und lehramtliche Autorität ........................ 2.7 Zusammenfassung und Ausblick ................................ 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.2 49 52 54 55 56 59 60 62 63 65 65 68 71 Perspektiven Theologischer Anthropologie im Lichte des biblischen Zeugnisses ……………… 73 Grundlinien biblischer Anthropologie ........................ 74 Der Mensch als Gottes Ebenbild ................................ 75 Der Mensch in seiner Schuld und Not ....................... 83 Die Erlösung des Menschen ....................................... 89 Anfang und Ende des Lebens ..................................... 93 Option für die Armen ................................................. 97 Menschenwürde als Grundbegriff gegenwärtiger Theologischer Anthropologie .................................... 99 3.2.1 Zur Geschichte des Menschenwürdebegriffs .......... 100 3.2.2 Wer ist der Mensch? – Grundelemente Theologischer Anthropologie .................................. 104 Der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes ……... 105 Der Mensch in seiner Schuld und Not ……………………. 107 Die Erlösung des Menschen …………………………………... 108 6 3.2.3 Die theologische Begründung der Menschenwürde ...................................................... Die Würde des Ebenbildes Gottes. Schöpfungstheologische Begründung ……………………. Die Würde des wahren Menschen. Christologische Begründung ………………………………….. Die Würde des zur Rechtfertigung Berufenen. Rechtfertigungstheologische Begründung …………..… Die Würde des zur Vollendung Bestimmten. Eschatologische Begründung ………………………………… 3.3. Zusammenfassung und Ausblick .............................. 109 111 113 114 116 119 4. Der ökumenische Umgang mit Konvergenzen und Divergenzen in der Ethik ……………………….. 123 4.1 Der differenzierte Konsens in der Theologischen Anthropologie .......................................................... 123 Grundlegende Übereinstimmungen in der Theologischen Anthropologie ........................... 124 Charakteristische Profile Theologischer Anthropologie und ihre ökumenische Bedeutung ... 126 Die Macht der Gnade ……………………………………………. 127 Das Unheil der Sünde ……………………………………………. 129 Die Verantwortung des Menschen ………………………… 132 Der Gehorsam gegen Gottes Gebot ………………………. 134 Gemeinsamer Dienst ............................................... 136 Differenzierter Konsens und begrenzter Dissens in der Ethik .................................................. 137 Das Verhältnis zwischen dem differenzierten Konsens und dem begrenzten Dissens in der Ethik ............... 139 Der differenzierte Konsens und begrenzte Dissens im Zusammenhang der Diskussion ethischer und rechtlicher Probleme – Ausgewählte Probleme ...... 142 Am Anfang des Lebens: Forschung mit embryonalen Stammzellen …………………………………………………………. 142 In der Mitte des Lebens: Kinderarmut und Bildung .. 147 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 7 4.3 5. Am Ende des Lebens: Sterbehilfe …………………………… 148 Zusammenfassung und Ausblick .............................. 152 Optionen für Menschlichkeit. Das Zeugnis der Bergpredigt ………………………… 157 „Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3). ………..………………………………………..... „Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4). …………………………………………………………..… „Selig, die sanftmütig sind; denn sie werden die Erde erben“ (Mt 5,5). ……………………………………………………..... „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden“ (Mt 5,6). ………………..…. „Selig, die barmherzig sind; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7). ………………………………….. „Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8). ……………………………………………………. „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes heißen“ (Mt 5,9). ………………………………………………….. „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,10). …………………..….. 158 159 160 162 163 164 166 167 Abkürzungen …………………………………………………………………... 169 Mitglieder der Bilateralen Arbeitsgruppe (2009-2016) .…….. 170 8 Vorwort „Gott und die Würde des Menschen“ lautet der Titel des Abschlussdokumentes der dritten Bilateralen Arbeitsgruppe. Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) hat sie sich seit 2009 mit diesem Thema befasst. Nun legt sie mit dieser Studie die Ergebnisse ihrer Beratungen und Diskussionen der Öffentlichkeit vor. Hierbei stellt sich die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe in die Tradition ihrer beiden Vorgängerkommissionen, die 1984 das Dokument „Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament“ und 2000 „Communio Sanctorum – Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen“ veröffentlicht haben. Ebenso wie die beiden bisherigen Gesprächsrunden sieht die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe ihre Arbeit im Kontext des Dialogs zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen, der 2017 sein 50. Jubiläum feiert und der in dem gemeinsam verantworteten Gottesdienst zum Reformationsgedenken am 31. Oktober 2016 in Lund unter der Leitung von Papst Franziskus sowie dem Präsidenten und dem Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Bischof Dr. Munib A. Younan und Pfarrer Dr. Martin Junge, einen Höhepunkt fand. In ihrer Methodik knüpft die Kommission an die Tradition der bisherigen lutherisch/römisch-katholischen Dialoge auf nationaler und internationaler Ebene an. Die Suche nach einem differenzierten Konsens ist der leitende hermeneutische Grundsatz der Studie. Wie ihre Vorgängerkommissionen zielt die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe darauf, ökumenische Gemeinsamkeiten differenziert zu beschreiben. Bestehende Unterschiede werden markiert und unter dem Aspekt bewertet, ob sie in ihrer Verschiedenheit offen aufeinander hin sind und wechselseitig als komplementäre Bereicherung der eigenen Sicht oder doch als Trennungsgrund zu gelten haben. Inhaltlich wendet sich die Bilaterale Arbeitsgruppe hingegen 9 einem Themenkomplex zu, der im bilateralen Dialog unserer beiden Kirchen bislang noch keine intensive Aufmerksamkeit erfahren hat, jedoch im deutschen und auch im europäischen und weltweiten Kontext der letzten Jahre virulent ist: die Anthropologie und damit verbunden die ethische Urteilsfindung in unseren Kirchen. Die uns von den kirchenleitenden Organen aufgegebene Themenstellung „Gott und die Würde des Menschen“ hat sich als tragfähig erwiesen, einerseits die großen theologischen Gemeinsamkeiten unserer Kirchen in der Lehre vom Menschen aufzuzeigen und andererseits den deutlicher gewordenen Unterschieden in der ethischen Bewertung von einzelnen Fragen menschlicher Lebensführung gerecht zu werden. Die Studie baut auf den Ergebnissen der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre auf, die am 31. Oktober 1999 in Augsburg feierlich vom Lutherischen Weltbund und der katholischen Kirche unterzeichnet wurde. Zugleich setzt sie sich aber auch mit ihrer teils kritischen Rezeption in der Theologie konstruktiv auseinander. Das Dokument erprobt neue Wege für den ökumenischen Umgang mit ethischen Fragestellungen und Kontroversen, indem es prüft, ob sich die Methodik des differenzierten Konsenses auch in der ethischen Urteilsfindung bewährt. Abweichende Positionen in einzelnen ethischen Fragen sind als begrenzter Dissens zu verstehen, der aber nicht einen fundamentalen Gegensatz in der Anthropologie oder in der Methodik ethischer Urteilsfindung offenbart, sondern lediglich Unterschiede bei der Anwendung ethischer Prinzipien und in der Einschätzung strittiger Grenzfragen erkennen lässt. Die Veröffentlichung dieses Abschlussberichtes geschieht in der Verantwortung der Bilateralen Arbeitsgruppe. Sie bittet die auftraggebenden Kirchen zu prüfen, ob die dargelegten Überlegungen hilfreich sind, um sowohl die theologischen Gemeinsamkeiten in der Anthropologie wie in vielen Bereichen der Ethik zu stärken als auch mögliche Konflikte in ethischen Fragen besser zu verstehen und sachgemäß mit ihnen umzugehen. Sie hofft, dass die Ergebnisse die Kirchen einander näher bringen und sie befähigen, noch stärker gemeinsam für die Würde des Menschen in unserer Gesellschaft einzutreten. 10 Auch wenn sich diese Studie in erster Linie an die auftraggebenden Kirchen wendet, würden wir uns freuen, wenn sie sich auch als ein hilfreiches und weiterführendes Angebot für die anderen Kirchen in Deutschland erweist und das Gespräch mit allen, die sich für die Würde des Menschen einsetzen, öffnet. Wir bitten die Vertreter und Vertreterinnen der wissenschaftlichen Theologie, sich an der Prüfung und weiteren Klärung der aufgeworfenen Fragen zu beteiligen. Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber hat als lutherischer CoVorsitzender die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe von den allerersten Vorüberlegungen an begleitet. Durch seinen viel zu frühen Tod war es ihm nicht vergönnt, diese Arbeit zu beenden. Die Bilaterale Arbeitsgruppe dankt ihm für sein großes Engagement sowie seine theologische und strukturelle Klarheit, mit denen er diese Studie maßgeblich mitgeprägt hat. Der Dank gilt in gleicher Weise Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der vor seinem Wechsel in das Amt des Präfekten der Glaubenskongregation 2012 die Arbeitsgruppe mit auf den Weg gebracht und als ihr katholischer Co-Vorsitzender intensiv begleitet hat. Magdeburg / Bückeburg, 25. November 2016 Dr. Gerhard Feige Bischof von Magdeburg, Vorsitzender der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz Dr. Karl Hinrich Manzke Landesbischof von Schaumburg-Lippe, Catholica-Beauftragter der VELKD Vorsitzende der Bilateralen Arbeitsgruppe 11 Einleitung 1. Die christlichen Kirchen beteiligen sich seit vielen Jahren an den öffentlichen Debatten über ethische, politische und rechtliche Fragen. Dies geschieht auf internationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene. In der Bundesrepublik Deutschland haben sich zu aktuellen gesamtgesellschaftlichen Anliegen der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz immer wieder geäußert und werden dies auch weiterhin tun. Gleiches gilt für die Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands (VELKD), die einzelnen evangelischen Landeskirchen, die katholischen Bistümer und vielfältigen christlichen Organisationen, die sich gesellschaftlich engagieren. Neue Perspektiven ergaben sich, als die evangelische und die katholische Kirche sich entschlossen, ihre Übereinstimmung in sozial- und bioethischen Fragen in „Gemeinsamen Texten“ zum Ausdruck zu bringen.1 Im Wahrnehmen von Gefah1 Auf den Text „Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz“ (Trier 1989) folgten zahlreiche weitere „Gemeinsame Texte“, so u. a. das Wort „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozess über ein gemeinsames Wort der Kirchen“ (Hannover/Bonn 1994), „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“ (Hannover/Bonn 1997), „,... und der Fremdling, der in deinen Toren ist.‘ Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht“ (Bonn/Frankfurt a.M./Hannover 1997) und „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung“ (Hannover/Bonn 2014). 1990 kam es zu einer Stellungnahme zur Organtransplantation, 1998 zu einer Arbeitshilfe zur Xenotransplantation und 1999 zu einer solchen zur Patientenverfügung; letztere wurde unter 12 ren, etwa des Rüstungswettlaufs oder der zunehmenden Umweltbelastungen, in Fragen des Lebensschutzes, des Umgangs mit Asylsuchenden und im Blick auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Menschen in Deutschland werden konkrete ethische Ansprüche an Staat und Gesellschaft gemeinsam formuliert und öffentlich zur Geltung gebracht. In diesen Texten hat sich eine große ökumenische Gemeinsamkeit in vielen ethischen Fragen gezeigt. In praktischer Hinsicht setzen die Kirchen diese theologischen und ökumenischen Impulse im diakonischen Handeln und in gemeinsamen öffentlichen Initiativen um. Dies alles wurde als Signal für das Wachsen der Ökumene in Deutschland aufgenommen. 2. In den politischen Debatten um die Stammzellforschung der letzten 15 Jahre kam es zwischen der katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen in der Frage des Stichtages, auf die sich die öffentliche Debatte konzentrierte, zu Differenzen. Auch bei bestimmten Aspekten des assistierten Suizids hatten sich Unterschiede in der Bewertung abgezeichnet. Diese Differenzen wurden auf katholischer Seite oft als neue konfessionelle Abgrenzung gesehen, die den bislang gemeinsamen Grundkonsens in Frage zu stellen drohte und ein gemeinsames politisches Engagement fraglich machte. Für die katholische Seite gehört zum gemeinsamen Zeugnis des christlichen Glaubens auch ein gemeinsames Zeugnis im christlichen Handeln. Auf evangelischer Seite hingegen werden die Unterschiede oft anders bewertet, weil die Freiheit des Einzelnen in seiner Gewissensbildung zum Grundverständnis des evangelischen Glaubens gehört und Differenzen in konkreten Fällen und in der ethischen Theoriebildung als legitimer Ausdruck evangelischer Freiheit interpretiert werden. Es ist ein Anliegen dieser Studie, mögliche gegenseitige Irritationen durch einen methodisch angeleiteten Gesprächsprozess zu verringern, die Diskussion durch Differen- dem Titel „Christliche Patientenvorsorge“ 2011 in aktualisierter Fassung neu herausgegeben. 13 zierung zu versachlichen und so sich auf den gemeinsamen gesellschaftlichen Auftrag zu konzentrieren. 3. Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD hat sich die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe mit dem Thema „Gott und die Würde des Menschen“ befasst. Sie greift dabei auf die zahlreichen sozialethischen Texte der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zurück. Sie geht aber über diese Texte hinaus, indem sie theologisch grundsätzlicher ansetzt und zugleich ihre jeweiligen konfessionellen Überzeugungen ins Gespräch bringt und gemeinsam fruchtbar macht. Die Bilaterale Arbeitsgruppe folgt damit der Tradition ihrer Vorgängerinnen, die sich mit klassischen ökumenischen Fragen der Kirche und der Kirchengemeinschaft beschäftigten.2 Neuland betritt die Bilaterale Arbeitsgruppe allerdings insofern, als sie erstmals eine ethische Fragestellung explizit angeht. Freilich bleibt sie der bisherigen Überzeugung treu, gemäß den Grundlagen der ökumenischen Hermeneutik die Frage nach der Einheit im Glauben zu verfolgen. 4. Anliegen dieses Textes ist es zu klären, wie trotz einzelner Differenzen in ethischen Fragen ein überzeugendes gemeinsames Eintreten der Kirchen für die Menschenwürde möglich ist. Gemeinsam gehen wir von der Überzeugung aus, dass Christinnen und Christen aller Kirchen das tiefe Anliegen miteinander verbindet, ihr ganzes Leben aus dem Glauben an den lebendigen Gott, der sich in Jesus Christus zum Heil der Menschen vermittels des Heiligen Geistes offenbart hat, zu gestalten und sich als Kinder Gottes in Freiheit für die anderen hinzugeben. Glauben und Handeln sind nur dann heilsam aufeinander bezogen, wenn zugleich die Differenzen, die sich zwischen den Kir2 Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament, Paderborn/Hannover 1984 (künftig als KWS bezeichnet); Communio Sanctorum – Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, Paderborn/Frankfurt a. M. 2000 (künftig als CS bezeichnet). 14 chen im Urteilen und Handeln ergeben, theologisch ernst genommen werden. Das unabschließbare Ringen um ein gemeinsames Verstehen des Glaubens und eines evangeliumsgemäßen Handelns sollte weder durch autoritative Akte noch durch pluralistische Gleichgültigkeit aufgehoben werden. Christen und Christinnen stehen heute gemeinsam vor denselben Herausforderungen. Diese unterscheiden sich von denen vergangener Jahrzehnte durch ihre Komplexität und Unübersichtlichkeit. Das macht eine neue gemeinsame Anstrengung nötig, um die Würde von Menschen angemessen in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. 5. Die Gliederung dieses Textes ergibt sich aus dem geschilderten Anliegen. Der Text bietet nach einer Hinführung zur ökumenischen Debatte um die Menschenwürde einen Überblick über die konfessionellen Zugänge von katholischer und lutherischer Seite zur ethischen Urteilsbildung. Damit soll ein gegenseitiges Verstehen unterschiedlicher Begründungsmuster ermöglicht werden, das einen respektvollen, kritischen und konstruktiven Umgang mit ethischen Dissensen einschließt. In diesem Teil analysiert der Text Prinzipien der ethischen Urteilsbildung im Lichte konfessioneller Traditionen. Im dritten Teil wird eine gemeinsame, konfessionell verbindende theologische Anthropologie auf biblischer Grundlage dargestellt. Daraus werden Konsequenzen für das gemeinsame Eintreten für die Menschenwürde entwickelt. Trotz der Differenzen in einzelnen ethischen Positionierungen gibt es einen evangelisch-lutherisch/römisch-katholischen Konsens im Verständnis der Menschenwürde, der tief verwurzelt und breit gefächert ist. Gleichwohl kann es zwischen den Konfessionen wie innerhalb von ihnen zu Differenzen in ethischen Einzelfragen kommen. Erstens spiegeln diese die vieldeutige Komplexität der zu beschreibenden naturwissenschaftlichen, rechtlichen und ökonomischen Sachverhalte wider. So können aufgrund unauflösbar mehrdeutiger empirischer Sachverhaltsbestimmungen auch gleiche Grundüberzeugungen zu unterschiedlichen ethischen Urteilen führen. Zweitens entstehen Differenzen, weil Sachfragen immer 15 innerhalb eines bestimmten kulturellen, ökonomischen und politischen Kontextes einer Lösung zugeführt werden müssen. In beiden Fällen differieren ethische Urteile auch aufgrund außertheologischer Faktoren. Drittens können sich Differenzen auf unterschiedliche konfessionelle Begründungsverfahren zurückführen lassen. In diesem Problemfeld soll durch unsere Studie zweierlei gezeigt werden: 1. Das gemeinsame Anliegen der Menschwürde zu betonen, schließt unterschiedliche Begründungsmuster und begrenzte Differenzen in ethischen Einzelfragen nicht aus. 2. Konkrete begrenzte Differenzen in einzelnen Urteilen hindern die katholische und die evangelischlutherische Kirche nicht daran, sich gemeinsam für die Würde von Menschen einzusetzen. Das wird im vierten Kapitel beschrieben. Das fünfte Kapitel entfaltet das Ethos der Menschlichkeit in Gestalt einer Auslegung der Bergpredigt. 6. Mit bemerkenswerter Klarheit und Konsequenz gehen die von den Kirchen seit den späten 1980er Jahren veröffentlichten sozialethischen Dokumente von einem gemeinsamen christlichen Verständnis des Menschen aus, welches „zu den grundlegenden geistigen Prägekräften der gemeinsamen europäischen Kultur“ gehöre.3 Alle Dokumente handeln von der Würde des Menschen als Person: „Der Mensch ist Person. Das ist Grundlage für alle ethischen Aussagen.“4 Die ökumenischen Dokumente vertreten die gemeinsame christliche Auffassung: „Theologisch gesehen konstituiert die Anerkennung des Menschen durch Gott den Menschen als Person.“5 Dieses Begründungsmuster zieht sich durch alle Argumentationen hindurch; in ihnen wird der Mensch als Person mit einer einmaligen und unveräußerlichen Würde verstanden. Auch wenn der Begriff von der Menschenwürde verschiedenen Deutungen offensteht, lebt das Zeugnis der Chris3 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1), Nr. 92. 4 „... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“, (siehe Anm. 1), Nr. 115. 5 Gott ist ein Freund des Lebens (siehe Anm. 1), S. 42. 16 ten, Christinnen und der christlichen Kirchen in einer pluralistischen Gesellschaft von einer grundlegenden Einmütigkeit ihrer gemeinsamen Überzeugung von der unveräußerlichen Menschenwürde, die in der Gottebenbildlichkeit begründet ist. 7. Die Besonderheit dieses Textes verlangt einige Klärungen hinsichtlich des Auftrages, der Verantwortung, des Referenzrahmens und des Diskussionszusammenhanges, in den hinein dieses Dokument sprechen will. Vom Auftrag und Verantwortungsrahmen her können die Mitglieder der Bilateralen Arbeitsgruppe (BILAG) nur für ihren jeweiligen konfessionellen Hintergrund sprechen. Nur für diesen tragen sie unmittelbar Verantwortung. Das betrifft für die lutherischen Mitglieder der Arbeitsgruppe zunächst das Luthertum der in der VELKD vertretenen Landeskirchen, dann aber auch die internationale, im Lutherischen Weltbund vertretene Gemeinschaft des Luthertums. Für die katholischen Mitglieder der Arbeitsgruppe betrifft es die Verantwortung für die katholische Theologie in Deutschland in ihrem Bezug auf den weltweiten Diskurs von Theologie und Kirche in römisch-katholischer Provenienz. Der Referenzrahmen legt es nahe, sich auch auf gemeinsame ökumenische Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz zu beziehen. Ohne für die EKD und ihre Gliedkirchen in Gesamtheit sprechen zu können und auch ohne für Alt-Katholiken und andere konfessionelle Gemeinschaften zu sprechen, werden entsprechende Äußerungen und Diskurse mit in den Blick genommen. Den Diskussionszusammenhang des von der BILAG erarbeiteten Textes bildet der öffentliche Diskurs um ethische Fragestellungen. Damit versucht er den Anspruch einzulösen, einen Beitrag zur kirchlichen und öffentlichen Debatte in Deutschland zu leisten. 8. In der Verantwortung des lutherisch-katholischen Dialogs in Deutschland, im Horizont des gemeinsamen Dialogs auf Weltebene, in der Referenz auf die gemeinsame Verantwortung der Kirchen in Deutschland in ihrer unterschiedlichen konfessionellen Prägung und unter Bezug auf die wissenschaftliche und 17 gesellschaftliche Öffentlichkeit in Deutschland ist dieser Text entstanden. Das macht die Aufgabe komplex und vielfältig. Aber hinter diesem Anspruch kann ein solcher Text um der Sache willen nicht zurückbleiben. 18 1. Die ökumenische Dimension der Debatte über die Menschenwürde 9. Menschenwürde kommt jedem Menschen zu. Sie ist unabhängig von Herkunft, Rasse, Geschlecht und Religion. Sie gilt unbedingt. Sie kann nicht verloren werden, selbst wenn sie von anderen missachtet wird. Aus christlicher Sicht lässt sich sagen: Die Menschwürde ist ein Geschenk Gottes; deshalb ist sie unverfügbar. In der Sprache der Bibel heißt das: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Diese Überzeugung bringen die christlichen Kirchen in die aktuelle Debatte über ethische und rechtliche Probleme ein, für die Gesellschaft und Staat nach Lösungen suchen. Das kirchliche Eintreten für die Würde des Menschen zielt darauf, durch Argumentation und Zeugnis Menschen zu begründeter eigener Urteilsbildung und zu entsprechendem Handeln zu bewegen. 10. Den Kirchen ist schmerzlich bewusst, dass sie lange Zeit den Menschenrechtsbewegungen mit großer Skepsis gegenüberstanden. Sie befürchteten darin eine Relativierung der Glaubenswahrheiten oder einer christlich begründeten Freiheit. Es hat lange gedauert, bis die Kirchen den Begriff der Menschenwürde mit der biblischen Grundüberzeugung von der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen in Verbindung brachten und ihn sich schließlich zu eigen machten. Menschenwürde und Menschenrechte als politisch-ethische Leitkategorien konnten sich in den säkularen Emanzipationsbewegungen der Neuzeit erst in einem langen Ringen auch in der kirchlichen Lehre durchsetzen. Während nicht wenige Befürworterinnen und Befürworter der modernen Idee der Menschenrechte jeden Anspruch auf religiöse Begründung der Menschenwürde abwehren, weil sie in ihr kirchliche Herrschaftsansprüche am Werk sehen, wollen andere im Gegenteil die moderne Idee der Menschenwürde allein auf christlich-abendländische Kulturtraditio19 nen zurückführen. Beide Perspektiven sind einseitig. Es ist kein Zufall, dass die Idee der Menschenrechte in Europa und Nordamerika entwickelt worden ist, also in christlich geprägten Kulturräumen. Es gibt auch genuin philosophische und juristische Traditionen, die in der Moderne zur Erkenntnis der Menschenwürde und der Menschenrechte geführt haben. Dabei ist zu beachten, dass die Kirchen in ihren Verlautbarungen die Idee der Menschenwürde vollständig erst nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck der Shoa zur Geltung gebracht haben. Für die katholische Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Erklärung über die Religionsfreiheit von 1965 den Durchbruch zum modernen menschenrechtlichen Denken eingeleitet. Umso mehr sind die Kirchen heute allen Bewegungen und Initiativen dankbar verbunden, die sich für die Achtung der Menschenwürde aller Menschen eingesetzt haben und weiter einsetzen. Alle Konfessionen haben bis heute mit fundamentalistischen Strömungen zu kämpfen, die unter Berufung auf Gott die Menschenwürde relativieren und die Menschenrechte beschränken wollen. Gegen diese Tendenzen beziehen die evangelischen Kirchen und die katholische Kirche in Deutschland zusammen mit vielen anderen Stimmen immer wieder entschieden Stellung. 11. Die Kirchen haben sich in ihrer Geschichte vielfach an Menschen und deren Menschenwürde schuldig gemacht. Das Unrecht der Sklaverei wurde von den Kirchen lange geduldet. Unter Berufung auf den Namen Gottes wurden Gewalt gegen Menschen ausgeübt und ihre Rechte missachtet. Insbesondere jüdische Mitmenschen wurden ausgegrenzt und verfolgt. Menschen wurden über Jahrhunderte wegen ihrer religiösen Auffassungen hingerichtet. Auch die Gleichberechtigung von Frauen und Männern wurde geleugnet. In vielen Fällen wurden Frauen nicht entsprechend ihrer Würde behandelt. Die Liste der Vergehen ist lang. Es gilt, der Opfer mit Scham und Schmerz, mit Trauer und Bedauern zu gedenken. Dankbar sind die Kirchen dafür, dass in kirchlichen Reformbewegungen, in philosophischen und theologischen Reflexionen, in zahlreichen pastoralen 20 Initiativen und in der Kunst immer wieder prophetische Stimmen laut geworden sind, die zur Umkehr gerufen haben. Die christlichen Kirchen nehmen heute ihre ökumenische Verantwortung wahr, sich gemeinsam für Menschenwürde und Menschenrechte einzusetzen. 1.1 Menschenwürde in der öffentlichen Debatte 12. Neuere biotechnische, medizinische und gesellschaftliche Entwicklungen konfrontieren uns seit Jahren mit Chancen und Problemen, für welche die gängigen ethischen Orientierungen keine ausreichenden Antworten mehr bereithalten.6 Individuelle ethische Entscheidungen sind notwendig, stoßen aber an Grenzen des Wissens und der Urteilskraft. Verbindliche rechtliche Normierungen müssen in komplexen politischen Prozessen ausgehandelt werden. Der Ort von sozialer Normentstehung ist die Gesellschaft, welche durch verschiedene Akteure geprägt ist, die aber unterschiedliche Interessen, Anliegen und Begründungsmuster ins Spiel bringen. Dazu gehört auch die Auslegung des Grundgesetzes als der alle Gesetzgebungsverfahren bindenden rechtlichen Grundlage. Hier spielt die Würde des Menschen eine entscheidende Rolle. Menschenwürde behauptet sich nicht nur als unanfechtbares Rechtsprinzip, sondern ebenso als Leitprinzip der ethischen Debatten in Deutschland. 13. Keine öffentliche Diskussion über ethische Fragen kommt heute ohne den Hinweis auf die Menschenwürde aus. Den Ausdruck „Würde“ beziehen wir auf Menschen und unterscheiden sie so von Sachwerten und Schutzrechten von Tieren. Ob Würde dem Menschen nur von anderen Menschen, sei es durch die 6 Vgl. Wieviel Wissen tut uns gut? Chancen und Risiken der voraussagenden Medizin. Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Woche für das Leben 1997: „Jedes Kind ist liebenswert. Leben annehmen statt auswählen.“, Hannover/Bonn 1997. 21 Gesellschaft oder den Staat, zugeschrieben wird, oder ob er Würde von sich aus besitzt, ist eine der entscheidenden Fragen in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion. 14. Vor allem in der deutschsprachigen Diskussion spielt das Argument der Menschenwürde eine prominente Rolle. Das liegt auch in den spezifischen geschichtlichen Erfahrungen und Erinnerungen begründet. Die Erschütterung durch die Missachtung der Menschenwürde in der nationalsozialistischen Gewaltdiktatur und die politischen und gesellschaftlichen Nachkriegserfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland haben sich als wirkmächtig erwiesen. Hier erscheint das Menschenwürde-Prinzip als unhinterfragbare moralische und rechtliche Instanz. Dies drückt sich in der Überzeugung aus, wie sie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Art. 1 zum Ausdruck kommt, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Mit Bezug auf diesen Artikel wird argumentiert, dass diese oder jene ethische oder rechtliche Normierung gegen die menschliche Würde verstoße. Der Rekurs auf die Menschenwürde übernimmt dann verschiedene Aufgaben. Einmal soll der Verweis auf die Menschenwürde die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit der menschlichen Person zum Ausdruck bringen, dann wiederum verbindet sich mit diesem Argument das Instrumentalisierungsverbot des Menschen, seine Selbstbestimmung oder seine körperliche und seelische Integrität. 15. Vor diesem Hintergrund wird in der wissenschaftlichen und politischen Debatte vor einem inflationären Gebrauch des Menschenwürde-Arguments gewarnt. Allerdings behält es seine grundlegende Orientierungsfunktion. Damit diese erfüllt werden kann, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein. Erstens bedarf es einer genauen Begründung, warum in einer ethischen Frage mit der Menschenwürde argumentiert werden kann und muss. Zweitens bedarf der Begriff der Menschenwürde selbst einer genauen Bestimmung, damit er präzise verwendet werden kann. An dieser Stelle bringen die christlichen Kirchen ihre Erfahrungen, Einsichten und Überzeugungen in die öffentliche 22 Debatte ein. Sie bauen darauf, dass die Zielsetzung einer gerechten, lebensförderlichen und zukunftsfähigen Gestaltung der Gesellschaft allgemein anerkannt wird. Christinnen und Christen wissen sich, wenn sie in ethischen Fragen öffentlich sprechen, mit allen Menschen verbunden, die um eine menschenwürdige Gestaltung der Zukunft ringen. Sie respektieren, dass es verschiedene Positionen gibt, die aus unterschiedlichen Überzeugungen erwachsen, und wollen ihre eigenen Argumente in einen öffentlichen Diskurs einbringen. 16. Den gesellschaftlichen Debatten über ethische und juristische Fragen liegen konkurrierende Vorstellungen von der Würde des Menschen zugrunde. Zu klären ist, ob Menschenwürde primär ein Rechtsprinzip oder eine ethische Grundposition darstellt, ob sie einer philosophischen oder einer religiösen Entdeckung entspringt und nur in dieser ihre Wirkkraft entfalten kann. Der Begriff der Menschenwürde ruft heftige Debatten in der Medizin, der Rechtswissenschaft, der Philosophie und der Theologie hervor. Insbesondere ist umstritten, welche Rolle der Autonomie als der Selbstbestimmung des Menschen in der Ethik zukommt, welche Rolle rationales Denken und Handeln in der Sittlichkeit einnehmen, ja letztlich steht die Frage im Raum, was der Mensch ist und wer ein Mensch ist. Die einzelnen ethischen Sachbereiche zeigen, wie sich Akzentverschiebungen im Würdeverständnis unmittelbar auswirken, wie schwierig es aber auch ist, aus dem Menschenwürde-Konzept unmittelbar ethische Einzelnormen für die jeweiligen ethischen und juristischen Problemfelder abzuleiten. Vom Verständnis der Würde des Menschen hängt auch ab, was als Missachtung der Menschenwürde in den Blick kommt. Hier sehen sich Christinnen und Christen besonders verpflichtet, für diejenigen einzutreten und ihre Stimme zu erheben, deren Stimme kaum gehört wird oder welche nicht selbst für sich sprechen können. Trotz der Strittigkeit des Menschenwürde-Begriffs, der Pluralität seiner Definitionen und Beschreibungen verbindet sich mit ihm die Überzeugung einer grundlegenden Norm für Recht und Ethik als einer nicht hintergehbaren Begründungsinstanz. Daran schließen sich verschiedene Debatten 23 über den Zusammenhang von Menschenwürde und Menschenrechten an. 17. Im Zuge der Diskussionen über die Menschenwürde verändert sich auch die Rede von Menschenrechten. In den letzten Jahrzehnten fanden intensive Debatten darüber statt, was zu Menschenrechten gehört. Dabei hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass über die individuellen Freiheitsrechte hinaus, wie sie vorwiegend in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland in den Grundrechten festgeschrieben sind, auch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Grundrechte anzuerkennen sind, die das Miteinander der Gesellschaften heute bestimmen. Damit gehören zu den Menschenrechten nicht nur die individuellen Freiheitsrechte, sondern auch die sozialen Teilhaberechte. Weil Menschenwürde allen Menschen in gleicher Weise zukommt, wird der Grundsatz der Gerechtigkeit aus dem mit der Menschenwürde verbundenen Prinzip der Gleichheit abgeleitet. Damit betreffen Gerechtigkeitsfragen zugleich immer auch die Menschenwürde. 18. Die Debatte über Menschenwürde hat sich in den vergangenen Jahren noch verdichtet. Um die Menschenwürde ist eine scharfe Kontroverse entbrannt. Auf der einen Seite wird die Stichhaltigkeit und Effektivität einer metaphysischen und religiösen Begründung bezweifelt. Sie gerät in den Verdacht, im Widerspruch zur liberalen Verfassung des staatlichen Gemeinwesens zu stehen. Es wird geltend gemacht, dass eine religiöse Würdeauffassung nur mehr von einer Minderheit der deutschen Bevölkerung geteilt werde und damit in einer pluralen Gesellschaft nicht mehr von allen akzeptiert werden könne. Dies impliziert oft die Unterstellung, die von Menschen mit Berufung auf ihren Glauben vorgebrachten Begründungen ließen sich nicht nachvollziehbar beschreiben und nicht in allgemein einsichtig zu machende Begründungen übersetzen. Auf der anderen Seite wird aber teilweise auch argumentiert, das gesamte Konzept der Menschenwürde sei eine Illusion, weil es sich aus kulturellen Bedingungen des Abendlandes ableite, die 24 nicht mehr gegeben seien und niemals universale Geltung besessen hätten. Beide Einwände zwingen die christlichen Kirchen dazu, ihre theologischen Argumente so zu formulieren, dass sowohl ihre Voraussetzungen transparent werden als auch ihre Inhalte so formuliert werden, dass ihre Anschlussfähigkeit an andere Diskurse deutlich wird. 19. Eine Verschärfung dieser Debatte kann man in der Argumentation sehen, nach der die Eigenart der Rede von der Menschwürde nicht ohne Grund in einer säkularen und abstrakten rechtlichen Sprache vorgenommen wurde. Der Grund liege in dem Umstand, dass gerade diese abgeklärte, aus der Rechtssphäre stammende Sprache den Abstand zu religiösen oder weltanschaulich geprägten Glaubensbekenntnissen hält und dadurch erst Gewähr für die Verallgemeinerungsfähigkeit und Universalisierbarkeit für alle Völker, Gesellschaften und Staaten unabhängig ihrer religiösen Prägungen bietet. Hier lautet der Vorwurf, dass eine religiöse oder metaphysische Begründung diesen universalen Standpunkt verdunkeln und die Chancen minimieren würde, Rechts-Prinzip für alle Völker und Staaten zu sein. Somit sprechen nicht wenige Gründe für einen Verzicht auf die religiöse Rede und Begründung der Menschenwürde. Andererseits aber enthalten religiöse Begründungen Sinnpotentiale, die die allgemeine Debatte bereichern können. Damit hat sich die für die christlichen Kirchen virulente Ausgangslage noch einmal massiv verschärft. Die christlichen Kirchen müssen sich deshalb heute fragen, wie sie eine eigene religiöse Begründung der Menschenwürde so einbringen, dass sie das Projekt der Menschenwürde ohne eine falsch verstandene religiöse Vereinnahmung vorantreiben. 20. Damit grenzen sich die Kirchen sowohl von folgenden einseitigen fundamentalistischen als auch von säkularistischen Positionen ab. So wie eine religiöse Begründung der Menschenrechte nicht selten als partikular und deshalb als schwach angesehen wird, gibt es umgekehrt die Kritik, dass eine dezidierte Abweisung religiöser Begründungen dem Relativismus und In25 differentismus Vorschub leiste. Als Argument wird angeführt, dass jede Begründung notwendig positionell ist und eine von Religion absehende Begründung deshalb mit ähnlichen Gründen kritisiert werden kann wie eine religiöse. Auf dieser Grundlage wird dann bekräftigt, dass allein eine theologische Begründung garantieren könne, dass die Menschenwürde unverletzlich ist. Demnach könne die Menschenwürde nur dann ein tragfähiges Konzept für Staat und Gesellschaft sein, wenn es auf christlicher Grundlage stehe. 21. Auf der anderen Seite sehen sich die Kirchen mit der Kritik konfrontiert, dass eine religiöse Argumentation zu einer Aushöhlung echter Säkularität führen kann. Sie erfolge, wenn von kirchlicher Seite mit scheinbar weltanschaulich neutralen, tatsächlich aber christlich positionierten Vorstellungen argumentiert werde; das liege bei einer naturrechtlichen Begründung vor, die vor allem in der katholischen Tradition vorherrsche. Von einem solchen Menschenwürde-Konzept müsse man sich verabschieden, weil eine scheinbare säkulare Legitimation zum Schaden für die echte Säkularität des Konzepts der Menschenwürde werde. Während also von den einen die liberale Säkularität von Staat und Gesellschaft als Verlust der religiösen Substanz beschrieben wird, wird von anderen eine christliche Okkupation von Säkularität und damit ein Verlust der angestrebten Universalität befürchtet. 22. Eine rein christliche Begründung beschwört die Gefahr herauf, dass das Menschenwürde-Konzept als ein ausschließlich westlich-abendländisch geprägtes weltanschauliches Projekt verstanden wird, das genau aus diesen Gründen von Menschen anderer Völker, Gesellschaften und Kulturen abgelehnt werden wird. Umgekehrt steht eine rein säkulare Begründung in der Gefahr, gleichfalls als ein westlich abendländisch geprägtes weltanschauliches Projekt verstanden zu werden, das die möglichen religiösen Dimensionen von Menschenwürde-Konzeptionen leugne und auf diese Weise ein typisch westliches Paradigma der säkularen Aufklärung absolut setze. In jedem dieser 26 Fälle verlören die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen Menschenrechte als ein alle Menschen gleichermaßen verbindendes Norm-Konzept ihren Sinn, ihre Bedeutung und ihre für die Gesellschaften und ihr Rechtssystem normative Wirkung. In dieser Perspektive ist es wichtig, sich mit anderen religiösen, ethischen und rechtlichen Menschenwürde-Konzepten zu verständigen und anderen Begründungskonzepten offen gegenüber zu stehen. Im Gespräch mit den anderen Weltreligionen, aber auch mit modernen Weltanschauungen kommt es aus christlicher Sicht darauf an, einerseits die eigene Position klar zu markieren, um sie zur Diskussion zu stellen, andererseits aber davon abweichende Konzepte von Menschenwürde weder zu bekämpfen noch zu verdächtigen, sondern in ihren eigenen Intentionen und Möglichkeiten zu würdigen. Verständigung mit Menschen anderer religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen ist unverzichtbar, damit Menschenwürde und Menschenrechte überall auf der Welt als unbedingt und unantastbar angesehen werden können. 23. Die „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“7 ernst zu nehmen, ohne sie absolut zu setzen, ist die gegenwärtige gemeinsame und nur mehr ökumenisch zu leistende Herausforderung für die christlichen Kirchen. Hier hilft das Beispiel der Religionsfreiheit weiter. Das Recht auf religiöse Freiheit ist in Verfassungen moderner menschenrechtlicher Demokratien verankert. Als solches bedarf es keiner weiteren religiösen Begründung. Andererseits liegt in der religiösen Begründung die Gewähr, dass Religionen dieses Recht anerkennen und für sich selbst und für andere als Basis für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft und zwischen den Völkern akzeptieren. Insoweit ist eine religiöse Begründung nach wie vor unersetzlich und unabdingbar. Auf diesem Wege erweisen sich die christlichen Kirchen in ihren ökumenischen Bemühungen gerade als modernisierungsfähig und zugleich der Modernisierung bedürftig. Mit dem Titel „Gott und die Würde des Men7 GS 36. 27 schen“ wollen die lutherischen Kirchen und die römischkatholische Kirche den Gottes-Bezug des MenschwürdeKonzepts ebenso zur Sprache bringen wie seine notwendige Allgemeinheit und Universalität für alle Völker, Staaten und Menschen dieser Erde. 24. Die Kirchen weisen den Vorschlag zurück, dem Begriff der Menschenwürde nur eine negative Funktion beizumessen, nämlich entgegenstehende Auffassungen oder Überzeugungen zu diskreditieren; denn bei einer solchen Strategie kommen die positiven Impulse zu kurz. Andererseits ist die Schwierigkeit nicht zu verkennen, aus der Menschenwürde direkte ethische Konsequenzen abzuleiten; denn gerade wegen ihrer Universalität und prinzipiellen Bedeutung sind Konkretionen notwendig, die im Einzelfall oft strittig bleiben. Je nach unterschiedlicher Begründung und inhaltlicher Füllung des MenschenwürdeBegriffs werden teilweise unterschiedliche, ja gegensätzliche Ableitungen vorgenommen. 1.2 Das Menschenwürde-Argument in der Debatte ethischer und rechtlicher Probleme. Ausgewählte Beispiele 25. Im Folgenden sollen paradigmatisch drei ethische Problemfelder und Aufgabenbereiche herausgegriffen werden, an denen sich zeigen lässt, wie gemeinsame und unterschiedliche Positionierungen der evangelischen wie der katholischen Seite entstehen, begründet werden und zu gewichten sind. Alle drei Beispiele sind brisant. Das erste Beispiel, die Stammzellforschung ist mit dem Schutz des beginnenden Lebens verbunden, das zweite Beispiel, die Kinderarmut und Bildung, ist in der Mitte des Lebens verortet, und das dritte Beispiel, die Sterbehilfe, am Ende des Lebens. Um alle Lebensphasen wenigstens ausschnittweise in den Blick zu nehmen, sind diese Beispiele in dieser Studie ausgewählt worden. Es handelt sich in allen drei Fällen um ethische Fragen, in denen die Menschenwürde tan28 giert wird und die in der öffentlichen Debatte eine erhebliche Rolle spielen. Die Beispiele können in dieser Studie allerdings nicht als solche untersucht werden; die Studie dient nicht einer gemeinsamen ökumenischen Positionierung zu diesen ethischen Problemen; dazu müssten sie weit eingehender bearbeitetet werden, als dies hier möglich ist. Es geht den vorliegenden Beschreibungen nicht darum, nach genauen ethischen Lösungen zu suchen – das muss den intensiven Fachdebatten überlassen bleiben –, sondern die unterschiedliche Verwendung und die Relevanz des Menschenwürde-Arguments aufzudecken. Die vorliegenden Überlegungen verstehen sich insofern als Prolegomena zu einer ökumenischen ethischen Urteilsbildung. Die Beispiele werden deshalb nur als Beispiele dafür diskutiert, wo und wie zwischen der katholischen Seite einerseits und der evangelischen Seite andererseits sowohl gemeinsame als auch partiell abweichende Positionen eingenommen werden. An diesen Beispielen soll lediglich gezeigt werden, wie sich fundamentale Gemeinsamkeiten in der Anthropologie (die in Kapitel 3 auf biblischer Basis beschrieben werden) einerseits zu gemeinsamen, andererseits zu abweichenden Stellungnahmen in ethischen Einzelfragen verhalten und wie beides im ökumenischen Dialog zu gewichten ist. Die Beispiele sind so ausgewählt, dass zunächst eine Kontroverse aufgegriffen wird, dargestellt an der Stammzellforschung, an zweiter Stelle eine intensive und bewährte Gemeinsamkeit in Fragen der Kinderarmut und Bildung, und an dritter Stelle die Sterbehilfe, eine grundlegende und weitgehende Gemeinsamkeit, die aber Differenzen in wenigen Einzelpunkten nicht ausschließt. 26. Der Bilateralen Arbeitsgruppe ist klar, dass es weitere wichtige Bereiche der Ethik gibt, in denen gegenwärtig Unterschiede zwischen der evangelischen und der katholischen Seite aufbrechen; auch bei diesen Themen kann die Menschenwürde eine Rolle spielen. Insbesondere die Themen „Sexualität“ und „Lebensentwürfe gleichgeschlechtlicher Partnerschaften“ erfahren gegenwärtig in den kirchlichen Gremien und der fachlichen Diskussion eine hohe Aufmerksamkeit. Die Positionen sind dabei 29 nicht klar konfessionell zu unterscheiden, weil die Differenzen sich durch alle Konfessionen ziehen. Dieser Themenbereich wurde von der Arbeitsgruppe nicht unter den expliziten Beispielen aufgenommen, weil der Arbeitsauftrag der Gruppe darauf begrenzt war, Grundsatzfragen zu diskutieren. Die Arbeitsgruppe ist allerdings überzeugt, dass sich in diesen und anderen Bereichen ähnlich argumentieren ließe wie in den ausgewählten. Am Anfang des Lebens: Stammzellforschung 27. Die embryonale Stammzellforschung löst hochgespannte Erwartungen auf neue Heilungsmöglichkeiten aus. Als realistische Ziele der Stammzellforschung werden die regenerative Therapie und die Heilung von Krankheiten wie Chorea Huntington, Parkinson, Alzheimer und Krebs durch die Biomedizin in Aussicht gestellt. Biologisch handelt es sich um eine Entnahme von Zellen, die nach dem fünften Tag der Befruchtung im Inneren der Blastozyste entstehen, dem Zeitpunkt also kurz vor der Einnistung in die Gebärmutter. Aus den entnommenen Zellen lassen sich embryonale Stammzell-Linien züchten, die in der Lage sind, sich zu einer beliebigen Zellart des menschlichen Körpers zu entwickeln. Das deutsche Stammzellgesetz von 2002 verbietet, Embryonen und auch Blastozysten für Forschungszwecke zu erzeugen, zu klonen oder zu zerstören. Allerdings erlaubt der Gesetzgeber, unter strengen Auflagen an importierten Stammzellen zu forschen, wenn sie vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden. Dieser Stichtag wurde 2008 noch einmal verschoben, so dass es möglich ist, Stammzellen zu importieren, die vor dem 1. Mai 2007 gewonnen wurden. Hinsichtlich des moralischen und rechtsethischen Status embryonaler Stammzellen steht insbesondere in Frage, wann von einem Menschen gesprochen werden kann, dem in voller Weise Menschenwürde zukommt, und ob zwischen beginnendem menschlichen Leben und Menschsein differenziert werden kann und darf. 28. Die gesellschaftlichen Positionen unterscheiden sich zunächst darin, wie das Menschsein des Embryos zeitlich be30 stimmt wird. Mögliche Definitionen sind hier die Terminierung mit der Befruchtung der menschlichen Eizelle, mit der Nidation, mit dem Beginn von Empfindungsfähigkeit oder zu einem späteren Zeitpunkt. Als weitere Alternative hat ein abgestuftes Statuskonzept zu gelten, das mit mehreren moralisch relevanten Entwicklungsstufen des menschlichen Embryos rechnet. Positionen, welche die befruchtete Eizelle als Beginn des mit voller Menschenwürde ausgezeichneten Menschseins ansehen, führen als Argumente die Zugehörigkeit des Embryos zur menschlichen Spezies an oder die Kontinuität in der Entwicklung des Embryos, die Identität des Embryos mit dem späteren Kind und Erwachsenen oder auch die Potentialität, insofern aus dem Embryo nur ein menschliches Kind werden kann. Befürworter anderer Terminierungen verweisen dagegen darauf, dass zur Zuschreibung eines moralischen Status bestimmte konkret erkennbare Eigenschaften vorliegen müssen. Nur eines ist klar: Mit der Menschenwürde, wann auch immer sie beim menschlichen Embryo angesetzt wird, sind dann auch der Lebensschutz und das Instrumentalisierungsverbot verbunden. 29. In Verbindung mit der Frage nach dem moralischen oder rechtlichen Status des Embryos lassen sich unterschiedliche Positionen zur embryonalen Stammzellforschung ausmachen. Bei den voneinander teilweise stark abweichenden Positionen spielt im Wesentlichen die Frage eine Rolle, ob solche bioethischen Probleme als moralische Konflikte zwischen verschiedenen ethischen Gütern zu interpretieren sind oder ob eindeutige Antworten von übergeordneten Prinzipien her zu gewinnen sind. Oft werden von der medizinischen Forschung Positionen, welche die Menschenwürde mit der Befruchtung beginnend verstehen und daher die Forschung mit embryonalen Stammzellen ablehnen, als wissenschaftsfeindlich und fortschrittshemmend kritisiert. Umgekehrt erscheinen den Befürwortern und Befürworterinnen des vollen Lebensschutzes für die befruchtete menschliche Eizelle andere Positionen als Überordnung des technisch Möglichen über ethische Bedenken. 31 30. In den Bewertungsdiskursen zur Stammzellforschung wird oft die weitergehende Fragestellung eingebracht, was eine Öffnung in dieser Hinsicht für die allgemeine gesellschaftliche Haltung zur Menschenwürde oder für das Wertegefüge insgesamt bedeuten würde. Auch in vielen anderen ethischen Fragen wird implizit oder explizit die Bedeutung der Einzelfrage für die generelle Haltung zur Menschenwürde mitdiskutiert, verbunden mit sogenannten Dammbruchprognosen. Auch wenn die Forschung mit embryonalen Stammzellen nicht mehr die Bedeutung wie vor gut einem Jahrzehnt hat, zeigt die Debatte paradigmatisch, wie wichtig die Frage nach einer verantwortlichen Gestaltung menschlicher Zukunft im Dienst am Menschen ist. In der Mitte des Lebens: Kinderarmut und Bildung 31. Deutschland ist kein kinderfreundliches Land. Kinder- und Jugendhilfeberichte weisen schon seit vielen Jahren darauf hin, dass Kinderreichtum ein besonderes Armutsrisiko darstellt. Armutsrisiken stehen in einem engen Zusammenhang von öffentlichen Sozialleistungen, nationaler Herkunft, Bildung und sozialer Schicht. Risikofaktoren sind ungewollte Schwangerschaften, Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse, Drogenkonsum, langanhaltende Krankheiten. Geringe Bildung wird zunehmend als ein ausschlaggebender Faktor bei der Armut und vor allem der Kinderarmut ausgemacht. Viele Kinder leiden insbesondere in den ersten Jahren unter einem Mangel an entwicklungsfördernden Lernanreizen. Bildungsferne reduziert Chancen für ein existenzsicherndes Berufsleben. Armut wird in der öffentlichen Debatte oft als selbstverschuldet betrachtet. Pauschale Schuldzuweisungen helfen aber nicht weiter. Im Sozialstaat werden finanzielle Aufwendungen an Betroffene geleistet, um Folgen der Armut zu lindern. Über den Umfang und die Effektivität wird kontrovers diskutiert. Eine ausschließliche Orientierung an den finanziellen Transferleistungen geht aber an der tatsächlichen Ursachenbekämpfung vorbei. Die normative Begründung orientiert sich heute an der Garantie32 funktion eines für ein menschenwürdiges Leben notwendigen und ausreichenden Sockels und am Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit. Damit werden Fragen um ein menschenwürdiges Leben komplexer, weil sie weit über die finanziellen Aspekte hinausreichen. Bemühungen zur Behebung der Armut im Bildungsbereich haben es viel mit den sozialen und psychologischen Rahmenbedingungen zu tun, in denen Bildung und Entwicklung junger Menschen erfolgen können und sollen. Insbesondere steht hier die an der Würde ausgerichtete Selbstachtung der Kinder im Vordergrund. Die bildungsorientierte Armutsbekämpfung führt eine Fülle von basalen Sozial- und Alltagskompetenzen sowie Kulturtechniken mit beruflicher Qualifizierung zusammen. Auch spielt die Bekämpfung der Gewaltproblematik unter Jugendlichen eine herausgehobene Rolle. Sie ist auf eine umfassende Kultur des Aufwachsens angewiesen. Die pädagogischen Bemühungen zielen auf die Befähigung jedes Einzelnen, ein selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben zu führen. Bildung hat mit dem ganzen Menschen zu tun; sie ist eine Dimension personaler Humanität und Ausdruck seiner Würde. Daher gehört Bildung zu den sozialen Menschenrechten. Durch die Stagnation des Armutsrisikos bei weiter steigendem Wirtschaftswachstum, die statistisch nachgewiesene wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und eine zunehmend sich öffnende Schere in der Einkommensverteilung ist seit kurzem das normative Leitbild der Verteilungsgerechtigkeit wieder stärker akzentuiert worden. 32. Ein ähnliches gesellschaftliches Problem zeigt sich im Verhältnis der Generationen untereinander. Heutige Generationen leben auf Kosten der zukünftigen. Wie keine Generation zuvor wird der heutigen immer klarer, dass die Folgen wirtschaftlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Handelns unserer Zeit den Raum und Rahmen für Leben, Existenz und Handeln künftiger Generationen beeinflussen und prägen, ermöglichen und in einem vielleicht nie zuvor gewesenen Maße auch begrenzen. Das Problem der Begrenzung der natürlichen Ressourcen wird seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts auf dem 33 Felde der Ökologie unter dem Begriff der Nachhaltigkeit diskutiert. Neben den offenkundigen Grenzen des Wachstums, die mit der zunehmenden Exploration der natürlichen Ressourcen einhergehen, bestimmt der globale Klimawandel die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen um die Gefährdung der Lebensgrundlagen der zukünftigen Generationen. Ist deren Bedrohung von Menschen verursacht, rücken vielfältige Maßnahmenkataloge in den Fokus politischen Handelns. Mit ihnen geht die Kritik an Formen des individuellen Lebensstils der gegenwärtigen Generationen einher. Während in dem meist ländlich geprägten Umfeld früherer Generationen die Bestellung von Haus und Hof für die kommende Generation zum Lebensinhalt der lebenden Generation gehörte, tritt mit den technisch, wirtschaftlich und finanziell entgrenzten Möglichkeiten heutiger Generationen der Zukunftsaspekt gegenwärtigen Handelns viel stärker in den Blick. Waren hauptsächliche Gesichtspunkte des Generationenverhältnisses früher die Autoritätsfrage zwischen Eltern und Kindern sowie die Altersversorgung der Eltern durch Kinder, hat sich das Verhältnis der Generationen nicht nur radikal verändert, sondern wesentlich umgekehrt. War es Aufgabe der nachfolgenden Generation für die Versorgung der vorangegangenen zu sorgen, ist es heute die Verantwortung der Eltern, die Lebensmöglichkeiten für die kommende Generation zu sichern. Zudem tritt die Solidaritätsfrage nicht mehr allein zwischen Eltern und Kindern auf, sondern zwischen Einzelnen, Partnerschaften, Familien und Gruppen in einer komplexer gewordenen Generationensolidarität. Familienleistungen sind nicht mehr selbstverständlicher Teil der persönlichen Lebenspläne, sondern müssen jeweils eigens begründet und entschieden werden. Wurde demgemäß früher soziale Gerechtigkeit als bloße Verteilungsgerechtigkeit zwischen reicheren und ärmeren Teilen der Gesellschaft eingefordert und politisch plausibilisiert, erweitert sich diese soziale Gerechtigkeit in die Forderungen nach Ermöglichung von Freiheit und Eröffnung von zukünftigen Chancen. Generationengerechtigkeit stellt sich heute als diachrone Dimension sozialer Gerechtigkeit dar. Sie enthält die Verpflichtung, der nachfolgenden Generation durch Ermögli34 chung von Lebensräumen und Realisierung von individueller Freiheit gerecht zu werden. 33. Zur Würde des Menschen gehören all die Aspekte und Faktoren, die Leben überhaupt erst ermöglichen und Lebensräume für künftige Generationen eröffnen. Jeder Mensch hat Anspruch auf solche lebensermöglichenden Bedingungen auch in ökologischer, gesundheitlicher und kultureller Hinsicht. Dass Menschen diese Bedingungen erhalten, ist eine Frage der Gerechtigkeit. Inhaltlich ist damit auch die Generationengerechtigkeit gemeint, das Recht der künftigen Generationen auf ein Leben in intakter Umwelt und lebensfördernder Gesellschaft. Hier setzt in der heutigen Gesellschaft ein neues Nachdenken über die Würde der Kinder ein. Am Ende des Lebens: Sterbehilfe 34. Was Sterben in Würde heißt, beschäftigt viele Menschen existentiell. Aufgrund der stark verbesserten diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten kann das Leben bis in weit fortgeschrittene Krankheitsstadien verlängert werden, vor allem auch im Zusammenhang mit der Entwicklung apparativer medizinischer Unterstützung. Die Zahl pflegebedürftiger und schwerstkranker Menschen nimmt beständig zu. Die Betreuung dieser Menschen stellt nicht nur eine Herausforderung für das Gesundheitssystem dar, sondern ebenso für Familien und Angehörige. Die Gesellschaft ist gefragt; die Kirchen müssen ihren Beitrag leisten. Dabei haben Kranke und ihre Angehörigen oft tiefe Angst davor, nur noch Objekt institutionellen und ärztlichen Handelns zu sein. Insbesondere im Sterben sehnen sich Menschen danach, in ihrer ganzen Individualität wahrgenommen und angenommen zu werden. 35. Für viele Menschen spielt der Gesichtspunkt des „menschenwürdigen Lebens“ oder des „Lebens in Würde“ eine große Rolle. Es stellt sich dann die Frage, ob es Krankheitssituationen geben kann, welche ein menschenwürdiges Leben unmöglich 35 machen. Für die einen gehören zu einem menschenwürdigen Leben gewisse Mindestbedingungen für autonome Lebensvollzüge. Für andere ist es Inbegriff der Menschenwürde, psychische Deformation und physische Entstellung nicht als Einschränkung der unverlierbaren Würde des Menschen zu betrachten. 36. Die Patientenautonomie verpflichtet Ärztinnen und Ärzte, den Willen von Patientinnen und Patienten auch in der Form einer Patientenverfügung ernst zu nehmen und umzusetzen, auch und gerade wenn ein Verzicht auf bestimmte lebenserhaltende oder lebensverlängernde medizinische Möglichkeiten gewünscht wird. Für Ärztinnen und Ärzte kann in bestimmten Fällen daraus ein tiefer Gewissenskonflikt entstehen, weil sie sich in ihrem Beruf zur Lebenserhaltung verpflichtet wissen. In diesem Zusammenhang unterscheidet man aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen), passive (Sterben lassen) und indirekte Sterbehilfe (Therapien am Lebensende) sowie ärztlich assistierten Suizid. Die Diskussion um die passive Sterbehilfe gilt mittlerweile auf Grund von höchst richterlichen Urteilen als erledigt, die Forderung nach Zulassung aktiver Sterbehilfe wird nur von wenigen erhoben, umstritten bleibt auch nach der neuen gesetzlichen Regelung die Zulässigkeit von ärztlich assistiertem Suizid. 37. Neben vielen anderen Argumenten spielt in der Debatte um die Sterbehilfe auch die Berufung auf die Menschenwürde eine zentrale Rolle. Die einen sehen es als Ausdruck menschlicher Würde an, auch über den Zeitpunkt des eigenen Todes innerhalb des medizinisch und menschlich Machbaren entscheiden zu können. Die Achtung der Menschenwürde bemisst sich dann daran, inwiefern der Selbstbestimmung der und des Sterbenden entsprochen wird. Andere Positionen legen die Menschenwürde so aus, dass kein Mensch über das Leben und den Tod eines Menschen verfügen darf, auch nicht der einzelne Mensch hinsichtlich seines eigenen Sterbens. Danach würde es zur Achtung der Menschenwürde gehören, dass die Einzelnen in 36 ihrem individuellen Sterben möglichst intensiv nach ihren Wünschen begleitet werden und dass alle die Unverfügbarkeit von Leben und Tod dabei respektieren. Eine weitere Interpretation leitet aus der Menschenwürde die Pflicht zum Lebenserhalt ab. Daraus folgt dann nach Auffassung mancher auch die Verpflichtung, lebenserhaltende und lebensverlängernde Maßnahmen unter Umständen auch gegen den Willen des Patienten oder der Patientin einzusetzen. 38. Die hier aufgezeigten verschiedenen gesellschaftlichen und rechtlichen Debatten, die so vor Jahrzehnten noch nicht erkennbar waren, verweisen darauf, wie wichtig der WürdeBegriff zur humanen Selbstverständigung ist. Zugleich wird deutlich, wie sehr es auf die genaue Begründung und Interpretation des Würdebegriffs ankommt, wenn er zu einer konkreten Orientierung helfen soll. Die Pluralität und die Konkurrenz unterschiedlicher Vorstellungen machen aber auch klar, wie umstritten der Menschenwürde-Begriff ist. Die christlichen Kirchen erkennen heute an, dass die Rede von der Menschenwürde konfessionell bestimmten Begründungsmustern folgte. Diese konfessionelle Herangehensweise ließ vielfach offen, wie weit die ökumenische Gemeinsamkeit reicht. 37 2. Prinzipien der ethischen Urteilsbildung im Lichte konfessioneller Traditionen 2.1 Unterschiedliche konfessionelle Zugänge zur ethischen Reflexion 39. Weit verbreitet ist die Überzeugung, dass evangelische Ethik in Grundlegung und Konkretisierungen andere Optionen bereithält als die katholische Moraltheologie. Nicht selten werden in dieser konfessionellen Gegenüberstellung einseitige Zuschreibungen vorgenommen: Evangelische Ethik habe den einzelnen Menschen mit seiner unvertretbaren, freien Gewissensentscheidung im Blick, während die katholische Morallehre universal gültige Normen aufrichte und durch das Lehramt autoritativ verkünde. Solche konfessionellen Typisierungen beherrschen die öffentliche Diskussion in hohem Maße. Notwendig sind allerdings Differenzierungen und Präzisierungen, die schematische Abgrenzungen vermeiden und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede genau bestimmen. 40. Aus der Geschichte der Disziplinen leitet sich der Umstand her, dass auf katholischer Seite traditionell von Moraltheologie, auf evangelischer aber von Ethik gesprochen wird. Doch ist aus diesem Unterschied in der Begrifflichkeit kein Gegensatz in der Sache abzuleiten. Durchweg geht es um die Beurteilung ethischer respektive moralischer Phänomene, um die Begründung von Werten und Normen sowie um die Motivation zum Handeln im Interesse anderer und zum Wohl des Ganzen. In der evangelischen und der katholischen Theologie haben sich allerdings unterschiedliche Gestaltungen ethischer Konzepte und Typen ethischer Argumentation herausgebildet. Einige der wichtigsten sollen hier unter dem Aspekt diskutiert werden, inwiefern sie konfessionell geprägt sind und wie sie in einem ökumenischen Dialog verstanden werden können (2.5). 39 41. In dieser Studie werden die theologischen Grundlegungen der Ethik behandelt, und zwar sowohl in den Beziehungen zwischen Schrift und Tradition als auch bezogen auf die Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium (2.3). Beides sind klassische Parameter konfessioneller und ökumenischer Theologie. Außerdem untersucht der Text auch die Bedeutung der nicht-theologischen Wissenschaften für die theologische Urteilsbildung (2.4). Wegen ihrer besonderen Brisanz werden am Schluss die innerkirchlichen Beziehungen unter dem Aspekt behandelt, wie das menschliche Gewissen in seinen Beziehungen einerseits zum freien Diskurs der Meinungen, andererseits zur kirchlichen Autorität beschrieben werden kann (2.6). 42. Für eine Verständigung über grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Orientierung, wie sie hier im Blick auf die Menschenwürde vorgenommen wird, ist eine ökumenische Perspektive leitend. In jüngerer Zeit ist eine positive Veränderung in den Dialogbemühungen festzustellen. Es wächst zunehmend die Einsicht, dass gemeinsame Bemühungen um ein wechselseitiges Verstehen der unterschiedlichen Formen bei der ethischen Urteilsbildung die gesamte christliche Gemeinschaft bereichern. Unterschiedlichen Traditionen in der ethischen Urteilsbildung wird respektvolle Aufmerksamkeit geschenkt. Im Blick auf konfessionelle Prägungen der ethischen Urteilsbildung gilt es, den gegenwärtig viel besprochenen Grundansatz des „Receptive Ecumenism“ zu würdigen, der sich in Verwandtschaft mit der „Ökumene der Gaben“ weiß: Die der eigenen Tradition fremde Umgangsweise mit einer Thematik wird vom eigenen Standpunkt mit der Bereitschaft zur Wertschätzung und als mögliche Bereicherung des eigenen Horizonts betrachtet. Dies schließt den Streit bei alternativen Positionen im zweiten Schritt nicht aus. Angesichts der hohen Bedeutung der weltweiten ökumenischen Bemühungen, gemeinsam mit einer Stimme in Fragen der christlichen Ethik zu sprechen, wird deutlich, wie eng diese Herausforderung mit Grundfragen der Kirchenlehre verbunden ist. Aber nicht immer sind es konfessionelle Differenzen, die zu bedenken sind; vielmehr zeigen sich 40 im Blick auf das Verständnis zum Beispiel von Ehe, Familie und Sexualität auch deutlich kultur- und mentalitätsgeschichtliche Unterschiede innerhalb einer Konfession. 2.2 Wachsende ökumenische Verständigung in der ethischen Reflexion 2.2.1 Ethische Urteilsbildung als gemeinsame Aufgabe der Kirchen 43. Die Grundlagenbesinnung auf die Prinzipien der ethischen Urteilsbildung wird im ökumenischen Dialog inzwischen als zukunftsweisend betrachtet. Auf internationaler Ebene ist die katholische Kirche derzeit insbesondere im multilateralen ökumenischen Kontext an Studienprozessen mitbeteiligt, deren Ziel es ist, Fragen der Anthropologie und der Ethik in den Blickpunkt des Interesses zu rücken. Die Gemeinsame Arbeitsgruppe des Ökumenischen Rates der Kirchen und der Römisch-katholischen Kirche (Joint Working Group) hatte bereits 1987 damit begonnen, den sozialethischen sowie den individualethischen Fragestellungen verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken. Eine doppelte Perspektive war dabei von Beginn an leitend: Fragen der Ethik könnten sich als Quelle sowohl noch weitergehender Entfremdung als auch als eine Ermutigung zu einer neuen Verpflichtung zum gemeinsamen gesellschaftlichen Zeugnis erweisen. 1995 kam dieses Studienprojekt zum Abschluss und wurde unter dem Titel „The Ecumenical Dialogue on Moral Issues“8 veröffentlicht. Angesichts der Komplexität der Thematik verzichtet die genannte Studie auf eine Analyse spezifischer Kont8 World Council of Churches/Joint Working Group, The Ecumenical Dialogue on Moral Issues, in: Ecumenical Review 48 (1996), S. 143-154; deutsche Übersetzung: Der ökumenische Dialog über ethischmoralische Fragen: Potenzielle Quellen des gemeinsamen Zeugnisses oder der Spaltung. Ein Studiendokument der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der Römisch-Katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: DWÜ 3, S. 682-698. 41 roversen und die Formulierung materialer ethischer Normen. Stattdessen wird eine Situationsanalyse sowie eine Reflexion auf mögliche künftige Wege in den Dialogen über Fragen der Ethik vorgenommen. Einer Verständigung in inhaltlichen Themenbereichen der Ethik gehen grundsätzliche Reflexionen voraus. 44. Die Studie der Gemeinsamen Arbeitsgruppe verweist auf die Schwierigkeit einer angemessenen Hermeneutik der biblischen Zeugnisse und erinnert an die Unterscheidung zwischen „(unveränderlichen) Prinzipien ersten Ranges“ sowie „(gegebenenfalls veränderbaren) Regeln zweiten Ranges“. In diesem Zusammenhang erscheint die konfessionell unterschiedliche Berufung auf die menschliche „Natur“ sowie auf das „natürliche Sittengesetz“ von vorrangiger Bedeutung. Mehrfach kommt das Dokument auf die ekklesiologischen Implikationen der ethischen Urteilsbildung zu sprechen: Zwar gilt: „Die Ausbildung von Moral und Ethos ist eine Aufgabe, die allen Kirchen gemein ist. Alle Kirchen versuchen, das ethische Verantwortungsbewusstsein ihrer Glieder für ein Leben in Gerechtigkeit zu stärken und die ethischen Normen und das sittliche Wohl der Gesellschaft, in der sie leben, positiv zu beeinflussen.“9 Zugleich aber gibt es in den Kirchen „verschiedene kirchliche Autoritätsstrukturen für eine ethisch-moralische Urteilsbildung.“10 Zehn „Leitlinien für den ökumenischen Dialog über ethisch-moralische Fragen“ stehen am Ende des Dokuments: Aufrufe zu gegenseitigem Verständnis und Respekt; die Selbstverpflichtung, Ideale nur mit Idealen zu vergleichen und auf einen Nachweis von erlebten Unzulänglichkeiten in den anderen Traditionen zu verzichten; die Erwartung, dem gemeinsamen Erbe mit Wertschätzung zu begegnen; die gemeinsame Bereitschaft zum gesellschaftlichen Diskurs.11 9 Ebd., S. 687. Vgl. ebd., S. 690-693. 11 Ebd., S. 696-698. 10 42 45. Im bilateralen ökumenischen Dialog auf internationaler Ebene zwischen der Römisch-katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund kam im Kontext der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GER) zur Sprache, dass die „Beziehung zwischen Rechtfertigung und Sozialethik“ noch weiterer Klärung bedarf. Im Blick auf individualethische Fragen gilt es zu prüfen, welche Relevanz die im evangelisch-lutherisch/römisch-katholischen Gespräch auf internationaler Ebene in jüngster Zeit erarbeitete Studie zur bibeltheologischen Begründung der erreichten Konvergenz in der Rechtfertigungslehre im Blick auf das Verständnis von Anthropologie und Ethik hat.12 46. Die seit der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Vancouver 1983 verstärkten Anstrengungen zu einer Annäherung der ekklesiologischen und der ethischen Fragen haben in den Folgejahren eine entsprechende Schwerpunktsetzung in den Studienprogrammen von Faith and Order bewirkt.13 Bei der 5. Vollversammlung von Faith and Order 1993 in Santiago de Compostela wurde dieses Anliegen bekräftigt. Die Ergebnisse der im Anschluss initiierten Konsultationen wurden 1997 unter dem Titel „Ecclesiology and Ethics“ veröffentlicht.14 Dieser Sammelband dokumentiert die Berichte über drei Konsultationen zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts und präsentiert namentlich gekennzeichnete Reflexionen auf das gesamte Studienprojekt. Bei aller Anerkenntnis der Schwierigkeiten, die mit einer engeren Verbindung zwischen den seit Beginn der Ökumenischen Bewegung eher ge12 Vgl. W. Klaiber (Hrsg.), Biblische Grundlagen der Rechtfertigungslehre. Eine ökumenische Studie zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, Leipzig/Paderborn 2012. 13 Vgl. World Council of Churches (Hrsg.), Church and World. The Unity of the Church and the Renewal of Human Community. A Faith and Order Study Document, Genf 1990. 14 Vgl. T. F. Best/M. Robra (Hrsg.), Ecclesiology and Ethics. Ecumenical Ethical Engagement. Moral Formation and the Nature of the Church, Genf 1997. 43 trennten zwei Wegen der Ökumene – der sogenannten Sozialökumene auf der einen Seite und der Suche nach institutioneller sichtbarer Kircheneinheit auf der anderen Seite – verbunden sind, sieht sich Faith and Order angesichts des eigenen Bemühens um eine Verbindung dieser beiden Perspektiven auf dem richtigen Weg: „The Right Direction, but a Longer Journey“.15 47. In Fortführung des begonnenen Weges und unter Aufnahme des in der 8. Vollversammlung des ÖRK 1998 in Harare geäußerten Anliegens, die Fragen der menschlichen Sexualität intensiver zu bedenken, veröffentlichte Faith and Order 2005 ein Studiendokument zur christlichen Anthropologie.16 In Wahrnehmung der gegenwärtigen Herausforderungen angesichts der vielfältigen Beschädigung der Würde, insbesondere von kranken sowie an der Entfaltung ihrer Lebenswünsche gehinderten Menschen, optiert das Dokument auf der Basis der biblischen Botschaft von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen für ein gemeinsames ethisches Engagement der Kirchen. Von hier aus hat Faith and Order unter dem Arbeitstitel „Moral Discernment in the Churches“ von 2007 an weitere Überlegungen mit einer neuen Methodik begonnen: Fall-Studien (case studies) sollen ermöglichen, einen besseren Einblick in die Erkenntnis leitenden Prinzipien der ethischen Urteilsbildung zu gewinnen. Auf der Grundlage der Überzeugung, dass ökumenische Kontroversen in ethischen Fragen auf vielfältige Faktoren zurückzuführen sind, kann dieser Zugang zu exemplarischen Kontroversen biografische Aspekte als Quelle der Erkenntnis methodisch innovativ aufgreifen. Eng verbunden mit dieser Methodenwahl ist die Frage, wer das Subjekt in kirchlichen Entscheidungsfindungsprozessen ist. Zugleich soll durch diese Fall-Studien deutlicher werden, welche aus der theologischen 15 Vgl. L. Rasmussen, The Right Direction, but a Longer Journey, in: ebd., S. 105-111. 16 Vgl. World Council of Churches (Hrsg.), Christian Perspectives on Theological Anthropology. A Faith and Order Study Document, Genf 2005. 44 Tradition vertrauten Argumentationsformen in welchen Zusammenhängen Erkenntnisrelevanz gewinnen. 2.2.2 Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums als Grundlage der gemeinsamen ethischen Verständigung 48. Die von der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam herausgegebenen Texte zu ethischen Fragen lassen das in vielen Jahren gewachsene Bewusstsein einer ökumenischen Gemeinsamkeit im Glauben an den dreieinen Gott mit besonderer Klarheit hervortreten. Hier ist die gemeinsame Überzeugung leitend, nach der die Kirchen aus dem Wort Gottes leben, wie es ihnen ursprünglich im Zeugnis der Heiligen Schrift gegeben ist. Bei aller Differenz über Umfang und Auslegung der Heiligen Schrift sowie im Verständnis der Tradition und der Traditionen gibt es keinen Dissens im Verständnis der Grundbotschaft der Bibel und ihrer Bezeugung in der lebendigen Überlieferung des Glaubens. Mehr als einmal wird herausgestellt: Der Mensch kann allein auf die Treue und die Zuwendung Gottes, auf seine Gnade und Barmherzigkeit vertrauen. Als Grundlage der Verständigung in ethischen Fragen wird die Autorität der Heiligen Schrift anerkannt. Damit folgen die Dokumente der inzwischen im ökumenischen Dialog fest verankerten Einsicht in die gemeinsame Art und Weise, auf das Wort Gottes in der Heiligen Schrift zu hören, so wie diese Einsicht in der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“17 ausgedrückt wird. 49. Vor dem Hintergrund einer über anderthalb Jahrzehnte gewachsenen Praxis gemeinsamen Sprechens in sozialen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Problemkontexten lassen sich einige entscheidende Kernbereiche 17 DWÜ 3, S. 419-441; Klaiber, Biblische Grundlagen (siehe Anm. 12). 45 herausstellen, in denen sich Verständigungen in prinzipieller Hinsicht eingestellt haben. 2.2.3 Gottebenbildlichkeit als Fundamentalartikel Theologischer Anthropologie 50. Mit bemerkenswerter Klarheit und zugleich konsequent gehen die neueren sozialethischen Dokumente von einem gemeinsamen christlichen Verständnis des Menschen aus. Das Dokument „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ spricht gar vom „Menschenbild des Christentums“, welches „zu den grundlegenden geistigen Prägekräften der gemeinsamen europäischen Kultur“18 gehöre. Der Ansatz zur Darstellung der Perspektiven und Impulse für weltgestaltendes Handeln stellt in allen Dokumenten die Würde des Menschen als Person dar: „Der Mensch ist Person. Das ist Grundlage für alle ethischen Aussagen.“19 Hierbei wird nicht nur auf die christliche Tradition verwiesen, sondern die abendländische Geistes- und Kulturgeschichte gleichermaßen in Anspruch genommen. Dieser Fundamentalartikel jeder Ethik – ob christlich oder nicht – bildet den unhintergehbaren Ausgangspunkt für den Gang der Argumentation. Dabei wird konzediert, dass sich der Personbegriff sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch innerchristlich und zwischenkirchlich als pluriform erweist. Dennoch wagt das Dokument „Gott ist ein Freund des Lebens“ eine gemeinsame Begriffsklärung, auf die sich alle späteren Dokumente beziehen. Erst von ihrer Ausrichtung auf den Menschen und seine Würde her bekommen die verschiedenen ethischen Konzepte wie Tugend-, Normen-, Verantwortungs- und Güterethik ihre Relevanz, insofern es aus christlicher Sicht der Mensch ist, um dessentwillen gehandelt werden muss. 18 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1), Nr. 92; vgl. auch „... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“ (siehe Anm. 1), Nr. 97. 19 Ebd., Nr. 115. 46 2.2.4 Sozialverkündigung als gemeinsame ökumenische Aufgabe der Kirchen 51. Weil die Kirche aus dem Wort Gottes lebt, liegt ihr daran, die ihr anvertraute Botschaft der Bibel unter den gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen der Gegenwart und in Auseinandersetzung mit ihr den Menschen zu Gehör zu bringen. „Die Verkündigung des Wortes Gottes, seine Zuwendung zu allen Menschen, steht im Mittelpunkt kirchlichen Handelns.“20 Dieser Aufgabe wissen sich die christlichen Kirchen in gemeinsamem Zeugnis und Dienst verpflichtet. Es ist dabei die besondere Aufgabe der Kirchen, das Grundvertrauen auf Gottes Zusagen und seine Gnade zu verkündigen und damit eine Grundorientierung des Lebens zu eröffnen.21 Der Beitrag des christlichen Glaubens besteht demnach darin, im Vertrauen auf die Gnade Gottes Lebenszuversicht zu schaffen. „Der Glaube will zum Leben ermutigen.“22 Insoweit schließt der kirchliche Auftrag die Verkündigung der christlichen Glaubensbotschaft von Gottes Gnade und Heil ebenso ein wie die Sorge für den einzelnen Menschen und die öffentliche Verantwortung für eine menschenwürdige, freie, gerechte und solidarische Ordnung.23 Damit zeichnet sich als gemeinsame Position unter den Kirchen ab: Angesichts der komplexer werdenden ethischen Herausforderungen in der Moderne bleibt es primärer Auftrag der Kirchen, den Menschen das Evangelium zu verkündigen, um die biblische Botschaft unter den Menschen zu verbreiten. Im Zusammenhang mit der Debatte über die Rechtfertigungslehre hat der ökumenische Dialog aufgezeigt, dass die Kirchen gemeinsam Konsequenzen aus der Rechtfertigungsbotschaft für die Welt ziehen können und müssen. Die besondere Verantwortung für gesellschaftliche und politische Fragen steht außer 20 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1), Nr. 253. 21 Wieviel Wissen tut uns gut? (siehe Anm. 6), S. 19f. (Nr. 5). 22 Ebd. 23 „... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“ (siehe Anm. 1), Nr. 211. 47 Zweifel. „Die Kirchen können ihren besonderen Beitrag dazu umso überzeugender geben, je mehr es ihnen gelingt, die Botschaft von der Liebe Christi einmütig zu bezeugen.“24 Die Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums und die Verkündigung der Kirchen in sozialen Fragen hängen eng miteinander zusammen und lassen sich nicht voneinander trennen. 52. Von diesem primären Auftrag unterschieden, gleichwohl aber unmittelbar daraus folgend, wird es als eine wichtige Aufgabe der Kirchen verstanden, zur Gewissensbildung des und der Einzelnen beizutragen, um damit ein selbstständiges ethisches Urteil zu ermöglichen.25 In gleicher Weise vom primären Auftrag der Verkündigung unterschieden, aber nicht getrennt, gehört es zu den Aufgaben der Kirchen, für eine der biblischen Botschaft und dem christlichen Glauben verpflichtete Wertorientierung einzutreten. Der kirchliche Beitrag besteht dabei darin, Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern.26 Die Kirchen sehen ihre Kompetenz daher eher in einem aus dem christlichen Geist erfolgenden Dienst an und in der Gesellschaft, nicht aber in der Wahrnehmung unmittelbar politischer und ökonomischer Kompetenz. Insoweit betrachtet besteht in der Darstellung der Aufgabenbereiche der Kirchen in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht eine Übereinstimmung in der Erkenntnis, zwischen primärer kirchlicher Verkündigung und sekundärer gesellschaftlicher Verantwortung zu unterscheiden. 2.3 Theologische Grundlegungen der ethischen Reflexion 53. Die in den ökumenischen Gesprächen inzwischen erreichten weit reichenden Annäherungen in der Frage einer angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen der Heiligen Schrift 24 CS, Nr. 122. Wieviel Wissen tut uns gut? (siehe Anm. 6), S. 18f. (Nr. 3). 26 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1), Nr. 5. 25 48 und der theologischen Tradition ist im Kontext anthropologischer Überlegungen in ethischen Fragen von hoher Bedeutung. Hier muss das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, das für die evangelisch-lutherische Tradition typisch ist, eigens thematisiert werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Urteilskraft der menschlichen Vernunft zu biblischen Weisungen steht. Eigener Aufmerksamkeit bedarf die Frage, welche Relevanz der Einbezug von nicht-christlichen philosophischen Traditionen sowie von nicht-theologischen Wissenschaften bei der ethischen Urteilsbildung hat. 2.3.1 Schrift und Tradition – eine theologische Grundlagenbestimmung im ethischen Kontext 54. Als letzte Norm des Glaubens ist die Heilige Schrift das Ursprungszeugnis der Wahrheit des in Jesus Christus geoffenbarten Gottes. Eine angemessene, ökumenisch konvergenzfähige Bestimmung des Verhältnisses von Schrift und Tradition bildet die Überzeugung, dass das Wort Gottes als Heilige Schrift selbst in den Überlieferungsprozess in der Glaubensgemeinschaft eingebettet ist. Die Weitergabe des Evangeliums in der apostolischen Botschaft (das meint Tradition im Singular) ist von den unterschiedlichen Entfaltungen der biblischen Botschaft in oft zeitbedingten, situativ wechselnden Herausforderungen bestimmt, in denen konfessionelle Eigenüberlieferungen (das meint Tradition im Plural) zu unterscheiden sind.27 55. Die stets erforderliche Rückbesinnung auf die Heilige Schrift (als norma normans non normata) als Quelle aller heilsnotwendigen Wahrheit des Evangeliums und alleiniger Maßstab der Verkündigung der Kirche hebt aus katholischer Sicht die Bedeutung des Einbezugs der Tradition (als norma normans normata) 27 Abschließender Bericht, in: Th. Schneider/W. Pannenberg (Hrsg.), Verbindliches Zeugnis, III. Schriftverständnis und Schriftgebrauch, Dialog der Kirchen, Bd. 10, Freiburg i. Br./Göttingen 1998, S. 288-389. 49 bei der theologischen Urteilsbildung nicht auf. Pointiert lehrt das Zweite Vatikanische Konzil, dass die „Kirche ihre Gewissheit […] nicht aus der Heiligen Schrift allein […] schöpft“.28 Inhaltlich (materialiter) bleibt die Schrift als alleinige Erkenntnisquelle ausreichend, sofern es um die Heilswahrheit geht; methodisch (formaliter) ist die Achtung der Traditionszeugnisse im kommunikativen kirchlichen Austausch ein Weg der beständigen Selbstvergewisserung. Die Heilige Schrift bedarf der Auslegung im Lebensvollzug der Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil hält dabei ausdrücklich fest, dass das „Lehramt […] nicht über dem Wort Gottes ist, sondern […] ihm [dient], indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beispiel des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft.“29 Die Tradition bildet keinen inhaltlichen Zusatz zur Heiligen Schrift, sie ist aber unverzichtbar zum Verstehen der Heiligen Schrift. Eine ausdrückliche kritische Funktion der Heiligen Schrift gegenüber der Tradition hat die Offenbarungskonstitution „Dei verbum“ nicht vorgesehen. 56. Wenn aus evangelisch-lutherischer Sicht das sola scriptura betont wird, geht es gerade um die traditionskritische und in diesem Sinn genuin reformatorische Funktion der Heiligen Schrift. Es soll aber mit dem sola nicht ignoriert werden, dass die Schrift selbst in einem Traditionsprozess entstanden ist und durch Traditionen in der Kirche überliefert und bewahrt wird. Auch muss die Schrift ausgelegt werden; so entstehen Traditionen. Auch die evangelische Exegese weiß aber um das Vorverständnis, das sie bei der Auslegung der Texte mitbringt und das in einem unabschließbaren hermeneutischen Prozess bewusst gemacht werden muss. Das sola scriptura betont die besondere Funktion der Schrift als norma normans non normata; demgegenüber sind die kirchlichen Bekenntnisse norma normans 28 29 DV 9. DV 10. 50 normata. Das sola scriptura stellt die Schrift insofern als kritische Instanz der Kirche gegenüber, als alle Verkündigung der Kirche an ihrer Übereinstimmung mit der Schrift gemessen werden muss. Die Heilige Schrift ist das Kriterium für kirchliche Lehre und christliches Leben. 57. Diese grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Glauben und Handeln. Die biblischen Schriften sind in einer Zeit entstanden, in denen viele Fragen, die heute einer ethischen Beurteilung bedürfen, sich noch nicht stellten. Dies trifft insbesondere auf den gesamten Bereich der durch Fortschritte der Medizin und Technik bestimmten Handlungen des Menschen zu. Bei anderen Themenkreisen – wie Ehe, Familie und anderen Fragen des individuellen Lebens – sind zwischen den biblischen Zeiten und heute Veränderungen auf der Ebene humanwissenschaftlicher und psychologischer Erkenntnisse zu berücksichtigen, die sich bei der ethischen Urteilsbildung auswirken. Hier bedarf es der grundlegenden hermeneutischen Überlegung, in welcher Weise die biblischen Weisungen angesichts ihrer geschichtlichen Kontextualität und angesichts neuer Entwicklungen heute zu verstehen und aufzunehmen sind. Eine solche Hermeneutik der Aktualisierung kann im Ansatz nicht fraglich sein, weil die Bibel in allen Bereichen des Glaubens und der Moral immer auf eine aktualisierende Auslegung angewiesen ist. Allerdings gibt es Differenzen über die Kriterien und die Ergebnisse dieser Aktualisierung. Teils bestehen sie zwischen den Konfessionen, nicht selten aber auch innerhalb der Konfessionen. Die Konsequenz kann nur in einer vertieften Schrifthermeneutik bestehen. Hierfür gibt es auf evangelischer30 wie auf katholischer31 Seite neue Überlegungen. In 30 M. Bünker/M. Friedrich (Hrsg.), Gesetz und Evangelium. Eine Studie, auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen, Leuenberger Texte, Heft 10, Frankfurt a.M. 2007. 31 Päpstliche Bibelkommission, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 184, Bonn 2009. 51 dieser Studie wird die Schrifthermeneutik nicht als solche thematisiert. Aber unter dem Aspekt der Menschenwürde und ihrer theologischen Bedeutung für die Ethik wird das Zeugnis der Heiligen Schrift in einer ökumenisch gemeinsamen Arbeit exegetisch erhoben (in 3.1) und theologisch erschlossen (in 3.2). 2.3.2 Gesetz und Evangelium – eine theologische Unterscheidung im ethischen Kontext 58. Die durch die Reformation Martin Luthers geprägte Theologie hat die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zum Kriterium rechter Schriftauslegung gemacht. Die Zuordnung von Gesetz und Evangelium wird zur bleibenden theologischen Aufgabe. Sie ist nicht mit dem Gegensatz zwischen Altem und Neuem Testament identisch, wie bisweilen missdeutet wird. Sie hat auch nichts mit den Unterschieden zwischen jüdischer und christlicher Exegese zu tun. Sie ist vielmehr eine spezifische Ausprägung christlicher Schrifthermeneutik, die das Gesetz in seiner richtenden Funktion vom Evangelium unterscheidet, der „Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt“ (Röm 1,16f.). 59. Diese Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium hat Konsequenzen für die ethische Fragestellung. Gebote stehen aus lutherischer Sicht keineswegs eo ipso im Verdacht der Gesetzlichkeit. Wenn sie dem Evangelium entsprechen, leiten sie die Glaubenden vielmehr an, nach den Weisungen Gottes zu leben. Freilich kann mit dem Halten der Gebote das Heil nicht verdient werden. Dennoch ist das Verhalten nicht ins Belieben gestellt. Die guten Werke sind die Folge der Rechtfertigung, nicht deren Voraussetzung. Gebote werden im Glauben erfüllt; dies geschieht im Wirken des Heiligen Geistes. So soll das von Gott kommende Gute an die Menschen weitergegeben werden und die Gemeinschaft, in der Christinnen und Christen leben, bereichern.32 32 Die lutherische Zuordnung von Gesetz und Evangelium, in: Gesetz und Evangelium (siehe Anm. 30), S. 23-35. 52 60. Die katholische Moraltheologie kennt diese Unterscheidung von Gesetz und Evangelium aus ihrer eigenen Tradition nicht. Sie hat in ihren traditionellen Handbüchern nach einer philosophischen, nicht aber nach einer biblischen Grundlegung der christlichen Ethik gesucht. Man spricht daher sogar von einer traditionellen Schriftvergessenheit katholischer Moraltheologie. Das Zweite Vatikanische Konzil hat deshalb zu Recht eine Erneuerung der Moraltheologie aus den biblischen Quellen gefordert. Moraltheologie soll, aus der Lehre der Schrift reicher genährt, wissenschaftlich dargelegt werden.33 Die Bibel enthält die Verkündigung der Heilsbotschaft des Evangeliums. Dazu gehört auch die Ethik. Die Verkündigung des Heilshandelns Gottes geht allen Geboten voran. Die Hermeneutik der Gebote muss deshalb ihren Zusammenhang mit der grundlegenden Heilsverkündigung wahren. Die Auslegung der Heiligen Schrift ist im Blick auf die ethischen Fragen auf den in der Schrift erhobenen Anspruch Gottes an den Menschen ausgerichtet. So betrachtet, ist auch der katholischen Moraltheologie der unterschiedliche Gebrauch des einen Wortes Gottes vertraut. Die Heilige Schrift enthält die Gebote der Tora, die von Jesus nicht aufgelöst, sondern erfüllt werden (Mt 5,17-20); sie überliefert die Ethik Jesu, die von seinem eigenen Verhalten geprägt ist; sie bezeugt auch die Gebote der Apostel, die das Evangelium in seinem ethischen Anspruch in einem anderen historischen Kontext neu entdecken. Die Moraltheologie bezieht diese Gebote auf die verschiedenen Lebenssituationen der Menschen. Deswegen ist auch in der katholischen Moraltheologie von einem spannungsreichen Verhältnis zwischen dem Reich Gottes, dem umfassenden Heilsbegriff, und Ethik, der konkreten Lebensorientierung, die Rede. In diesem Horizont öffnet sich auch ein Zugang der katholischen Theologie zum lutherischen Konzept von Gesetz und Evangelium, wenn es mit der neueren Diskussion ökumenisch ausgelegt wird. Das Miteinander von Verkündigen und Lehren spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle. Wenn die katholische Theologie die positive Funktion des 33 OT 16. 53 Gesetzes in den Vordergrund stellt, Gottes gerechten Willen zu bezeugen, geschieht dies auf der Basis des Evangeliums, das mit dem Wort Jesu zu Umkehr und Glauben fordert (Mk 1,15). 2.4 Erkenntnisse durch das Gespräch mit nicht-theologischen Wissenschaften 61. In allen Fragen der Individual- wie der Sozialethik erscheint es heute nicht nur angeraten, sondern geradezu geboten, das Gespräch mit den nicht-theologischen Wissenschaften zu suchen. Ein solches Vorgehen ergibt sich aus der Erkenntnis, dass menschliche Lebens- und Entscheidungsbereiche heute im hohen Maße durch technische und wissenschaftliche Fortschritte und Erkenntnisse geprägt sind. Aufgrund der Komplexität der zur Entscheidung anstehenden Fragen sind fachkundige Stellungnahmen oder Expertisen von Fachleuten unumgänglich. Für die katholische Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich dazu ermutigt, die Autonomie der Wissenschaften in ihrem Sachurteil zu respektieren. Auch die lutherische Theologie kann aufgrund ihrer Würdigung der Vernunft für den Umgang des Menschen mit seiner Welt andere, nicht-theologische Wissenschaften in ihrer Funktion für die Gestaltung des Lebens anerkennen. Zu klären ist dabei freilich jeweils, wie in die wissenschaftlich und technisch orientierten Sachentscheidungen der Horizont des Gottesbezuges integriert werden kann. 62. Unter den nicht-theologischen Wissenschaften sind vor allem jene, die unter dem Begriff der „Lebens- oder Humanwissenschaften“ zusammengefasst werden können, für die Theologie von besonderer Bedeutung. Im weiteren Sinn sind auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angesprochen. Hier werden über die medizinischen und technischen Bereiche hinaus relevante Lebensbereiche in den Blick genommen, die auf ethische Orientierungen angewiesen sind. Diese nicht in jeder Hinsicht klare Terminologie macht darauf aufmerksam, dass einzelne wissenschaftliche Disziplinen – vorrangig die Medizin oder 54 die Psychologie – das menschliche Leben zum Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung haben. Dabei sind nicht nur die Bedingungen der rein vitalen Existenz im Blick, vielmehr richtet sich heute in der Medizin das Augenmerk auf die psychosozialen Rahmenbedingungen des Lebens. In sehr differenzierter Weise werden die fördernden und die schädlichen Einflüsse auf die Lebensgestaltung, die sich in Langzeitstudien erkennen lassen, bedacht. Neben der Medizin erheben die Rechtswissenschaften den Anspruch, einen Beitrag zur ethischen Urteilsfindung in der Gesellschaft zu leisten. Die Bewahrung des Lebens möglichst vieler Menschen steht im Mittelpunkt des Interesses einer Reihe unterschiedlicher Wissenschaften und Wissenschaftsbereiche. 2.5 Grundformen ethischer Argumentation im Christentum 63. Jede ethische Verständigung bezieht die Darstellung und Profilierung verschiedener tradierter philosophischer und theologischer Theorien vom richtigen und guten Leben ein. Ethische Theorien und Konzeptionen werden oft konfessionell anders bewertet. Auch wenn sich philosophische und theologische Ethikkonzeptionen in ihren Begründungen unterscheiden, weisen sie doch schon aufgrund ihrer gemeinsamen Geschichte Parallelen auf. Den Kirchen geht es darum, im pluralen Diskurs theologisch-ethische Positionen so zu formulieren, dass sie als Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Urteilsbildung wahrgenommen werden können. Im Folgenden werden einige grundlegende ethische Orientierungen beschrieben, die in öffentlichen Debatten vielfach Anwendung finden. Dabei zeigt sich, dass sich die grundlegenden Orientierungen vielfach überlappen können und sich gegenseitig nicht ausschließen müssen. 64. Die folgende Diskussion von verschiedenen normativen Ansätzen will im Blick behalten, dass Prinzipien und Einzelnormen unterschieden werden müssen. Die Findung und Statuie55 rung von Normen geschieht nicht über eine reine Ableitung aus Grundprinzipien. Ethische Urteilsbildung erschöpft sich auch nicht allein in der Anwendung von Normen. Eine gründliche Analyse der Situation spielt für die ethische Urteilsbildung ebenfalls eine entscheidende Rolle. Aus christlicher Sicht haben ethische Normen ihre Aufgabe darin, den Anderen und sein Wohl wahrzunehmen und ins Zentrum der ethischen Reflexion zu stellen. Ethische Normen sind aus christlicher Sicht nicht um ihrer selbst willen interessant. Überdies ist beim Urteil darüber, was zu tun ist, eine realistische Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeiten notwendig. 2.5.1 Naturrecht und natürliches Sittengesetz 65. In der neueren katholischen Moraltheologie ist eine naturrechtliche Argumentationsweise zur Begründung konkreter Handlungsnormen weithin zugunsten anderer Argumentationsweisen aufgegeben worden. Wenn sie überhaupt noch Verwendung findet, geschieht dies in kritisch-reflektierter Form. Es gibt aber auch Bemühungen, zu einer differenzierten Sicht des Naturrechts und des natürlichen Sittengesetzes zu finden.34 Die moraltheologische Erneuerung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil richtete ihr Augenmerk auf die produktive Auseinandersetzung mit der Vorstellung von der unhintergehbaren Autonomie des Menschen in ethischen Fragen. Damit war keineswegs vordergründig gemeint, die moraltheologischen Vorgaben aus dem Kontext der kirchlichen Lehrverkündigungen herauszuziehen, sondern die Vernunftgemäßheit, die Rationalität und die Wahrheitsfähigkeit sittlicher Aussagen zu ermöglichen. Dieser Einsicht liegt die Überzeugung zugrunde, dass es eine der Wirklichkeit innewohnende Wahrheit oder Vernünftigkeit gibt, die erkennbar, aussagbar und mitteilbar ist. Diese 34 Internationale Theologische Kommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz, Rom 2009. 56 Rationalität der Wirklichkeit besitzt ihre eigene Autonomie. Das Zweite Vatikanische Konzil sprach deshalb auch ganz bewusst von einer gewissen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten.35 Sittliche Urteile sind formulierbar, verstehbar, anwendbar. Die wissenschaftliche Theologie hat bei ihrer methodischen Neuorientierung ganz auf die Rationalität der moralischen Normen und Urteile gesetzt. Solche Artikulationen der Vernunft sind keine beliebig formbaren Gegenstände, sondern entspringen der menschlichen Praxis und geben Erfahrungen und geschichtliches Wissen weiter. 66. Ausgangspunkt eines heutigen katholischen Naturrechtsdenkens ist die universale Suche nach einer gemeinsamen ethischen Sprache, die alle Menschen betrifft.36 Naturrechtsethik will universale Ethik sein. Es geht hierbei um Grundorientierungen eines sittlich-moralischen Handelns, das Übereinstimmungen mit der Natur der menschlichen Person sucht. Aufgrund des universalen Anspruches des modernen Naturrechtsdenkens ist klar, dass das Christentum selbst kein Monopol für das natürliche Sittengesetz besitzt. Dieses gründet in der allen Menschen gemeinsamen Vernunft. Das Naturgesetz will daher auch keinen Sonderbereich der allgemeinen Ethik darstellen, sondern zielt von Anfang an auf die Universalität ethischer Fragestellungen. Das natürliche Sittengesetz ist kein geschlossenes und vollständiges Ganzes sittlicher Normen. Ausgangspunkt der grundlegenden Orientierung ist die schon bei Thomas von Aquin vorzufindende Einsicht des Naturrechts, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Freilich bleibt das Naturrecht nicht bei dieser Allgemeinheit stehen. Es setzt daher darauf, aus der Allgemeinheit des Gesetzes herauszutreten. Drei wesentliche Gesichtspunkte macht das heutige katholische Naturrechtsdenken dabei geltend: die eigene Existenz zu erhalten und zu entwickeln, das Überleben der Art zu realisieren und zu sichern, mit allen Menschen guten Willens in den Dialog zu treten. Da35 36 GS 36. Auf der Suche nach einer universalen Ethik (siehe Anm. 34), Nr. 3. 57 bei ist insgesamt die Geschichtlichkeit des natürlichen Sittengesetzes zu berücksichtigen. Die traditionelle katholische Moraltheologie verstand sich vorwiegend als Gesetzesethik, in deren Zentrum der Gedanke der Gebotserfüllung steht. Heutige Moraltheologie vollzieht im Unterschied zu einer solchen Gesetzesethik die Idee der Vernünftigkeit und vernünftigen Begründbarkeit von Normen. 67. Auch die reformatorische Theologie hat in ihrer Geschichte ein Naturrecht vertreten, obwohl sie es immer wieder scharf kritisiert, ja auch verworfen hat. Im Anschluss an Röm 1,19 war sie davon überzeugt, dass Gott im Herzen und Gewissen aller Menschen sein Gebot eingeschrieben hat. Dieses in seiner inhaltlichen Gestalt nicht von kulturellen, historischen oder religiösen Kontexten abhängige Gebot Gottes gilt immer und überall. Zu diesem Naturrecht gehören die Zehn Gebote, die Goldene Regel und die Aequitas. Für Luther gehören auch die drei Stände, in welche die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts gegliedert war, in den Bereich des Naturrechts. Das Handeln der und des Glaubenden orientiert Luther freilich am Evangelium, nicht am Gesetz, insofern durch den Glauben an die Rechtfertigung der Mensch frei wird für die Liebe Gottes und des Nächsten. Nicht eine allgemeine Norm, sondern die konkrete Not des Anderen soll das Handeln des Christen leiten. Naturrecht hat daher seine Funktion im Bereich des weltlichen Regimentes Gottes. Im Bereich des geistlichen Regimentes gilt jedoch uneingeschränkt das Evangelium. In der späteren evangelischen Theologie gab es im Kontext der Kritik an der Natürlichen Theologie eine starke Ablehnung naturrechtlichen Denkens, insofern Argumentationsformen natürlicher Theologie zur Unterstützung einer nationalsozialistischen Rasse- und Volksideologie herangezogen wurden. Dem naturrechtlichen Denken wurde entgegengehalten, dass nur eine strikt christologische Orientierung es ermögliche, eine Begründung jeder beliebigen ethischen Norm durch naturrechtliche Überlegungen zu verhindern. Neuere Beiträge vor allem aus der skandinavischen Lutherforschung haben eine lutherische Konturierung naturrechtlichen Denkens vorgelegt, 58 die insbesondere der Begründung der Universalität der Menschenrechte dienen kann. 2.5.2 Verantwortungsethik 68. Jede ethische Orientierung sucht danach, der Verantwortung des Menschen für seinen und ihren Nächsten gerecht zu werden. Während natur- oder vernunftrechtlich geprägte Ethik stärker die Prinzipienorientierung des Handelns einfordert, rückt eine Verantwortungsethik die Begegnung mit dem Anderen in den Mittelpunkt. Der Begriff der Verantwortung richtet sich deshalb an der Relation aus. In diesem Sinne orientiert sich evangelische Ethik stärker an der Leitkategorie der Verantwortung als an Prinzipien oder Normen. Damit will sie zur Geltung bringen, dass das jeweilige menschliche Individuum mit seiner konkreten Not der primäre Adressat des guten Handelns ist. Sie befürchtet, dass bei einer zu starken Prinzipienorientierung der Nächste ob einer Orientierung an allgemeinen Pflichten, der eigenen Tugend oder dem zu erreichenden Gut leicht übersehen werden kann. Ebenso wie für die evangelische Ethik gehört auch für die katholische Moraltheologie der Begriff Verantwortung zu den ethischen Leitbegriffen einer zukunftsorientierten Ethik. 69. Verantwortlich zu sein heißt rechenschaftspflichtig sein. Gegenüber einer materialen Orientierung an Sachen, Gütern und Werten stellt Verantwortungsethik die Rechenschaft des Menschen vor Gott, dem Nächsten oder der Gesellschaft in den Vordergrund. Verantwortlich zu sein heißt, die Folgen seines Handelns im Voraus zu bedenken zu versuchen und für die entsprechende Entscheidung einzustehen. Dabei lassen sich vielfältige Relationen unterscheiden. Verantwortungsethik sucht Antworten auf folgende Fragen zu finden: Wer ist verantwortlich wofür, weswegen, vor wem, wann und wie? Entscheidend bei der Beantwortung dieser Fragen ist die Erkenntnis, die unterschiedlichen Fragerichtungen miteinander kombinieren zu 59 können, um dabei die Verantwortungssituation, in der der einzelne oder Institutionen stehen, schärfer in den Blick zu nehmen. Verantwortungsethik soll sich nicht in einem bloßen Appell an das Verantwortungsbewusstsein erschöpfen, sondern muss auch auf die ethischen Konkretionen hinweisen. 70. In evangelischer Tradition ist das Gewissen der Ort der Erfahrung des Rechtfertigungshandelns Gottes. Gott befreit den Menschen aus seiner Sündenverstrickung und bindet ihn an sein Wort. In seinem Gewissen wird der Mensch mit dem Urteil Gottes über sein Handeln konfrontiert. So weist Gott dem Menschen in dieser Zeit und unter den geschichtlichen Bedingungen den Weg des Glaubens in und nach seinem Gesetz, das in Christus bereits erfüllt ist. Die Gebote Gottes bleiben im Gerechtfertigten in Geltung. So verstanden lebt der Mensch sein Leben in Verantwortung vor Gott. Dieser Verantwortung vor Gott muss der Mensch schließlich in den verschiedenen weltlichen Verantwortungsbezügen gerecht werden. 2.5.3 Diskursethik 71. Handlungsnormen können unterschiedlich begründet werden. Bezüglich bestimmter moralischer Probleme können verschiedene normative Geltungsansprüche erhoben werden. Dass man sich bei fortwährend strittigen moralischen Problemen auf eine Einigung verständigen sollte, ist wünschenswert und nachvollziehbar. Im Rückgriff auf die Kantische Ethik will eine Diskursethik im freien argumentativen Gespräch der gesellschaftlichen Individuen und Gruppen einen vernünftigen und friedlichen Konsens darüber finden, was verantwortlich zu tun ist. In Diskursen muss eine Verständigung über Geltung und Reichweite von Normen gefunden werden. 72. Bei der Diskursethik geht es nicht um Normenbegründung im eigentlichen Sinn, sondern um die Klärung der Frage, wie im Dialog ein Konsens hinsichtlich strittiger Normen hergestellt 60 werden kann. Diesem Anliegen kann sich auch die theologische Ethik – gleich welcher Provenienz – nicht verschließen. Auf der Grundlage ihres christlichen Glaubens hat sie ihre Argumente sowohl rational als auch konsensorientiert einzubringen. Damit ein solcher Dialog gelingen kann, hat die Diskursethik Regeln aufgestellt, insbesondere um die Ehrlichkeit und bleibende Offenheit des Gesprächs der verschiedenen Glieder der Gesellschaft zu sichern. 1. Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. 2. Jeder und jede darf jede Behauptung problematisieren, aber er oder sie muss Gründe dafür angeben. 3. Jede und jeder soll nur das in den Diskurs einbringen, wovon sie oder er auch tatsächlich überzeugt ist. 4. Niemand darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine oder ihre Diskursrechte wahrzunehmen. 73. Der Vorteil der Diskursethik ist, dass sie im Kontext moderner Gesellschaften eine hohe Plausibilität aufweist. Sie versteht sich als kultur- und zeitunabhängig, von allen vernünftigen Wesen in gleicher Weise nachvollziehbar, also universal. Dennoch ist sie für die ständigen Wandlungen des Lebens offen und versucht die Erfahrungen der Menschen aufzunehmen. Was sich im Diskurs als Konsens erweist, besitzt dann normative Gültigkeit. Hinterfragt wird die Diskursethik hauptsächlich deswegen, weil sie jeden Grundlagenkonflikt für prozedural lösbar hält. Auch setzt der Diskurs bereits elementare moralische Prinzipien wie die Ehrlichkeit der Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer, deren wechselseitiges Lebensrecht und deren Meinungsfreiheit voraus; diese moralischen Prinzipien werden mithin nicht erst durch Diskurs hergestellt. Zu erörtern ist weiterhin, wie man mit der Abwesenheit der zukünftig Betroffenen (Embryonen, Kleinkinder, künftige Generationen) und mit jenen umgeht, die (noch) nicht diskursfähig sind (geistig Schwerstbehinderte). Schließlich stellt sich die kritische Frage, ob und inwieweit überhaupt ein Konsens diskursiv erzielt werden kann. Von den normativen Ansprüchen der Diskursethik zu unterscheiden, wenn auch nicht zu trennen, ist die diskursive Verständigung über Inhalte. Die christ61 lichen Kirchen suchen in modernen Gesellschaften die diskursiven Verständigungen zu stärken. 2.5.4 Tugendethik 74. Im Gegenüber und zum Teil im Gegensatz zur Normenethik hat sich schon in der Antike die Tugendethik entwickelt. In der aktuellen Ethikdiskussion findet die in der Tradition von Aristoteles und Thomas von Aquin stehende Tugendethik besondere Beachtung. Tugend kann verstanden werden als eine Disposition, welche unsere Handlungen, aber auch unsere Gedanken und Emotionen formt. Bei der Tugend geht es nicht um ein einmaliges Handeln, auch nicht um ein Set von praktischen Verhaltensregeln, sondern um bleibende Einstellungen und Geneigtheiten (Grundhaltungen), die sich in einem guten Lebensstil niederschlagen und dem Handelnden ein „moralisches Gesicht“ verleihen. Meistens redet man von Tugenden im Plural, z. B. den Kardinaltugenden (Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit). Spricht man von Tugend im Singular, versteht man darunter insbesondere die freie und leichte Entscheidung zum Guten, die sodann in den Einzeltugenden zum Ausdruck kommt. Wie das Denken und das Handeln des Menschen sind auch Tugenden auf geschichtliche Situationen bezogen und erhalten in ihnen ihren Sinn. Großmut war für Aristoteles eine ethische Tugend, heute ist sie fast vergessen. Die die eigene Person zurücknehmende Tugend der Demut hielt Aristoteles für so wenig wert wie Selbstüberschätzung und Aufgeblasenheit. Im Mittelalter wurde die Demut unter dem Einfluss des Christentums zu einer wesentlichen Tugend; in der Gegenwart ist sie vollkommen verblasst und drückt eher eine negativ verzichtende Haltung aus. Dagegen war die heute hochgeschätzte Tugend der Fairness Aristoteles unbekannt. Tugenden sind stark im Wandel begriffen. 75. Die Frage nach der Bedeutung von einzelnen Tugenden für das sittliche Handeln ist zu unterscheiden von der Frage nach der Möglichkeit einer Tugendethik in Absetzung von einer nor62 mativen Ethik deontologischer wie teleologischer Art. Die Ethik und Moraltheologie der letzten Jahre waren sehr von der Normproblematik geprägt und haben damit eine Gestalt von Ethik und Moraltheologie vorangetrieben, die auf ein Sollen und Müssen abzielt. Eine Tugendethik bezieht sich weniger auf die Denkform des Sollens, sondern motiviert durch ein entwickelbares Können, das im Gelingen auf ein Gutes hinführt. Eine Tugendethik trägt vor allem der Bedeutung des Affektiven und der Motivation in der sittlichen Handlung Rechnung. 76. Dennoch ist die Leistungsfähigkeit einer Tugendethik begrenzt. Sie enthält keine vollständige Antwort auf die Fragen, was soll, was muss sein, was ist zu tun? Wer Rat sucht, dem ist unter Umständen wenig geholfen mit dem Hinweis: Handle tapfer! Handle als ein guter Freund! Außerdem vermag eine Tugendethik nicht die gelegentlich auftretenden (und unvermeidbaren) tragischen Auswirkungen menschlichen Handelns direkt einzuschätzen, da ihr Begriffsschema in der Vorstellung vom guten Menschen wurzelt. Tugenden sind wesentliche Momente moralischen Lebens, machen aber Kriterien zur Beurteilung einer Handlung nicht überflüssig. 77. Auch wenn in der Theologiegeschichte die katholische Moral einer Tugendlehre mehr zugeneigt war als die evangelische Ethik, ist heute kein grundlegender Unterschied festzustellen. Seit einigen Jahren sucht auch die evangelische Ethik in Aufnahme von tugendethischen Fragestellungen die mit Tugenden anzusprechenden Verhaltensdispositionen der Menschen und innere Überzeugungen in den Mittelpunkt zu rücken. Beide plädieren für eine Komplementarität im Sinne einer Ergänzung einer Normenethik durch die Tugendethik. 2.5.5 Güterethik 78. Nach Aristoteles ist die Bestimmung eines Gutes das Ziel, zu dem alles strebt. Ein Gut ist etwas, das erstrebt wird. Von hier 63 aus unternimmt Aristoteles die Beschreibung seiner Ethik, nach der es ein höchstes Gut für den Menschen gibt, das zu erstreben er durch seine Natur bestimmt ist. Dieses Gut nennt Aristoteles Eudaimonia. Das Glück ist das letzte Ziel aller Handlungen von Menschen. Der Begriff des Guten ist in der ethischen Tradition vor allem mit der Frage nach dem Glück verbunden worden. Doch erschöpft sich darin die Bedeutung der moralischen Orientierung keineswegs. Für das Leben und Zusammenleben der Menschen werden Güter als wichtig erachtet, die notwendig sind, damit Leben gelingen kann: z. B. Gesundheit, Freiheit, Frieden, Sicherheit des Eigentums. Vor allem im Blick auf die Frage nach den Menschenrechten ist eine solche Güterethik von hervorgehobener Bedeutung. 79. Friedrich Schleiermacher gilt innerhalb der evangelischen Theologie als einer der profiliertesten Vertreter einer Güterethik, obwohl ihm selbst eine Kombination aus Güter-, Tugendund Pflichtenlehre als Ideal vorschwebte. Charakteristisch für die Güterethik ist, dass sie das Handeln des Menschen in seiner Zielorientierung beschreibt, sei dies nun ein letztes Ziel oder seien es konkrete Ziele. Schleiermacher bestimmt als das höchste Gut eine Einheit von Vernunft und Natur. Es ist die Bestimmung des Menschen, die Natur mittels seiner Vernunft zu durchdringen, um so beide miteinander zu vereinen. Da dies auf verschiedene Weise geschehen kann, ergeben sich vorgelagerte Handlungsfelder, die konkrete „Güter“ beschreiben: Wissenschaft, Religion, Politik etc. So wird der Mensch als ein auf Zukunft ausgerichtetes Wesen bestimmt, das zugleich in konkreter Weise auf seine Welt- und Selbstgestaltung ansprechbar ist. 80. Gerade in der Verknüpfung des Guten mit dem Glück liegt eine tiefe Problematik dieser ethischen Konzeption, die sich bis in die Moderne hinein zieht. Unabweisbar ist die Forderung, das Gute um seiner selbst willen zu wollen. Schwieriger wird es, wenn man fragt, was das Gute überhaupt sei. Wenn die Antwort auf diese Frage lauten müsste, das Gute ist das, was für mich gut ist, dann droht eine gefährliche Perversion des ethi64 schen Themas. In der Bindung der Frage nach dem Guten an das Streben nach privatem Glück lässt sich eine tiefe Paradoxie aller Suche nach dem Guten um seiner selbst willen ausmachen. Immanuel Kant hat angesichts dieses Dilemmas dafür plädiert, zwischen dem obersten und dem höchsten Gut zu unterscheiden. In einer solchen Hierarchie der Güter lassen sich zwar Zielkonflikte nicht vermeiden, die Ausrichtung auf durchaus fragwürdige und eher zeitliche Güter lässt sich aber besser kontrollieren und korrigieren. Das Gute um seiner selbst willen zu wollen, ist ein fundamentales Motiv jeder Ethik. 2.6 Individuelle und institutionalisierte Formen der ethischen Entscheidungsfindung 2.6.1 Gewissen und synodale Prozesse 81. Die Ausrichtung am eigenen Gewissen ist für evangelische und katholische Christen und Christinnen Orientierungspunkt der ethischen Entscheidungsfindung. Die Bildung des Gewissens geschieht in der kirchlichen Gemeinschaft und im Dialog. 82. „Evangelische Tradition ist […] daran orientiert, zwischen dem Auftrag des kirchlichen Amtes, über der Lehre zu wachen, und der im Glauben gebundenen Gewissensentscheidung des einzelnen im christlichen Leben zu unterscheiden, ohne doch Lehre und Ethik auseinanderreißen zu wollen.“37 Verantwortung für die rechte Lehre kommt dabei nicht nur den Pfarrern und Pfarrerinnen (in Zusammenarbeit auch mit den nichtordinierten theologischen Lehrern und Lehrerinnen) zu, sondern es haben „auch die aus Laien und Ordinierten zusammengesetzten Synoden und die Gemeinden selbst an der Verantwortung für die rechte apostolische Lehre teil.“38 37 38 KWS, Nr. 76. Ebd. 65 83. Letztlich sind nach evangelischem Verständnis die Gemeinden selbst für die Beurteilungen von Fragen der Lehre und des Lebens verantwortlich. Sie beauftragen die Synode, zu Fragen der Lehre Stellung zu nehmen. Auf den Synoden wird durch demokratische Diskurse und Wahlen ein inhaltlicher Konsens innerhalb der Kirche in Fragen von Ordnung, Lehre und Leben ermittelt, wobei für die Bereitstellung der entsprechenden theologischen Kompetenz die Theologischen Fakultäten unverzichtbar sind. „Konziliarität bezeichnet […] die besondere Form, in welcher in der christlichen Kirche der Streit um die Wahrheit und um deren Konsequenzen ausgetragen wird. […] Die Kirche als die Gemeinschaft der Verschiedenen bedarf einer Lebensform, in der die Einheit in der Pluralität immer wieder neu gewonnen werden kann.“39 Synodale Entscheidungen sind, weil im Vertrauen auf den Geist und im Wissen um die Geschichtlichkeit menschlicher Wahrheitserkenntnis getroffen, „für künftige Revisionen offen“.40 Bei allen Fragen von Lehre, Leben und Ordnung bleiben formal Schrift und Bekenntnis und inhaltlich die Lehre von der Rechtfertigung der normierende Orientierungspunkt. 84. Von dem bei Synoden durch öffentlichen Diskurs hergestellten Konsens ist der magnus consensus41 noch einmal zu unterscheiden. Ein solcher wird nicht durch Mehrheitsverhältnisse beschlossen oder hergestellt, sondern er besteht bzw. „stellt sich ungesucht und unverfügbar ein“, durch „ein unverfügbares Wirken des Geistes“; von Menschen kann er nur „festgestellt werden“.42 Auch bei diesem sind der Schriftbezug und das Bekenntnis als weitere Kriterien nicht aufgegeben. „Der 39 W. Huber, Synode und Konziliarität. Überlegungen zur Theologie der Synode, in: G. Rau/H.-R. Reuter/K. Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. 3, Zur Praxis des Kirchenrechts, Gütersloh 1994, S. 319-348, hier S. 340. 40 Ebd., S. 345. 41 Vgl. CA 1 [BSELK, S. 93]. 42 Magnus consensus, Texte aus der VELKD, Nr. 166, Hannover 2013, S. 4. 66 ‚magnus consensus‘ hat das zum Gegenstand, was die Kirche konstituiert und ihrem Verfügen somit entzogen ist.“43 85. Den einzelnen Glaubenden sollen synodale Entscheidungen Orientierung geben. Aber sie können ihre persönliche Verantwortung nicht an Synoden, auch nicht an Bischöfe oder akademische Lehrer und Lehrerinnen delegieren. Sie ist eine Gewissensfrage, die ihnen niemand abnehmen kann. Freilich isoliert ihr Gewissen die Glaubenden nicht von der Kirche als Ganze und ihrer verbindlichen Lehre. Nur als Glied der Gemeinschaft der Glaubenden, im Hören auf die Brüder und Schwestern kann der und die Einzelne die Wahrheit finden. Gleichzeitig bleibt letzte formale Instanz für die Einzelnen das Gewissen. Nur in der Ausrufung der Situation des status confessionis beanspruchen synodale Entscheidungen letzte bindende Kraft. 86. Auch für die katholische Lehre ist das Gewissen für die Gläubigen die entscheidende Instanz des moralischen Urteilens und Handelns. Ebenso ist charakteristisch, dass das Lehramt keine selbstbezogenen, isolierten Entscheidungen trifft, sondern den Glauben der gesamten Kirche bezeugt. Synoden und Konzilien haben – in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom – eine wesentliche Bedeutung für die Lehrentwicklung in der katholischen Kirche. Weil katholische Lehre die Kollegialität der Bischöfe betont und den Glaubenssinn des Gottesvolkes als theologische Erkenntnisquelle betrachtet, kann sie aus einem theologischen Grund die Praxis der evangelischen Synoden würdigen. Allerdings stellt sich für die katholische Theologie im Blick auf die Praxis der synodalen Lehrentscheidungen die Frage, wer mit welcher Kompetenz und Autorität an Prozessen der Urteilsbildung beteiligt ist und welchen theologischen Status die Entscheidungen haben. Aus katholischer Sicht bleibt überdies klärungsbedürftig, welche Bedeutung für die evangelischlutherische Seite das sola scriptura hat und welcher Stellenwert den Traditionszeugnissen zukommt. 43 Ebd., S. 7. 67 87. Es gibt bei allen Unterschieden viele ökumenische Gemeinsamkeiten im Blick auf die Herausforderungen des ethischen Diskurses in der Gesellschaft heute. Viele Herausforderungen sind in diesem Zusammenhang gemeinsam zu bedenken: Welche Bedeutung haben die öffentlichen Medien bei der Meinungsbildung der Getauften in ethischen Fragen? Wie könnte erreicht werden, dass beispielsweise in den Familien in einem offenen Gespräch ethische Themen vorkommen? Wie könnte eine Bewusstseinsbildung mit christlicher Orientierung in ethischen Fragen gelingen? 2.6.2 Gewissen und lehramtliche Autorität 88. Nach katholischer Tradition ist es die vornehmste Aufgabe der Bischöfe als authentische Lehrer des Glaubens, die unter dem Wort Gottes stehen, einzeln, untereinander und in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom in Treue zur Lehre der Kirche das Evangelium zu verkünden.44 Die Verkündigung der Botschaft des Glaubens erstreckt sich auch auf das sittliche Leben der Gläubigen. Diese sind gehalten, den lehramtlichen Weisungen zu folgen und in ihren Gewissensentscheidungen zu berücksichtigen. Dabei ist es nicht die Absicht des kirchlichen Lehramtes, den Gläubigen ein theologisches oder philosophisches System aufzuerlegen, sondern das Wort Gottes getreu auszulegen und zu bewahren. Die Aufgabe des Lehramtes gerade in ethischen und moraltheologischen Fragen ist es nicht, den Gläubigen einen vollständigen Gebots- oder Verbotskatalog vorzulegen, sondern in bestimmten Fällen und unter Berücksichtigung bestimmter Umstände auf die Unvereinbarkeit bestimmter theologischer oder philosophischer Auffassungen mit der von Gott geoffenbarten Wahrheit hinzuweisen. Insoweit vollzieht das kirchliche Lehramt ein Werk der Unterscheidung, der Ermahnung und der Unterweisung.45 44 45 LG 25. Enzyklika Veritatis splendor von Papst Johannes Paul II. an alle Bi- 68 89. Aus katholischer Sicht ist das Gewissen als Ort des Urteils über eine Handlung zu betrachten. Es ist ein Urteil in der Überzeugung, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Insofern folgt das Gewissen dem Naturgesetz. Doch ist das Urteil des Gewissens ein praktisches Urteil, das anordnet, was der Mensch zu tun oder zu unterlassen hat. Das Gewissen vollzieht die Anwendung des allgemeinen Gesetzes auf den Einzelfall und wird so zu einem inneren Gebot des einzelnen Menschen. Das Gewissen ist die maßgebliche Norm der eigenen Sittlichkeit.46 Als persönliches sittliches Urteil ist das Gewissen unaufhebbar. Das Urteil des Gewissens ist allerdings nicht frei von der Möglichkeit zu irren. In der Gewissensentscheidung finden die Gläubigen eine Hilfe im kirchlichen Lehramt.47 90. Auch in lutherischen Bekenntnisschriften finden sich Ausführungen zur lehramtlichen Aufgabe im Zusammenhang der Verkündigung und gläubigen Annahme des Evangeliums. In den Schmalkaldischen Artikeln heißt es: „Gottes Wort soll Artikel des Glaubens [auf]stellen und sonst niemand, auch kein Engel“.48 Diese Aussage könnte zu der fälschlichen Annahme führen, dass die lutherischen Kirchen jegliche lehramtliche Autorität ablehnen und in ethischen Fragen sowie in Verkündigung und Annahme des Evangeliums nur auf die an das Wort Gottes gebundene Gewissensfreiheit des Einzelnen Wert legen. Eine für die rechte Schriftauslegung und die Weisungen der Schrift bürgende und sie versichernde Autorität eines Lehramtes kennt die lutherische Theologie nicht; sie lehnt ein solches geradezu ab. Für sie legt sich die Schrift vielmehr in einem sehr differenzierten Prozess, an dem alle Getauften gleichermaßen Anteil haben, selbst aus – und zwar so, dass darin die Wahrheit der schöfe der katholischen Kirche über einige grundlegenden Fragen der kirchlichen Morallehre (6. August 1993), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 111, Bonn 1993, Nr. 29. 46 Ebd., Nr. 60. 47 Ebd., Nr. 64. 48 ASm II.2 (BSELK, S. 734). 69 Gottesgeschichte Jesu Christi selbst zur Entfaltung kommt. Von dem Zwang und der Sorge, die Schrift und ihre autoritative Auslegung, auch in ethischen Fragen, sicherstellen zu müssen, ist das kirchliche Leitungsamt befreit. 91. Obwohl also die lutherischen Bekenntnisschriften ein der katholischen Lehre entsprechendes Lehramt nicht kennen, messen sie dem kirchlichen Leitungs- und Lehramt doch eine entscheidende Aufgabe im Selbstauslegungsprozess der Heiligen Schrift zu: nämlich Lehre zu prüfen, dem Evangelium widerstreitende Lehre zu verwerfen, auf einen kirchlichen Konsens über die rechte Lehre hinzuarbeiten und diesen auch darzustellen. Dies hat allerdings immer unter der Wahrung der Vorrangstellung des Wortes Gottes zu geschehen: „Das Lehramt der Kirche besitzt keine eigene Lehrgewalt neben oder gar vor der Heiligen Schrift, sondern hat nur die Lehrgewalt des Wortes Gottes geltend zu machen. In diesem abgeleiteten Sinne ist die Lehrgewalt von Gott der ganzen Kirche, Amt und Gemeinde, übertragen.“49 Primärer Ort dieses Lehrauslegungsprozesses ist die Versammlung der Glaubenden, „für die Amtsträger in geordneter Weise berufen und ordiniert werden, um öffentlich zu lehren und die Sakramente zu verwalten (CA XIV).“50 Neben dem ordnungsgemäß berufenen Pfarramt und dem Zeugnisamt aller Glaubenden sind an dieser Auslegungsgemeinschaft auch das episkopale Aufsichtsamt sowie Synoden und Lehrende an den theologischen Ausbildungsstätten beteiligt. Die Gewissensfreiheit der Glaubenden wird in der und durch die Teilnahme an der Auslegungsgemeinschaft gebildet und geschärft. 49 Lehrordnung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands vom 16. Juni 1956 in der Fassung vom 3. Januar 1983, in: W. Härle/H. Leipold (Hrsg.), Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung, Bd. 2, Kirchenrechtliche Dokumente, Gütersloh 1985, S. 147-153, hier S. 148. 50 Die Apostolizität der Kirche. Studiendokument der Lutherisch/ Römisch-katholischen Kommission für die Einheit, 2006 (künftig als AK bezeichnet), in: DWÜ 4, S. 527-678, hier Nr. 450. 70 92. Trotz unterschiedlicher Gestaltung von lehramtlicher Autorität können Lutheraner und Katholiken gemeinsam festhalten, „dass die Kirche Glieder benennen muss, die der Weitergabe des Evangeliums dienen; das ist notwendig für den rettenden Glauben. Gäbe es kein Lehramt und wirkte dies nicht auf jeweils spezifische Weise auf den Ebenen der örtlichen Gemeinden und der Regionen mit mehreren oder vielen Gemeinden, würde die Kirche an einem Mangel leiden.“51 Zugleich haben Lutheraner und Katholiken wiederholt gemeinsam festgestellt, „dass das verbindliche Lehren unter der Norm des Evangeliums steht.“52 2.7 Zusammenfassung und Ausblick 93. Die hier angesprochenen, verschiedenen Fragerichtungen, insbesondere die unterschiedlichen Typen ethischer Reflexion, der Einfluss nicht-theologischer Wissenschaften und die unterschiedliche Zuordnung von Schrift und Tradition erwecken in der Zusammenschau den Eindruck einer irritierenden Pluralität von ethischen Ansätzen und Denkmustern. Daher besteht sowohl auf lutherischer wie katholischer Seite noch immer Reflexionsbedarf. Bei der Beschreibung und Erklärung der unterschiedlichen Typen treten charakteristische konfessionelle Profile hervor, die bei näherem Hinsehen offene Fragen aufwerfen, keineswegs aber den Eindruck unüberwindbarer Dissense und sich ausschließender Gegensätze hinterlassen. Oftmals lassen sich Verständigungsschwierigkeiten auf Missverständnisse oder unterschiedliche Akzentsetzungen zurückführen. Was schon bei den klassischen kontroverstheologischen Fragen beobachtet werden konnte, dass für unverrückbar gehaltene Urteile sich im Lichte gemeinsamer Betrachtung einer Klärung zuführen lassen, bewährt sich auch in Fragen der Ethik. Die Differenzierungen in den ethischen Profilen verhindern keineswegs die Verständigung, sie bereichern vielmehr die Kenntnis der ethischen Argu51 52 AK, Nr. 453. Z.B. CS, Nr. 61. 71 mentationen insgesamt. Niemand kann die wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Sachfragen heute noch im Ganzen überschauen. Ökumenische Gespräche sensibilisieren für die Komplexität der Sachfragen und vertiefen das Verständnis für verschiedene Perspektiven. 72 3. Perspektiven Theologischer Anthropologie im Lichte des biblischen Zeugnisses 94. Nachdem in Kapitel 1 die Aufgabe beschrieben worden ist, die mit dieser Studie gelöst werden soll, und in Kapitel 2 die verschiedenen Methoden diskutiert worden sind, die auf evangelischer wie katholischer Seite in ethischen Fragen angewendet werden, soll in Kapitel 3 das christliche Menschenbild beschrieben werden. Hier kommt es im Kern darauf an, aus christlicher Perspektive den Zusammenhang zwischen dem Glauben an Gott und der Überzeugung von der unbedingten Würde des Menschen zu explizieren. Die Einheit von Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten (Mk 12,28-34 parr.; vgl. Dtn 6,4f und Lev 19,18) ist Leitbild christlichen Lebens. 95. Die theologische Anthropologie wird in zwei Schritten entwickelt. Zuerst wird das biblische Menschenbild in einigen wichtigen Aspekten nachgezeichnet (3.1). Darauf folgen systematisch-theologische Reflexionen über die Menschenwürde im christlichen Verständnis (3.2). Beide Teile dürfen nicht voneinander isoliert werden, weil sich die christliche Theologie von einem gegenwärtigen Standunkt aus am biblischen Zeugnis orientiert und die Auslegung der Bibel immer nach ihrer aktuellen Relevanz für die Gegenwartsprobleme fragt. An strittigen Punkten wird die Vermittlung transparent gemacht. Der Beginn mit der Bibel ist programmatisch, weil christlicher Glaube von der Fülle der biblischen Einsichten, Bilder, Erfahrungen und Geschichten lebt. In dieser Fülle zeigt sich das geschichtliche Ursprungszeugnis des Glaubens. 96. In ökumenischer Gemeinsamkeit können katholische und evangelisch-lutherische Kirche sowohl das Menschenbild der Bibel als auch die theologische Systematik der Anthropologie beschreiben. Zwar lassen sich bei wichtigen Fragen des Schrift73 verständnisses und der Schriftauslegung ebenso wie der Gottebenbildlichkeit, der Rechtfertigung und der Erlösung des Menschen charakteristische Differenzen zwischen evangelischlutherischer und katholischer Theologie ausmachen. Der Text will zeigen, dass solche Differenzen aber, wie in der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ begründet, heute keinen kirchentrennenden Charakter mehr haben. Der biblische Teil (3.1) macht die Ansätze der Kontroversen kenntlich, und der systematische Teil (3.2) diskutiert sie eingehend. Dabei drückt sich die Dynamik der katholisch-lutherischen Verständigungen mit dem Ergebnis aus, dass die Konflikte aufgearbeitet, die Gegensätze überwunden und die Unterschiede für ein vertieftes Verständnis der Heiligen Schrift und des christlichen Menschenbildes fruchtbar gemacht werden können. 97. In vielen nicht-theologischen Wissenschaften werden Fragen der Anthropologie und der Ethik heute mit hoher Aufmerksamkeit wahrgenommen. Nicht alles, was für den Menschen heute machbar erscheint, ist in einer längerfristigen Perspektive ethisch richtig und lebensförderlich. In den kontrovers geführten interdisziplinären Gesprächen wird offenkundig, dass es einen Unterschied gibt zwischen Optionen, die ausschließlich das Wohl eines einzelnen Menschen im Blick haben, und anderen, die das universale Gemeinwohl in den Blick nehmen. 3.1 Grundlinien biblischer Anthropologie 98. Für evangelische und katholische Christinnen und Christen ist das biblische Menschenbild grundlegend. Deshalb verbindet die gemeinsame Vergegenwärtigung dessen, was die biblischen Texte über das Menschsein sagen, und das dialogische Erkunden, was dieses Zeugnis der Schrift heute bedeutet. 99. Die Bibel hat keine Patentrezepte für die Lösung ethischer Detailfragen. Aber sie ist wesentlich, damit theologisch beurteilt werden kann, welchen Stellenwert die Fragen haben und wel74 che Antworten eine echte Orientierung geben, weil sie den Glauben, die Liebe und die Hoffnung konkretisieren. In den Auseinandersetzungen mit der Geschichte und in den Herausforderungen der Gegenwart ist die Heilige Schrift die Grundlage, auf der eine theologische Orientierung über die Würde des Menschen gewonnen wird; sie spannt eine Richtschnur, an der sich konkrete Entscheidungen zu messen haben; und sie ist eine starke Motivationsquelle, um Menschlichkeit zu praktizieren. 100. Das Menschenbild der Bibel ist vielseitig. Vielfältig sind auch die Methoden, die Bibel zu lesen und zu verstehen. In der gegenwärtigen Debatte über Gott und die Würde des Menschen sind einige Kerntexte und Leitmotive des Alten wie des Neuen Testaments von besonderer Bedeutung. Zuerst wird die Gottebenbildlichkeit des Menschen beschrieben (3.1.1); dann wird der Mensch in seiner Schuld und Not vor Augen gestellt (3.1.2); schließlich wird die Erlösungshoffnung des Menschen nachgezeichnet (3.1.3). Den Abschluss bilden kurze Hinweise darauf, welche Zugänge die Bibel zu den Fallbeispielen dieser Studie öffnet: den Anfang und das Ende des Lebens (3.1.4) und die Option für die Armen (3.1.5). Dieser Abschnitt wird im Schluss der Studie (Kapitel 5) aufgenommen und ausgeweitet. 3.1.1 Der Mensch als Gottes Ebenbild 101. Die Bibel beginnt mit Gott: Er ist der Schöpfer des Himmels und der Erde (Gen 1,1). Er ist auch der Schöpfer der Menschen. Vom sechsten Tag heißt es in der Genesis: „Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns ähnlich ist. Sie sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alle Kriechtiere auf der Erde. Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,26-27). Dieser Teil der Schöpfungsgeschichte enthält die grundlegende Aussage über das Menschenbild in der Bibel. Höher kann man nicht vom 75 Menschen sprechen. Die Gottebenbildlichkeit ist die biblische Begründung dessen, was heute der Begriff der Menschenwürde bezeichnet. In Gen 9,6 wird aus der Gottebenbildlichkeit das Tötungsverbot (vgl. Ex 20,13; Dtn 5,17) abgeleitet. 102. Der evangelischen und katholischen Theologie ist klar, dass die Genesis keine Alternative zur naturwissenschaftlichen Erklärung der Welt und des Menschen bietet. Die Bibel drückt vielmehr die eine theologische Wahrheit aus: Der Mensch macht sich nicht selbst; er wird erschaffen. Er ist nicht nur ein Tier, aber er ist ein Geschöpf wie alle anderen Geschöpfe auch. Er gehört in die Welt, die Gottes Schöpfung ist; aber er hat in der Welt eine einzigartige Stellung. Der Mensch ist nicht Gott; aber Gott ist sein Schöpfer. Durch die Beziehung zu Gott erfährt der Mensch, wer er ist: geschaffen und geliebt, Gott ähnlich, zur Gemeinschaft mit ihm und mit den anderen Menschen in Gottes Schöpfung berufen. 103. Die biblische Schöpfungsgeschichte verbindet Gottes Schöpferkraft mit der Gottebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen (Gen 1,26f.). In der kulturellen Umwelt gibt es Analogien. Viele Mythen sagen von Herrschern und Kriegern, von herausragenden Männern des Geistes, des Kampfes und der Politik, dass sie Ebenbilder Gottes seien. Einzelne Quellen lassen daran denken, dass alle Menschen Gott gleichen. Die meisten Mythen erzählen, dass die Menschen von den Göttern erschaffen sind, um ihnen zu dienen, weil sie dieser Dienste bedürfen. In vielen Mythen werden Kämpfe zwischen Göttern beschrieben, die auf die Kämpfe unter den Menschen abfärben. Diese Mythen haben ihre eigene Wahrheit; sie bilden nicht nur einen großen kulturellen Reichtum; sie können die Augen für wichtige Aspekte des Lebens öffnen. Aber sie lassen sich vom Gottesund vom Menschenbild der Bibel klar unterscheiden, weil die Genesis einen klaren Unterschied zwischen Schöpfer und Schöpfung macht, der zu einer engen Verbindung führt. Wegen dieses Gottesglaubens sieht die Bibel Gottes Ebenbild in jedem Menschen, unabhängig von Geschlecht und Nation, Alter und 76 Bildung, Religion und Moral, Stärke und Schwäche. Dass ausnahmslos alle Menschen Gottes Ebenbild sind, ist darin begründet, dass es nur einen einzigen Gott gibt, der sie alle erschaffen hat. Aus demselben Grund ist Gott nicht auf die Unterstützung durch Menschen angewiesen; er hat sie von sich aus erschaffen, aus reiner Liebe. Deshalb begründet die Schöpfung nicht die Dauerhaftigkeit des Krieges, sondern die Verheißung des Friedens, für den in der Schöpfungsgeschichte der Sabbat steht (Gen 2,1-4a). 104. In der Gegenwart hat die Schöpfungsgeschichte mit ihrer Anthropologie der Gottebenbildlichkeit, von der die ganze Bibel geprägt ist, nichts von ihrer Bedeutung verloren. Wenn Rassismus und Fremdenhass dominieren, wenn Menschen wegen ihres Geschlechtes, ihrer Herkunft, ihres Alters, wegen körperlicher oder geistiger Handicaps, wegen bestimmter Verfehlungen oder ihres Glaubens diskriminiert werden, braucht es die Erinnerung an das, was auf der ersten Seite der Bibel über den Menschen steht: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Es gibt keine Abstufung, keine Einschränkung, keinen Vorbehalt. Weil die Würde von Gott kommt, ist sie unverletzlich. Niemand darf sie einem anderen Menschen absprechen, niemand darf sie missachten. 105. Worin die Gottebenbildlichkeit des Menschen besteht, ist theologisch und philosophisch immer wieder diskutiert worden. Die Bibel bezieht sich nicht nur auf bestimmte Attribute des Menschen, z. B. sein Aussehen, seinen Verstand, seine Bildung, sein Herz, seine Religiosität oder seine Moralität. Sie reduziert den Menschen auch nicht auf seine Fähigkeiten in der Technik, der Kunst und der Kultur. Die biblischen Texte sehen vielmehr den Menschen als ganzen in seiner Beziehung zu Gott wie in seiner Beziehung zu den anderen Menschen und sich selbst. Im hebräischen Urtext steht das Wort zaelaem, das mit „Statue“, „Abbild“ übersetzt werden kann. In der griechischen Übersetzung der Genesis steht das Wort eikon, von dem das deutsche Fremdwort „Ikone“ abgeleitet ist: Der Mensch ist die Ikone 77 Gottes. Wer einen Menschen ansieht, sieht durch ihn Gott, den Schöpfer. Denn der unsichtbare Gott macht sich durch den Menschen sichtbar. Der Mensch ist ein Zeichen Gottes in der Welt. Er ist geschaffen, um für Gott einzutreten und die Blicke auf ihn zu richten. In ihrer Beziehung zu den anderen Menschen, in ihrem Auftrag, die Schöpfung zu wahren, und in ihrem Gottesdienst (vgl. Gen 2,1-4) wird diese Berufung, die alle Menschen haben, konkret. 106. Dass Gott den Menschen männlich und weiblich erschaffen hat (Gen 1,26f.), betont die Genesis besonders. Die Zweigeschlechtlichkeit ist mit dem Auftrag, sich zu vermehren, verbunden (vgl. Gen 5,1-3). Die Geschlechter haben dieselbe Stellung zu Gott; sie haben dieselbe Würde. Die moderne Forderung gleicher Rechte von Mann und Frau entspricht dieser biblischen Auffassung nach vielen Jahrhunderten großer rechtlicher und politischer Ungleichbehandlung von Frauen. In der Entstehungszeit der Schöpfungsgeschichte ist die gleiche Würdigung von Mann und Frau ungewöhnlich. Auch sie erklärt sich aus dem gemeinsamen Bezug auf den einen Gott. Zwar gibt es in der Bibel und in der Geschichte der Auslegung viele andere Aussagen, die patriarchalisch sind. Sie müssen sich aber am Grundsatz der Schöpfungstheologie messen lassen. Deshalb sind sie theologisch zu kritisieren, damit sie praktisch überwunden werden. 107. Dass der Mensch Gottes „Bild“ ist, begründet seinen Auftrag, in der geschaffenen Welt zu herrschen, auch über die Tiere (Gen 1,26.28). Dieser Auftrag ist kein Freibrief zur Ausbeutung. Er ist im Gegenteil die Übertragung einer großen Verantwortung. Als Gottes Ebenbild darf der Mensch die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstören. Er ist vielmehr berufen, sie zu bewahren. Er kann sie kreativ nutzen. Aber er ist selbst ein Teil der Schöpfung. Wenn in Gen 9,2 davon die Rede ist, das sich „Furcht und Schrecken“ von den Menschen auf die Tiere legen soll, ist damit keine Legitimation zur Tierquälerei gegeben, sondern die Erlaubnis vorbereitet, Tiere ebenso wie Pflanzen zur Nahrung zu gebrauchen (Gen 9,3f.). 78 108. Der Ansatz bei der Gottebenbildlichkeit des Menschen verstellt in der Bibel nicht den Blick auf seine Not, seine Fragilität und seine Schuld. Aber so groß das Elend des Menschen ist, bleibt er doch Kind Gottes. In Ps 8 wird die Frage gestellt: „Seh‘ ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du bereitest: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,3-4). Der Psalm antwortet nicht einfach auf diese Frage, sondern führt tiefer in das Staunen des Menschen über die Weisheit Gottes und die eigene Stellung in Gottes Schöpfung hinein: „Du hast ihn als König gesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du ihm unter seine Füße gelegt, die Schafe und die Rinder all, sogar die wilden Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, die Wanderer auf den Wegen des Meeres. Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde“ (Ps 8,7-10). 109. Psalm 8 wird im Neuen Testament auf Jesus bezogen (Hebr 2,6-8). Der Gottessohn ist wahrer Mensch. Er ist „in allem uns gleich geworden“ (Hebr 2,17). Er hat das Leben eines Menschen geführt und ist den Tod eines Menschen gestorben. Er hat in seinem Leben und in seinem Sterben das Leben und den Tod aller Menschen ein für alle Mal mit Gott verbunden. „Es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle“ (1 Tim 2,5-6). 110. Bei Paulus wird Jesus, der auferstandene Gekreuzigte, als „Bild Gottes“ verkündet (2 Kor 4,4). Er macht die Herrlichkeit Gottes sichtbar; wer ihn anschaut, wird selbst vom Licht Gottes erhellt (2 Kor 4,5f.). Die große Hoffnung, die der Apostel macht, besteht darin, dass Gott diejenigen, die er rettet, „dem Bild seines Sohnes“ gleichmacht, so dass sie der Herrlichkeit Gottes teilhaftig werden (Röm 8,29), als Brüder und Schwestern des Gottessohnes Jesus. Durch die Rechtfertigung werden die Gläubigen „in Christus“ zu einer „neuen Schöpfung“ (2 Kor 5,17). Die „Herrlichkeit Gottes“, derer sie ermangeln (Röm 3,22), gewin79 nen sie durch die Rechtfertigung aus dem Glauben im Heiligen Geist, indem sie ihre Gotteskindschaft durch Teilhabe an der Beziehung des Sohnes zum Vater verwirklichen (Gal 4,4ff.; Röm 8,10-17). Isoliert betrachtet, könnte 1 Kor 11,7 den Eindruck erwecken, die Gottebenbildlichkeit der Frau sei für Paulus von der des Mannes abhängig; aber das wäre ein Irrtum. Paulus sieht allerdings die Aufgabe, im Rahmen einer zeitgenössischen Genesisexegese, die aus Gen 2 die schöpfungsmäßige Unterordnung der Frau unter den Mann ableitet, so zu argumentieren, dass die Gleichheit, die in der Taufe gefeiert wird (Gal 3,26ff.), die Schöpfungsordnung nicht zerstört, sondern transzendiert. Deshalb führt er den Gedanken in 1 Kor 11,11f. so weiter, dass das essentielle Miteinander und Zueinander von Mann und Frau im Sinn von Gen 1,26f. eingeholt wird. 111. Nach dem Kolosserbrief ist Jesus „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15). Er hebt Gottes Unsichtbarkeit nicht auf, sondern stellt sie dar. „In ihm“, „durch ihn und auf ihn hin“ ist alles geschaffen (Kol 1,16). „In ihm“, „durch ihn“ und „auf“ ihn „hin“ wird alles versöhnt (Kol 1,19-20). Durch Jesus Christus, den präexistenten Sohn Gottes, der Mensch geworden und von den Toten auferweckt worden ist, ist das Geheimnis des Menschen im Geheimnis Gottes selbst begründet – für alle Zeit und Ewigkeit. „Nach“ dem Bild Gottes, das Jesus Christus abgibt, ist der Mensch geschaffen; deshalb können und müssen die Gläubigen jetzt schon als neue Menschen leben (Kol 3,9-10). Dieses neue Leben ist Ausdruck der Liebe zu Gott und zu Jesus Christus; es ist ein erfülltes, gereiftes, erwachsenes, mündiges Leben, das anderen zum Vorbild dienen kann (Eph 4,7-16). 112. Nach dem Johannesevangelium ist Jesus der „Sohn“, der den „Vater“ offenbart. Zum Abschied sagt er seinen Jüngern nach Joh 14,9: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (vgl. Joh 12,45). Jesus ist die vollkommene Ikone, das wahre Bild Gottes. Nach der Johannespassion soll Jesus, gefoltert und verhöhnt, mit der Dornenkrone als „König der Juden“ öffentlich gedemütigt werden: „Seht, der Mensch“, sagt Pilatus nach 80 Joh 19,5 (lateinisch: Ecce homo). Unter unmenschlichen Bedingungen bleibt Jesus menschlich, weil er bei Gott bleibt. Er tritt für die Würde aller ein, die der öffentlichen Schande preisgegeben werden, weil man ihnen die Ehre nimmt. Mehr noch: Er identifiziert sich mit ihnen und offenbart dadurch den entehrten, gedemütigten, verhöhnten Menschen als Ebenbild Gottes. Durch seinen Tod und seine Auferstehung bahnt er den Weg der Erlösung. Als Auferstandener trägt er die Wundmale, die Stigmata seiner Kreuzigung (Joh 20,20.24-27). An ihnen erkennt Thomas, wer Jesus ist: „Mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28). 113. Die Frage nach Gott und dem Menschen, die das Alte Testament umtreibt, ist heute aktueller denn je. Was die Physik über das Alter und die Größe des Kosmos und was die Biologie über die Evolution des Menschen lehren, lässt viele zweifeln, ob das, was die Bibel über die Gottebenbildlichkeit des Menschen sagt, wahr sein kann. Tatsächlich hat die moderne Wissenschaft gezeigt, dass über den Mikro- und den Makrokosmos, über das Alter und die Größe des Universums in ganz anderen Dimensionen gedacht werden muss, als sich die Menschen in biblischen Zeiten haben vorstellen können. Was die Biologie über die Evolution und was die Medizin wie die Pharmazie über die menschliche Physis und Psyche, über die Wirkungen von Medikamenten und Umwelteinflüssen erforscht haben, verschafft neue Einsichten in das Wesen der Menschen und stellt neue ethische Fragen. Aber das christliche Menschenbild, das durch die Bibel entsteht, wird dadurch nicht negiert. Im Gegenteil, es tritt in seiner Pointe noch deutlicher heraus: Jeder Mensch muss sterben; jeder Mensch ist betroffen von Schuld, von Not und Leid. Aber weil er Gottes Geschöpf ist und Gott an seiner Seite steht, hat jeder Mensch eine Bedeutung, die über seine Herkunft und seine Pläne, über seine Erfolge und Misserfolge, über seine Leistungen und Versuchungen unendlich hinausgeht. Er ist und bleibt Gottes Ebenbild. 114. Die Bibel sieht die Würde und die Rechte der Menschen in einem universalen Horizont. Der Bogen spannt sich von der 81 Erschaffung des Menschen (Gen 1-2) bis zur Vollendung der Welt im himmlischen Jerusalem (Offb 21-22). Dazwischen steht die Geschichte Abrahams, in der Gott „alle Völker“ zu segnen verheißt (Gen 12,3), was nach dem Neuen Testament durch seinen „Nachkommen“, den Messias, geschieht (Gal 3,16 mit indirektem Verweis auf Gen 22,18). In diesem Horizont geschieht die Erwählung Israels. Das Neue Testament verkündet Jesus als „Sohn Davids, Sohn Abrahams“ (Mt 1,1), der Gottes universale Segensverheißung dadurch erfüllt, dass er als Messias sein Leben hingibt. 115. Die biblischen Texte verschweigen nicht die Schwierigkeiten von Menschen, die Würde und die Rechte anderer Menschen zu erkennen und zu respektieren. Das Alte und das Neue Testament kennen auch die Versuchung, anderen mit Berufung auf Gott das wahre Menschsein abzusprechen. Aber die Bibel als ganze stellt sich auf die Seite derer, deren Rechte mit Füßen getreten werden. Sie erzählt, wie durch das Wirken des Heiligen Geistes Menschen ihre eigenen Grenzen überwinden und die Gottebenbildlichkeit anderer Menschen aus einem anderen Volk und mit einer anderen Religion erkennen. Ein neutestamentliches Beispiel liefert Petrus. Nach der Apostelgeschichte hat er größte Schwierigkeiten, mit dem Evangelium auch zu den sogenannten Heiden zu gehen. Aber der Heilige Geist lässt ihn erkennen: „In Wahrheit begreife ich jetzt, dass Gott nicht parteiisch ist, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt“ (Apg 10,34f.; vgl. 10,28). 116. Dem alttestamentlichen und neutestamentlichen Zeugnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen wohnt eine starke Spannung inne. Der Blick richtet sich sowohl auf die Schöpfung als auch auf die Erlösung. In dieser Spannung spiegelt sich das Drama des Menschen, der seiner göttlichen Berufung untreu, aber von Gott dennoch nicht fallen gelassen wird. Wie sich die Gottebenbildlichkeit zur Sünde der Menschen verhält, ist zwischen evangelischer und katholischer Theologie traditionell umstritten. Nach einer traditionell evangelischen Lesart verliert 82 der von Gott aus dem Paradies vertriebene Mensch seine Gottebenbildlichkeit, während sie nach einer traditionell katholischen Lesart nur verwundet worden ist. In Kapitel 3.2 wird gezeigt, dass keine dieser Positionen in ihrer Einseitigkeit dem biblischen Zeugnis oder den differenzierten konfessionellen Traditionen entspricht; der traditionelle Gegensatz ist im heutigen ökumenischen Gespräch überwunden.53 Entscheidend ist das gemeinsame Zeugnis für die unverlierbare und unantastbare Würde jedes Menschen aufgrund von Gottes Zuwendung zu allen Menschen. 3.1.2 Der Mensch in seiner Schuld und Not 117. Die Bibel kennt eine zweite Schöpfungsgeschichte (Gen 2,4b-25). Sie beleuchtet eine andere Seite des Menschen. Sie redet von „Adam“ und „Eva“. „Adam“ heißt „Mensch“. In der Sprache der Bibel ist es ein sprechender Name; denn er wird vom hebräischen Wort für „Erde“, adamah, abgeleitet: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen [adam] aus Staub von der Erde [adamah] und blies ihm den Atem des Lebens in die Nase. So wurde der Mensch ein lebendiges Wesen“ (Gen 2,7). Der Mensch trägt Gottes Odem, seinen Lebensatem, in sich; er hat eine „Seele“. Aber er ist aus der Erde genommen. Beides gehört zusammen; beides gehört zum Wesen des Menschen. 118. Nach der biblischen Erzählung wird die Frau aus der Seite – oft wird problematisch übersetzt: aus der „Rippe“ – des Menschen genommen. So gibt es Mann und Frau (Gen 2,22-24), „denn es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Gen 2,18). Später heißt es in der biblischen Geschichte, dass „Adam“ die Frau „Eva“ nennt, „denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen“ (Gen 3,20). Früher wurde die Erzählung oft so gedeutet, dass zuerst der Mann und danach die Frau erschaffen wurde (so auch in 1 Kor 11,8f.). Allerdings ist der Schrifttext nicht so eindeutig. 53 GER, Nr. 25-27. 83 Unter dem Vorzeichen von Gen 1 gelesen, beleuchtet er das gleiche Menschsein von Mann und Frau nur von einer anderen Seite (vgl. 1 Kor 11,11f.). Eine anthropologische Dimension besteht darin, dass beide, Mann wie Frau, „Fleisch“ sind (Gen 2,23) und deshalb auch in der sexuellen Vereinigung „ein Fleisch“ werden (Gen 2,24). Sexualität gehört zum Wesen des Menschen. „Fleisch“ zu sein, heißt in der biblischen Anthropologie: einen Körper zu haben, geboren zu werden, sterben zu müssen, leidensfähig zu sein, auf andere Menschen angewiesen zu sein und mit ihnen zusammen zu leben – all das ist nichts, was dem Menschen äußerlich wäre; es gehört zu seiner Identität. 119. Die Erzählung von Adam und Eva umschließt die Geschichte vom Sündenfall (Gen 3). Als große Verführung erscheint die Schlange (Gen 3,1-4.13.14). Der Mensch erliegt der Versuchung, „wie Gott“ sein zu wollen (Gen 3,5), also weder Gottes Ehre zu achten noch die Würde des Menschen zu bejahen. Indem sie Gottes Gebot widersprechen, widersprechen sie seinem Gottsein und ihrem Menschsein. Dieser Übergriff hat schlimme Folgen. Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben. Die Geschichte konfrontiert sie mit der bitteren Realität eines Lebens „jenseits von Eden“ (Gen 3,23), das in seiner Mühe und Plage, seinem Unrecht und Leid Folge der Sünde, nämlich eines verzerrten Gottesverhältnisses ist. Der Frau sagt Gott nach der biblischen Urerzählung, dass sie unter Schmerzen gebären und vom Mann beherrscht werden wird (Gen 3,16). Zum Mann sagt er im selben Zusammenhang: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen […] Du bist Staub und kehrst zum Staub der Erde zurück“ (Gen 3,19). 120. Die Bibel öffnet in ihren Erzählungen, aber auch in ihren Gebeten und Reflexionen die Augen dafür, dass es im Leben, das Menschen auf der Erde führen, Liebe, aber auch Hass und Gewalt gibt. Es ist gut, dass Menschen geboren werden; aber alle Menschen müssen sterben. Menschen morden, aber Menschen schenken einander auch Güte und Mitgefühl. Im Leben leuchten Momente tiefen Glücks, aber schlimmes Unglück und 84 tiefe Traurigkeit werfen auch dunkle Schatten. Es gibt den Schrei nach Gerechtigkeit, aber niemand ist frei von Schuld. Es gibt die Treue Gottes, aber auch die Untreue des Menschen. 121. Das Alte Testament bezieht sich immer wieder auf die Geschichte von der Erschaffung und vom Fall des Menschen zurück. Auch Psalm 8, das Lied vom Menschenkind, dessen Gott gedenkt, wird in der Weisheit Israels neu bedacht. Hiob, der unschuldig leidet, klagt vor Gott: „Meiner Ehre hat er mich entkleidet, die Krone mir vom Haupt genommen“ (Hiob 19,9). Hiob muss einen langen Weg gehen, bis er erfährt, was er trotz allem glaubt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Hiob 19,25). 122. Die Geschichten vom Leben und Sterben der Menschen, die das Alte Testament erzählt und bedenkt, lassen die offenen und verborgenen Formen der Sünde erkennen, die von den Menschen innerhalb und außerhalb Israels begangen werden und ihre Not immer nur größer machen. Dass nach der Vertreibung aus dem Paradies vom Brudermord Kains an Abel erzählt wird (Gen 4), öffnet die Augen für die mörderische Brutalität der Sünde und ihre weitreichenden Folgen, die menschliches Leben belasten. Sünde erscheint im Alten Testament als Übertretung des Gesetzes, des göttlichen Gebotes, das Gott erlassen hat, um das Leben der Menschen zu ordnen (Gen 9,1-6; Ex 20; Dtn 26). Sie erscheint aber auch als Unheilsmacht, die weit über das moralische Versagen einzelner hinausreicht. Nicht nur die Opfer müssen unter dem Unrecht leiden, das ihnen angetan worden ist; die Sünde fällt auch auf die Täter und Täterinnen zurück, selbst wenn sie zu triumphieren scheinen. Die Weisheit Israels hat den Zusammenhang von Tun und Ergehen weit ausgeleuchtet; die Bibel warnt vor dem Umkehrschluss, dass selbst schuld sei, wer leiden muss (vgl. Joh 9,2f.), aber im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit hält sie dafür: „Der Böse bleibt nicht ungestraft, doch die Söhne der Gerechten werden gerettet“ (Spr 11,21). 123. Im Bußpsalm heißt es: „Ich erkenne meine Missetaten, und meine Sünde steht mir immer vor Augen. An dir allein habe 85 ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest. Denn ich bin in Schuld geboren und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen“ (Ps 51,5-7). In dieser ausweglosen Lage hilft nur noch die Bitte: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir“ (Ps 51,11-14). Dass diese Bitte von Gott erhört werde, ist die Hoffnung der Beter Israels wie der Kirche. 124. Die Propheten Israels verschaffen denen, die von Königen und Priestern um ihr Recht gebracht werden, eine Stimme vor Gott. Besonders Amos ist als Prophet profiliert, der die Mächtigen anklagt, um die Schwachen zu verteidigen (Am 4,1-3; 5,7). Alle Propheten klagen nicht nur individuelle Hilfen, sondern – im Rahmen ihrer Zeit – gerechte Strukturen ein. Alle sehen eine untrennbare Verbindung zwischen der Ehre Gottes und dem Menschenrecht der Armen. Die Gerichtsbotschaft der Propheten unterstreicht den Appell für Gerechtigkeit, weil Gott die Verhältnisse geraderücken wird – durch sein gerechtes Urteil. 125. Das Neue Testament teilt den Realismus des Alten Testaments in der Beschreibung der menschlichen und unmenschlichen Realitäten und seine prophetische Botschaft, die das Recht der Menschen schützen will. Es beginnt mit der Umkehrforderung (Mk 1,4 parr.) und der Gerichtsbotschaft des Täufers Johannes: „Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen könnt? Bringt also Frucht, würdig der Umkehr. Meint nur nicht, dass ihr bei euch sagen könntet: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken“ (Mt 3,7-9; vgl. Lk 3,7-8). Johannes weiß, dass er nicht selbst der Retter ist; aber er spendet „die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1,4; Lk 3,3; vgl. Mt 3,11); er kündigt den an, der mit dem Heiligen Geist taufen wird (Mt 3,11; Mk 1,8; Lk 3,16). 86 126. Jesus hat zur Umkehr und zum Glauben an das Evangelium gerufen, weil die Gottesherrschaft nahegekommen ist (Mk 1,15). Er selbst hat vor der tödlichen Macht der Sünde gewarnt und zur Umkehr gerufen (Lk 13,1-9). Er hat die Sünde auch dort entdeckt, wo sie sich in scheinbarer Gesetzestreue verbirgt: In der Bergpredigt hat er die religiöse Heuchelei kritisiert (Mt 6,1-18), im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner den religiösen Hochmut (Lk 18,9-14), in der Weherede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten, die sich auch an seine Jünger richtet, die religiöse Hartherzigkeit und Engstirnigkeit (Mt 23). Doch die Perspektive Jesu ist immer die Verheißung der Vergebung. In seinen Gleichnissen bringt er das Leben, das Menschen in dieser Welt führen, mit dem Reich Gottes in Verbindung, das „nahegekommen“ ist (Mk 1,15; Mt 4,17; vgl. Mt 10,7; Lk 10,9.11). Jesus öffnet die Augen für die Gegenwart Gottes mitten in der Freude und im Leid, in der Not und im Glück, in der Schuld und der Güte von Menschen. Jesus macht Hoffnung auf die Überwindung aller Schuld und Not im vollendeten Reich Gottes. Er selbst kommt als Retter. 127. Paulus hat in seinen Briefen, bewegt von der Größe der Gnade, auch das Unwesen der Sünde ausgelotet. Er hat die unlösbare Verstrickung des Sünders in ein Unheil analysiert, das er selbst verschuldet, aber nicht aus eigener Kraft abwenden kann. Der Apostel versetzt sich selbst in die Lage eines sündigen Menschen hinein, der nur schreien kann: „Ich elender Mensch, wer wird mich aus diesem Leib des Todes retten?“ (Röm 7,24). Paulus hat auch den Zusammenhang zwischen dem Leiden der Menschen und dem Leiden aller Kreaturen entdeckt und auf die Macht der Sünde zurückgeführt, die nur Gott überwinden kann (Röm 8,20-27). 128. Paulus beschreibt die Abgründe menschlicher Schuld und Not in der Perspektive der Hoffnung. Diese Hoffnung hat einen Grund: Jesus Christus. Er ist der „zweite“ Adam, der den Ungehorsam des ersten Adam durch seinen Gehorsam überwindet (Röm 5,12-21). Er teilt das Leben und den Tod der Menschen, 87 um ihnen das ewige Leben zu schenken. Paulus zitiert aus dem Buch der Genesis, um das Evangelium der Auferstehung zu verkünden: „‚Es wurde der erste Mensch, Adam, zu einem beseelten Lebewesen, der letzte Adam zu lebendig machendem Geist“ (1 Kor 15,45). Deshalb kann allen Menschen Hoffnung gemacht werden, ohne dass die Leiden der Gegenwart schöngeredet werden: „Gesät wird in Vergänglichkeit, auferweckt in Unvergänglichkeit; gesät wird in Schande, auferweckt in Ehre; gesät wird in Schwäche, auferweckt in Kraft“ (1 Kor 15,42-43). 129. Ähnlich wie beim Thema der Gottebenbildlichkeit werden auch Sünde und Erlösung in der evangelischen wie der katholischen Theologie auf der gemeinsamen biblischen Basis unter wichtigen Gesichtspunkten unterschiedlich interpretiert. Auf der Basis der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ werden wir in Kapitel 3.2 zeigen, dass die verschiedenen Interpretationen zwar verschiedene Aspekte biblischer Soteriologie erhellen, aber keinen Dissens in der Anthropologie erkennen lassen. In einer neuen ökumenischen Studie zur biblischen Rechtfertigungslehre wird der Ansatz vertieft und mit dem Dienst an der Gerechtigkeit verknüpft: „Die heilende Kraft der göttlichen Zusage von Vergebung, Versöhnung und Erneuerung berührt auch Menschen von heute im Kern ihrer Existenz. Die soziale Dimension der Rechtfertigungslehre, ihre eindeutige Ablehnung jeder Vergötterung von Erfolg, Gier oder Macht, und ihre klare Zurückweisung aller Versuche, den Wert von Menschen aufgrund ihrer Nützlichkeit einzustufen, wird uns anleiten, neue Wege zu finden, auf denen wir die Botschaft der Rechtfertigung als den tiefsten Ausdruck des befreienden Evangeliums von Gottes Gnade in Jesus Christus leben, lehren und verkündigen können.“54 54 W. Klaiber, Biblische Grundlagen (siehe Anm. 12), S. 166. 88 3.1.3 Die Erlösung des Menschen 130. Das biblische Menschenbild stellt nicht nur die Erschaffung, sondern auch die Erlösung und Vollendung des Menschen vor Augen. So wenig Schuld und Leid relativiert werden, so groß ist doch die Hoffnung auf Vergebung und Erlösung. Den Menschen ist das ewige Leben verheißen, dessen Vorschein die Gläubigen schon hier und jetzt sehen können, auch in Not und Leid. Der Glaube an die Gegenwart des Heils und die Hoffnung auf die Zukunft des vollendeten Heils prägen das Bekenntnis zu Gott, der aus Liebe alle Menschen zur endgültigen Gemeinschaft mit sich beruft. 131. Nach alter Auslegung ist bereits der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies die Hoffnung auf Erlösung eingeschrieben. Gott spricht nach Gen 3,15 zur Schlange, dem Symbol des Bösen: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dich und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“ Eva, in der die christliche Theologie später ein Gegenüber Marias gesehen hat, steht nicht auf der Seite des Bösen, sondern auf der Seite Gottes. Durch Evas Nachkommen, in dem die christliche Theologie Jesus gesehen hat, wird das Böse besiegt – durch den Tod hindurch. 132. In der alttestamentlichen Prophetie wächst die Verheißung, dass Gott seinem Volk nicht den Untergang bereitet, obwohl es Schuld auf sich geladen hat, sondern ihm Zukunft eröffnet (Jer 29,11). Im Laufe der Zeit entsteht eine Hoffnung auf die Auferstehung. Sie ist angetrieben von der Erfahrung unschuldigen Leidens und der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Sie leugnet nicht die harte Realität des Todes. Aber sie vertraut auf Gott, dass er einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen wird (Jes 65,17; 66,22 – 2 Petr 3,13; Offb 21,1). Es gibt schon im Alten Testament das Zeugnis einer Auferstehung von den Toten, die den Gerechten das ewige Leben bereitet (Dan 12,1-3). 89 133. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments ist Jesus frei von der Sünde (Hebr 4,15). Aber er ist nicht auf Abstand zu den Sündern gegangen, sondern ist ihnen nahegekommen. Als „Freund der Sünder“ (Mt 11,19; Lk 7,34) ist er kritisiert worden; aber er hat ihnen Gott nahegebracht. Jesus scheut nicht die Nähe zu den Sündern, auch nicht zu den Unreinen, den Aussätzigen und den Befleckten, weil er den Segen, die Gnade, die Heiligkeit Gottes ausstrahlt. 134. Jesus hat das Evangelium Gottes verkündet, um „allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes“ (Lk 1,79). Das Neue Testament sieht den Zusammenhang von Sünde und Tod, der von Israels Gesetz aufgestellt, von Israels Weisheit reflektiert und von Israels Prophetie eingeschärft wird: Sünde macht krank; sie bringt den Tod, weil sie Leben zerstört (Röm 6,23). Aber Jesus kritisiert nach Lk 13,1-9 und Joh 9,2f. den Umkehrschluss, dass ein Mensch, der leidet, durch sein Leiden als Sünder entlarvt wird, der eine eigene oder fremde Schuld büßen muss. Jesus ist zeitlebens auf dem Weg zu Menschen, die im Verdacht standen oder sich selbst im Verdacht hatten, ungeliebt und ungewollt zu sein, um ihnen Gottes Nähe zuzusagen (Lk 15). Ob sie schuldig sind oder nicht: Sie sind und bleiben Gottes Geschöpfe; Gott hat sie zur Teilhabe an seiner Liebe berufen. 135. Jesus bringt den Sündern Gottes Gerechtigkeit als große Gnade. Er geht in das Haus des Oberzöllners Zachäus, eines notorischen Sünders, um bei ihm Gast zu sein. Dort sagt er: „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, weil auch er ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, die verloren sind“ (Lk 19,9-10). Alle Evangelien erzählen von vielen Gesten und Worten, mit denen Jesus Krankheit heilt, Not lindert und Sünden vergibt. Die Ehebrecherin schützt er vor dem drohenden Tod: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als erster den Stein auf sie“ (Joh 8,7). Der Sünderin, die ihm das Haar und die Füße salbt, sagt er: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (Lk 7,36-50). 90 136. Der Heilsdienst, den Jesus in seinem Leben leistet, vollendet sich in seinem Tod: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, bedient zu werden, sondern zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (Mt 20,28; Mk 10,45). Das Neue Testament kennt viele Bilder und Begriffe, Motive und Formeln, um die Heilsbedeutung des Todes Jesu auszudrücken. Im Kern steht, dass Jesus „für“ die Menschen gestorben ist: ihnen zu gute, damit sie das Leben haben; an ihrer Stelle, weil sie sich nicht selbst retten können; ihretwegen, weil sie Schuld auf sich geladen haben. Jesus befreit von der Macht des Todes dadurch, dass er ihn auf sich genommen hat: für alle Menschen, die sterben müssen. Nach dem Johannesevangelium erscheint Jesus als der Gute Hirt, der „sein Leben einsetzt für die Schafe“ (Joh 10,11). Nach dem Matthäusevangelium sagt Jesus beim Letzten Abendmahl: „Dies ist mein Blut des Bundes, vergossen für viele zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28; vgl. Mk 14,24). In der Feier des Herrenmahls wird Jesu heilvolle Hingabe am Kreuz Gegenwart. 137. Der Heilstod Jesu steht in untrennbarer Verbindung mit seiner Auferstehung. Paulus schreibt im Römerbrief: „Er wurde um unsrer Übertretungen willen hingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt“ (Röm 4,25). Die Auferstehung Jesu geschieht im Zuge der Erhöhung: Christus „ist zur Rechten Gottes und tritt für uns ein“ (Röm 8,34). Er selbst vergegenwärtigt seinen Heilsdienst, den er durch seinen Tod am Kreuz vollendet hat. Deshalb kann Paulus den gemeinsamen Glauben als Grund größter Freude und Zuversicht beschreiben: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (Röm 8,38-39). 138. Die Auferstehung Jesu begründet die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten. Nach dem Johannesevangelium verheißt Jesus seinen Jüngern, die über seinen Tod trauern und 91 Angst haben, allein in der Welt zurückzubleiben: „Ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen und niemand nimmt euch eure Freude“ (Joh 16,22). Paulus verbindet das Bekenntnis des Glaubens mit der Hoffnung auf Vollendung: „Wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm zusammenführen. […] So werden wir immer beim Herrn sein“ (1 Thess 4,13-18). Die Gemeinschaft mit Gott durch die Gemeinschaft mit dem auferstandenen Jesus Christus im Heiligen Geist ist der Inbegriff der Vollendung. Aus dieser Gemeinschaft schöpfen Glaubende Hoffnung auf die durch Gott geschenkte Gemeinschaft aller Menschen untereinander. 139. Die Hoffnung auf die Gegenwart und Zukunft der Erlösung folgt aus dem Glauben. Sie ist aber nicht nur auf diejenigen beschränkt, die glauben. Vielmehr gehört es zum Glauben, für das Heil aller Menschen zu beten und auf Gottes Gnade für alle zu hoffen. Für alle gilt, dass es nicht die guten Werke sind, die zur gegenwärtigen und künftig vollendeten Erlösung führen, sondern dass Gottes Liebe den Menschen das ewige Leben schenkt. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ beruft sich für die Hoffnung auf den Apostel Paulus: „Durch die gerechte Tat Christi wird es ‚für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt‘ (Röm 5,18).“55 140. In der Taufe wird die gegenwärtige Rechtfertigung wie die ausstehende Vollendung gefeiert. Sie gliedert in die Kirche ein, die ein Leib ist mit vielen Gliedern (1 Kor 12,12-27). Sie ist die eine Taufe für Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Männer und Frauen (Gal 3,26ff.). Sie verschafft das Bürgerrecht im Gottesvolk. Sie gibt Anteil an Jesu Tod und Auferstehung (Röm 6,3f.). Sie verleiht den Heiligen Geist, der ein Angeld der Vollendung ist (2 Kor 1,22). 55 GER, Nr. 12. 92 3.1.4 Anfang und Ende des Lebens 141. Die Bibel ist ein Buch des Glaubens, das die Spuren seiner Entstehungszeit an sich trägt. Die Erkenntnisse der modernen Medizin sind ihr nicht gegeben. Die biblischen Aussagen über den Anfang und das Ende des Lebens sind im Rahmen ihrer Zeit entstanden und können nur unter ihren eigenen Voraussetzungen verstanden werden. Sie bedürfen der kreativen Übersetzung in die Gegenwart. Eine solche Übersetzung wird in den folgenden Teilen der Arbeit vorgeschlagen. Hier geht es nur darum, Grundaussagen der Bibel über den Anfang und das Ende in Erinnerung zu rufen, die auch heute noch Orientierung geben. 142. Auch wenn in der Zeit der Bibel nicht die heutigen Kenntnisse über die Entstehung des menschlichen Lebens herrschten, ist zu sehen, dass jeder Mensch von Anfang an, schon „im Mutterleib“, Gottes Kind ist (Hiob 10,8-11; 31,15; Ps 139,13-16; Weish 7,1; Jes 49,1; Jer 1,5). Schon vor der Geburt beginnt die Geschichte Gottes mit dem Menschen. „Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an“ (Ps 22,11). Nach der Bibel beginnt das menschliche Leben mit der Zeugung (Mt 1,1-17) resp. der Empfängnis (Ps 51,7; Jes 7,14; Hos 9,11; Mt 1,23; Lk 1,31.36; 2,21). Kinder erhalten einen Namen; das war auch bei Jesus so (Lk 2,21). Der „Name“ steht für die Individualität, die Person des Menschen, wie man mit philosophischen Begriffen sagen kann. Menschen, die einen Namen haben, können zu Gott „Du“ sagen, weil er zu ihnen „Du“ sagt: „Ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst zu mir“ (Jes 43,1) – was Gott nach dem Prophetenwort zu Israel sagt, sagt er übertragen zu jedem Menschen. 143. In der Bibel gelten Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt als großes Glück, als Segen und Gnade. Sie lösen Freude und Dankbarkeit aus (1 Sam 2,1-11). Wenn eine Frau Kinder haben will, aber nicht bekommen kann, kann sie wie Hanna das Unglück aussprechen, das sie empfindet (1 Sam 1). In der Bibel 93 wird aufgearbeitet, dass Kinderlosigkeit als Schande (Gen 16,5; 30,23; Jes 54,4; Lk 1,25) und gar als Strafe Gottes (vgl. Jer 15,7; Jes 49,21 – metaphorisch auf Israel bezogen) angesehen wurde. Tatsächlich drohen die Gerichtspropheten Israel Kinderlosigkeit an, um ihm Gottes Zorn widerzuspiegeln (Hos 9,14). Aber die Bibel ergreift Partei für die gedemütigten und verdächtigten Frauen. Sie erzählt von unverhofften Geburten nach langen Zeiten der Enttäuschung, die ein großes Glück nicht nur für die Mütter und Väter, sondern auch für ganz Israel geworden sind (Gen 11,30; 18,1-19; Ri 13; Lk 1,7.36; Röm 4,19; Hebr 11,11). Die Prophetie kennt die Verheißung größten Glücks für die Unfruchtbare (Jes 54,1). Jesus misst Frauen nicht an ihren Kindern, sondern er begegnet Frauen und Männern als von Gott geliebten Menschen mit ihrem je individuellen Weg. Dabei legt er weder Frauen noch Männer auf bestimmte Rollen fest. 144. „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) ist eine Ermutigung zum Leben, aber kein Gebot, das von jedem Menschen befolgt werden muss. „Kinder sind eine Gabe des Herrn“ (Ps 127,3), aber der Sinn des Lebens hängt nicht davon ab, Kinder zu bekommen. Jeremia hat ehelos gelebt als Zeichen seiner Zugehörigkeit zum Gottesvolk, das in die Verbannung zieht (Jer 16,1-9). Jesus (Mt 19,12) und Paulus (1 Kor 7,7) haben um des Himmelreiches willen ehelos gelebt. Bei Jesaja findet sich die Verheißung, dass all jene, die keine Kinder haben, in einer großen Familie leben werden, wenn die Vollendung kommt (Jes 54,1; vgl. Gal 4,27 und Jes 62,4). 145. Aus der Schöpfungstheologie erklärt sich die Stellung der frühen Kirche zur Abtreibung, auch wenn es keine genauen gynäkologischen Kenntnisse über den Verlauf der Schwangerschaft gegeben hat. In der Bibel wird der Schwangerschaftsabbruch nicht direkt erwähnt. In der Umwelt hat es immer wieder Abtreibungen gegeben, aber auch Kindesaussetzungen, vor allem von Mädchen und von körperlich beeinträchtigten Säuglingen; freilich gab es auch Kritik an solchen Praktiken. Es gehört zu den biblisch begründeten Überzeugungen des frühen Chris94 tentums56, dass Abtreibung gegen Gottes Gebot ist, weil das Kind schon im Mutterleib Gottes Kind ist. 146. Auch wenn die Bibel in Zeiten entstanden ist, die durch große Krisen, durch viel Armut, durch häusliche Gewalt und Sklaverei, durch Krieg, Flucht und Vertreibung gekennzeichnet waren, wird das Leben durch und durch bejaht. Die Freude, dass ein Mensch geboren wird und sein Leben führt, ist groß (Tob 10,13). Sie ist in der Liebe des Schöpfers begründet, der das Glück eines menschlichen Lebens ausmacht (Koh 2,24), auch wenn es im Schatten des Todes steht (Koh 4,1-3; 6,3-5). Nach der Geburt beginnt der Mensch, die ersten Schritte auf dem eigenen Lebensweg zu machen. Er braucht die Hilfe, die Erziehung, die Liebe seiner Eltern und der ganzen Familie. Er braucht andere Menschen, die für ihn Verantwortung übernehmen, wenn die nächsten Angehörigen ihm nicht helfen wollen oder können. Er braucht Freundinnen und Freunde. Ihm soll die Zukunft gehören; er soll erwachsen werden. 147. In der Bibel haben Kinder einen besonderen Stellenwert. Sie sind voll und ganz Mensch, weil sie Kinder Gottes sind. In den biblischen Texten werden allerdings Mädchen und Jungen oft nicht gleich wertgeschätzt und nicht gleich behandelt. In diesen Unterscheidungen zeigt sich aber nicht der genuine Ansatz biblischer Schöpfungstheologie und Soteriologie, sondern die Zeitbedingtheit der Bibel. Gott sei Dank gibt es starke Gegenbeispiele. In Ps 8 heißt es, ohne dass zwischen Mädchen und Jungen unterschieden würde: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob“ (Ps 8,3; Mt 21,16). Ein klares Zeichen ist die Kindersegnung durch Jesus: Auch hier werden Jungen wie Mädchen zu Jesus gebracht und von ihm zu Vorbil56 Vgl. Didache 2,2; Barnabasbrief 19,5; Diognetbrief 5,5 (alle in: Schriften des Urchristentums, Zweiter Teil, hrsg. von K. Wengst, Darmstadt 1984, 69, 189, 319); Tertullian, Apologeticum 9,8 (Fontes Christiani, Bd. 62, eingeleitet und übersetzt von T. Georges, Freiburg i. Br. 2015, 103). 95 dern für Menschen gemacht, die in das Reich Gottes wollen (Mt 19,13-15; Mk 10,13-16; Lk 18,15-17; vgl. Mt 18,3-5; Mk 9,36-37; Lk 9,47-48). Jesus selbst stellt ein Kind in die Mitte, um seinen Jüngern zu zeigen, was menschliche Größe ist (Mt 18,1-5; Mk 9,33-37; Lk 9,46-48). 148. Das Leben der Menschen endet mit dem Tod. Die Bibel kennt das Ideal, „alt und lebenssatt“ zu sterben (Gen 25,8; 35,29). Aber sie weiß, dass die Realität oft anders aussieht: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon“ (Ps 90,10). Die Bibel weiß um den allzu frühen, den qualvollen und den ersehnten Tod. Trauer und Leid werden nicht relativiert. Aber auch im Sterben bleibt der Mensch Kind Gottes. Das Wissen um den kommenden Tod zu verdrängen, ist eine Versuchung. Deshalb wird gebetet: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps 90,12). 149. Wenn ein Kind stirbt, sei es durch Gewalt oder ein Unglück, sei es durch Krankheit oder Krieg, ist es härtestes Unglück und Grund zu großer Trauer. Die Frage bricht auf, wie Gott diesen Tod hat zulassen können. Wenn Eltern über den Tod eines Kindes untröstlich sind, darf ihnen ihre Trauer nicht ausgeredet werden. Sie hat vielmehr ihren festen Platz im menschlichen Leben, wie es in der Bibel verstanden wird. „Rachel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen; denn sie sind dahin“ – dieses unsägliche Leid, von dem das Buch des Propheten Jeremia Zeugnis ablegt (Jer 31,15), ist auch im Neuen Testament nicht vergessen, insofern Matthäus in seiner Geschichte vom Kindermord in Bethlehem dieser Klage Raum gibt (Mt 2,18). Die Bibel setzt darauf, dass Gott eine Antwort geben wird, durch die alle Tränen getrocknet werden (Jer 31,15-22). Die Bibel erzählt so von Gott, dass er am Leiden der Menschen Anteil nimmt und ihnen auch darin nahe ist. Das beantwortet nicht die Frage, wie Gott das Leid und den Tod hat zulassen können. Glaubende Menschen erfahren, dass sie im Glauben 96 mit solchen offenen Fragen leben können, weil sie vor Gott klagen dürfen. 150. In einigen Texten des Alten Testaments bricht die Auferstehungshoffnung durch. Im Neuen Testament ist sie durch die Verkündigung Jesu (Mk 12,18-27 parr.) und durch seine eigene Auferstehung von den Toten grundlegend (1 Thess 4,13-18; 1 Kor 15; Röm 8). Die Auferstehungshoffnung relativiert nicht das irdische Leben, sondern setzt darauf, dass Gott alles irdische ins ewige Leben verwandelt (1 Kor 15,15-55 mit Hos 13,14). Ohne die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten wäre das Evangelium leer (1 Kor 15,14; vgl. 20.28. 43-49); mit dieser Hoffnung ist es eine große Verheißung geglückten Lebens in der Gegenwart Gottes. 3.1.5 Option für die Armen 151. Nach dem Lukasevangelium beginnt Jesus seine öffentliche Verkündigung in der Synagoge von Nazareth mit einem Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18-19; Jes 61,1-2). Diese Option für die Armen ist das Lebensprogramm Jesu. Auf den Wegen seiner öffentlichen Verkündigung hat er die Armen reich gemacht: durch die Heilung von Kranken, durch die Befreiung der Besessenen von bösen Geistern, durch die Speisung der Hungernden. Er hat die Armut der Armen geteilt (Lk 9,58). Er hat in seinen Gleichnissen die Geschichten ausgebeuteter Tagelöhner, betrogener Witwen und gedemütigter Sünder erzählt, um sie mit Gott und seiner Herrschaft in engste Verbindung zu bringen. Er hat die Reichen ermahnt, ein Herz für die Armen zu haben. Die Beispielgeschichte vom reichen Prasser und armen Lazarus (Lk 16,19-31) zeigt schlaglichtartig, wo Jesus 97 steht. Die Seligpreisung der Armen (Lk 6,20f.; vgl. Mt 5,3-12) vertröstet sie nicht auf ein besseres Jenseits, sondern verändert jetzt schon ihr Elend, indem sie ihnen Gottes Segen zuspricht. 152. Die jesuanische Option für die Armen steht auch in der Tradition der Prophetie Israels. Nicht nur das Jesajabuch ist von entschiedener Eindeutigkeit (vgl. Jes 3,14f.; 10,2 u. ö.). Jeremia kritisiert korrupte Richter (Jer 5,28) und setzt auf Gott, der den Armen Recht schafft (Jer 20,13; 22,16). Amos prangert die Gier der Reichen an, welche die Armen ausbeuten (Am 2,6; 4,1-3; 8,4-14) und diskriminieren (Am 5,12). Sacharja mahnt die Mächtigen: „Unterdrückt nicht die Witwen und Waisen, die Fremden und Armen und plant in eurem Herzen nichts Böses gegeneinander!“ (Sach 7,10). In den Psalmen kommt die Hoffnung auf Gottes Hilfe für die Armen zum Ausdruck (Ps 9-10; 35,10; 68,11; 69,34; 72 u. ö.); die Armen erhalten aber auch selbst eine Stimme: Sie sind nicht nur die Empfänger solidarischer Unterstützung, sondern Subjekte eines Vertrauensglaubens, der für alle Menschen vorbildlich ist, weil er alle Hoffnung auf Gott setzt und darin nicht betrogen wird (Ps 22,22-27; 40,18; 86; 140). In der Tora gibt es eigene Gesetze, die das Recht der Armen schützen – sicher nicht auf dem Niveau heutiger Sozialstaaten, aber in bemerkenswerter Klarheit, die für spätere Generationen richtungsweisend ist. Besonderes Augenmerk gilt den Witwen und Waisen, weil ihre soziale Lage besonders schwierig war (Dtn 10,18; 14,29; 24,17-22 u.ö.). 153. Im Urchristentum ist das alttestamentliche Ethos der Armen lebendig, das im Heilswillen Gottes selbst begründet ist. Die Urgemeinde organisiert eine caritativ hoch effektive Gütergemeinschaft, um die Armen nicht hungern zu lassen (Apg 2,42-46; 4,32-37). Als die Versorgung der Witwen schwierig wird, findet sie eine Lösung, die zur Etablierung einer verlässlichen Armenfürsorge geführt hat (Apg 6,1-7). Auf dem Apostelkonzil wird eine Kollekte der neugegründeten Gemeinden für Jerusalem vereinbart (Gal 2,10). Für Paulus ist die Missachtung der Armen bei der Feier des Herrenmahles das schlimmste 98 Sakrileg (1 Kor 11,17-34). Der Jakobusbrief ist eine scharfe Mahnrede an die Reichen, ihren Glauben durch ihr Verhalten, besonders die Anerkennung und Unterstützung der Armen, zu bewahrheiten (Jak 2,1-13; 5,1-6). All diese sozialen Aktivitäten bleiben im kleinen Rahmen, weil die urchristlichen Gemeinden als eine kleine, verfolgte Minderheit keine Sozialpolitik treiben können. Damit aber weisen die frühen Christinnen und Christen die Richtung, an welcher sich dann christliche Sozialgestaltung zu späteren Zeiten und in anderen Kontexten orientieren kann. 154. In einem Brief, den Paulus an die Korinther schreibt, um die vereinbarte Kollekte für die Armen in Jerusalem zum Abschluss zu bringen, macht der Apostel den tiefsten Grund der Option für die Armen deutlich: die Anteilnahme Gottes selbst an der Armut der Menschen, durch die sie unendlich reich werden. Mit Blick auf Jesus, den gekreuzigten und auferstandenen Christus, schreibt Paulus: „Er, der reich war, ist unseretwillen arm geworden, damit wir durch seine Armut reich werden“ (2 Kor 8,9). Die Option für die Armen ist nicht nur eine ethische Verpflichtung; sie ist auch eine Anerkennung der eigenen Armut und ein Ausdruck der Hoffnung auf den Reichtum der Gnade Gottes, die alle Armut beendet. 3.2 Menschenwürde als Grundbegriff gegenwärtiger Theologischer Anthropologie 155. Im vorhergehenden Abschnitt wurde das biblische Zeugnis von der in Gott begründeten Menschenwürde ökumenisch gemeinsam erschlossen. Jetzt geht es darum, in einer gleichfalls ökumenisch verbindenden Reflexion dieses Zeugnis systematisch-theologisch zu reflektieren. Aus diesem Grund wird zuerst das christliche Menschenbild im Horizont der kirchlichen Traditionen und der gegenwärtigen Diskussionen beschrieben und dann die theologische Bedeutung des Menschenwürdebegriffs aufgewiesen. Das setzt eine Vergewisserung über die Geschichte des Menschenwürdebegriffs voraus. 99 3.2.1 Zur Geschichte des Menschenwürdebegriffs 156. Der Begriff der Würde des Menschen hat eine lange Tradition. In der römischen Antike wurde der Begriff dignitas verwendet, um die hervorgehobene Stellung Einzelner in einer Gesellschaft zu bezeichnen. „Würde“ meinte dann die besondere Ehre, die einzelnen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Ämter oder öffentlich sichtbarer Leistungen gesellschaftlich zukommt. Gleichzeitig wurde damit die Vorrangstellung des Menschen gegenüber dem Tier benannt. Cicero sprach dabei schon von einer allgemeinen Menschenwürde aufgrund der allen Menschen gemeinsamen Vernunftteilhabe. In der antiken christlichen Theologie bildete sich bald die Vorstellung aus, dass die Würde aller Menschen an ihrer Gottebenbildlichkeit hängt, welche sich vor allem in der menschlichen Vernunft und Willensfreiheit zeige. 157. Dennoch erreichte der Würdebegriff aus verschiedenen Gründen keine die Gesellschaft der christlichen Antike und des Mittelalters prägende Funktion. Denn gleichzeitig war der christlichen Theologie bewusst, dass der Mensch auch ein aus der Erde genommenes Wesen ist, Adam, das wie Gras vergeht. Auch ist er aus theologischer Sicht Sünder und Sünderin. Mit der starken Betonung, dass der Mensch sein Recht vor Gott verwirkt hat, schien es unmöglich, von einer unverbrüchlichen menschlichen Würde auszugehen, aus der unveräußerliche Rechte folgten. Die Unterscheidung von Christinnen und Christen gegenüber Heiden und Heidinnen schien es schließlich zu verwehren, allen Menschen in gleicher Weise Würde zuzuerkennen. Würde schien nur Christen und Christinnen zuzukommen, weil sie sich als Kinder Gottes verstehen. 158. In der Philosophie der Renaissance wurde dann die Würde aller Menschen neu herausgestrichen: Sie hänge mit der Gottebenbildlichkeit zusammen, die darin liege, dass der Mensch sich in Freiheit selbst bestimmen kann als „Bildner seiner selbst“. Gegen die Vorstellung, nur Christinnen und Christen 100 besäßen Menschenwürde, begründete die spanische Spätscholastik die menschliche Würde in der Geselligkeit des Menschen, die ihrerseits aus der Schöpfung folgt. Diese Geselligkeit finde sich auch bei den Heiden und Heidinnen. Deshalb besäßen Heidinnen und Heiden ebenfalls Würde und seien mit den gleichen Rechten wie die Christen und Christinnen ausgestattet. 159. Stärkere ethisch-rechtliche Relevanz erhielt der Begriff der Menschenwürde dann in der Aufklärung. Dabei begründeten Aufklärungsdenker die Würde nicht mehr über die Gottebenbildlichkeit des Menschen, sondern mit der Vernunft und der Autonomie des Menschen. Nach Immanuel Kant hat der Mensch Würde als moralisches Vernunftwesen, das sich selbst das Gesetz seines Handelns gibt und deshalb auch entsprechend behandelt werden muss. Ein Mensch ist nie nur Mittel zum Zweck, sondern muss immer auch als „Zweck an sich selbst“ betrachtet werden. Dadurch unterscheiden sich Person und Sache: Sachen haben nach Kant einen „relativen Wert“ oder „Preis“, Personen einen „unbedingten Wert“ oder eine „Würde“: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“57 Im Gefolge Kants haben sich in der Philosophie zahlreiche Begründungen von Menschenwürde entwickelt, die von anthropologischen Grundbeschaffenheiten ausgehen und ohne einen Gottesbezug auskommen. Andere philosophische Konzeptionen der Gegenwart verweisen in der Begründung der Menschenwürde auf die Rolle der geschichtlichen Erfahrung der Negation von Würde; an der Erfahrung der Verletzung von Menschenwürde erkenne man, was Menschenwürde ist. Jüdische Philosophinnen und Denker wie zum Beispiel Hannah Arendt, Emmanuel Lévinas und Avishai Margalit haben zum Verstehen von Menschenwürde und Menschen57 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (hg. von Karl Vogtländer), Hamburg 1965, S. 58. 101 rechten ganz Wesentliches beigetragen. Hannah Arendt hat angesichts der Staatenlosigkeit von Flüchtlingen gezeigt, dass für die Wirksamkeit von Menschenrechten es darauf ankomme, dass das Menschenrecht ein Recht auf Staatsbürgerschaft und somit das Recht auf (nationalstaatlich garantierte) Rechte sei. Emmanuel Lévinas stellt ins Zentrum seiner Überlegungen, dass Menschenwürde bedeute, die „Andersheit des anderen“ wahrzunehmen und zu respektieren. Avishai Margalit hat auf den Zusammenhang von Menschenwürde, Selbstachtung und Verzicht auf Demütigung aufmerksam gemacht; er fragt, wie Gesellschaft aussehen muss, die institutionell und intersubjektiv auf Demütigung verzichtet. Dabei hat er für die vielfältigen Formen sensibilisiert, durch die Menschen Demütigung erfahren. Für die gegenwärtige Debatte um Menschenwürde gehören der Gleichheitsaspekt – alle Menschen haben gleichermaßen Menschenwürde und damit das Recht auf Rechte – und der Individualitätsaspekt – jedem Menschen kommt als Individuum und in seiner Individualität Würde zu – zusammen. 160. Menschenwürde hat einen normativen Gehalt, der besagt, dass kein Mensch mit anderen Gütern, auch nicht mit einem anderen Menschen, verrechnet werden darf. Dieses Instrumentalisierungsverbot, das auf Kant zurückgeht, besagt: Kein Mensch darf in seinem Eigenwert dadurch negiert werden, dass er um des Wohlergehens anderer willen verzweckt wird. Der Wert eines Menschen kann durch nichts und niemanden aufgewogen werden. Wenn aus der Menschenwürde Menschenrechte abgeleitet werden, wird der normative Gehalt der Menschenwürde explizit gemacht und es wird entfaltet, in welchen konkreten Hinsichten die Würde des Menschen einen bestimmten Umgang mit ihm ge- bzw. verbietet. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die UN 1948 umfasst neben Freiheitsrechten auch soziale und kulturelle Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf Bildung und das Recht auf Arbeit. 161. Es gibt zwei Weisen, die Menschenwürdekonzeption zu verstehen. In der einen wird Menschenwürde so begriffen, dass 102 der Mensch sie immer schon besitzt und sie deshalb unabhängig von der Anerkennung durch Andere ist. In der anderen wird Menschenwürde als etwas begriffen, was beschädigt und verletzt werden kann.58 Im ersten Fall ist Würde nicht von einem Zugesprochenwerden durch andere Menschen oder von deren Achtung abhängig. Entsprechend ist sie unverlierbar. Sie begründet aber den unbedingten Anspruch an Andere, diese Würde durch das Anerkennen der darin liegenden Rechte des Würdeinhabers zu achten. Das meint die Rede von der unantastbaren Würde. Auch im zweiten Fall hat der Begriff „Menschenwürde“ einen normativen Anspruch. Aber es wird stärker betont, dass die Würde eines Menschen durch eigenes oder fremdes entwürdigendes Verhalten beschädigt werden kann. So verstanden, kann sie stärker oder schwächer verletzt und sogar zerstört werden. Hier hat die Rede vom notwendigen Schutz der Menschenwürde und von einem menschenwürdigen Leben ihren Ort. 162. Diese zweite Verwendungsweise kann aber zu einem problematischen Missverständnis führen. Zum Beispiel findet man im Kontext von Krankheiten die Aussage, ein bestimmtes Leid mache ein menschenwürdiges Leben unmöglich. Dann scheint es, als könne eine Krankheit einem Menschen die Würde nehmen, so dass es sich gar nicht lohnen könne weiterzuleben. Dagegen kann die erste, die Unverlierbarkeit betonende Verwendungsweise geltend gemacht werden. Auch wenn ein Mensch schwer leiden muss, seine Würde verliert er dadurch nicht, sondern er behält sie. Diese Würde verlangt von anderen Menschen, ihn immer und unter allen Umständen als ein Wesen mit Würde zu behandeln. Umgekehrt gilt ebenso: Wie schlimm Menschen auch immer die Würde anderer missachten, sie zerstören mit ihrem furchtbaren Tun niemals den Anspruch eines Menschen auf Anerkennung seiner Würde. Die Aufgabe 58 Vgl. die Analyse bei Ch. Horn, Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen – eine Klärung, in: Information Philosophie, Heft 3 (2011), S. 30-41. 103 der menschlichen Gemeinschaft ist es, solche Missachtungen von Menschenwürde möglichst zu verhindern und in jeder Hinsicht Menschen zur Anerkennung ihrer unverlierbaren Menschenwürde zu verhelfen. 163. Wir verwenden im Folgenden Würde im Sinne der unverlierbaren, dem Menschen immer zukommenden Würde. Das Anliegen der zweiten Verwendungsweise wird aber in der Sache dort aufgenommen, wo davon geredet wird, dass es darauf ankommt, der eigenen Würde gemäß zu leben bzw. mit anderen ihrer Würde entsprechend umzugehen. 164. Auch wenn in den meisten ethischen Konzeptionen jedem Menschen Würde zugestanden wird, gibt es Ansätze, die von einem gestuften Menschenwürdeschutz ausgehen. Zwar hätten alle Menschen Würde, aber je nach Entwicklungsstufe und Umständen fordere diese Würde einen anderen Schutz. Die normative, orientierende Kraft des Würdebegriffs wird damit jedoch aufgeweicht und letztlich ausgehöhlt. Deshalb werden diese Konzeptionen abgelehnt; sie widersprechen der biblischen Anthropologie und schwächen den Kampf um die Durchsetzung von Menschenrechten. 3.2.2 Wer ist der Mensch? – Grundelemente Theologischer Anthropologie 165. Jedem Konzept von Menschenwürde liegt ein Verständnis von Menschsein zugrunde. Entsprechend hängt das christliche Verständnis von Menschenwürde daran, wer aus christlicher Sicht der Mensch ist. Dies soll im Folgenden, in Aufnahme der biblischen Basis (Kap. 3.1) knapp gezeigt werden. 166. In den letzten Jahren ist das Aufgreifen der Rede von einem „christlichen Menschenbild“ im Zusammenhang mit der Menschenwürde mehrfach und mit verschiedenen Argumenten kritisiert worden. Dabei wird zum einen auf die unsachgemäße 104 Rede vom christlichen Menschenbild hingewiesen. Mit der Bezugnahme auf das „christliche Menschenbild“ könne man je nach Zeitsituation sehr Verschiedenes kritisieren oder einfordern. Die Kirchen seien, so die Kritik, nicht davor gefeit, mit Verweis auf das christliche Menschenbild eigene institutionelle Interessen durchzusetzen oder zu verdecken. Dieser Kritik ist zu begegnen, indem die Kirchen bei ihrem Einsatz für die Menschenwürde immer auch selbstkritisch ihre eigene Praxis befragen und ihre Position diskursiv und einladend in die gesellschaftlichen Debatten einbringen. Zum anderen wird an der Rede vom „christlichen Menschenbild“ kritisiert, dass damit der einzelne Mensch mit seiner konkreten Notsituation übergangen und stattdessen in ethischen Problemkonstellationen ein normativer Begriff herangezogen wird, der mit der tatsächlichen Lebensgeschichte von Menschen nichts mehr zu tun habe. Das „christliche Menschenbild“ sei eine abstrakte Kategorie, die nicht zur Sensibilität im Umgang mit dem konkreten Menschen anleite. Unser Text will zeigen, dass dieser Vorwurf nicht zutrifft, sondern ein Nachdenken über das „christliche Menschenbild“ gerade für eine Wahrnehmung des und der Einzelnen in der Individualität seines und ihres Lebens und Erlebens öffnet. Der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes 167. Der Mensch ist Geschöpf Gottes. Er hat sich nicht selbst ins Sein begeben, sondern ist von woanders her. Wie alle anderen Geschöpfe auch verdankt er sein Sein der Liebe Gottes. Wie alle anderen Geschöpfe wird er durch Gott im Sein gehalten. Gott ist der Ursprung und der Quell seiner Lebenskraft. 168. Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Der Mensch ist in besonderer, ihn von anderen Geschöpfen unterscheidender Weise das Gegenüber Gottes. Der Mensch ist zur Gemeinschaft mit Gott berufen. Er soll in seinem Leben der Liebe Gottes zu ihm entsprechen und auch in der Gemeinschaft mit anderen Menschen diese Liebe leben. Ebenbild Gottes zu sein ist nichts, was Menschen erst realisieren müssten. Jeder Mensch ist es, und 105 zwar allein dadurch, dass Gott ihn zur Beziehung mit ihm geschaffen hat. Dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, besagt nicht, dass sein Tun in dieser Welt göttlich ist. Die Schöpfung durch Gott steht weder im Widerspruch zu den natürlichen Prozessen der Zeugung und Empfängnis noch zur evolutiven Entwicklung des Menschengeschlechts; vielmehr sind die natürlichen Prozesse gerade die kreatürlichen. Sie auf Gott zu beziehen, bietet die Gewähr, Menschen nicht nur als Produkte ihrer Gene, sondern als sie selbst in ihrer genuinen Würde zu betrachten. Vielmehr impliziert es den Auftrag an den Menschen, in seinem Verhalten gegenüber der Welt Gottes Bezogenheit auf die Welt zu entsprechen. Der Mensch ist als freies Wesen dazu geschaffen, seiner Verantwortung in der und für die Welt gerecht zu werden. Er darf die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstören, sondern soll sie bewahren. Dazu gehören der Respekt vor der Gottebenbildlichkeit, Freiheit und Verantwortung der anderen Menschen und ein schonender Umgang mit allen anderen Geschöpfen. Nicht nur die zeitgleich mit ihm lebenden Menschen sollen dabei im Blick sein, sondern die gegenwärtigen Menschen sollen auch Rücksicht auf nachfolgende Generationen nehmen und ehrlich das Tun und Erleiden vorangehender Generationen erinnern. Dazu gehört in besonderer Weise das Erinnern derjenigen Menschen, deren Würde missachtet wurde, und derjenigen Menschen, die sich für die Würde anderer eingesetzt haben. In Deutschland ist und bleibt es Aufgabe, der Menschen zu gedenken, welche durch den Nationalsozialismus systematisch in ihrer Menschenwürde missachtet und ermordet wurden. Dieses konkrete Gedenken macht sensibel und wach für Menschenrechtsverletzungen, die gegenwärtig in vielerlei Hinsicht geschehen. 169. Alle Menschen sind Gottes Ebenbild. Gleichzeitig beinhaltet die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen auch seine Individualität und unaustauschbare Personalität. Gott ruft die Einzelne und den Einzelnen beim Namen. In dieser zweifachen Dimension des Menschen als Gattungswesen wie als Individuum liegt eine Spannung begründet, die in ethischen Fragen auf106 leuchtet, wenn zwischen der grundlegenden universalen Norm und dem Einzelfall unterschieden wird. In vielen konkreten ethischen Fragen wird es zu einer schwierigen Aufgabe, zwischen dem individuellen Menschen in seiner Situation und der Ausrichtung am Wohl für alle Menschen zu vermitteln. Der Mensch in seiner Schuld und Not 170. Der Mensch ist als ganzer von Gott angesprochen. Aus christlicher Sicht ist jeder Aspekt seines Menschseins, sowohl seine Seele als auch sein Leib und sein Geist, dem Menschen von Gott gegeben. Alles dient dazu, gottentsprechend zu leben. Jede Reduktion des Menschen nur auf seine Seele oder seinen Geist oder nur auf seinen Körper ist aus der Sicht theologischer Anthropologie abzulehnen. Alle menschlichen Erfahrungen, Glück wie Leid, Gesundheit wie Krankheit, Freude wie Trauer, Hoffnung wie Verzweiflung, gehören aus christlicher Sicht zur Existenz des Menschen hinzu. Sie vollziehen sich im Horizont der Wirklichkeit Gottes. Dies wird deutlich an der Existenz Jesu Christi, der „in allem uns gleich geworden“ (Hebr 2,17) ist. Die schmerzlichen Erfahrungen wie Leid oder Verzweiflung haben jedoch keinen Selbstwert; die biblischen Texte verheißen ein Ende des Leides und eine Überwindung der Verzweiflung. 171. Der Mensch lebt als Sünder. Aus christlicher Sicht lebt er in der Abwendung von Gott und in der Orientierung an seinem eigenen Wohlergehen. Nicht selten benutzt er Gott und die anderen Geschöpfe dazu, sich selbst zu sichern. Die Sünde „ist das selbstsüchtige Begehren des alten Menschen und mangelndes Vertrauen und mangelnde Liebe zu Gott.“59 Damit übergeht er, dass nicht er selbst, sondern Gott sein Schöpfer ist, und dass die anderen Menschen, genauso wie er, Ebenbild Gottes sind und die anderen Lebewesen Mitgeschöpfe. Der Begriff des „Sünders“ soll zum Ausdruck bringen, dass der Mensch an dieser falschen Grundausrichtung essentiell beteiligt ist; er voll59 GER, GOF Annex, Nr. 2.B. 107 zieht sie selbst, wobei das individuell sehr verschiedene konkrete Gestalt annimmt. Deshalb wird gesagt, dass der Mensch daran Schuld trägt. Gleichzeitig ist der Mensch aber der Macht der Sünde unterworfen und kann ihr nicht entfliehen. Das entschuldigt nicht sein Fehlverhalten, zeigt aber ein Unheil, das er nicht beheben kann. Die Erlösung des Menschen 172. Trotz seines Seins als Sünder lässt Gott den Menschen nicht los. Durch Jesus wird dies erkennbar. Die Verheißung der Vergebung prägt sein Tun. Er macht durch sein Verhalten, durch sein Wort und sein Leiden deutlich: Auch als Sünder und Sünderin hört der Mensch nicht auf, zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt zu bleiben. Durch sein Handeln in Jesus Christus hat Gott dem Sünder und der Sünderin gezeigt, dass er ihn und sie nicht verlässt, sondern erlöst und sie und ihn allein aus Gnade dazu beruft, auch seinerseits wieder in der Gemeinschaft mit Gott zu leben. 173. Gott eröffnet dem Menschen Zukunft: in diesem Leben durch Vergebung seiner Schuld und durch ein durch den Heiligen Geist gewirktes neues Leben, in dem der Mensch gute Werke aus Dankbarkeit für die ihm widerfahrene Gnade vollbringt, und in jenem vollendeten Leben, in dem der von Sünde, Schuld und Leid erlöste Mensch in ungetrübter Gemeinschaft mit Gott leben wird. 174. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ hat gezeigt, dass es zwar typisch evangelisch-lutherische und typisch katholische Traditionen gibt, von der Sünde und den Sünden vor wie nach der Taufe zu reden, dass diese Unterschiede aber keinen kirchentrennenden Charakter haben. Die Basis der ökumenischen Einigung ist das gemeinsame Verständnis der biblischen Lehre von der Rechtfertigung. „Die Gerechtfertigten leben aus dem Glauben, der aus dem Wort Christi kommt (Röm 10,17) und der in der Liebe wirkt (Gal 5,6), die Frucht des 108 Geistes ist (Gal 5,22f.). Aber da Mächte und Begierden die Gläubigen äußerlich und innerlich anfechten (Röm 8,35-39, Gal 5,16-21) und diese in Sünde fallen (1 Joh 1,8.10), müssen sie die Verheißungen Gottes immer wieder hören, ihre Sünden bekennen (1 Joh 1,9), an Christi Leib und Blut teilhaben und ermahnt werden, in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes gerecht zu leben.“60 175. Die Befreiung von der Schuld ist gleichzeitig eine Befreiung des Menschen zu einem neuen Leben in Dankbarkeit gegenüber und in Entsprechung zu Gott. Die Freiheit des Menschen wäre als „Freiheit von“ theologisch unterbestimmt. Sie ist stets eine Freisetzung für den Anderen. Insofern verwirklicht sich christliche Freiheit im sozialen Miteinander. Auch dem Anderen ist dieses Leben in „Freiheit für“ zuzugestehen. „Freiheit für“ impliziert das Recht auf Leben und Unversehrtheit des Leibes, weil man Leben und Leib sonst nicht frei für andere einsetzen kann. Sie impliziert das Recht auf Selbstbestimmung, die sich in der Bestimmung seiner selbst zum Wohl des und der Anderen vollendet. Und sie impliziert Glaubens- und Gewissensfreiheit, insofern jede und jeder in der Realisierung dieser „Freiheit für“ der Bindung an die eigene Befreiungserfahrung folgen können muss. 3.2.3 Die theologische Begründung der Menschenwürde 176. Menschenwürde ist ein begründungsoffener Begriff, der erst durch eine bestimmte religiöse, weltanschauliche oder philosophische Füllung seine orientierende Funktion in ethischen Einzelfragen gewinnt. „Begründungsoffen“ bedeutet dabei nicht, dass es keine Begründung gibt, sondern dass eine Begründung notwendig und aus verschiedenen weltanschaulichen Perspektiven möglich ist. Warum ein Mensch Würde hat, muss begründet werden; und es kann unterschiedlich begrün60 GER, Nr. 12. 109 det werden. Dieser Sachverhalt entspricht der Situation in einer pluralen Gesellschaft. Um die Angemessenheit der Begründung kann und muss in ihr mit Argumenten gestritten werden. Die jeweilige Begründung, warum ein Mensch Würde besitzt, liefert dabei eine konkrete Füllung des Begriffes, entfaltet also, worin diese Würde liegt. Nur konkret gefüllt, kann der Begriff der Menschenwürde dabei helfen, die Frage zu beantworten, welches Verhalten der Menschenwürde entspricht. Ein christliches Verständnis der Menschenwürde ist eine solche konkrete Füllung. Andere Begründungswege gibt es in großer Zahl. Sie verfahren beispielsweise subjektivitätstheoretisch, diskurstheoretisch oder vertragstheoretisch. Sie müssen in ein argumentatives Verhältnis zum christlichen Menschenbild gesetzt werden. In dieser Studie konzentrieren wir uns auf die christlichen Ansätze, die wir im ökumenischen Gespräch präzisieren, so dass ein Diskurs mit anderen Begründungsmustern besser möglich wird, der aber in dieser Studie nicht mehr zu leisten ist. 177. Die Begründungsoffenheit der Menschenwürde bedeutet auch: Der Menschenwürdebegriff hat nicht schon in sich selbst konkreten normativen Gehalt; aus ihm können nicht direkt Handlungsanweisungen abgeleitet werden. Erst im konstruktiven Streit um das Verständnis von Menschsein und Menschenwürde gewinnt der Ausdruck für eine Gesellschaft Profil. Je nachdem, wie Menschenwürde begründet und inhaltlich gefüllt wird, ergeben sich andere normative Orientierungen. Indem die Kirchen sich an dieser Auseinandersetzung beteiligen, leisten sie einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte darüber, wie das Zusammenleben zu gestalten und zu regeln ist. Auch innerkirchliche und innertheologische Diskussionen tragen konstruktiv zu dieser gesellschaftlichen Debatte bei. Ein wichtiger Ort für solche Diskussionen waren und sind die kirchlichen Akademien. 178. Menschenwürde wird in der gegenwärtigen christlichtheologischen Diskussion schöpfungstheologisch, christologisch, rechtfertigungstheologisch und eschatologisch begründet. In allen vier Aspekten geht es um die Bezogenheit des Menschen 110 auf Gott. Es werden jedoch jeweils andere Dimensionen des Menschseins vor Gott akzentuiert. Dadurch entfaltet der Menschenwürdebegriff in unterschiedlichen Kontexten je andere argumentative Kraft. Vorausgreifend kann festgehalten werden: Der schöpfungstheologische Ansatz akzentuiert, dass ausnahmslos jeder Mensch diese Würde besitzt. Der christologische Ansatz betont die Würde auch des leidenden und benachteiligten Menschen, der rechtfertigungstheologische Ansatz die Würde auch des versagenden und schuldigen Menschen. Der eschatologische Ansatz schließlich spricht dem Menschen auch in seiner Begrenztheit und Unvollkommenheit, angesichts gebrochener Biographien und unvollendeter Lebensentwürfe, Würde zu. Die vier Begründungsansätze schließen einander nicht aus, sondern zeigen zusammengenommen: Aus christlicher Sicht besitzt der Mensch Würde in allen seinen Lebenssituationen. Die Würde des Ebenbildes Gottes. Schöpfungstheologische Begründung 179. Schöpfungstheologisch wird zur Begründung der Menschenwürde darauf verwiesen, dass der Mensch Bild Gottes ist. Diese Vorstellung zeichnet den Menschen nicht aufgrund bestimmter Qualitäten aus, sondern beschreibt den Menschen in seiner besonderen Bezogenheit auf Gott und in seiner besonderen Aufgabe, Gott in der Schöpfung zu repräsentieren. Genau darin ist der Mensch eine Ikone Gottes. Der Mensch soll Gott entsprechend über diese Welt herrschen. Gottebenbildlichkeit meint diesen dem Menschen gegebenen Auftrag. Die Würde des Menschen besteht darin, dass jedem Menschen mit seinen individuellen Gaben dieser Auftrag gegeben ist. 180. Im Horizont einer schöpfungstheologischen Begründung von Menschenwürde begegnen auch naturrechtliche Argumentationsfiguren. Sie sind nicht allein auf den katholischen Bereich beschränkt. Auch Luther hat für die Beschreibung gelingenden Menschseins im „Reich der Welt“ auf naturrechtliche Ideen 111 Bezug genommen. Gott regiert nicht nur im „Reich Christi“, sondern auch im „Reich der Welt“ durch eine vorgegebene Ordnung und Gesetze, die er in die Herzen der Menschen gibt. Sie zeigen, welches Verhalten der Würde der Menschen entspricht. Allerdings ist diese Ordnung und sind diese Gesetze, so wird heute geltend gemacht, nicht ewig, sondern unterliegen geschichtlichen Transformationen. 181. Die schöpfungstheologische Begründung der Würde des Menschen hat ihre besondere Stärke darin, dass sie unbestreitbar für alle Menschen gilt. Sie ist universal zu verstehen. Jedem, der als Mensch geschaffen wurde, kommt diese Würde zu, und zwar vom Beginn seiner Existenz bis zu ihrem Ende. Die Begründung entfaltet ihre argumentative Kraft dort, wo es um die Würde derjenigen geht, bei denen bestimmte menschliche Eigenschaften nicht, noch nicht oder nicht mehr feststellbar sind. Auch Menschen, die krank und dement, körperlich und geistig behindert sind, sind Ebenbilder Gottes. Außerdem ist die schöpfungstheologische Begründung anderen religiösen Begründungen der Würde des Menschen, die von einer Geschöpflichkeit des Menschen ausgehen, komplementär. Überdies leuchtet der Bildgehalt der Gottebenbildlichkeit intuitiv auch Menschen ein, die keine religiöse Bindung haben. Eine rein schöpfungstheologische Begründung beinhaltet allerdings die Gefahr, dass der Widerspruch des Menschen zu seiner Berufung nicht ausreichend reflektiert wird. 182. In der evangelischen Anthropologie wurde in der Vergangenheit oft behauptet, dass der Mensch durch den Sündenfall seine Gottebenbildlichkeit verloren habe und erst durch den Glauben wieder erlange. Die katholische Anthropologie sagt hingegen typischerweise, dass des Menschen Gottebenbildlichkeit durch den Sündenfall nicht verloren, sondern verwundet worden ist und dass sie durch Jesus Christus geheilt wird. Manche sehen in diesem Unterschied einen unauflöslichen Widerspruch. Aber das ist ein Irrtum. Die Bibel selbst sagt weder das eine noch das andere. Deshalb geht es nur um die Frage, wel112 che Aspekte des biblischen Menschenbildes durch die eine und die andere Interpretation sichtbar gemacht werden. Die evangelische Seite betont die Ernsthaftigkeit der Sünde, will damit aber nicht sagen, dass der Sünder in den Augen Gottes kein Mensch mehr wäre; im Gegenteil: „Der Mensch ist auch als Sünder der Mensch und keine Schildkröte.“61 Die katholische Seite betont die bleibende Verantwortung des Menschen gegenüber Gott, will damit aber nicht sagen, dass die Sünde des Menschen nicht ernst zu nehmen wäre, weil er seine Gottebenbildlichkeit nicht verloren hat; im Gegenteil: Er muss ja für seine Taten und Untaten gerade stehen. Deshalb kann von katholischer Seite der evangelischen Intention zugestimmt werden, die Gnade der Neuschöpfung zu betonen, während von evangelischer Seite der katholischen Intention zugestimmt werden kann, die moralische Verantwortung eines jeden Menschen zu betonen, unabhängig davon, ob er gläubig ist oder nicht. Inzwischen können daher katholische und evangelische Kirchen gemeinsam sagen, dass die Gottesebenbildlichkeit jedem Menschen von Gott unwiderruflich und unverlierbar geschenkt wird. Die Würde des wahren Menschen. Christologische Begründung 183. Christologische Begründungen der Menschenwürde gehen von der christlichen Überzeugung aus, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Darin liegt aus dieser Perspektive die Würde des Menschen. Gott hat in Jesus Christus den Menschen in allem, was ihn und sein Leben ausmacht, angenommen. Nichts kann den Menschen fortan von Gott trennen. Auch mit dem ausgestoßenen, leidenden und sterbenden Menschen hat sich Gott in Christus identifiziert. Deshalb hat für christliche Anthropologie auch der Mensch in seiner Verletzlichkeit und Schwäche, der ausgestoßene und verspottete Mensch, Würde. Der leidende, beschädigte Mensch ist nicht von Gott getrennt, sondern ganz Mensch: „Ecce homo!“ (Joh 19,5). 61 K. Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, in: Theologische Existenz heute 14 (1934), S. 16. 113 184. Die christologische Begründung der Würde des Menschen entfaltet ihre argumentative Kraft vor allem dort, wo es um die Würde der Ausgestoßenen, Leidenden und Sterbenden geht. Jesu Christi Tod bezeugt die Würde aller, die der öffentlichen Schande preisgegeben werden. Zwar ist auch bei einer christologischen Begründung bereits die Schuld von Menschen im Blick, insofern Christus in seinem Leiden derjenige ist, der, obwohl er von keiner Sünde wusste, von Gott zur Sünde gemacht wurde (2 Kor 5,21). Doch dass nicht nur der Leidende, sondern auch der Schuldige, also der, der Leid zugefügt hat, Würde besitzt, wird in besonderer Weise rechtfertigungstheologisch herausgearbeitet. Die Würde des zur Rechtfertigung Berufenen. Rechtfertigungstheologische Begründung 185. Rechtfertigungstheologisch wird für die Begründung des Menschenwürdegedankens geltend gemacht, dass der Mensch, der „unfähig [ist], sich von sich aus Gott um Rettung zuzuwenden oder seine Rechtfertigung vor Gott zu verdienen oder mit eigener Kraft sein Heil zu erreichen“62, von Gott dennoch angenommen wird. „Wenn Katholiken sagen, dass der Mensch bei der Vorbereitung auf die Rechtfertigung und deren Annahme durch seine Zustimmung zu Gottes rechtfertigendem Handeln ‚mitwirke‘, so sehen sie in solch personaler Zustimmung selbst eine Wirkung der Gnade und kein Tun des Menschen aus eigenen Kräften.“63 Dass die Würde des Menschen soteriologisch allein durch Gottes Gnade und Annahme gegeben ist, wird katholischerseits also nicht negiert. Der Mensch wird vor aller Leistung, trotz aller Schuld allein durch Christus von Gott gerechtfertigt. „Alle Menschen sind von Gott zum Heil in Christus berufen. Allein durch Christus werden wir gerechtfertigt, indem wir im Glauben dieses Heil empfangen.“64 Gottes Rechtferti62 GER, Nr. 19. Ebd., Nr. 20. 64 Ebd., Nr. 16. 63 114 gung kommt dem Menschen „allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi“65 zu, der das Vertrauen „auf Gottes gnädige Verheißung“66 ist. „Wenn Lutheraner betonen, dass Christi Gerechtigkeit unsere Gerechtigkeit ist, wollen sie vor allem festhalten, dass dem Sünder durch den Zuspruch der Vergebung die Gerechtigkeit vor Gott in Christus geschenkt wird und sein Leben nur in Verbindung mit Christus erneuert wird. [… sie] verneinen damit [aber] nicht die Erneuerung des Lebens des Christen“.67 Die Rechtfertigung negiert also nicht die Notwendigkeit guter Werke für ein Christenleben, denn „dieser Glaube ist in der Liebe tätig.“68 Aber solche guten Werke sind „nicht Grund der Rechtfertigung“69, sondern ihre Folge: „Wir bekennen gemeinsam, dass gute Werke – ein christliches Leben in Glaube, Hoffnung und Liebe – der Rechtfertigung folgen und Früchte der Rechtfertigung sind.“70 186. Dieses in der Rechtfertigungslehre beschriebene Angenommensein des Menschen ist kein allgemeiner anthropologischer Grundsatz, über den man nur aufgeklärt werden müsste. Es ist in Gottes geschichtlichem Heilshandeln in Jesus Christus begründet. Aber was bedeutet es für eine rechtfertigungstheologische Begründung der Menschenwürde, dass nicht alle Menschen an diesen Jesus Christus glauben? Paulus spitzt die Rechtfertigung tatsächlich auf die Glaubenden zu: Durch den Glauben wird man gerechtfertigt (Röm 3,28). Dennoch muss daraus kein Ausschluss von Nicht-Glaubenden aus einer rechtfertigungstheologischen Begründung der Würde gefolgert werden. Vielmehr sind alle Menschen von Gott dazu berufen, Ebenbild Christi zu werden (Röm 8, 29). Bei den Glaubenden ist realisiert, wozu alle Menschen eingeladen sind. Da das rechtfertigende Handeln auf 65 Ebd., Nr. 15. Ebd., Nr. 25. 67 Ebd., Nr. 23. 68 Ebd., Nr. 25. 69 Ebd. 70 Ebd., Nr. 37. 66 115 alle Menschen zielt, kann dann die Würde aller Menschen damit begründet werden, dass alle Menschen dazu berufen sind, an Gottes rechtfertigendes Handeln in Christus zu glauben. 187. Diese rechtfertigungstheologische Begründung der Würde des Menschen begegnet vor allem im evangelisch-lutherischen Bereich, kann aber von beiden Konfessionen geteilt werden. Sie hat die Stärke, dass die Verfehlung des Menschen gegenüber seinem Auftrag und die Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes deutlich herausgestellt werden. Sie entfaltet ihre argumentative Kraft im Kontext von Versagen und Schuld von Menschen – auch sie haben Würde – und lädt zur Versöhnung ein. Gleichzeitig beinhaltet sie die Problematik, sich einer spezifisch christlichen Figur zu verdanken und damit schwerer allgemein vermittelbar zu sein. Sie kann exklusivistisch missverstanden werden, als ob nur die Glaubenden und Gerechtfertigten Würde besäßen. Die Würde des zur Vollendung Bestimmten. Eschatologische Begründung 188. Eschatologisch kann Menschenwürde damit begründet werden, dass Christus in einer noch ausstehenden Heilstat den Menschen mit seiner Welt und Geschichte zur endgültigen Erfüllung bringen wird. Die eschatologische Botschaft spricht von der Parusie und der mit ihr hervortretenden Vollendung von Mensch und Welt und davon, dass diese jetzt schon begonnen hat. Von dem Ziel her, in dem der „neue Mensch“ vollendet geboren wird, begreift sich der gegenwärtige Mensch als der Sich-selbst-noch-Verborgene, als der Noch-nicht-Ausgereifte, aber Zur-Vollkommenheit-Berufene. Diese Berufung verändert sein Leben schon jetzt; inmitten des Leides gibt es schon jetzt für ihn Trost, inmitten der Schuld schon jetzt Vergebung. Das bedeutet: Die Würde des Menschen besteht auch angesichts menschlicher Unvollkommenheit und Endlichkeit. Auch Menschen, die an der Entfaltung ihrer Gaben durch Gewalt und Lebensumstände gehindert werden, sind von Gott gehalten und 116 haben die gleiche Würde wie Menschen, die ihre Talente ausbilden und sichtbar einsetzen können. Der Mensch ist auch ein Leidender und ist mit Krankheit, Ungerechtigkeit und Tod belastet. Gewalt und Tränen zeichnen seinen Weg durch die Geschichte genauso wie Freude und Dankbarkeit. Viele Kinder sterben durch Hunger und Gewalt, bevor sie ihr Leben selbst gestalten können. Menschen werden durch Krieg oder Verfolgung aus ihrem Leben gerissen und müssen auf der Flucht ihr gewohntes Leben zurücklassen. Die Erfahrung, an eigenen Idealen und Träumen zu scheitern, verbindet fast alle Menschen. All dies macht menschliches Leben aus. Aber das ist nicht das letzte Wort. Zum menschlichen Wesen gehört es, dass Gott ihm Zukunft eröffnet. 189. Die eschatologische Begründung der Menschwürde entfaltet ihre argumentative Kraft angesichts der Unvollkommenheit und Heilsbedürftigkeit menschlichen Lebens. Dem Menschen kommt auch in seiner Fragilität, Verletztheit und Unvollkommenheit Würde zu. Gerade durch die Begegnung mit benachteiligten, leidenden und kranken Menschen können Menschen tiefer verstehen, dass Würde im christlichen Sinne in keiner Weise an Erfolg, Schönheit und Gesundheit hängt. Das tröstet im Leben und im Sterben: Wenn der Mensch mit seiner Begrenztheit konfrontiert wird, darf jede und jeder sich als ein Wesen wissen, das von Gott gewollt und gehalten ist und dereinst heil werden wird. 190. In der Geschichte der evangelischen und katholischen Theologie hat es lange Zeit starke Restriktionen der Heilshoffnung gegeben. Sie wirken zum Teil bis heute nach. Sie können aber durch die gemeinsame Auslegung der Heiligen Schrift überwunden werden. Auf katholischer Seite wurde das Grundprinzip extra ecclesiam nulla salus oft so verstanden, dass nur die Mitglieder der Kirche gerettet, alle anderen aber verdammt werden. Ins Licht der Schrift gestellt, liegt der Sinn des Grundsatzes aber darin, dass die Kirche in der Nachfolge Jesu für die Verkündigung und die Vermittlung des Heiles steht, das Gott 117 allen Menschen bereitet hat, und dass alle diese Menschen Platz im Gottesdienst, im Glaubenszeugnis, im Heilsdienst und in der Caritas der Kirche haben. Auf lutherischer Seite ist der Grundsatz sola fide oft so gedeutet worden, als würden nur diejenigen gerettet werden können, die jetzt schon explizit an Gott glauben, den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist. Ins Licht der Heiligen Schrift gestellt, liegt der Sinn des Grundsatzes aber darin, dass nur die Gläubigen jetzt schon Gottes Gnade in Jesus Christus erkennen und bekennen können. In diesem Glauben daran, dass Gott durch Jesus Christus „die Welt mit sich versöhnt“ (2 Kor 5,19) hat, wagen sie zu hoffen, dass am Ende „Gott alles in allem ist“ (1 Kor 15,28). 191. Alle vier Konzepte theologischer Menschenwürde-Begründung haben gemeinsam, dass sie die Würde des Menschen nicht von bestimmten Eigenschaften des Menschen (wie beispielsweise seiner Leistungsfähigkeit) her verstehen, sondern von Gottes Beziehung und Zuwendung zum Menschen. Die Würde des Menschen verdankt sich aus theologischer Sicht nicht ihm selbst, sie ist immer von Gott geschenkte Würde. Es entspricht dieser Würde des Menschen, sein Leben selbst bestimmen zu können, soweit er damit nicht in die Selbstbestimmung oder das Lebensrecht anderer Menschen eingreift. Die Würde des Menschen ist aber nicht konstituiert durch seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung und den Vollzug von Selbstbestimmungsakten. Eine Identifikation von Menschenwürde mit Selbstbestimmungsfähigkeit und -vollzug greift aus christlicher Sicht zu kurz. Umgekehrt gefährdet ein Verlust seiner Selbstbestimmungsfähigkeit auch nicht seine Würde. Wohl aber ist der Mensch in seiner leiblichen und seelischen Verletzbarkeit, aber auch in seiner Kreativität und seinem Gerechtigkeitsstreben darauf angewiesen, von anderen Menschen in seiner Menschenwürde erkannt und anerkannt zu werden. 192. Die Würde eines Menschen kann ignoriert und missachtet, sie kann ihm aber nicht genommen werden. Weil in Gott begründet, ist die Würde eines Menschen unverlierbar. Alle Men118 schen sind in der gleichen Weise Geschöpfe Gottes, in Christus angenommen wie der Rechtfertigung und Erlösung bedürftig. Menschenwürde ist unaufhebbar. Deshalb kommt allen Menschen in der gleichen Weise Würde zu. Würde ist aus theologischer Sicht kein abgestufter und kein abstufbarer Begriff. Sie gilt unbedingt. 193. Christinnen und Christen hoffen darauf, dass alle Menschen dereinst mit Gott leben. Aus dieser Hoffnung speist sich der Auftrag von Christen und Christinnen gegenüber dieser Welt. Sie wollen diese Welt so gestalten, dass alle Menschen schon jetzt so leben können, wie es ihrer Würde entspricht. Die alttestamentlichen Propheten haben zwar nicht explizit die Kategorie der Menschenwürde verwendet. Aber die von ihnen vorgebrachte Sozialkritik, ihr Eintreten für die Entrechteten und Unterdrückten zeichnen eine Gesellschaft vor, in der für alle Menschen ein ihrer Würde gemäßes, gerechtes Leben möglich wird. 194. Aus dem hier entfalteten Menschenbild können nicht direkt Handlungsanweisungen abgeleitet werden. Aber die Auseinandersetzung mit ihm leitet dazu an, immer wieder neu zu entdecken, wie ein der biblischen Tradition entsprechendes Handeln und Verhalten aussehen kann in Bezug auf die hochkomplexen und in sich mehrdeutigen empirischen Sachverhalte. Jene Auseinandersetzung kann durch Neu-Erzählen der biblischen Geschichten geschehen, aber auch durch eine vernunftgeleitete Diskussion der darin aufscheinenden Grundsätze. 3.3. Zusammenfassung und Ausblick 195. Sowohl der gemeinsame Blick in die Heilige Schrift als auch die gemeinsame systematische Reflexion der unterschiedlichen Deutungstraditionen haben die These belegt, dass es lutherisch – katholisch einen differenzierten Konsens in der Anthropologie gibt. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtferti119 gungslehre“ hat die soteriologischen Dimensionen erhellt. In dieser Studie werden die schöpfungstheologischen, christologischen und eschatologischen Dimensionen der Anthropologie so erschlossen, dass ein differenziertes Ganzes entsteht, das geeignet ist, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und der Würde des Menschen substantiell zu beantworten. 196. Sowohl in der Schriftauslegung als auch in der Aufarbeitung der theologischen Traditionen und in der theologischen Begriffsbildung gibt es unterschiedliche Methoden, Kategorien und Prinzipien, sowohl innerhalb der Konfessionen wie zwischen ihnen. Diese Vielfalt verhindert nicht die Gewinnung gemeinsamer Standpunkte zur Gottebenbildlichkeit, zur Christusförmigkeit, zur Rechtfertigung und zur Erlösung des Menschen; sie zeigt vielmehr, dass eine theologische Pluralität die Intensität der Reflexion erhöht, wenn die Voraussetzungen und Perspektiven der verschiedenen Ansätze transparent gemacht worden sind. 197. Zum differenzierten Konsens gehört nicht nur eine stabile gemeinsame Grundlage, die in der Anthropologie durch die gemeinsame Überzeugung von der Erschaffung des Menschen zum Bild Gottes, seiner Berufung zur Gemeinschaft mit Christus, seiner Rechtfertigung durch den Glauben und seiner Bestimmung zur eschatologischen Vollendung gegeben ist. Ebenso wichtig ist eine qualifizierte Beschreibung der konfessionstypischen Unterschiede, aber auch der dynamischen theologischen Entwicklungen in den Konfessionen, die nicht zuletzt durch die Ökumene angestoßen sind. In diesem Kapitel wurde beschrieben, wo diese Differenzen bei den Themen der Gottebenbildlichkeit und des Sündenfalls, des Christusglaubens und der Rechtfertigung, der ethischen Verantwortung und der Vollendungshoffnung bestehen; es wurde aber auch gezeigt, warum sie nicht nur keinen kirchentrennenden Charakter haben, sondern als verschiedene, aber jeweils sachgerechte Auslegungen des Evangeliums erkannt und wechselseitig anerkannt werden können. 120 198. Mit diesem Zwischenergebnis ist die Voraussetzung geschaffen, dass in Kapitel 4 der differenzierte Konsens in der Anthropologie unter dem Aspekt seiner Bedeutung für die sittliche Urteilsbildung und das ethische Handeln der Kirchen genauer bestimmt und ins Verhältnis zu den bestehenden Differenzen in einigen konkreten Fragen angewandter Ethik gesetzt werden können. 121 4. Der ökumenische Umgang mit Konvergenzen und Divergenzen in der Ethik 199. In Kapitel 4 werden Folgerungen aus den Darlegungen zu den Prinzipien theologischer Urteilsbildung (Kap. 2) und den Perspektiven Theologischer Anthropologie (Kap. 3) gezogen. Zunächst wird gezeigt, worin der differenzierte Konsens in der Theologischen Anthropologie besteht (4.1); dann werden die drei einleitend (in 1.3) angesprochenen Fallbeispiele – Stammzellforschung, Kinderarmut und Bildung sowie Sterbehilfe – aufgenommen, um an ihnen zu zeigen, wo und inwieweit von einem begrenzten Dissens gesprochen werden kann und wie mit ihm ökumenisch umzugehen ist (4.2). 4.1 Der differenzierte Konsens in der Theologischen Anthropologie 200. Zwischen der lutherischen und der katholischen Kirche gibt es einen tief verwurzelten und breit gefächerten Konsens in der Anthropologie. Durch Differenzen in einigen wenigen, eng begrenzten, wenngleich wichtigen Fragen der Ethik wird dieser Konsens nicht erschüttert. Die Besinnung auf die weitreichenden Übereinstimmungen zwischen den Kirchen ist notwendig, damit die Kirchen das gemeinsame christliche Zeugnis für die Würde des Menschen stärken. Dadurch wollen sich die Kirchen im Einsatz für Menschlichkeit in einer Welt beteiligen, die schreiendes Unrecht, brutale Unterdrückung und massive Verletzung von Menschenrechten kennt, sowie in einer Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit und Freiheit, Frieden und förderlichen Lebensbedingungen für alle sucht. Die Kirchen engagieren sich für eine solidarische Gesellschaft, welche sich Notleidenden und Flüchtlingen zuwendet. 123 201. Von einem differenzierten Konsens wird gesprochen, wenn es klare Unterschiede zwischen typisch evangelisch-lutherischen Argumentationen und Positionen auf der einen, typisch katholischen auf der anderen Seite gibt, diese Differenzen aber auf dem Boden einer starken Gemeinsamkeit ausgehalten werden können und keinen kirchentrennenden Charakter haben, weil sie jeweils von der anderen Seite als konsequente, wenngleich spezifische Ausfaltungen des gemeinsamen Ansatzes erkannt werden können. Die Studie will in der Hermeneutik des differenzierten Konsenses einen Schritt weitergehen, indem sie das relative Recht der konfessionell differenten Positionen unter dem Aspekt betrachtet, inwiefern sie die eigene Sicht bereichern können und eine begründete Anerkennung der anderen Seite von der eigenen Position aus erlauben, offene Kritik von Schwachstellen auf der eigenen wie der anderen Seite eingeschlossen. 202. Aus diesem Grund werden zuerst (4.1.1) grundlegende Übereinstimmungen reflektiert, die sich aus der gemeinsamen Exegese der Heiligen Schrift (s. o. 3.1) und aus der systematischtheologischen Reflexion der Menschenwürde (s. o. 3.2) ergeben, wenn die Prinzipien der ethischen Urteilsbildung beachtet werden, die in Kapitel 2 dargestellt worden sind. Danach werden (4.1.2) diese Gemeinsamkeiten in einer rechtfertigungstheologischen Erörterung differenziert, die von der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ ausgeht und sie im Lichte der Diskussion, die sie ausgelöst hat, für die Klärung des Verhältnisses zwischen dem Gottesglauben und dem Verständnis der Menschenwürde heranzieht. 4.1.1 Grundlegende Übereinstimmungen in der Theologischen Anthropologie 203. Die Kirchen melden sich in den gesellschaftlichen Debatten über humanitäre Fragen zu Wort, engagieren sich caritativ und diakonisch in lokalen wie in globalen Projekten. Der Grund ist ebenso einfach wie stark: Der Glaube an Gott gehört un124 trennbar mit der christlichen Überzeugung von der Würde des Menschen zusammen. In Jesus Christus ist Gott selbst Mensch geworden. Deshalb ist die Menschenwürde für die Kirchen theologisch begründet; die Menschenwürde zu achten, ist ein Gebot Gottes; und die Rettung derjenigen Menschen, deren Würde missachtet wird, ist eine Verheißung Gottes. 204. Gemeinsam bekennen sich katholische und evangelische Christinnen und Christen zu Gott, der „Himmel und Erde“ erschaffen hat (Gen 1,1). Es ist dieser Glaube an den einen Gott als den Schöpfer aller Menschen, der sie zu der Erkenntnis führt, dass alle Menschen Gottes Ebenbild sind (Gen 1,26f.), unabhängig von Geschlecht und Nation, Hautfarbe und Herkunft, Religion und Kultur, Gesundheit und Krankheit, Bildung und Leistung, Schuld und Reue. 205. Gemeinsam bekennen sich evangelische und katholische Christen und Christinnen zu Jesus Christus, in dem „die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes erschienen“ ist (Tit 3,4). Es ist dieser Glaube an Jesus Christus, der für alle Menschen auf Erlösung hoffen lässt (2 Kor 5,14), so sehr sie auch der Macht der Sünde und des Todes ausgesetzt sind. 206. Gemeinsam bekennen sie sich zum Heiligen Geist, der „ausgegossen ist über uns aus der Höhe“ (Jes 32,15). Es ist dieser Glaube an den Heiligen Geist, der Menschen bewegt, der „Gerechtigkeit“ zu dienen (Joh 16,10), die allen Menschen zugutekommen muss, besonders denen, die unter Ungerechtigkeit leiden. Ihnen wird Gerechtigkeit verheißen (Mt 5,6). 207. Die Anerkennung der Würde eines jeden Menschen ist für Christinnen und Christen ein Prüfstein des Glaubens. Die Menschenwürde gilt unbedingt. Der Glaube an den einen Gott sichert diese Unbedingtheit der Menschenwürde und schützt sie vor allen Versuchen, sie aufgrund religiöser, sozialer, juristischer, medizinischer oder biologischer Gründe zu relativieren. Der Einsatz für die Menschenrechte folgt aus der Einheit von 125 Gottes- und Nächstenliebe, die Jesus verkündet (Mk 12,18-34 parr.) und im Gleichnis vom barmherzigen Samariter veranschaulicht hat (Lk 10,30-37). 208. Die wesentlichen Gemeinsamkeiten, welche die katholische und die evangelische Theologie im Bild des Menschen verbinden, sind in der Heiligen Schrift begründet, die Gläubige gemeinsam lesen und im Gottesdienst hören – in unterschiedlichen Formen, aber mit demselben Ziel, das ursprüngliche Zeugnis des Glaubens in seiner prägenden Kraft für das Leben der Menschen zu erkennen und heute zu konkretisieren. 209. Die Übereinstimmungen im Verständnis der Menschenwürde sind durch die Ökumenische Bewegung vertieft worden. Sie hat die Kirchen gelehrt, die Sprache, die Intentionen, die Denkformen, die Befürchtungen und die Entdeckungen der anderen Traditionen besser zu verstehen. Sie hat dazu geführt, die charakteristischen Unterschiede, die es zwischen den Kirchen gibt, nicht zu relativieren, sondern zu interpretieren. Diese Unterschiede sind nicht nur Probleme, die es zu lösen gilt, sondern sie sind vor allem auch Chancen, die Einheit von Gottesund Nächstenliebe und die Tiefe des christlichen Glaubens umfassender zu erkennen. Im Gespräch mit anderen bereichern sich die eigenen Interpretationen, auch durch mögliche Konflikte hindurch, wenn am Gespräch geduldig und ehrlich festgehalten wird. Dadurch werden Menschen befähigt, zwischen verschiedenen christlichen Ausdrucksformen und Sprachweisen zu übersetzen. Christen und Christinnen verschiedener Konfessionen lernen darin voneinander und miteinander, um ihren Glauben in noch größerer Fülle zu leben. 4.1.2 Charakteristische Profile Theologischer Anthropologie und ihre ökumenische Bedeutung 210. Um die charakteristischen Profile sowohl der evangelischen wie der katholischen Theologie in Grundfragen der An126 thropologie herauszuarbeiten und darzustellen, wie sie kritisch und konstruktiv aufeinander zu beziehen sind, werden aus der Vielzahl relevanter Themen in zwei konvergierenden Durchgängen zwei Paare von Themen besprochen, die mit der Menschenwürde verbunden sind: zuerst die Macht der Gnade und das Unheil der Sünde, dann die Verantwortung des Menschen und der Gehorsam gegenüber Gottes Gebot. Traditionell gelten die beiden ersten Themen als besondere Anliegen evangelischer, die beiden letzten als besondere Anliegen katholischer Theologie. In dieser Studie werden sie auf der Basis der „Gemeinsamen Erklärung“ interpretiert und auf die Frage nach der theologischen Begründung der Menschenwürde bezogen. Die stabile Basis bilden die grundlegenden Übereinstimmungen, die in 4.1.1 dargestellt worden sind; das gemeinsame Ziel des Dienstes in der Welt und an der Welt, auf den hin die theologischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezogen werden müssen, wird anschließend in 4.1.3 skizziert. Im Mittelstück soll paradigmatisch gezeigt werden, wie gerade der ökumenische Dialog, der Kontroversen nicht scheut, aber Konsense anstrebt, die Unterschiede nicht verwischt, sondern hilft, die Konturen christlicher Anthropologie zu schärfen und dadurch den Einsatz der Kirchen für die Achtung der Menschenwürde in einem gesellschaftlichen Umfeld zu stimulieren, das viele Bündnispartnerinnen, aber auch einige Gegner kennt. Die Macht der Gnade 211. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ stellt fest: „Es ist unser gemeinsamer Glaube, dass die Rechtfertigung das Werk des dreieinigen Gottes ist.“71 Deshalb ist es eine gemeinsame Überzeugung, dass die Rechtfertigung allein durch den Glauben und allein aus Gnade geschieht.72 Aus diesem Grund kann einerseits von katholischer Seite aus die Inten- 71 72 GER, Nr. 15. Ebd., Nr. 25-27; vgl. auch GER, GOF Annex, Nr. 2.C. 127 tion des lutherischen sola fide73 anerkannt werden und andererseits von lutherischer Seite die katholische Position, dass die Gläubigen in der Rechtfertigung „von Christus Glaube, Hoffnung und Liebe“ empfangen.74 Denn die lutherische Seite erklärt: „Aus der Liebe Gottes, die dem Menschen in der Rechtfertigung geschenkt wird, erwächst die Erneuerung des Lebens“75; und die katholische Seite sagt, dass die „Erneuerung in Glaube, Hoffnung und Liebe immer auf die grundlose Gnade Gottes angewiesen“ ist, weshalb die Menschen „keinen Beitrag zur Rechtfertigung“ leisten.76 212. In der Ökumene wird positiv gewürdigt, dass die evangelische Theologie in allen Fragen der Anthropologie darauf aus ist, ohne jeden Abstrich die Gnadenmacht Gottes zur Geltung zu bringen, der die Menschen alles verdanken: ihr Leben, ihren Glauben, ihre Rechtfertigung und ihre Hoffnung. Durch keine noch so große Anstrengung, durch keinen noch so guten Willen, durch keine noch so starke Leistung kann Gottes Gnade erworben, erhalten oder ergänzt werden. Martin Luther hat durch seine Exegese der Heiligen Schrift, durch seine Theologie, nicht zuletzt durch seine Predigten und Streitschriften dieser Gnadentheologie die Richtung gewiesen. 213. In der Ökumene wird auch die alte katholische Verdächtigung überwunden, diese Theologie der Gnade entlasse die Menschen aus ihrer ethischen Verantwortung. Tatsächlich hat die evangelische Theologie in ihren prägenden Zeugnissen immer Gottes Gnade so in Aktion gesehen, dass der Mensch, der nicht durch religiöse „Werke“, sondern nur durch seinen Glauben gerechtfertigt wird, gerade dadurch, vom Geist Gottes erfüllt, zu einem Leben erneuert wird, das im Dienst der Gerechtigkeit steht. Allerdings hat die konstruktive Teilhabe an der ökumeni73 GER, Nr. 26. Ebd., Nr. 27. 75 Ebd., Nr. 26. 76 Ebd., Nr. 27. 74 128 schen Diskussion auch dazu geführt, dass die evangelische Theologie missverständliche Formulierungen überdacht und die ethische Dimension der Rechtfertigungslehre neu betont hat. 214. Umkehrt kann die katholische Theologie nicht nur die Intention der evangelischen Gnadentheologie würdigen. Sie kann vielmehr auch anerkennen, dass die evangelische Betonung der Gnadenmacht Gottes eine große kritische Kraft gegen jede Relativierung der Menschenwürde durch Nützlichkeitserwägungen, durch kulturelle Konditionierungen oder naturwissenschaftliche Relativierungen hat. Im ökumenischen Dialog hat die katholische Seite an der evangelischen Theologie ebenso die konstruktive Kraft zu schätzen gelernt, die Würde der Menschen gerade dort zu suchen, wo sie durch Schuld und Versagen verdeckt zu werden droht. 215. Gemeinsam kann deshalb gesagt werden, dass die Betonung der Gnadenmacht Gottes die Menschenwürde nicht schmälert, so als ob sie nicht die Würde eben des Menschen sei, sondern dem Menschen nur uneigentlich zukomme, sondern dass sie sie im Gegenteil begründet und stärkt, weil sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen unverbrüchlich und unantastbar begründet. Es ist die spezifische Aufgabe der Kirchen, im gesellschaftlichen Diskurs über die Menschenwürde und die Menschenrechte Gott als den zur Sprache zu bringen, der unbedingt auf der Seite der Menschen steht und deshalb ihre Würde und ihre Rechte unabhängig von gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen oder weltanschaulichen Konditionen garantiert. Das Unheil der Sünde 216. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ stellt als ökumenische Gemeinsamkeit fest, dass „wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden und neu schaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken“.77 Deshalb hat sie von die77 Ebd., Nr. 17. 129 sem Ansatz aus einen ökumenischen Zugang zur typisch lutherischen Rede vom simul justus et peccator gebahnt.78 Denn einerseits hat die evangelisch-lutherische Seite erklärt, dass die Sünde „keine den Christen ‚beherrschende‘ Sünde mehr (ist), weil sie durch Christus ‚beherrscht‘ ist.“79 Andererseits hat die katholische Seite erklärt, dass die „Neigung“ zum Sündigen, die vom Sündigen selbst zu unterscheiden sei, aber aus der Sünde kommt und zur Sünde drängt80, „objektiv Gottwidrigkeit und Gegenstand lebenslangen Kampfes ist“.81 217. In der Ökumene wird positiv gewürdigt, dass die evangelische Theologie mit ihrer Gnadentheologie darauf aus ist, die verheerende Macht der Sünde insbesondere dort zu entdecken und zu bekämpfen, wo sie sich verbirgt. Der wichtigste Fall ist der, dass die Sünde sich den Anstrich der Frömmigkeit gibt. Die Kritik der „Werkgerechtigkeit“ hat hier ihre Spitze. Die evangelische Theologie konzentriert sich auf das Grundverständnis der Sünde, dass ein Mensch, wie die Bibel es in der Geschichte von Adam und Eva erzählt, sein will „wie Gott“ (Gen 3,5). Sie entdeckt, dass der Mensch darin auch seine Menschlichkeit leugnet. Sie plädiert dafür, dass es gerade die Anerkennung Gottes ist, in welcher der Mensch seiner Menschlichkeit entspricht. Um die Katastrophe der Sünde nicht zu beschönigen, ist in der evangelischen Theologie lange Zeit immer wieder gelehrt worden, dass die Menschen, die aus dem Paradies vertrieben wurden, wegen ihrer Sünde die Gottebenbildlichkeit verloren hätten. Wie in dieser Studie gezeigt, ist dies aber nicht als Leugnung der Menschenwürde zu verstehen, sondern als Hinweis auf die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, der durch Gottes Gnade sich selbst in seiner Menschlichkeit wiederfindet. Es 78 Ebd., Nr. 28-30; vgl. GER, GOF Annex, Nr. 2.A. GER, Nr. 29. 80 GER, GOF Annex, Nr. 2.B. 81 GER, Nr. 30. Dieser Ansatz ist aufgenommen und vertieft in der Studie des Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen: Th. Schneider / G. Wenz (Hrsg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, Dialog der Kirchen, Bd. 11, Freiburg i. Br./Göttingen 2001. 79 130 schließt auch, wie gezeigt, nicht aus, dass heute ein gemeinsames Verständnis des Sündenfalls zur Diskussion gestellt werden kann. 218. In der Ökumene wird auch die alte katholische Verdächtigung überwunden, die evangelische Theologie sei einerseits sündenfixiert, relativiere aber andererseits die konkreten Erscheinungsformen der Sünde in Form der Übertretung göttlicher Gebote, wie sie von der Schrift und der Tradition bezeugt werden. Tatsächlich will jedoch die evangelische Hamartiologie die Verstöße gegen Gottes Weisung gerade in ihrer Tiefendimension ausleuchten. Sie will den Unterschied zwischen Gotteswort und Menschensatzung markieren, auch wenn diese von der Autorität der Kirche gedeckt zu werden scheinen. Allerdings hat die konstruktive Partizipation am ökumenischen Gespräch die evangelische Theologie dazu geführt, ihre eigene Position zum theologischen Stellenwert ethischer Lehraussagen und zur Bedeutung des Rechts in der Kirche zu präzisieren. 219. Umgekehrt kann die katholische Theologie nicht nur die Intention der evangelischen Hamartiologie würdigen. Sie kann vielmehr auch anerkennen, dass sie die kritische Kraft hat, die offenen und sublimen Formen von Heuchelei zu entlarven, die tödliche Bedrohung der Sündenmacht zu entdecken und Machtansprüche, die im Namen Gottes geltend gemacht werden, zu hinterfragen. Ebenso kann die katholische Seite anerkennen, dass die evangelische Hamartiologie die konstruktive Kraft hat, ideologische Verschwörungen gegen die Menschlichkeit, auch in der eigenen Geschichte, aufzudecken und den Kampf um Gerechtigkeit auch dort zu befördern, wo er mit Berufung auf heilige Traditionen behindert wird. 220. Gemeinsam kann deshalb gesagt werden, dass die Aufdeckung des Unheils der Sünde fordert, die Mechanismen des Bösen zu analysieren und auszuhebeln, das die Würde von Menschen missachtet. Gemeinsam kann gleichfalls gesagt werden, dass die Würde auch derjenigen Menschen zu achten und 131 zu schützen ist, die schwerste Schuld auf sich geladen haben oder, aus welchen Gründen auch immer, anderen Menschen als Unmenschen gelten. Es ist die spezifische Aufgabe der Kirchen, im gesellschaftlichen Diskurs über die Menschenwürde und die Menschenrechte Gott als den zur Sprache zu bringen, der den Abgrund unmenschlicher Verhältnisse ausleuchtet und Hoffnung auf Rettung, Anerkennung und Versöhnung auch dort macht, wo menschliche Möglichkeiten am Ende sind. Die Verantwortung des Menschen 221. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ stellt als ökumenische Gemeinsamkeit fest, dass der Heilige Geist „die Gläubigen zu jener Erneuerung ihres Lebens führt, die Gott im ewigen Leben vollendet.“82 Deshalb hat sie von diesem Ansatz aus einen ökumenischen Zugang zu der typisch katholischen Lehre gebahnt, dass der „Mensch bei der Vorbereitung auf die Rechtfertigung und deren Annahme durch seine Zustimmung zu Gottes rechtfertigendem Handeln ‚mitwirke‘“83 und dass in diesem Zusammenhang „gute Werke“ getan werden sollen.84 Denn einerseits hat die katholische Seite erklärt, dass sie „in solch personaler Zustimmung selbst eine Wirkung der Gnade“ sieht „und kein Tun des Menschen aus eigenen Kräften“85 und dass sie „nicht den Geschenkcharakter der guten Werke“ bestreitet.86 Andererseits hat die evangelisch-lutherische Seite erklärt, das mere passive schließe zwar „jede Möglichkeit eines eigenen Beitrags des Menschen zu seiner Rechtfertigung [aus], nicht aber sein volles personales Beteiligtsein im Glauben, das vom Wort Gottes selbst gewirkt wird“87, und dass sie nicht nur „den Gedanken eines Bewahrens der Gnade und eines Wachstums in 82 GER, Nr. 16. Ebd., Nr. 20; vgl. ebd., Nr. 24. 84 Ebd., Nr. 37-39. 85 Ebd., Nr. 20. 86 Ebd., Nr. 38. 87 Ebd., Nr. 21. 83 132 Gnade und Glauben“ kennt, sondern auch „das ewige Leben gemäß dem Neuen Testament als unverdienten ‚Lohn‘ im Sinn der Erfüllung von Gottes Zusage an die Glaubenden“ erhofft.88 „[…] der Gerechtfertigte ist dafür verantwortlich, die Gnade nicht zu verspielen, sondern in ihr zu leben.“89 222. In der Ökumene wird positiv gewürdigt, dass die katholische Theologie in allen Fragen der Anthropologie darauf aus ist, die moralische Verantwortung des Menschen zu betonen, die ihm Gott übertragen hat und die wahrzunehmen er von Gott befähigt wird. Der entscheidende Punkt ist, dass die Rede von der „Mitwirkung“ kein additives Verhältnis beschreiben soll, sondern ein integratives: Gott schenkt den Menschen seine Gnade so, dass sie in ihrer Freiheit als sie selbst sowohl wirken als auch von Gott anerkannt werden. In dieser Linie hat die katholische Theologie im ökumenischen Dialog klargestellt, dass sie von „Verdiensten“ in keinem anderen Sinn als dem der biblischen Lohnverheißung spricht.90 So wenig Gott sich in seiner Gnade von der Moralität oder Amoralität von Menschen abhängig macht, so sehr verschafft er in seiner Gerechtigkeit dem eschatologische Geltung, was Menschen in Gedanken, Worten und Werken Gutes getan und gewollt haben. 223. In der Ökumene wird auch die alte evangelische Verdächtigung überwunden, die katholische Theologie wolle die göttliche Gnade von menschlichen Vorleistungen abhängig machen und fröne einem Moralismus, der Rigorismus und Disziplinierung begünstige. Tatsächlich geht es der katholischen Anthropologie aber darum, die kreative Kraft der Gnade zu betonen, die an den Menschen nicht ohne sie wirkt, und die ethischen Konsequenzen des rechtfertigenden Glaubens zu sichern, der „durch Liebe wirksam ist“ (Gal 5,6). Allerdings hat die konstruktive Partizipation am ökumenischen Gespräch die katholische 88 Ebd. Nr. 39. GER, GOF Annex, Nr. 2.D. 90 GER, Nr. 38. 89 133 Theologie dazu geführt, missverständliche Formulierungen zu überdenken und die christliche Ethik deutlich in der Gnade der Rechtfertigung zu verankern. 224. Umgekehrt kann die evangelische Theologie nicht nur die Intention der katholischen Betonung menschlicher Verantwortung und Mitwirkung würdigen. Sie kann vielmehr auch anerkennen, dass die katholische Theologie in ihrer Heilslehre die kritische Kraft hat, jedes Ausweichen vor den ethischen Ansprüchen des Evangeliums zu bekämpfen. Ebenso kann die evangelische Seite anerkennen, dass die katholische Theologie die konstruktive Kraft hat, aus dem Glauben heraus die Menschen in ihrer Freiheit vor Gott anzuerkennen, gerade dort, wo ihnen die Freiheit geraubt und die Verantwortung abgesprochen wird, nicht zuletzt in der Kirche selbst. 225. Gemeinsam kann deshalb gesagt werden, dass die Verantwortung für die Achtung der Menschenwürde und die Anerkennung der Menschenrechte eine Konsequenz des rechtfertigenden Glaubens ist. Christen und Christinnen wissen, dass sie vor Gott Rechenschaft darüber ablegen müssen, was sie den Geringsten ihrer Brüder und Schwestern getan oder nicht getan haben (Mt 25,31-46). Es ist die spezifische Aufgabe der Kirchen, im gesellschaftlichen Diskurs über die Menschenwürde und die Menschenrechte Gott als den zur Sprache zu bringen, der die ethische Verantwortung in der Gottebenbildlichkeit des Menschen selbst verankert und zugleich die Hoffnung auf ewiges Leben begründet, das die Bestimmung des Menschen vollendet. Der Gehorsam gegen Gottes Gebot 226. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ stellt als ökumenische Gemeinsamkeit fest, dass es das „gemeinsame Hören auf die in der Heiligen Schrift verkündigte frohe Botschaft“ ist, das zum rechtfertigenden Glauben und zum gemeinsamen Verständnis der Rechtfertigungslehre 134 führt.91 Aus diesem Grund kann das Verhältnis von Gesetz und Evangelium (wie oben in 2.3.2 gezeigt) gemeinsam bestimmt werden.92 Denn beide Seiten machen sich zu eigen, „dass die Gebote Gottes für den Gerechtfertigten in Geltung bleiben und dass Christus in seinem Wort und Leben den Willen Gottes, der auch für den Gerechtfertigten Richtschnur seines Handelns ist, zum Ausdruck bringt.“93 227. In der Ökumene wird positiv gewürdigt, dass die katholische Theologie darauf aus ist, die Geltung der Gebote Gottes einzuschärfen. Sie versteht das Gesetz nicht als drückende Last, sondern als Wegweiser in das Reich der Freiheit, als Warnung vor Fehlverhalten und als Magna Charta des Volkes Gottes. Deshalb wird der Gebotsgehorsam als Wesensdimension des Glaubens eingeschärft. Da aber das Gesetz immer auf aktualisierende Auslegung angewiesen ist, wird nicht nur die schriftliche Tora und die überlieferte Weisung Jesu wie der Apostel, sondern auch das Gebot und das Recht der Kirche, wiewohl reformabel und vielfach reformiert, als verpflichtend eingeschärft. Dahinter steht das große Anliegen, dass die Menschen die Bestimmung ihres Lebens nicht verfehlen. 228. In der Ökumene wird auch die alte evangelische Verdächtigung überwunden, die katholische Theologie leiste einer Gesetzlichkeit Vorschub, die den Glauben an Äußerlichkeiten festmache und in die Versuchung führe, Ansprüche vor Gott geltend zu machen. Tatsächlich arbeitet die katholische Gesetzestheologie gerade im Gegenteil daran, die Herrschaft zu konkretisieren, die Gott über das Leben von Menschen ausübt und gewinnen will, um sie zum Heil zu führen. Die konstruktive Auseinandersetzung mit der evangelischen Kritik führt die katholische Theologie aber dazu, der Gefahr des Rigorismus zu wehren, die moralische Verurteilung von menschlichen Lebens91 Ebd., Nr. 14. Ebd., Nr. 31-33. 93 Ebd., Nr. 31. 92 135 formen, die gegen die katholische Lehre sind, nicht als Verachtung der in ihnen lebenden Menschen erscheinen zu lassen und das, was sie als iure divino oder als iure modo humano identifiziert, genauer zu beschreiben und klarer zu unterscheiden. 229. Umgekehrt kann die evangelische Theologie nicht nur die Intention der katholischen Betonung des göttlichen Gebotes würdigen. Sie kann vielmehr auch anerkennen, dass die katholische Theologie in ihrer Gebotslehre die kritische Kraft hat, jede Vertröstungsideologie und jede Aushöhlung des Rechts zu bekämpfen. Ebenso kann sie anerkennen, dass sie die konstruktive Kraft hat, klare ethische und rechtliche Standards zu setzen, an denen sie sich allerdings zuerst selbst messen lassen muss. 230. Gemeinsam lässt sich sagen, dass der Verweis auf Gottes Gebot den Einsatz für die Achtung der Menschenwürde nicht schwächt, sondern stärkt. Weil es ein Gebot Gottes ist, das im Handeln Gottes selbst begründet ist, kann die Achtung für die Menschenrechte nicht ins Kalkül ethischer Konkurrenzen gezogen werden. Vielmehr ergibt sich eine unauflösbare Verbindung zur philosophischen Begründung, dass kein Mensch verzweckt werden darf, sondern jeder aus sich selbst heraus unbedingt dieselbe Würde hat. Im Glauben erscheint das Gebot Gottes nicht als fremde Macht, die Unterwerfung verlangt; es ist vielmehr ins Herz geschrieben (vgl. Jer 31,31-34), so dass es gerade das zum Ausdruck bringt, was dem Menschsein entspricht und über die Grenzen hinaus trägt, die dem guten Willen und dem Handeln von Menschen gesetzt sind. Das Gebot Gottes ist zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe. 4.1.3 Gemeinsamer Dienst 231. Die grundlegende Übereinstimmung im Verständnis der Rechtfertigung, die durch die charakteristischen Profile der evangelisch-lutherischen und der katholischen Theologie nicht relativiert, sondern konkretisiert wird, bewährt sich im gemein136 samen Einsatz der lutherischen und der katholischen Kirche für die Anerkennung der Menschenwürde gerade dort, wo sie verweigert oder bedroht wird. Die Kirchen stehen gemeinsam für den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens vom Anfang bis zum Ende ein. Sie wehren sich gemeinsam gegen den Versuch, mit deterministischen Konstruktionen Freiheit und Verantwortung der Menschen in Frage zu stellen. Die katholischen und evangelischen Christinnen und Christen stehen in kritischer Zeitgenossenschaft zusammen, wenn Menschenwürde als Ideologie hingestellt oder von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Mündigkeit oder Nützlichkeit abhängig gemacht werden soll. Christen und Christinnen sehen sich als Teil zahlreicher Initiativen, durch die Bekämpfung von Armut, durch die Förderung von Bildung und Inklusion, durch die Anerkennung des Rechtes der unverletzlichen Würde aller Menschen eine verbindliche Form zu geben. 232. Die Tragfähigkeit des differenzierten Konsenses in der theologischen Anthropologie soll im Folgenden durch eine Diskussion paradigmatischer ethischer Konkretionen bewährt werden. Hier werden auch aktuelle Konflikte auf Gebieten reflektiert, die einleitend beschrieben worden sind. Dadurch soll beispielhaft klar werden, mit welchem Recht und mit welchen Konsequenzen von einem differenzierten Konsens und einem begrenzten Dissens in Fragen angewandter Ethik gesprochen werden kann. 4.2 Differenzierter Konsens und begrenzter Dissens in der Ethik 233. Die lutherische und die katholische Kirche treten gemeinsam dafür ein, dass die Würde jedes Menschen unter allen Umständen geachtet und geschützt wird. Es ist, wie in den vorangehenden Abschnitten gezeigt, der gemeinsame Glaube an den dreieinigen Gott in seinem schöpferischen, erlösenden und versöhnenden Handeln, der sie dazu befähigt, antreibt und 137 verpflichtet. In der Gegenwart ist dies (wie in Kap. 1 gezeigt) nötiger denn je. Der wissenschaftliche Fortschritt stellt vor neue ethische Probleme. Die Debatte über die Menschenwürde verändert sich in Politik, Rechtswissenschaft und Philosophie, aber auch in der Theologie. Trotz aller Fortschritte im Bereich der Menschenrechte werden die Würde und die Rechte von Menschen in vielen Bereichen nach wie vor mit Füßen getreten. In dieser Situation sind die Kirchen neu gefordert, für die Würde und die Rechte von Menschen einzutreten. Je klarer sie mit einer gemeinsamen Stimme sprechen können, umso deutlicher wird ihre Stimme vernehmbar. 234. Freilich ist theologisch auch davon Rechenschaft abzulegen, dass sich der differenzierte Konsens in der Anthropologie gegenwärtig nicht so auswirkt, dass die lutherische und die katholische Kirche bei jedem ethischen Thema identische Positionen beziehen. Das ist als begrenzter Dissens zu bezeichnen, weil es sich um vergleichsweise wenige und eng definierte Fälle handelt, die sich aus unterschiedlichen Gewichtungen ethischer Einzelaspekte in äußerst komplexen Sachverhalten ergeben. Zu diesen Fragen finden sich auch jeweils innerhalb der Kirchen und der konfessionellen Theologien verschiedene Positionen. Im Folgenden ist zu zeigen, dass diese begrenzten Dissense nicht auf einen Grunddissens hinweisen, sondern im Gegenteil verschiedene Ausdifferenzierungen der grundlegenden Übereinstimmungen in der theologischen Anthropologie darstellen, die freilich ihr eigenes Gewicht haben. 235. Zunächst folgen Überlegungen, wie sich der differenzierte Konsens und der begrenzte Dissens in Fragen der Ethik zueinander verhalten (4.2.1). Der nächste Abschnitt thematisiert dann die in Kapitel 1 beispielhaft angesprochenen aktuellen Fragen der Stammzellforschung, der Kinderarmut und der Sterbebegleitung erneut, um zu zeigen, wie auf der Basis der starken Gemeinsamkeiten ein gemeinsames Eintreten für die Menschenwürde möglich ist (4.2.2). 138 4.2.1 Das Verhältnis zwischen dem differenzierten Konsens und dem begrenzten Dissens in der Ethik 236. Auch auf dem Gebiet der Ethik gilt das Wort, das Papst Johannes XXIII. im Blick auf Glaubensfragen gesprochen hat: „Das, was uns verbindet, ist viel stärker als das, was uns trennt“. Der beste Beweis ist die tägliche Arbeit, die in evangelischen wie in katholischen Krankenhäusern, Sozialstationen, Hospizen, Jugendzentren, Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen geleistet wird. Die Arbeit der kirchlichen Hilfswerke – auf katholischer Seite z. B. Caritas, Adveniat, Misereor, Missio und Renovabis, auf evangelischer z. B. Diakonie und Brot für die Welt – ist konkrete Arbeit für die Menschenrechte und für die Anerkennung der Würde der Menschen. Wie das 2014 von der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedete Sozialwort „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ zeigt, gibt es in den entscheidenden Fragen der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik ein starkes und breites Fundament sozialethischer Gemeinsamkeiten; die entscheidende Orientierung wird im biblischen Bild des Menschen gefunden. Es kann kein Zweifel herrschen, dass es im Bereich der Ethik zwischen der katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen einen tief verwurzelten und breit gefächerten Konsens gibt.94 237. Allerdings lässt sich nicht übersehen, dass bei einigen ethischen Themen, die in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit finden, die evangelische und die katholische Seite unterschiedliche Positionen bezogen haben. Dennoch ist der Eindruck irrtümlich, der frühere dogmatische Dissens, der sich nicht zuletzt durch die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zu einem differenzierten Konsens gewandelt hat, würde nun durch einen ethischen Dissens abgelöst. In dieser 94 Ein Beispiel ist die „Christliche Patientenvorsorge“ (siehe Anm. 1), die zwar beim Wachkoma einen geringen Unterschied benennt, im Übrigen aber durchweg gemeinsame Positionen bezieht. 139 Studie wird gezeigt, wie Glaube und Handeln zusammengehören. Das ist wichtig, weil die Ökumene sich immer auch mit den praktischen Konsequenzen der Theologie zu beschäftigen hat. Diejenigen, die auf die Stimme der Kirchen angewiesen sind, würden im Stich gelassen, wenn die Kirchen sich auf die begrenzten konfessionellen Differenzen konzentrieren würden anstatt auf das konkrete Engagement für die Menschenwürde. 238. Der ethische Dissens zwischen den und teilweise innerhalb der konfessionellen Traditionen ist eng begrenzt. Er bezieht sich ausschließlich auf einige wenige Probleme, die auch in der öffentlichen Debatte und im wissenschaftlichen Gespräch hoch strittig sind. Wie gezeigt, erklärt er sich weder aus prinzipiellen Differenzen in den Methoden ethischer Urteilsbildung noch aus einem konfessionellen Gegensatz in der Anthropologie. Die entscheidende Ursache liegt vielmehr darin, dass die angewandte Ethik immer Urteile verlangt, die von zahlreichen Faktoren beeinflusst sind, die unterschiedlich eingeschätzt werden können. Je konkreter die Fragen werden, desto mehr müssen Zweifelsfragen berücksichtigt, Handlungsoptionen abgewogen und Risiken eingeschätzt werden. Aufgrund der Komplexität der Probleme können sich unterschiedliche Einschätzungen ergeben. Die katholische Seite neigt im Zweifel stärker zu einer Orientierung an ethischen Grundsätzen, um den Anfängen zu wehren und die Schwachen zu schützen, die evangelische Seite neigt im Zweifel zu einer größeren Zurückhaltung in der ethischen Bewertung, um Raum für die persönliche Gewissensentscheidung zu schaffen und den Erfordernissen der Praxis Rechnung tragen zu können. Erforderlich ist, dass die entscheidenden Gründe und die prägenden Urteilsprozesse transparent werden und wechselseitig erläutert werden. 239. Aus evangelischer Sicht ist zu betonen, dass die Gewissensbildung und Gewissensentscheidung des Einzelnen in ethischen Fragen durch einen differenzierten Auslegungsprozess in Bezug auf die Heilige Schrift zustande kommt, in dem keine letzte Autorität eines Lehramtes für die Wahrheit und Richtig140 keit einer Entscheidung bürgen kann. Das bedeutet aber nicht, dass eine evangelische materiale Ethik unmöglich wäre, die theologische und andere Argumente für eine bestimmte ethische Position vorbringt. Diese wird allerdings nicht ein für allemal und lehramtlich festgelegt. Wenn die evangelischen Kirchen sich zu materialethischen Fragen äußern, dann im Bewusstsein, damit einen Beitrag zur ethischen Debatte unter Christen und Nichtchristen zu leisten, der keinen Gehorsam fordern kann, sich aber als Orientierung zur Urteilsbildung anbietet. 240. Aus katholischer Sicht ist zu betonen, dass sich die genuine Kompetenz des Lehramtes auch auf Fragen der Moral bezieht. Das bedeutet aber nicht, dass eine theologische Prüfung nicht statthaft wäre oder dass der „Glaubenssinn des Gottesvolkes“ nur im Gehorsam gegenüber dem Lehramt bestünde und nicht auch eine eigene Quelle theologischer Erkenntnis wäre. Vor allem ist auch nach katholischer Lehre das Gewissen eines Menschen bindend, selbst wenn es irren sollte. Wenn die katholische Theologie sich zu materialethischen Fragen äußert, dann nicht mit dem Anspruch lehramtlicher Kompetenz, sondern in dem Bestreben, die ethische Debatte zu bereichern. 241. Gemeinsam ist heute für die katholische Moraltheologie wie die evangelische Ethik die Orientierung an der Heiligen Schrift. Diese Orientierung hebt aber nicht die Notwendigkeit auf, aktuelle wissenschaftliche Forschung und politische Erwägungen in die Urteilsbildung einfließen zu lassen. Viele ethische Probleme stellen sich ganz neu, weil es in der Medizin, in den Human- und Sozialwissenschaften, in der Gesellschaft und Politik neue Entwicklungen gibt, die in der Bibel gar nicht abzusehen waren. Die Schriftorientierung dient vielmehr dazu, die Grundlagen der christlichen Anthropologie zu vergegenwärtigen, die die ethischen Urteile der Kirchen prägen. 242. Die nachstehenden Beispiele zeigen, dass auch in strittigen Einzelfragen der Ethik von einem differenzierten Konsens und einem nur begrenzten Dissens zwischen katholischer Kirche 141 und evangelisch-lutherischen Kirchen gesprochen werden kann, der den grundsätzlichen Konsens nicht in Frage stellt. Aus diesem Grund sind weiterhin gemeinsame Stellungnahmen auch in ethischen Fragen möglich. Die nachfolgenden Überlegungen führen dies für die drei Einzelbeispiele – Stammzellforschung, Kinderarmut und Bildung, Sterbehilfe – durch. Analoges lässt sich auch für andere ethische Einzelfragen entfalten. 4.2.2 Der differenzierte Konsens und begrenzte Dissens im Zusammenhang der Diskussion ethischer und rechtlicher Probleme – Ausgewählte Probleme 243. In Kapitel 1 ist gezeigt worden, inwieweit die Stammzellforschung, die Kinderarmut und Bildung sowie die Sterbehilfe die Menschenwürde betreffen und wie sie in dieser Perspektive von der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden. Diese Themen wurden auch im biblischen Teil behandelt. An dieser Stelle werden die kirchlichen Stellungnahmen beschrieben und unter dem Aspekt ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede reflektiert. Die innerkonfessionelle und zwischenkonfessionelle Pluralität von Positionen war auch in der Arbeitsgruppe repräsentiert. Wie in der Einleitung ausgeführt, zielt der Abschnitt nicht darauf, eine gemeinsame Stellungnahme abzugeben, sondern an den Beispielen zu zeigen, wie sich der differenzierte Konsens zum begrenzten Dissens verhält. Am Anfang des Lebens: Forschung mit embryonalen Stammzellen 244. Gemeinsam sind die evangelischen Kirchen und die katholische Kirche davon überzeugt, dass schon vor der Geburt eines Menschen die Geschichte Gottes mit ihm begonnen hat. Von Anfang an ist jeder Mensch zum Gegenüber Gottes, zu seinem Ebenbild erschaffen. Er hat einen eigenen, von Gott gegebenen Wert, der nicht von der Anerkennung durch Menschen abhängig ist. Jede ethische Entscheidung, die Embryonen betrifft, bedarf besonderer Verantwortung, gerade weil sie besonders 142 schutzbedürftig sind. Gegen die Tendenz zum Verständnis von Embryonen als „Zellhaufen“ und „Sache“ machen die Kirchen gemeinsam die Würde des menschlichen Lebens von Anfang an und in allen seinen Entwicklungsstadien geltend. Aus diesem Grund setzen sie sich für den Schutz des ungeborenen Lebens ein. Es darf nicht für Interessen anderer instrumentalisiert oder gar ihnen geopfert werden. Gemeinsam treten die Kirchen gegen das Klonen von Menschen und die Manipulation der menschlichen Keimbahn ein. 245. Gleichwohl gibt es einen begrenzten Dissens zwischen den evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche in der Frage der Zulassung von Forschung mit embryonalen Stammzellen. Die katholische Kirche lehnt die Forschung mit embryonalen Stammzellen grundsätzlich ab und kennt keine Ausnahme. Sie macht geltend, dass mit der Verschmelzung von Samen und Eizelle ein Mensch entstanden ist; deshalb muss die befruchtete Eizelle bereits vor der Einnistung geschützt werden. Auch wenn das medizinische Ziel der Forschung hochrangig sei, legitimiere dies keine Instrumentalisierung des Menschen, indem Stammzellen eines Embryos für die Forschung „verbraucht“ werden. In den evangelischen Kirchen finden sich hingegen zu diesem Handlungsfeld unterschiedliche Haltungen. Viele evangelische Christinnen und Christen lehnen die Forschung mit embryonalen Stammzellen ebenfalls grundsätzlich ab und haben sich auch 2008, als im Bundestag die Entscheidung anstand, energisch gegen eine Verschiebung des Stichtags gewandt, vor dem die zur Forschung verwendeten, aus dem Ausland importieren Stammzelllinien erzeugt worden sein müssen. Andere evangelische Christen und Christinnen hingegen lehnen zwar die Gewinnung von embryonalen Stammzellen ab, weil dadurch Embryonen zerstört werden, nicht aber die Forschung mit bereits existierenden Stammzelllinien; sie haben sich 2008 für eine Verschiebung des Stichtags entschieden, um eine medizinische Forschung mit den Stammzellen zum Wohl der Menschen zu ermöglichen. 143 246. Der ethische Dissens besteht also nicht einfach zwischen der katholischen und der evangelischen Ethik, er bildet sich vielmehr auch innerhalb der evangelischen Theologie ab und zeigt sich auch auf katholischer Seite in einzelnen Stimmen von Ethikerinnen und Ethikern, die nicht mit dem Lehramt und der großen Mehrheit der katholischen Moraltheologie übereinstimmen. Im Streit steht der Status der Embryonen, aus denen embryonale Stammzellen gewonnen werden. Für die katholische Kirche entsteht mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein Mensch, dem alle Rechte eines Menschen zukommen.95 Alle weiteren Entwicklungen des Embryos sind deshalb Entwicklungen „als Mensch“, so dass dem Embryo die gleiche Würde und der gleiche Würdeschutz zukommt wie einem geborenen Menschen. Dieser Sicht schließen sich etliche evangelische Ethikerinnen und Ethiker an. Hingegen gehen andere evangelische Ethiker und Ethikerinnen davon aus, dass der Embryo nicht von Anfang an als Mensch anzusehen ist, sondern sich erst „zum Menschen“ entwickelt. Für diese Entwicklung ist die Einnistung in die Gebärmutter wesentlich, weshalb von der Möglichkeit des Embryos zu dieser Einnistung für die Frage nach seinem Status nicht abgesehen werden könne. Auch sie sprechen von der Würde des Embryos, unterscheiden diese aber von der umfassenden Würde eines geborenen Menschen. Entsprechend argumentieren sie für eine abgestufte Schutzwürdigkeit und halten eine auf bessere Heilungschancen kranker Menschen zielende Forschung an embryonalen Stammzellen für angemessen angesichts der ethischen Verantwortung den Kranken gegenüber. Indem sie sich aber gegen die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken einsetzen, betonen sie gleichzeitig, dass man Embryonen nicht wie eine Ware behandeln oder beliebig instrumentalisieren darf. Auch eine abgestufte Schutzwürdigkeit erlaubt keinen verantwortungslosen, ins 95 Vgl. Instruktion Donum vitae der Kongregation für die Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung (10. März 1987), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 74, Bonn 20005, S. 14-16. 144 Belieben der Forschung gesetzten Umgang mit menschlichen Embryonen. 247. Evangelische Theologen und Theologinnen würdigen die Eindeutigkeit der katholischen Position und die Konsequenz, mit der jede verbrauchende Forschung an Embryonen abgelehnt wird. Die evangelische Seite erkennt in dieser Eindeutigkeit den berechtigten Hinweis auf die Gefahr, dass die Formel von der abgestuften Schutzwürdigkeit zur Leerformel wird. Sie weiß sich dadurch auf die Problematik aufmerksam gemacht, dass bislang nicht überzeugend begründet wird, wieso mit ausländischen, aber nicht mit inländischen „überzähligen“ Embryonen gearbeitet werden darf. Eine Reihe evangelischer Ethikerinnen und Ethiker akzeptiert allerdings nicht die naturrechtliche Begründung der katholischen Kirche für das umfassende Verbot der Forschung, sondern sieht in ihr einen Rigorismus, der unmenschlich sei. Sie plädiert für die theologische Legitimität einer Pluralität in ethischen Fragen wie denen der Forschung mit embryonalen Stammzellen. 248. Katholische Theologen und Theologinnen schätzen es hoch, dass viele evangelische Voten – wenngleich auf teils anderen Wegen – zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie sie selbst kommen, dass die Forschung mit embryonalen Stammzellen verboten wird. Sie können die Argumente derjenigen evangelischen Ethiker und Ethikerinnen, die – unter bestimmten Bedingungen – Forschung an embryonalen Stammzellen gesetzlich erlauben wollen, nicht teilen. Auch weisen sie die gelegentlich von evangelischer Seite erhobene Kritik, einem metaphysischen aufgeladenen Naturalismus zu erliegen, mit Entschiedenheit zurück, indem sie im Gegenteil gerade die neuen medizinischen Kenntnisse über die Entstehung des Menschen als Grund erhöhter Vorsicht geltend machen. Aber sie verkennen nicht, dass es verantwortungsethische Motive sind, die in der ethischen Frage zu einer abweichenden Position führen. Sie anerkennen, dass auch jene Ethiker und Ethikerinnen weit davon entfernt sind, Embryonen als Versuchsmaterial 145 medizinischer Forschung zu sehen. Sie sehen, dass aus dieser Sicht nur „verwaiste“ Embryonen, die aller Voraussicht nach nie mehr eingepflanzt werden können, nur zu hochrangigen Forschungszielen gebraucht werden sollen. Sie ziehen nicht in Zweifel, dass mit der evangelischerseits erhobenen Forderung nach hochrangigen Forschungszielen das hohe ethische Gut der Heilung schwerster Krankheiten verfolgt wird. Insofern sehen sie zwar zu einem nicht geringen Teil der evangelischen Ethiker einen Gegensatz, der allerdings nur auf einem eng begrenzten Gebiet aufbricht. 249. Die Kirchen wissen, dass die Debatte auch in der Wissenschaft und der Gesellschaft kontrovers verläuft, weil Dissens über den Status des menschlichen Lebens herrscht. Sie setzen sich gemeinsam für einen verantwortlichen Umgang mit Embryonen ein und verlangen insbesondere, dass die wirtschaftlichen Interessen derjenigen, die Forschung an embryonalen Stammzellen treiben wollen, offengelegt werden. Sie verlangen von den Protagonisten der Stammzellforschung, realistische Ziele zu formulieren und ehrlich über Risiken und Nebenwirkungen zu informieren. Sie setzen gemeinsam auf den Fortschritt der medizinischen Forschung, dass die Forschung mit embryonalen Stammzellen nicht weiter getrieben wird, sondern die Forschung mit adulten Stammzellen, die ethisch weit weniger problematisch ist, vorankommt. Die Kirchen erklären, dass sie sich von der Suche nach gemeinsamen ethischen Positionen nicht abhalten lassen, weil es nicht gelungen ist, zur Frage der Forschung mit embryonalen Stammzellen eine gemeinsame Position zu vertreten. Die katholische Seite muss ihren ethischen Konsens in dieser Frage im christlichen und gesellschaftlichen Pluralismus argumentativ bewähren. Die evangelische Seite muss trotz internem Pluralismus öffentlich Position beziehen und in der innerevangelischen Auseinandersetzung über die verschiedenen Ansichten zu weiteren Klärungen kommen. Pluralismus wie Konsens sind kein Selbstzweck, sondern müssen sich im Streit um das Wohl des Menschen bewähren. 146 In der Mitte des Lebens: Kinderarmut und Bildung 250. Bei den zentralen Themen der Kinderarmut und der Bildung besteht zwischen den evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche keinerlei Dissens, sondern im Gegenteil ein tief begründeter und umfassender Konsens. Die Kirchen engagieren sich in der Bekämpfung von Kinderarmut und in der Ermöglichung von Bildung für alle. Ihre großen nationalen diakonischen Einrichtungen (Diakonie, Caritas u. a. m.) stehen Menschen allen Alters, jeder Religion, jeglicher Herkunft offen, um ihnen zu helfen, einen Ausweg aus der Armut zu finden und durch Bildung ihre Lebensmöglichkeiten zu verbreitern. Ihre internationalen Organisationen (u. a. Misereor, Adveniat, LWB Weltdienst, Missio, Renovabis, Brot für die Welt) arbeiten weltweit, um Kinderarmut, Hunger und Krankheit zu bekämpfen und Menschen zu befähigen, durch Bildung aus eigener Kraft ihre Lebenssituation zu verbessern. Sie sind überzeugt: „der Kampf gegen die Bildungsarmut ist zugleich ein wesentliches Mittel zur Überwindung von Armut generell“.96 Die caritativen Institutionen beider Kirchen arbeiten vielfach zusammen. Sie verstehen das diakonische Engagement als essentiellen Ausdruck des christlichen Glaubens. 251. Kinderarmut zu bekämpfen, geschieht nicht nur dadurch, den heute Armen zu helfen. Auch die ungerechten Strukturen, die zu Kinderarmut führen, müssen benannt und verändert werden. Selbst wenn manchmal strittig ist, worin diese genau bestehen und wie sie zu verändern sind, sind die Kirchen darin eins, solche Strukturen aufzudecken und zu benennen. Sie betten die Verteilungsgerechtigkeit in ein umfassendes Konzept von Beteiligungsgerechtigkeit ein. Weil sie aufgrund ihrer rechtfertigungstheologischen Begründung von der Würde eines jeden Menschen ausgehen – unabhängig davon, ob er für seine gegenwärtige Lage selbst verantwortlich ist oder nicht –, fordern sie für 96 Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft (siehe Anm. 1), S. 39. 147 alle Menschen Rahmenbedingungen, die dieser Würde entsprechen. Der Staat muss für alle Menschen im Bedarfsfall die notwendigen Mittel bereitstellen, damit diese sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen können. In ihren Erziehungseinrichtungen und mit ihrer Bildungsarbeit helfen die Kirchen Kindern, aber auch Erwachsenen, sich als Menschen zu sehen, denen diese Würde von Gott zuerkannt wird und die sich für ihre Rechte und die anderer Menschen einsetzen können. 252. In ihrem gemeinsamen Sozialwort haben sich der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz dafür eingesetzt, dass allen Menschen ein ihrer Würde entsprechendes Leben ermöglicht wird. „Es geht im Grundsatz um die Teilhabe aller Menschen in unserem Land in den unterschiedlichen Lebensbereichen. Es gehört zur Würde der Person, dass ihre jeweiligen individuellen Begabungen bestmöglich gefördert werden. Dem Bereich der Bildung in allen Lebensphasen kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu.“97 „Nur was die Lage der Schwächeren bessert, hat Bestand. Bei allen grundlegenden Entscheidungen müssen die Folgen für die Lebenssituation der Armen, Schwachen und Benachteiligten bedacht werden. Diese haben ein Anrecht auf ein selbstbestimmtes Leben, auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an den gesellschaftlichen Chancen sowie auf Lebensbedingungen, die ihre Würde achten und schützen.“98 Am Ende des Lebens: Sterbehilfe 253. Die katholische und die evangelisch-lutherische Kirche haben einen grundlegenden Konsens in Fragen der Sterbehilfe. Er besteht darin, dass jeder Mensch bis ans Ende seines Lebens in uneingeschränktem Maße Würde besitzt. Bis zu seinem letzten Atemzug ist jeder Mensch ein Ebenbild Gottes. Kein Leiden 97 Ebd., S. 42f. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1), Nr. 41. 98 148 und keine Entstellung nehmen ihm diese Würde. Denn Gott hat sich in Jesus Christus gerade mit dem leidenden und sterbenden Menschen identifiziert. Dieser Einsicht soll durch würdige Bedingungen im Sterben entsprochen werden, die in besonderer Weise die Vorstellungen des Sterbenden respektieren. Deshalb setzen die Kirchen auf den Ausbau der Palliativmedizin. Es darf keinen medizinischen Zwang geben, das Leben künstlich zu verlängern, aber es muss eine umfassende medizinische Versorgung geben. In diesem Rahmen soll alles getan werden, das Sterben in Würde zu erlauben, indem Schmerz gelindert und Trost gespendet wird. Gerade die Ärzte sind hier in der Pflicht. Wenn das Tötungsverbot aufgehoben oder aufgeweicht würde, würde nicht nur die Standesethik verletzt, sondern auch große Unsicherheit verbreitet, ob man sich auf die Ärzteschaft verlassen kann, dass sie sich der Heilung von Menschen und der Linderung ihrer Schmerzen verpflichtet sehen, wie es der hippokratische Eid von ihnen verlangt. Die Patienten und Patientinnen können von Ärztinnen und Ärzten erwarten, dass sie ihnen Samariterdienste leisten (vgl. Lk 10,25-35); für Ärztinnen und Ärzte darf das Töten nicht zu einer gesetzlich legitimierten und vorgesehenen Option gemacht werden, auch wenn die Befürworter und Befürworterinnen eines ärztlich assistierten Suizids beteuern, dass sie enge Grenzen setzen wollen. 254. Die Kirchen verstehen das Leben als Gabe, über die der Mensch nicht eigenmächtig verfügen darf. Nach ihrer Überzeugung entspricht es der Würde des Menschen, über die Gestaltung seines geschenkten Lebens selbst bestimmen zu können. Dabei aber schließen sie aus, dass Selbstbestimmung auch die Selbsttötung einschließt. Beide Kirchen sind davon überzeugt, dass nur Gott – und kein Mensch – Herr ist über Leben und Tod. Aus diesem religiösen Wissen folgt eine hohe ethische Verantwortung. Oft finden sich Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegende in einer Situation, dass sie um das Leben eines Menschen mit aller Kraft und aller medizinischen Kompetenz kämpfen. Dafür gebührt ihnen dankbare Anerkennung, selbst wenn das Bemühen nicht erfolgreich sein sollte. Aber es gehört nicht zur Auf149 gabe von Ärztinnen und Ärzten, den Tod mit allen Mitteln hinauszuschieben. Wenn die Zeit gekommen ist, müssen Menschen sterben dürfen. Menschen zu töten, ist aber nach Gottes Willen verboten; für Ärzte und Ärztinnen gilt das Tötungsverbot mit einem ganz besonderen Gewicht. Alle Kirchen lehnen deshalb eine Lebenserhaltung um jeden Preis und gegen den Willen des Patienten und der Patientin genauso ab wie aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid (erst recht in seiner gewerbsund geschäftsmäßigen Form). Sie wenden sich mit Entschiedenheit gegen ein mögliches Alltagsbewusstsein, für kranke und alte Menschen bestünde so etwas wie eine ethische Pflicht, durch einen verfrühten, selbst oder mit Hilfe anderer herbeigeführten Tod Anderen nicht länger zur Last zu fallen. „Menschlichem Leid (Schmerzen, Einsamkeit und Verzweiflung) dürfen wir nicht durch Tötung, sondern müssen ihm durch menschliche Zuwendung und Fürsorge begegnen. Wir wollen Leiden lindern und uns nicht der Leidenden entledigen.“99 255. Durch eine aufmerksame Sterbebegleitung, wie sie z. B. in der Hospizbewegung geschieht, kann der Sorge, unter unwürdigen Bedingungen sterben zu müssen, entgegengewirkt werden. Die liebevolle Begleitung durch Angehörige nimmt die Angst, für andere zu einer unzumutbaren Last zu werden. „Alle Teilnahme an der Krankheit und am Leiden eines Sterbenden wird darauf zielen, gemeinsam mit ihm herauszufinden, was sein Leben auch unter den Einschränkungen, die ihm auferlegt sind, in der ihm noch verbliebenen Spanne Zeit lebenswert und sinnvoll macht.“100 Die Kirchen setzen sich für den Ausbau von Palliativmedizin, auch in der medizinischen Ausbildung, ein und ermutigen Menschen, eine Patientenverfügung zu erstellen. 256. Katholische und evangelisch-lutherische Kirche lehnen den assistierten Suizid als gesetzlich legitimierte Option am Lebens99 Einführung, in: Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe. Eine Sammlung kirchlicher Texte, Bonn/Hannover 20112, S. 15. 100 Gott ist ein Freund des Lebens (siehe Anm. 1), S. 109f. 150 ende prinzipiell ab. Gleichzeitig besteht zwischen beiden Kirchen ein begrenzter Dissens in Bezug auf den Einzelfall. Die evangelischen Kirchen gehen davon aus, dass es Grenzsituationen wie unerträgliches, lange andauerndes und sicher zum Tode führendes Leiden gibt, in denen Menschen in einem Gewissenskonflikt um Beihilfe zum Suizid bitten und andere sich durch diese konkrete Not in ihrem Gewissen so gebunden sehen, dass sie ihnen beim Suizid helfen. Hier ist die Gewissensbindung des Menschen anzuerkennen; ein moralisches Urteil über einen Menschen, der in diesem Konflikt sich so oder so entscheidet, steht aus evangelischer Sicht niemandem zu.101 Die katholische Kirche lehnt eine Entscheidung zum Suizid oder zur Suizidhilfe grundsätzlich ab, weil sie in jedem Fall gegen Gottes Gebot verstößt, nicht zu töten. „Anfang und Ende des Lebens sind der Verfügung des Menschen entzogen.“102 Sie ist aber weit davon entfernt, Menschen, die sich selbst das Leben nehmen, zu verdammen, sondern empfiehlt sie der Gnade Gottes.103 Sie verurteilt nicht die Intention, helfen zu wollen, aber sie kann die Beihilfe zur Selbsttötung nicht verantworten, weil das Leben ein Geschenk Gottes ist und das Gebot: „Du sollst nicht töten“ bis zum letzten Atemzug gilt. 257. Die katholische Seite nimmt wahr, dass die evangelischen Kirchen mit ihrer Haltung der Gewissensentscheidung des Einzelnen und der Einzelnen Raum geben. Sie weiß, dass damit aber nicht behauptet werden soll, Menschen dürften über ihr Leben frei verfügen. Denn auch aus evangelischer Sicht ist ein solcher (assistierter) Suizid eine Tat, durch die der tötende Mensch Schuld auf sich lädt, weil er dem Gebot, nicht töten zu sollen, zuwider handelt. In der hier übernommenen Verantwor101 Vgl. Pressemitteilung zur Erklärung des Rates der EKD zur Debatte über die Beihilfe zur Selbsttötung, 19. November 2012: Jede Form organisierter Suizidbeihilfe ist abzulehnen! 102 Deutsche Bischofskonferenz, Sterben in Würde – Worum geht es eigentlich? (Flyer), Bonn 2014, S. 2. 103 Vgl. KatKK, Nr. 2283. 151 tung wird der Mensch schuldig. Der evangelischen Seite ist umgekehrt bewusst, dass in Fragen der Gesetzgebung und der gesellschaftlichen Grundeinstellung zum assistierten Suizid eine kompromisslose, nicht diskursiv verhandelbare Haltung Orientierung stiftend ist. Wenn die katholische Seite hier grundsätzlicher argumentiert, dann erinnert sie daran, dass auch eine an der Gewissensbindung der Einzelnen orientierte Ethik nicht auf Normenorientierung verzichten kann. 258. Die Haltung der Kirchen zum Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden ist getragen von der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten. Was der Mensch ist, entscheidet sich nicht am Ende seines Lebensweges. Die Würde und die Identität jedes Menschen haben eine eschatologische Dimension. Der Sterbende ist ein Mensch, dem Gott Zukunft eröffnet. Menschen dürfen darauf vertrauen, dass ihre Schuld dereinst vergeben wird, ihre Wunden geheilt und sie in ihrer Identität vollendet werden. 4.3 Zusammenfassung und Ausblick 259. Die öffentliche Debatte innerhalb der Kirchen wie in Politik und Gesellschaft hat die Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Positionen im Blick, die in einigen strittigen Fragen der Ethik bezogen worden sind. Die Gründe hierfür haben wir genauer analysiert und reflektiert. Das Ergebnis ist eine kritische Differenzierung. Die ethischen Gemeinsamkeiten sind weit stärker als die Unterschiede. Die moraltheologischen und ethischen Begründungsmuster in der evangelischen wie der katholischen Theologie gehen nicht von einem Grunddissens aus. Die wesentlichen Elemente einer gemeinsamen theologischen Anthropologie sind unstrittig; die konfessionellen Differenzen können heute wechselseitig als Bereicherung auf diesem Gebiet beurteilt und gewürdigt werden. Die Unterschiede beziehen sich auf eng begrenzte Themengebiete; sie resultieren vielfach auf nichttheologischen Faktoren, die unterschiedlich in die Theologie 152 eingeholt werden. Gemeinsame ethische Stellungnahmen der Kirchen sind nach wie vor möglich und notwendig. Sie müssen allerdings ein qualifiziertes Verhältnis zu einer begründeten Pluralität von ethischen Positionen entwickeln. 260. Die Studie der Bilateralen Arbeitsgruppe stellt fest, dass die Unterschiede, die sich beispielhaft an der Frage der Verschiebung des Stichtages für die Forschung an embryonalen Stammzellen und bei der ethischen Bewertung des assistierten Suizids festmachen lassen, weder auf unterschiedliche Begründungsmuster in ethischen Urteilsprozessen zurückführen lassen, die prinzipiell inkompatibel seien, noch auf Dissense im Menschenbild selbst, die nicht zu vermitteln wären. In Kapitel 2 ist gezeigt worden, dass die wichtigsten Begründungstypen ethischer Urteilsbildung sowohl in der katholischen Kirche als auch in den evangelischen Kirchen durch den akademischen Diskurs und durch die ökumenische Debatte eine solche Dynamik gewonnen haben, dass heute nicht nur die jeweils eigenen und anderen Argumentationsmuster einer nüchternen Analyse ihrer Leistungsfähigkeit unterzogen, sondern auch miteinander kommuniziert werden können. In Kapitel 3 ist gezeigt worden, dass die gemeinsame Schriftlektüre eine theologische Anthropologie entwickeln lässt, die charakteristisch lutherische und charakteristisch katholische Perspektiven aufgreift, um sie zueinander in Beziehung zu setzen. In Abschnitt 4.1 hat dies zu dem Ergebnis geführt, dass auch an den traditionell strittigen, ethisch virulenten Punkten heute grundlegende Gemeinsamkeiten festgehalten werden können, die konfessionelle Differenzen nicht leugnen, sondern in ein konstruktives Verhältnis zu den Gemeinsamkeiten setzen. Das gilt für die Macht der Gnade, die nicht gegen die Freiheit des Menschen steht, und das Unheil der Sünde, das im konkreten Fehlverhalten tiefe Probleme des Gottesverhältnisses und des Selbstbildes erkennen lässt, aber auch für die Verantwortung des Menschen, die gerade aus dem Glauben folgt, und den Gehorsam gegen Gottes Gebot, der keine Fremdbestimmung, sondern eine Selbstbestimmung kraft des Geistes ist. 153 261. Sowohl für die Diskussion ethischer Differenzen wie für die Entwicklung gemeinsamer ethischer Stellungnahmen bilden diese Positionen, die als signifikante Beispiele für andere stehen, eine tragfähige Basis, die nicht nur Konflikte aushalten, sondern auch mit dem Ziel einer besseren Verständigung austragen lässt. Die gemeinsamen Aktionen und Positionen im sozialethischen Bereich – beispielhaft sind die Kinderarmut und die Bildungsarbeit beschrieben worden – beweisen, wie stabil das Fundament ist und wie weit der Wille, gemeinsame Positionen zu beziehen, in die Tat umgesetzt werden kann. 262. Die Aufarbeitung der begrenzten Dissense in bestimmten Feldern angewandter Ethik zeigt aber auch, dass es keine einseitigen Ableitungsverhältnisse zwischen anthropologischen und ethischen Grundsätzen einerseits und konkreten Schlussfolgerungen in ethischen Fragen andererseits gibt. Ohne starke Grundsätze und Prinzipien herrschte purer Pragmatismus, der im Zweifel immer das Recht der Stärkeren durchsetzt. Aber der Verweis auf Grundsätze und Prinzipien ist nicht hinreichend. Die Aufmerksamkeit der Kirchen muss stärker als bislang den Vermittlungsproblemen gelten, den Bedingungen, unter denen politische Entscheidungen getroffen werden, den Risiken und Nebenwirkungen ethischer Urteile und moralischer Aktionen. Über die bisherigen Stellungnahmen (und auch über diese Studie) hinaus ist der ethische Stellenwert dieser Vermittlungsaufgaben genauer zu reflektieren. 263. Die Ökumene auf dem Gebiet der Ethik dient nicht dazu, die Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Ethik kleinzureden, sondern dazu, sie in ein konstruktives Verhältnis zueinander zu setzen, das den ethischen Diskurs bereichert. Erforderlich ist die Fähigkeit, eine abweichende Position von ihren eigenen Voraussetzungen her in ihrem relativen Recht anzuerkennen und in der eigenen Argumentation kritisch zu berücksichtigen, auch wenn über das Ergebnis kein Einverständnis erzielt werden kann. Daraus entwickelt sich eine der kommenden Aufgaben ökumenischer Theologie. 154 264. Auf dem Gebiet der Ethik bewährt sich die Hermeneutik des differenzierten Konsenses. Sie zielt keine Uniformität, sondern eine kommunikative Pluralität an, die Gemeinsamkeiten nicht geringschätzt und Unterschiede zu ihnen in Beziehung setzt. Wie auf dem Gebiet der Soteriologie und Ekklesiologie angelegt, muss sie auch auf dem Gebiet der Ethik so weiter entwickelt werden, dass die Unterschiede nicht nur als Probleme gesehen werden, die es zu lösen gilt, sondern als mögliche Lösungen, die zur wechselseitigen kritischen Hinterfragung der jeweils eigenen Position anregen und dadurch Alternativen generieren können. Auf dem Gebiet der Ethik zeigt sich aber auch, dass die ökumenische Hermeneutik so weiter entwickelt werden muss, dass sie ein qualifiziertes Verhältnis zu verbleibenden Dissensen entwickelt. Es gilt, sie in ihrem Umfang und Gewicht genau zu bestimmen und mit der jeweils innerkonfessionellen Pluralität zu vermitteln. 265. Im Fall der Forschung mit embryonalen Stammzellen wie im Fall des assistierten Suizids gibt es nicht einfach den – womöglich prinzipiellen – Gegensatz zwischen katholischer und evangelischer Theologie. Es gibt vielmehr deutliche Differenzen auf der evangelischen Seite, von denen einige mit der katholischen Position übereinstimmen, die jedoch von anderen dezidiert abgelehnt werden. Es gibt aber auch auf der katholischen Seite in der Theologie und in den Auffassungen der Gläubigen nicht nur eine einzige Auffassung, so wie es auch bei wichtigen ethischen Fragen eine Entwicklung des Lehramtes gibt. Diese Differenzen müssen offen angesprochen und theologisch bewertet werden. Auf diesem Wege bleiben die Kirchen ökumenisch urteils- und handlungsfähig, auch wenn ihre Positionen nicht in jeder Hinsicht deckungsgleich sind. Bei der Stammzellforschung eröffnet der Fortgang der Medizin neue Möglichkeiten der medizinischen Heilung, aber auch neue Gefahren für den Menschen. Bei der Frage eines menschenwürdigen Sterbens müssen die Kirchen ihre gemeinsamen Anstrengungen auf den Ausbau der Palliativmedizin richten, aber auch im öffentlichen Diskurs über das Ethos des Arztes und das Menschenbild 155 einer Gesellschaft eine Position beziehen, die den Wunsch nach Gesundheit nicht absolut setzt und den Willen zur Selbstbestimmung nicht als unerträglichen Druck auf die Leidenden und ihre Angehörigen lenkt. 266. Wo die Kirchen sich in erster Linie zu engagieren haben, erkennen sie in der Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift und der sensiblen Wahrnehmung der Gegenwart. Während in den bisherigen Kapiteln vor allem theologische Argumente erwogen worden sind, um Transparenz in den ethischen Urteilen herzustellen, soll zum Schluss in einer anderen Sprachform beispielhaft verdeutlicht werden, wofür die Kirchen sich einsetzen wollen. Es sind „Optionen für Menschlichkeit“, die aus den Seligpreisungen der Bergpredigt entfaltet werden. Das Ziel besteht nicht in einer detaillierten Exegese, sondern darin, den Blick für die entscheidenden Impulse zu öffnen, sich im Namen des menschenfreundlichen Gottes für die Menschenwürde einzusetzen. Daraus soll auch sichtbar werden, welchen sinnvollen Beitrag die Beschreibung differenzierter Konsense und begrenzter Dissense für das gemeinsame christliche Engagement leistet. 156 5. Optionen für Menschlichkeit. Das Zeugnis der Bergpredigt 267. Das Menschenbild der Bibel begründet ein Ethos der Menschlichkeit. Dieses Ethos bezieht sich auf alle Menschen. Es beruht auf der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe (Mt 22,34-40; Mk 12,29-34; Lk 10,25-37) und weitet die Nächstenliebe zur Feindesliebe aus (Mt 5,38-48; Lk 6,27-36). Aber es erschöpft sich nicht in Geboten und Gesetzen. Es spannt seinen Bogen von der Menschwerdung des Wortes Gottes (Joh 1,14) hin zur Gemeinschaft mit Gott in der Teilhabe an der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn im Heiligen Geist (Joh 17). Das christliche Ethos ist inspiriert durch die Güte Gottes selbst, „der seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Deshalb setzen sich die Gläubigen dafür ein, die Lage von Menschen zum Guten zu verbessern. Gleichzeitig wissen sie um die Grenzen menschlicher Möglichkeiten und bezeugen auch im Leiden, durch die Kraft des Heiligen Geistes, den lebendigen Gott. 268. Das biblische Ethos begründet Optionen für Menschlichkeit, die Menschen verpflichtet; das Evangelium erinnert Menschen an ihre eigene Schuld, für die sie Gott und alle Brüder und Schwestern um Vergebung bitten müssen; aber es ermutigt auch, nach neuen Wegen zu suchen, um die Einheit von Gottesund Nächstenliebe zu konkretisieren. Einige dieser Optionen sind: das Mitleid mit den Leidenden, die Vergebung der Schuld, der Einsatz für das Menschenrecht aller, die Förderung der Gerechtigkeit und die Arbeit am Frieden. Sie orientieren sich an den Seligpreisungen der Bergpredigt. 157 „Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3). 269. Die Seligpreisung der Armen weist darauf hin, dass Armut zu einer Missachtung der Menschenwürde führt. Gott hat sein Reich den Armen bereitet. Der Kampf gegen die Armut ist ein Kampf für die Durchsetzung der Menschenrechte und für die Anerkennung ihrer Menschenwürde. 270. Jesus selbst hat die Armut der Armen geteilt. Er ist realistisch genug, um zu sagen, dass es „immer Arme“ geben wird (Mk 14,7) – nicht weil das Gottes Wille wäre, sondern weil es die Folge von einem schuldhaften Miteinander der Menschen ist. Nach dem Gleichnis vom Weltgericht hat Jesus sich mit den Geringsten identifiziert (Mt 25,31-46). Er hat dem Verdacht widersprochen, sie seien in ihrem Elend in den Augen Gottes weniger wert. Das Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus öffnet die Augen für die Ungerechtigkeit der Welt und die Liebe Gottes zu den Armen (Lk 16,19-31). Damit steht Jesus ganz in der Linie der Propheten Israels. Er klagt das Unrecht an, aber er macht Hoffnung auf den überfließenden Reichtum der vollendeten Herrschaft Gottes. Paulus hat diesen Einsatz Jesu für die Armen als Geheimnis der ganzen Erlösung entdeckt: „Er, der reich war, ist um unseretwillen arm geworden, damit wir in seiner Armut reich werden“ (2 Kor 8,9). 271. Für die Urkirche ist die Armut Alltagserfahrung, aber auch Anlass zur Diakonie. Von der Urgemeinde wird erzählt, wie sie Armut mildert, zunächst (weil die Kräfte für mehr noch nicht reichen) in ihren eigenen Reihen: durch eine Kultur des Teilens (Apg 2,42-47; 4,32-37; 6,1-7). Die ersten Gläubigen leben aus der Erfahrung, von Gott reich beschenkt zu sein; sie sehen es deshalb als ihre Aufgabe an, die empfangenen Gaben nicht für sich zu behalten, sondern den Armen zu geben. 272. Für die Kirchen heute folgt aus der Seligpreisung der Armen zuerst ein Bekenntnis, wie sehr die Kirchen durch ihr Re158 den und ihr Schweigen, durch ihr Handeln und Unterlassen selbst die Armut in der Welt vergrößert haben. Die Seligpreisung fordert ein Handeln der Kirchen, Armut zu bekämpfen, weltweit und in jeder Form, so wie die Kräfte reichen. 273. Die Seligpreisung öffnet die Augen dafür, in den Armen Christus zu sehen, und motiviert, ihnen beizustehen. Sie macht aber auch Hoffnung über das hinaus, was Menschen zum Abbau der Armut tun und inmitten ihrer eigenen Armut leisten können – mit den Worten des alttestamentlichen Psalms: „Der Arme ist nicht auf ewig vergessen, des Elenden Hoffnung ist nicht für immer verloren“ (Ps 9,19). „Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4). 274. Die Seligpreisung der Trauernden ist ein stiller, aber starker Protest gegen die Missachtung der Menschenrechte und ein stilles, aber starkes Zeugnis für jene Würde, die keinem Menschen genommen werden kann. Die Seligpreisung gilt all denjenigen, die sich mit dem Elend dieser Welt, mit Not und Ungerechtigkeit nicht abfinden wollen, aber darunter leiden, dass ihre Versuche, Veränderungen zu bewirken, nicht greifen oder versagen. Gott wird den Trauernden Trost spenden. 275. Jesus selbst hat getrauert (Joh 11,34-36). Und er hat die Trauernden getröstet (Joh 11,17-27). Nach dem Gleichnis vom Weltgericht hat er sich mit den Geringsten identifiziert (Mt 25,31-46). In denen, die unter fremder oder eigener Schuld leiden, die arm und krank, verlassen und gefangen sind, wird der arme und leidende, der verlassene und gefangene Jesus Christus selbst erkannt. Die Zuwendung zu den Trauernden ist eine Bewegung, die auf eine Veränderung der Situation aus ist. Jesus hat zeit seines Lebens und noch in seiner Passion die Nähe zu den Leidenden gesucht, um ihnen Hilfe zu leisten und Trost zu spenden. Das Mitleid treibt seine Sorge für die Schwachen an. In Jesus wird der leidende Gottesknecht gesehen, der von 159 allen verachtet wird, aber allen das Leben Gottes bringt (Jes 53). 276. Für die Urkirche ist dieses Ethos Grund zur Dankbarkeit und zur Mission: Die Jünger sind in ihrer Trauer über den Tod Jesu getröstet worden; sie haben den Mut gewonnen, auf den Sieg der Liebe über den Tod zu hoffen. Im Glauben an die Auferstehung verdrängen sie die Trauer nicht, sondern geben ihr einen Ort in der Klage vor Gott, in der Bitte um seine Hilfe und im Lobpreis seiner Barmherzigkeit. 277. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung der Trauernden eine Vorgabe und eine Aufgabe, die Frohe Botschaft gerade denen zu verkünden, die in ihrer Trauer die Hoffnung auf Gott, aber auch die Hoffnung für sich selbst und ihre Lieben verloren haben. Die Kirchen haben dem Missverständnis zu begegnen, dass die Leidenden von Gott verlassen oder bestraft würden. Sie haben sich auch gegen den Verdacht zu wehren, der Trost, den sie mit Berufung auf Jesus spenden, sei eine Vertröstung. Beides können sie nur, wenn sie selbst zur Trauer, zum Mitleid, zur Anteilnahme bereit sind und in dieser Haltung den Kampf gegen das Unrecht aufnehmen. Das Ethos des Mitleids ist in der Nähe Gottes zu den Leidenden begründet: Sie sind Gottes Ebenbild; Gott hat sie zur Teilhabe an seiner Liebe berufen. 278. Die Seligpreisung öffnet die Augen dafür, in den Trauernden Jesus Christus zu erkennen. Sie motiviert zu trösten – mit Worten und Taten. Sie gibt aber auch Grund zur Hoffnung, dass Gott dort zu trösten vermag, wo Menschen in dieser Welt untröstlich sind – nicht, weil diese Menschen sich getäuscht hätten, sondern weil Gott „alle Tränen abwischen wird“ (Jes 25,8; Offb 21,4). „Selig, die sanftmütig sind; denn sie werden die Erde erben“ (Mt 5,5). 279. Die Seligpreisung der Sanftmütigen (oder derer, „die keine Gewalt anwenden“, wie auch übersetzt werden kann) spricht 160 an, dass alle, die nicht auf Gewalt, sondern auf Liebe setzen, menschlich handeln. Gott wird ihnen die ganze Erde öffnen. Die Unterstützung der Sanftmut und Gewaltlosigkeit ist ein hintergründiges, aber nachhaltiges Eintreten für die Würde der Menschen. 280. Jesus selbst wird im Matthäusevangelium beim Einzug in Jerusalem mit Worten des Propheten Sacharja (Sach 9,9) beschrieben: „Siehe, dein König kommt zu dir; er ist sanftmütig; er reitet auf einem Esel, einem Füllen, dem Jungen eines Lasttieres“ (Mt 21,5; vgl. Joh 12,5). Jesus hat nicht nur zur Feindesliebe aufgerufen (Mt 5,38-48; Lk 6,27-36). Er hat sie auch zeit seines Lebens praktiziert. Am Kreuz bittet er für seine Henker: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). In der Sanftmut Jesu verwirklicht sich die Liebe Gottes. 281. Für die Urkirche ist die Seligpreisung ein Zuspruch und ein Anspruch. Sie bestärkt die Gemeinde in der Haltung, auf Gewalt nicht mit Gegengewalt zu reagieren. Die neutestamentlichen Schriften bezeugen den Geist der Demut Jesu (vgl. Phil 2,6-9) und fordern dazu auf, diese anzunehmen (vgl. Phil 2,5). 282. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung der Sanftmütigen ein Anlass, Schuld zu bekennen, weil sie in ihrer Geschichte Gewalt ausgeübt, gefordert und gerechtfertigt haben. Die Seligpreisung wird zum Anspruch, auf jede Form von noch so sublimer Gewalt zu verzichten und alles, was möglich ist, zu tun, um im privaten wie im politischen Bereich Gewalt zu überwinden und nach Wegen des Friedens Ausschau zu halten. 283. Die Seligpreisung öffnet die Augen dafür, in den Sanftmütigen Jesus zu erkennen. Dass sie von Gott geehrt werden, ist die Verheißung des Evangeliums. Auch wenn alles gegen diese Verheißung zu sprechen scheint, ist sie doch in Gott selbst begründet und macht Hoffnung, dass die „Liebe stärker ist als der Tod“ (Hld 8,6). 161 „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden“ (Mt 5,6). 284. Die Seligpreisung der Hungernden und Dürstenden verbindet die Frage nach der Gerechtigkeit mit den realen Verhältnissen, in denen Hunger und Durst herrschen. Sie weist auf die Ernsthaftigkeit der Lage von Hungernden und Dürstenden hin. Ihnen wird die Verheißung zugesprochen, dass Gott ihren Hunger und Durst stillen wird. Der Einsatz für Gerechtigkeit „wie im Himmel, so auf Erden“ (Mt 6,10) ist ein Einsatz für die Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde. 285. Jesus selbst erklärt nach dem Matthäusevangelium vor der Taufe im Jordan Johannes dem Täufer: „Wir müssen alle Gerechtigkeit erfüllen“ (Mt 3,15). Diese Gerechtigkeit ist der Heilswille Gottes. Die Menschen hungern nach irdischer Gerechtigkeit. Jesus ermutigt sie, auf die himmlische Gerechtigkeit zu vertrauen. Gott wird ihnen zu ihrem Recht verhelfen, auch wenn es ihnen auf Erden genommen wird. 286. Für die Urkirche ist die Seligpreisung eine Bekräftigung ihrer eigenen Suche nach Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt. Dass die himmlische Gerechtigkeit nicht auf Erden zu erreichen ist, rechtfertigt keine Form von Ungerechtigkeit. Deshalb sieht sich die Kirche, so klein sie anfangs ist, berufen, Gerechtigkeit walten zu lassen, die in ihren Gemeinden beginnt und von diesen ausstrahlt. 287. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung eine Aufforderung, all diejenigen zu unterstützen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen und Gerechtigkeit einklagen. Sie befähigt Menschen dazu, selbst ihre Rechte wahrzunehmen und für andere einzutreten. Christlicher Glaube bezeugt, dass die Würde der Menschen nicht davon abhängt, ob sie von anderen Menschen anerkannt wird, sondern dass sie in Gott begründet und deshalb unverletzlich ist. Die Menschenwürde ist unverletzbar, weil sie dem Menschen zu eigen ist. Sie zu achten und zu schützen, ist ein Ausdruck der Gerechtigkeit. 162 288. Die Seligpreisung weist darauf hin, dass in denen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, Jesus Christus erkennbar wird, weil er mit der Verkündigung der Gottesherrschaft der Sehnsucht nach Gerechtigkeit eine Bestimmung gegeben hat. Auch wenn der Hunger und Durst auf Erden immer neu erwachen, bleibt die Verheißung, dass um Gottes willen nicht der Ungerechtigkeit, sondern der Gerechtigkeit die Zukunft gehört. „Selig, die barmherzig sind; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7). 289. Die Seligpreisung der Barmherzigen bezieht all jene ein, die sich für ein menschliches Leben einsetzen. Gott selbst wird sich als barmherzig erweisen. Die Praxis der Barmherzigkeit ist ein nachhaltiger Dienst an der Durchsetzung der Menschenrechte und der Achtung der Menschenwürde. Sie verwischt nicht den Unterschied zwischen Tätern und Opfern, aber räumt denen, die Schuld auf sich geladen haben, die Möglichkeit der Umkehr ein und spricht ihnen, wenn sie sich der Barmherzigkeit Gottes nicht verweigern, die Vergebung Gottes zu. 290. Jesus hat die Barmherzigkeit Gottes verkündet. Barmherzigkeit kommt aus dem Herzen Gottes selbst. Sie gilt gerade denen, deren Herz verhärtet ist. Sie wird von Jesus dadurch bewahrheitet, dass er das Leben derer teilt, derer er sich erbarmt. Nach einem Glaubensbekenntnis des Apostels Paulus, der nicht nur auf das Leben, sondern auch auf das Kreuz und die Auferstehung Jesu schaut, hat „Gott den, der die Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gottes Gerechtigkeit werden“ (2 Kor 5,21). Der Glaube an Gott schenkt das Vertrauen, die eigene Sünde in ihren zerstörerischen Dimensionen auszuleuchten und dennoch auf Vergebung und Erlösung zu hoffen. Wer sündigt, verdeckt zwar seine eigene Gottebenbildlichkeit oder missachtet die der anderen Menschen, aber in eine solche Finsternis scheint das Licht Gottes, und die Finsternis hat es nicht ergriffen (vgl. Joh 1,5). 163 291. Für die Urkirche ist die Seligpreisung eine Erinnerung an ihren eigenen Grund und eine Ermutigung, Barmherzigkeit walten zu lassen. Die Urkirche lebt aus der Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes; sie kennt Sünder und Sünderinnen in ihren eigenen Reihen; sie wird um ihres Glaubens willen unbarmherzig verfolgt. Wie schwer den ersten Gläubigen die Orientierung an der Barmherzigkeit Gottes gefallen ist, wird im Neuen Testament offengelegt – aber auch, wie gut es ist, wenn Barmherzigkeit waltet. 292. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung eine Wegweisung zu einer Kultur des Erbarmens sowohl in ihren eigenen Reihen als auch in ihrem Umfeld. Dabei beherzigen sie die Unterscheidung von Tat und Person, die auf Augustinus zurückgeführt wird: dass zwar die Sünde zu hassen, aber die Sünder zu lieben seien. Die Christen und Christinnen haben die Vollmacht, Sünden zu vergeben; sie haben in ihrem Gottesdienst, in ihrer Glaubenslehre und in ihrem sozialen Engagement alles in ihren Kräften Stehende einzusetzen, um Barmherzigkeit walten zu lassen. Das motiviert sie, Unrecht beim Namen zu nennen und Unbarmherzigkeit anzuklagen. 293. Die Seligpreisung öffnet dafür, in denen, die barmherzig sind, Jesus Christus zu erkennen. Sie macht Mut, auf Gottes Barmherzigkeit auch dort zu vertrauen, wo menschliche Möglichkeiten enden. Sie lebt im Bekenntnis, das der Täufer Johannes ausspricht und das in jeder Abendmahls- und Eucharistiefeier erneuert wird: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt“ (Joh 1,29). „Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8). 294. Die Seligpreisung derer, die reinen Herzens sind, spricht von jenen Menschen, die sich aus Herzensgüte anderen Menschen zuwenden. Gott wird sich ihnen zeigen. Ein Herz zu haben, ist ein biblischer Ausdruck für die Würde des Menschen. 164 Herzlichkeit zwischen den Menschen ist eine alltägliche und gerade deshalb wesentliche Form, die Würde der Menschen zu wahren. 295. Jesus selbst hat sich nach dem Lukasevangelium in der Synagoge von Nazareth das Wort des Propheten Jesaja zu eigen gemacht: „Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung“ (Lk 4,18-19 – Jes 61,1-2). Er hat die Reinheit nicht an Äußerlichkeiten festgemacht, sondern im Herzen der Menschen selbst gesucht (Mt 15,1-20; Mk 7,1-23). Er hat die Herzensfreude geteilt, die alle erfüllt, die ein Ohr für das Wort Gottes haben (Joh 16,22). Die Reinheit des Herzens ist die Freiheit vom Bösen, Offenheit für Gott, die Zuwendung zum Nächsten und die Übereinstimmung mit sich selbst. Diese Reinheit ist auch innerhalb der Jüngerschaft bedroht: durch Machtstreben und Heuchelei. Die Reinheit des Herzens ist aber auch außerhalb der Kirche zu finden: bei allen Menschen guten Willens. 296. Für die Urkirche verleiht die Seligpreisung der Herzensreinen die Freiheit, nach allen Menschen Ausschau zu halten, die das Böse bekämpfen und das Gute fördern, um mit ihnen Partnerschaften für den Frieden einzugehen. Die Reinigung der Herzen ist ein Zeichen des Evangeliums selbst, das weder durch eine Veräußerlichung der Religion noch durch eine Herzenshärte der Gläubigen verdunkelt werden darf. 297. Für die Kirchen heute gibt die Seligpreisung Grund zur Dankbarkeit für alle Gläubigen, die durch die Gnade Gottes die Reinigung ihrer Herzen erfahren haben. Sie wird auch immer wieder zur Verpflichtung, die Herzen für das Wirken des Heiligen Geistes zu öffnen und zu einer Verkündigung des Evangeliums zu gelangen, in der die Herzlichkeit Jesu von allen Menschen entdeckt werden kann. 165 298. Die Seligpreisung öffnet die Augen dafür, in allen Menschen reinen Herzens Jesus Christus zu sehen, der ein reines Herz hat und die Herzen reinigt. Sie erneuert die Verheißung, dass Gott ein neues Herz und einen neuen Geist geben wird (Ez 36,26) und dass sie sich so in unendlicher Weite erfüllt, was das Alte Testament als Wunsch des Königs Salomo überliefert: „Weisheit zieht ein in dein Herz, Erkenntnis beglückt deine Seele“ (Spr 2,10). „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes heißen“ (Mt 5,9). 299. Die Seligpreisung der Friedensstifter bestärkt alle, die für Versöhnung und gegen Gewalt eintreten, um die Erde für Mensch und Tier bewohnbar zu machen. Gott sieht sie als seine nächsten Verwandten. In einer Welt, in der die gewaltsamen Konflikte eher zu- als abnehmen, klagt die Friedensarbeit die Verletzung von Menschenrechten an und fördert die Durchsetzung von Menschenrechten. 300. Jesus selbst hat seine Jünger gesandt, den Frieden zu bringen (Mt 10,12-13; Lk 10,5). Die Bibel sieht die Menschen von Gott zum Frieden mit ihm und untereinander berufen. Es ist die große Vision der Propheten Israels, dass der verlorene Friede der ganzen Schöpfung wiederkehrt, weil Gott sein Reich aufrichtet und die Menschen mit sich und untereinander versöhnt (Jes 11,1-16). Die Feier des Sabbats in Israel ist die Vergegenwärtigung des ursprünglichen (Gen 2,1-4a; Ex 20,11) und der Vorgeschmack des endgültigen Friedens (Hebr 4,1-13). Es ist der Friede, den Jesus seinen Jünger schenkt „nicht, wie die Welt gibt“, sondern wie Gott gibt (Joh 14,27). Gott ist kein Gott des Krieges, sondern des Friedens; der aktive, mutige Einsatz für den Frieden gehört wesentlich – im Privaten wie im Politischen – zum Glauben an Gott und zur Nachfolge Jesu. 301. Für die Urkirche ist die Seligpreisung eine Berufung, die Verkündigung des Evangeliums als Friedensmission zu begrei166 fen. Der Apostel Paulus, der vom religiös motivierten Gewalttäter zum Friedensapostel geworden ist, liefert das beste Beispiel. Der Friede Gottes ist Geschenk und Verheißung, Zusage und Auftrag. „Er selbst ist unser Friede“ (Eph 2,14), lautet deshalb ein Grundbekenntnis des Glaubens. 302. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung ein Segen und eine Verpflichtung, auf allen Ebenen der Gewalt zu wehren und dem Frieden zu dienen. Die schrecklichen Kriege, die im Namen Gottes geführt worden sind, um andere Menschen in ihrem Glauben zu unterdrücken oder vom Unglauben zu befreien, stehen deutlich mahnend vor Augen. Sie sind Warnung und Forderung, dem „Gott des Friedens“ (Röm 15,33) in Gedanken, Worten und Werken die Ehre zu erweisen. Die Ökumene ist selbst ein Ausdruck dieser Friedensarbeit. Aber auch im politischen Bereich wirken die Kirchen auf die Förderung eines Friedens hin, der nicht auf Unterdrückung, sondern auf Befreiung und Gerechtigkeit beruht. 303. Die Seligpreisung weist darauf hin, dass in allen Menschen, die Frieden stiften, sich Jesus Christus zu erkennen gibt. Sie motiviert, nach Wegen des Friedens zu suchen und der Gewalt zu wehren. Sie stiftet auch Hoffnung auf einen ewigen Frieden, die auch angesichts einer Welt der Gewalt nicht zuschanden wird. Diese Hoffnung bekräftigt die Vision der Propheten, dass „Schwerter zu Pflugscharen“ geschmiedet werden (Jes 2,4; Mi 4,3). „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,10). 304. Die Seligpreisung der Verfolgten bekennt sich eindeutig zu allen Menschen, die von anderen zu Opfern gemacht werden, weil sie dem Unrecht widerstehen. Ihr Einsatz ist sinnvoll, weil sie für Gerechtigkeit eintreten. Gott selbst wird ihnen in seiner Königsherrschaft Recht verschaffen. Die Verfolgung „um der Gerechtigkeit willen“ ist Realität, die herausstellt, welcher per167 sönliche Einsatz für die Rechte und die Anerkennung der Würde der Menschen gewagt wird, gerade dort, wo Menschenrechte verweigert werden und Menschenwürde bestritten wird. 305. Jesus selbst ist um der Gerechtigkeit willen verfolgt worden. Er ist den Weg des Leidens gegangen. Mit Worten des vierten Liedes vom Gottesknecht (Jes 53) heißt es von ihm im Ersten Petrusbrief: „Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht; er litt, drohte aber nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter“ (1 Petr 2,23). 306. Für die Urkirche ist die Seligpreisung ein Signal, dem Ruf Jesu treu zu bleiben. Die Urkirche hat die Verfolgungen, die Jesus prophezeit hatte, selbst erlebt und sich die Forderung der Bergpredigt zu eigen gemacht, die Verfolger nicht zu verfluchen, sondern zu segnen, d.h. sie der Barmherzigkeit Gottes anzuempfehlen (Mt 5,44; Lk 6,28; Röm 12,14). 307. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung eine Mahnung, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, in der Christen und Christinnen andere Menschen aufgrund ihres Glaubens verfolgten. Sie ist auch ein Anlass, laut zu protestieren, wo heute Christinnen und Christen um ihres Glaubens willen verfolgt werden, aber auch ungerechte Verfolgungen in jeder Form anzuprangern. Die Kirchen müssen Orte sein, in denen Verfolgte Asyl genießen – in den Mauern ihrer Glaubenshäuser, in ihren Gebeten und in ihren Aktionen. 308. Die Seligpreisung verschließt nicht die Augen davor, wie viele um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. In ihnen gibt sich Jesus Christus zu erkennen, der verfolgt worden ist, weil er in einer Welt voller Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes verkündet hat. Die Nachfolge Jesu begründet die Solidarität mit den Verfolgten. Der Glaube hat aber auch die Verheißung, dass Gott am Ende das Unrecht nicht hingehen lässt, sondern dem Recht zum Sieg verhilft. Deshalb ist das Gebet nicht ohne Verheißung: „Zu Unrecht verfolgt man mich. Komm mir zu Hilfe!“ (Ps 119,86). 168 Abkürzungen AK ASm BSELK CA CS DWÜ DV GER GOF GS KatKK KWS LG OT Die Apostolizität der Kirche (Lutherisch / Römischkatholische Kommission für die Einheit) Articuli Smalcaldici (BSELK) Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche Confessio Augustana (BSELK) Communio Sanctorum – Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen (Bilaterale Arbeitsgruppe II). Dokumente wachsender Übereinstimmung Dei verbum – Dogmatische Konstitution über die Offenbarung (Vaticanum II) Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (Katholische Kirche / Lutherischer Weltbund) Gemeinsame Offizielle Feststellung zur Bestätigung der GER (Katholische Kirche / Lutherischer Weltbund) Gaudium et spes – Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Vaticanum II) Katechismus der Katholischen Kirche Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament (Bilaterale Arbeitsgruppe I) Lumen gentium – Dogmatische Konstitution über die Kirche (Vaticanum II) Optatam totius – Dekret über die Ausbildung der Priester (Vaticanum II) 169 Mitglieder der Bilateralen Arbeitsgruppe (2009-2016) Römisch-katholische Mitglieder Bischof Dr. Gerhard Feige (Vorsitzender) (ab 2012) Bischof Prof. Dr. Gerhard Ludwig Müller (Vorsitzender) (bis 2012) Prof. Dr. Johannes Reiter Prof. Dr. Dorothea Sattler Prof. Dr. Thomas Söding Prof. Dr. Wolfgang Thönissen Prof. Dr. Eberhard Tiefensee (bis 2013) Dr. Dorothee Kaes (Geschäftsführerin) Evangelisch-lutherische Mitglieder Landesbischof Dr. Karl-Hinrich Manzke (Vorsitzender) (ab 2015) Landesbischof i.R. Prof. Dr. Friedrich Weber (Vorsitzender) (bis 2014) Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm (ab 2010) Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann (bis 2010) Landespastor Heiko Naß (ab 2010) OKR i.R. Dr. Ernst Öffner (bis 2010) Prof. Dr. Miriam Rose Prof. Dr. Christiane Tietz Prof. Dr. Joachim Track (bis 2013) OKR Dr. Oliver Schuegraf (Geschäftsführer) 170