Gott und die Würde des Menschen

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Bilaterale Arbeitsgruppe
der Deutschen Bischofskonferenz und
der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands
Gott und die Würde des Menschen
Bilaterale Arbeitsgruppe
der Deutschen Bischofskonferenz und
der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche
Deutschlands
Gott und die Würde
des Menschen
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und Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-89710-702-1 (Bonifatius)
ISBN 978-3-374-04958-5 (Evangelische Verlagsanstalt)
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Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ……………………………………………………………………………….. 9
Einleitung …………………………………………………………………………… 12
1.
Die ökumenische Dimension der Debatte
über die Menschenwürde ………………….…………… 19
1.1
1.2
Menschenwürde in der öffentlichen Debatte ...........
Das Menschenwürde-Argument in der Debatte
ethischer und rechtlicher Probleme
Ausgewählte Beispiele ...............................................
Am Anfang des Lebens: Stammzellforschung …………..
In der Mitte des Lebens: Kinderarmut und Bildung …..
Am Ende des Lebens: Sterbehilfe ……………………………..
21
28
30
32
35
2.
Prinzipien der ethischen Urteilsbildung
im Lichte konfessioneller Traditionen ………….. 39
2.1
Unterschiedliche konfessionelle Zugänge
zur ethischen Reflexion ….……………………………………….. 39
Wachsende ökumenische Verständigung
in der ethischen Reflexion ………………………………………. 41
Ethische Urteilsbildung als gemeinsame Aufgabe
der Kirchen ................................................................. 41
Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums
als Grundlage der gemeinsamen ethischen
Verständigung ............................................................ 45
Gottebenbildlichkeit als Fundamentalartikel
Theologischer Anthropologie ........................................ 46
Sozialverkündigung als gemeinsame ökumenische
Aufgabe der Kirchen ………………………………………………… 47
Theologische Grundlegungen der ethischen
Reflexion .................................................................... 48
2.2
2.2.1
2.2.2
2.2.3
2.2.4
2.3
5
2.3.1 Schrift und Tradition – eine theologische
Grundlagenbestimmung im ethischen Kontext .........
2.3.2 Gesetz und Evangelium – eine theologische
Unterscheidung im ethischen Kontext ......................
2.4
Erkenntnisse durch das Gespräch mit nichttheologischen Wissenschaften ..................................
2.5
Grundformen ethischer Argumentation im
Christentum ...............................................................
2.5.1 Naturrecht und natürliches Sittengesetz ...................
2.5.2 Verantwortungsethik .................................................
2.5.3 Diskursethik ……………….. .............................................
2.5.4 Tugendethik …………………………………………………………….
2.5.5 Güterethik ........................................ …………………………
2.6
Individuelle und institutionalisierte Formen
der ethischen Entscheidungsfindung .........................
2.6.1 Gewissen und synodale Prozesse ..............................
2.6.2 Gewissen und lehramtliche Autorität ........................
2.7
Zusammenfassung und Ausblick ................................
3.
3.1
3.1.1
3.1.2
3.1.3
3.1.4
3.1.5
3.2
49
52
54
55
56
59
60
62
63
65
65
68
71
Perspektiven Theologischer Anthropologie
im Lichte des biblischen Zeugnisses ……………… 73
Grundlinien biblischer Anthropologie ........................ 74
Der Mensch als Gottes Ebenbild ................................ 75
Der Mensch in seiner Schuld und Not ....................... 83
Die Erlösung des Menschen ....................................... 89
Anfang und Ende des Lebens ..................................... 93
Option für die Armen ................................................. 97
Menschenwürde als Grundbegriff gegenwärtiger
Theologischer Anthropologie .................................... 99
3.2.1 Zur Geschichte des Menschenwürdebegriffs .......... 100
3.2.2 Wer ist der Mensch? – Grundelemente
Theologischer Anthropologie .................................. 104
Der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes ……... 105
Der Mensch in seiner Schuld und Not ……………………. 107
Die Erlösung des Menschen …………………………………... 108
6
3.2.3 Die theologische Begründung der
Menschenwürde ......................................................
Die Würde des Ebenbildes Gottes.
Schöpfungstheologische Begründung …………………….
Die Würde des wahren Menschen.
Christologische Begründung …………………………………..
Die Würde des zur Rechtfertigung Berufenen.
Rechtfertigungstheologische Begründung …………..…
Die Würde des zur Vollendung Bestimmten.
Eschatologische Begründung …………………………………
3.3. Zusammenfassung und Ausblick ..............................
109
111
113
114
116
119
4.
Der ökumenische Umgang mit Konvergenzen
und Divergenzen in der Ethik ……………………….. 123
4.1
Der differenzierte Konsens in der Theologischen
Anthropologie .......................................................... 123
Grundlegende Übereinstimmungen in
der Theologischen Anthropologie ........................... 124
Charakteristische Profile Theologischer
Anthropologie und ihre ökumenische Bedeutung ... 126
Die Macht der Gnade ……………………………………………. 127
Das Unheil der Sünde ……………………………………………. 129
Die Verantwortung des Menschen ………………………… 132
Der Gehorsam gegen Gottes Gebot ………………………. 134
Gemeinsamer Dienst ............................................... 136
Differenzierter Konsens und begrenzter
Dissens in der Ethik .................................................. 137
Das Verhältnis zwischen dem differenzierten Konsens
und dem begrenzten Dissens in der Ethik ............... 139
Der differenzierte Konsens und begrenzte Dissens
im Zusammenhang der Diskussion ethischer und
rechtlicher Probleme – Ausgewählte Probleme ...... 142
Am Anfang des Lebens: Forschung mit embryonalen
Stammzellen …………………………………………………………. 142
In der Mitte des Lebens: Kinderarmut und Bildung .. 147
4.1.1
4.1.2
4.1.3
4.2
4.2.1
4.2.2
7
4.3
5.
Am Ende des Lebens: Sterbehilfe …………………………… 148
Zusammenfassung und Ausblick .............................. 152
Optionen für Menschlichkeit.
Das Zeugnis der Bergpredigt ………………………… 157
„Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das
Himmelreich“ (Mt 5,3). ………..……………………………………….....
„Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet
werden“ (Mt 5,4). …………………………………………………………..…
„Selig, die sanftmütig sind; denn sie werden die
Erde erben“ (Mt 5,5). …………………………………………………….....
„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit;
denn sie werden gesättigt werden“ (Mt 5,6). ………………..….
„Selig, die barmherzig sind; denn sie werden
Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7). …………………………………..
„Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden
Gott schauen“ (Mt 5,8). …………………………………………………….
„Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder
Gottes heißen“ (Mt 5,9). …………………………………………………..
„Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;
denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,10). …………………..…..
158
159
160
162
163
164
166
167
Abkürzungen …………………………………………………………………... 169
Mitglieder der Bilateralen Arbeitsgruppe (2009-2016) .…….. 170
8
Vorwort
„Gott und die Würde des Menschen“ lautet der Titel des Abschlussdokumentes der dritten Bilateralen Arbeitsgruppe. Im
Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten
Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) hat sie
sich seit 2009 mit diesem Thema befasst. Nun legt sie mit dieser
Studie die Ergebnisse ihrer Beratungen und Diskussionen der
Öffentlichkeit vor.
Hierbei stellt sich die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe in die Tradition ihrer beiden Vorgängerkommissionen, die 1984 das Dokument „Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament“ und
2000 „Communio Sanctorum – Die Kirche als Gemeinschaft der
Heiligen“ veröffentlicht haben. Ebenso wie die beiden bisherigen Gesprächsrunden sieht die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe
ihre Arbeit im Kontext des Dialogs zwischen dem Lutherischen
Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit
der Christen, der 2017 sein 50. Jubiläum feiert und der in dem
gemeinsam verantworteten Gottesdienst zum Reformationsgedenken am 31. Oktober 2016 in Lund unter der Leitung von
Papst Franziskus sowie dem Präsidenten und dem Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Bischof Dr. Munib A. Younan und Pfarrer Dr. Martin Junge, einen Höhepunkt fand.
In ihrer Methodik knüpft die Kommission an die Tradition der
bisherigen lutherisch/römisch-katholischen Dialoge auf nationaler und internationaler Ebene an. Die Suche nach einem differenzierten Konsens ist der leitende hermeneutische Grundsatz
der Studie. Wie ihre Vorgängerkommissionen zielt die dritte
Bilaterale Arbeitsgruppe darauf, ökumenische Gemeinsamkeiten differenziert zu beschreiben. Bestehende Unterschiede
werden markiert und unter dem Aspekt bewertet, ob sie in
ihrer Verschiedenheit offen aufeinander hin sind und wechselseitig als komplementäre Bereicherung der eigenen Sicht oder
doch als Trennungsgrund zu gelten haben.
Inhaltlich wendet sich die Bilaterale Arbeitsgruppe hingegen
9
einem Themenkomplex zu, der im bilateralen Dialog unserer
beiden Kirchen bislang noch keine intensive Aufmerksamkeit
erfahren hat, jedoch im deutschen und auch im europäischen
und weltweiten Kontext der letzten Jahre virulent ist: die Anthropologie und damit verbunden die ethische Urteilsfindung in
unseren Kirchen. Die uns von den kirchenleitenden Organen
aufgegebene Themenstellung „Gott und die Würde des Menschen“ hat sich als tragfähig erwiesen, einerseits die großen theologischen Gemeinsamkeiten unserer Kirchen in der Lehre vom
Menschen aufzuzeigen und andererseits den deutlicher gewordenen Unterschieden in der ethischen Bewertung von einzelnen
Fragen menschlicher Lebensführung gerecht zu werden.
Die Studie baut auf den Ergebnissen der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre auf, die am 31. Oktober 1999 in
Augsburg feierlich vom Lutherischen Weltbund und der katholischen Kirche unterzeichnet wurde. Zugleich setzt sie sich aber
auch mit ihrer teils kritischen Rezeption in der Theologie konstruktiv auseinander. Das Dokument erprobt neue Wege für
den ökumenischen Umgang mit ethischen Fragestellungen und
Kontroversen, indem es prüft, ob sich die Methodik des differenzierten Konsenses auch in der ethischen Urteilsfindung bewährt. Abweichende Positionen in einzelnen ethischen Fragen
sind als begrenzter Dissens zu verstehen, der aber nicht einen
fundamentalen Gegensatz in der Anthropologie oder in der
Methodik ethischer Urteilsfindung offenbart, sondern lediglich
Unterschiede bei der Anwendung ethischer Prinzipien und in
der Einschätzung strittiger Grenzfragen erkennen lässt.
Die Veröffentlichung dieses Abschlussberichtes geschieht in der
Verantwortung der Bilateralen Arbeitsgruppe. Sie bittet die
auftraggebenden Kirchen zu prüfen, ob die dargelegten Überlegungen hilfreich sind, um sowohl die theologischen Gemeinsamkeiten in der Anthropologie wie in vielen Bereichen der
Ethik zu stärken als auch mögliche Konflikte in ethischen Fragen
besser zu verstehen und sachgemäß mit ihnen umzugehen. Sie
hofft, dass die Ergebnisse die Kirchen einander näher bringen
und sie befähigen, noch stärker gemeinsam für die Würde des
Menschen in unserer Gesellschaft einzutreten.
10
Auch wenn sich diese Studie in erster Linie an die auftraggebenden Kirchen wendet, würden wir uns freuen, wenn sie sich
auch als ein hilfreiches und weiterführendes Angebot für die
anderen Kirchen in Deutschland erweist und das Gespräch mit
allen, die sich für die Würde des Menschen einsetzen, öffnet.
Wir bitten die Vertreter und Vertreterinnen der wissenschaftlichen Theologie, sich an der Prüfung und weiteren Klärung der
aufgeworfenen Fragen zu beteiligen.
Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber hat als lutherischer CoVorsitzender die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe von den allerersten Vorüberlegungen an begleitet. Durch seinen viel zu frühen Tod war es ihm nicht vergönnt, diese Arbeit zu beenden.
Die Bilaterale Arbeitsgruppe dankt ihm für sein großes Engagement sowie seine theologische und strukturelle Klarheit, mit
denen er diese Studie maßgeblich mitgeprägt hat. Der Dank gilt
in gleicher Weise Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der vor seinem Wechsel in das Amt des Präfekten der Glaubenskongregation 2012 die Arbeitsgruppe mit auf den Weg gebracht und als
ihr katholischer Co-Vorsitzender intensiv begleitet hat.
Magdeburg / Bückeburg, 25. November 2016
Dr. Gerhard Feige
Bischof von Magdeburg,
Vorsitzender der
Ökumenekommission der
Deutschen Bischofskonferenz
Dr. Karl Hinrich Manzke
Landesbischof von
Schaumburg-Lippe,
Catholica-Beauftragter
der VELKD
Vorsitzende der Bilateralen Arbeitsgruppe
11
Einleitung
1. Die christlichen Kirchen beteiligen sich seit vielen Jahren an
den öffentlichen Debatten über ethische, politische und rechtliche Fragen. Dies geschieht auf internationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene. In der Bundesrepublik Deutschland
haben sich zu aktuellen gesamtgesellschaftlichen Anliegen der
Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche
Bischofskonferenz immer wieder geäußert und werden dies
auch weiterhin tun. Gleiches gilt für die Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands (VELKD), die einzelnen evangelischen Landeskirchen, die katholischen Bistümer und vielfältigen christlichen Organisationen, die sich gesellschaftlich engagieren. Neue Perspektiven ergaben sich, als die evangelische
und die katholische Kirche sich entschlossen, ihre Übereinstimmung in sozial- und bioethischen Fragen in „Gemeinsamen
Texten“ zum Ausdruck zu bringen.1 Im Wahrnehmen von Gefah1
Auf den Text „Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und
Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz“ (Trier 1989) folgten zahlreiche weitere „Gemeinsame Texte“, so u. a. das Wort „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in
Deutschland. Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozess über
ein gemeinsames Wort der Kirchen“ (Hannover/Bonn 1994), „Für eine
Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur
wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“ (Hannover/Bonn
1997), „,... und der Fremdling, der in deinen Toren ist.‘ Gemeinsames
Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und
Flucht“ (Bonn/Frankfurt a.M./Hannover 1997) und „Gemeinsame
Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung“ (Hannover/Bonn 2014). 1990 kam es zu einer Stellungnahme zur Organtransplantation, 1998 zu einer Arbeitshilfe zur Xenotransplantation und
1999 zu einer solchen zur Patientenverfügung; letztere wurde unter
12
ren, etwa des Rüstungswettlaufs oder der zunehmenden Umweltbelastungen, in Fragen des Lebensschutzes, des Umgangs
mit Asylsuchenden und im Blick auf die wirtschaftliche und
soziale Lage der Menschen in Deutschland werden konkrete
ethische Ansprüche an Staat und Gesellschaft gemeinsam formuliert und öffentlich zur Geltung gebracht. In diesen Texten
hat sich eine große ökumenische Gemeinsamkeit in vielen ethischen Fragen gezeigt. In praktischer Hinsicht setzen die Kirchen
diese theologischen und ökumenischen Impulse im diakonischen Handeln und in gemeinsamen öffentlichen Initiativen um.
Dies alles wurde als Signal für das Wachsen der Ökumene in
Deutschland aufgenommen.
2. In den politischen Debatten um die Stammzellforschung der
letzten 15 Jahre kam es zwischen der katholischen Kirche und
den evangelischen Kirchen in der Frage des Stichtages, auf die
sich die öffentliche Debatte konzentrierte, zu Differenzen. Auch
bei bestimmten Aspekten des assistierten Suizids hatten sich
Unterschiede in der Bewertung abgezeichnet. Diese Differenzen
wurden auf katholischer Seite oft als neue konfessionelle Abgrenzung gesehen, die den bislang gemeinsamen Grundkonsens
in Frage zu stellen drohte und ein gemeinsames politisches
Engagement fraglich machte. Für die katholische Seite gehört
zum gemeinsamen Zeugnis des christlichen Glaubens auch ein
gemeinsames Zeugnis im christlichen Handeln. Auf evangelischer Seite hingegen werden die Unterschiede oft anders bewertet, weil die Freiheit des Einzelnen in seiner Gewissensbildung zum Grundverständnis des evangelischen Glaubens gehört
und Differenzen in konkreten Fällen und in der ethischen Theoriebildung als legitimer Ausdruck evangelischer Freiheit interpretiert werden. Es ist ein Anliegen dieser Studie, mögliche
gegenseitige Irritationen durch einen methodisch angeleiteten
Gesprächsprozess zu verringern, die Diskussion durch Differen-
dem Titel „Christliche Patientenvorsorge“ 2011 in aktualisierter Fassung neu herausgegeben.
13
zierung zu versachlichen und so sich auf den gemeinsamen
gesellschaftlichen Auftrag zu konzentrieren.
3. Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD hat sich die dritte Bilaterale Arbeitsgruppe mit dem Thema „Gott und die Würde des Menschen“
befasst. Sie greift dabei auf die zahlreichen sozialethischen
Texte der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zurück. Sie geht aber über diese Texte
hinaus, indem sie theologisch grundsätzlicher ansetzt und zugleich ihre jeweiligen konfessionellen Überzeugungen ins Gespräch bringt und gemeinsam fruchtbar macht. Die Bilaterale
Arbeitsgruppe folgt damit der Tradition ihrer Vorgängerinnen,
die sich mit klassischen ökumenischen Fragen der Kirche und
der Kirchengemeinschaft beschäftigten.2 Neuland betritt die
Bilaterale Arbeitsgruppe allerdings insofern, als sie erstmals
eine ethische Fragestellung explizit angeht. Freilich bleibt sie
der bisherigen Überzeugung treu, gemäß den Grundlagen der
ökumenischen Hermeneutik die Frage nach der Einheit im
Glauben zu verfolgen.
4. Anliegen dieses Textes ist es zu klären, wie trotz einzelner
Differenzen in ethischen Fragen ein überzeugendes gemeinsames Eintreten der Kirchen für die Menschenwürde möglich ist.
Gemeinsam gehen wir von der Überzeugung aus, dass Christinnen und Christen aller Kirchen das tiefe Anliegen miteinander
verbindet, ihr ganzes Leben aus dem Glauben an den lebendigen Gott, der sich in Jesus Christus zum Heil der Menschen
vermittels des Heiligen Geistes offenbart hat, zu gestalten und
sich als Kinder Gottes in Freiheit für die anderen hinzugeben.
Glauben und Handeln sind nur dann heilsam aufeinander bezogen, wenn zugleich die Differenzen, die sich zwischen den Kir2
Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament, Paderborn/Hannover
1984 (künftig als KWS bezeichnet); Communio Sanctorum – Die Kirche
als Gemeinschaft der Heiligen, Paderborn/Frankfurt a. M. 2000 (künftig
als CS bezeichnet).
14
chen im Urteilen und Handeln ergeben, theologisch ernst genommen werden. Das unabschließbare Ringen um ein gemeinsames Verstehen des Glaubens und eines evangeliumsgemäßen
Handelns sollte weder durch autoritative Akte noch durch pluralistische Gleichgültigkeit aufgehoben werden. Christen und
Christinnen stehen heute gemeinsam vor denselben Herausforderungen. Diese unterscheiden sich von denen vergangener
Jahrzehnte durch ihre Komplexität und Unübersichtlichkeit. Das
macht eine neue gemeinsame Anstrengung nötig, um die Würde von Menschen angemessen in der Öffentlichkeit zur Geltung
zu bringen.
5. Die Gliederung dieses Textes ergibt sich aus dem geschilderten Anliegen. Der Text bietet nach einer Hinführung zur ökumenischen Debatte um die Menschenwürde einen Überblick
über die konfessionellen Zugänge von katholischer und lutherischer Seite zur ethischen Urteilsbildung. Damit soll ein gegenseitiges Verstehen unterschiedlicher Begründungsmuster ermöglicht werden, das einen respektvollen, kritischen und konstruktiven Umgang mit ethischen Dissensen einschließt. In diesem Teil analysiert der Text Prinzipien der ethischen Urteilsbildung im Lichte konfessioneller Traditionen. Im dritten Teil wird
eine gemeinsame, konfessionell verbindende theologische
Anthropologie auf biblischer Grundlage dargestellt. Daraus
werden Konsequenzen für das gemeinsame Eintreten für die
Menschenwürde entwickelt. Trotz der Differenzen in einzelnen
ethischen Positionierungen gibt es einen evangelisch-lutherisch/römisch-katholischen Konsens im Verständnis der Menschenwürde, der tief verwurzelt und breit gefächert ist. Gleichwohl kann es zwischen den Konfessionen wie innerhalb von
ihnen zu Differenzen in ethischen Einzelfragen kommen. Erstens
spiegeln diese die vieldeutige Komplexität der zu beschreibenden naturwissenschaftlichen, rechtlichen und ökonomischen
Sachverhalte wider. So können aufgrund unauflösbar mehrdeutiger empirischer Sachverhaltsbestimmungen auch gleiche
Grundüberzeugungen zu unterschiedlichen ethischen Urteilen
führen. Zweitens entstehen Differenzen, weil Sachfragen immer
15
innerhalb eines bestimmten kulturellen, ökonomischen und
politischen Kontextes einer Lösung zugeführt werden müssen.
In beiden Fällen differieren ethische Urteile auch aufgrund
außertheologischer Faktoren. Drittens können sich Differenzen
auf unterschiedliche konfessionelle Begründungsverfahren
zurückführen lassen. In diesem Problemfeld soll durch unsere
Studie zweierlei gezeigt werden: 1. Das gemeinsame Anliegen
der Menschwürde zu betonen, schließt unterschiedliche Begründungsmuster und begrenzte Differenzen in ethischen Einzelfragen nicht aus. 2. Konkrete begrenzte Differenzen in einzelnen Urteilen hindern die katholische und die evangelischlutherische Kirche nicht daran, sich gemeinsam für die Würde
von Menschen einzusetzen. Das wird im vierten Kapitel beschrieben. Das fünfte Kapitel entfaltet das Ethos der Menschlichkeit in Gestalt einer Auslegung der Bergpredigt.
6. Mit bemerkenswerter Klarheit und Konsequenz gehen die von
den Kirchen seit den späten 1980er Jahren veröffentlichten sozialethischen Dokumente von einem gemeinsamen christlichen
Verständnis des Menschen aus, welches „zu den grundlegenden
geistigen Prägekräften der gemeinsamen europäischen Kultur“
gehöre.3 Alle Dokumente handeln von der Würde des Menschen
als Person: „Der Mensch ist Person. Das ist Grundlage für alle
ethischen Aussagen.“4 Die ökumenischen Dokumente vertreten
die gemeinsame christliche Auffassung: „Theologisch gesehen
konstituiert die Anerkennung des Menschen durch Gott den
Menschen als Person.“5 Dieses Begründungsmuster zieht sich
durch alle Argumentationen hindurch; in ihnen wird der Mensch
als Person mit einer einmaligen und unveräußerlichen Würde
verstanden. Auch wenn der Begriff von der Menschenwürde
verschiedenen Deutungen offensteht, lebt das Zeugnis der Chris3
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1),
Nr. 92.
4
„... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“, (siehe Anm. 1),
Nr. 115.
5
Gott ist ein Freund des Lebens (siehe Anm. 1), S. 42.
16
ten, Christinnen und der christlichen Kirchen in einer pluralistischen Gesellschaft von einer grundlegenden Einmütigkeit ihrer
gemeinsamen Überzeugung von der unveräußerlichen Menschenwürde, die in der Gottebenbildlichkeit begründet ist.
7. Die Besonderheit dieses Textes verlangt einige Klärungen
hinsichtlich des Auftrages, der Verantwortung, des Referenzrahmens und des Diskussionszusammenhanges, in den hinein
dieses Dokument sprechen will. Vom Auftrag und Verantwortungsrahmen her können die Mitglieder der Bilateralen Arbeitsgruppe (BILAG) nur für ihren jeweiligen konfessionellen Hintergrund sprechen. Nur für diesen tragen sie unmittelbar Verantwortung. Das betrifft für die lutherischen Mitglieder der Arbeitsgruppe zunächst das Luthertum der in der VELKD vertretenen Landeskirchen, dann aber auch die internationale, im Lutherischen Weltbund vertretene Gemeinschaft des Luthertums.
Für die katholischen Mitglieder der Arbeitsgruppe betrifft es die
Verantwortung für die katholische Theologie in Deutschland in
ihrem Bezug auf den weltweiten Diskurs von Theologie und
Kirche in römisch-katholischer Provenienz. Der Referenzrahmen
legt es nahe, sich auch auf gemeinsame ökumenische Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der
Deutschen Bischofskonferenz zu beziehen. Ohne für die EKD
und ihre Gliedkirchen in Gesamtheit sprechen zu können und
auch ohne für Alt-Katholiken und andere konfessionelle Gemeinschaften zu sprechen, werden entsprechende Äußerungen
und Diskurse mit in den Blick genommen. Den Diskussionszusammenhang des von der BILAG erarbeiteten Textes bildet der
öffentliche Diskurs um ethische Fragestellungen. Damit versucht er den Anspruch einzulösen, einen Beitrag zur kirchlichen
und öffentlichen Debatte in Deutschland zu leisten.
8. In der Verantwortung des lutherisch-katholischen Dialogs in
Deutschland, im Horizont des gemeinsamen Dialogs auf Weltebene, in der Referenz auf die gemeinsame Verantwortung der
Kirchen in Deutschland in ihrer unterschiedlichen konfessionellen Prägung und unter Bezug auf die wissenschaftliche und
17
gesellschaftliche Öffentlichkeit in Deutschland ist dieser Text
entstanden. Das macht die Aufgabe komplex und vielfältig.
Aber hinter diesem Anspruch kann ein solcher Text um der
Sache willen nicht zurückbleiben.
18
1.
Die ökumenische Dimension der Debatte
über die Menschenwürde
9. Menschenwürde kommt jedem Menschen zu. Sie ist unabhängig von Herkunft, Rasse, Geschlecht und Religion. Sie gilt
unbedingt. Sie kann nicht verloren werden, selbst wenn sie von
anderen missachtet wird. Aus christlicher Sicht lässt sich sagen:
Die Menschwürde ist ein Geschenk Gottes; deshalb ist sie unverfügbar. In der Sprache der Bibel heißt das: Jeder Mensch ist
Gottes Ebenbild. Diese Überzeugung bringen die christlichen
Kirchen in die aktuelle Debatte über ethische und rechtliche
Probleme ein, für die Gesellschaft und Staat nach Lösungen
suchen. Das kirchliche Eintreten für die Würde des Menschen
zielt darauf, durch Argumentation und Zeugnis Menschen zu
begründeter eigener Urteilsbildung und zu entsprechendem
Handeln zu bewegen.
10. Den Kirchen ist schmerzlich bewusst, dass sie lange Zeit den
Menschenrechtsbewegungen mit großer Skepsis gegenüberstanden. Sie befürchteten darin eine Relativierung der Glaubenswahrheiten oder einer christlich begründeten Freiheit. Es
hat lange gedauert, bis die Kirchen den Begriff der Menschenwürde mit der biblischen Grundüberzeugung von der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen in Verbindung brachten und
ihn sich schließlich zu eigen machten. Menschenwürde und
Menschenrechte als politisch-ethische Leitkategorien konnten
sich in den säkularen Emanzipationsbewegungen der Neuzeit
erst in einem langen Ringen auch in der kirchlichen Lehre
durchsetzen. Während nicht wenige Befürworterinnen und
Befürworter der modernen Idee der Menschenrechte jeden
Anspruch auf religiöse Begründung der Menschenwürde abwehren, weil sie in ihr kirchliche Herrschaftsansprüche am Werk
sehen, wollen andere im Gegenteil die moderne Idee der Menschenwürde allein auf christlich-abendländische Kulturtraditio19
nen zurückführen. Beide Perspektiven sind einseitig. Es ist kein
Zufall, dass die Idee der Menschenrechte in Europa und Nordamerika entwickelt worden ist, also in christlich geprägten Kulturräumen. Es gibt auch genuin philosophische und juristische
Traditionen, die in der Moderne zur Erkenntnis der Menschenwürde und der Menschenrechte geführt haben. Dabei ist zu
beachten, dass die Kirchen in ihren Verlautbarungen die Idee
der Menschenwürde vollständig erst nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck der Shoa zur Geltung gebracht
haben. Für die katholische Kirche hat das Zweite Vatikanische
Konzil mit seiner Erklärung über die Religionsfreiheit von 1965
den Durchbruch zum modernen menschenrechtlichen Denken
eingeleitet. Umso mehr sind die Kirchen heute allen Bewegungen und Initiativen dankbar verbunden, die sich für die Achtung
der Menschenwürde aller Menschen eingesetzt haben und
weiter einsetzen. Alle Konfessionen haben bis heute mit fundamentalistischen Strömungen zu kämpfen, die unter Berufung
auf Gott die Menschenwürde relativieren und die Menschenrechte beschränken wollen. Gegen diese Tendenzen beziehen
die evangelischen Kirchen und die katholische Kirche in
Deutschland zusammen mit vielen anderen Stimmen immer
wieder entschieden Stellung.
11. Die Kirchen haben sich in ihrer Geschichte vielfach an Menschen und deren Menschenwürde schuldig gemacht. Das Unrecht der Sklaverei wurde von den Kirchen lange geduldet.
Unter Berufung auf den Namen Gottes wurden Gewalt gegen
Menschen ausgeübt und ihre Rechte missachtet. Insbesondere
jüdische Mitmenschen wurden ausgegrenzt und verfolgt. Menschen wurden über Jahrhunderte wegen ihrer religiösen Auffassungen hingerichtet. Auch die Gleichberechtigung von Frauen
und Männern wurde geleugnet. In vielen Fällen wurden Frauen
nicht entsprechend ihrer Würde behandelt. Die Liste der Vergehen ist lang. Es gilt, der Opfer mit Scham und Schmerz, mit
Trauer und Bedauern zu gedenken. Dankbar sind die Kirchen
dafür, dass in kirchlichen Reformbewegungen, in philosophischen und theologischen Reflexionen, in zahlreichen pastoralen
20
Initiativen und in der Kunst immer wieder prophetische Stimmen laut geworden sind, die zur Umkehr gerufen haben. Die
christlichen Kirchen nehmen heute ihre ökumenische Verantwortung wahr, sich gemeinsam für Menschenwürde und Menschenrechte einzusetzen.
1.1
Menschenwürde in der öffentlichen Debatte
12. Neuere biotechnische, medizinische und gesellschaftliche
Entwicklungen konfrontieren uns seit Jahren mit Chancen und
Problemen, für welche die gängigen ethischen Orientierungen
keine ausreichenden Antworten mehr bereithalten.6 Individuelle ethische Entscheidungen sind notwendig, stoßen aber an
Grenzen des Wissens und der Urteilskraft. Verbindliche rechtliche Normierungen müssen in komplexen politischen Prozessen
ausgehandelt werden. Der Ort von sozialer Normentstehung ist
die Gesellschaft, welche durch verschiedene Akteure geprägt
ist, die aber unterschiedliche Interessen, Anliegen und Begründungsmuster ins Spiel bringen. Dazu gehört auch die Auslegung
des Grundgesetzes als der alle Gesetzgebungsverfahren bindenden rechtlichen Grundlage. Hier spielt die Würde des Menschen eine entscheidende Rolle. Menschenwürde behauptet
sich nicht nur als unanfechtbares Rechtsprinzip, sondern ebenso als Leitprinzip der ethischen Debatten in Deutschland.
13. Keine öffentliche Diskussion über ethische Fragen kommt
heute ohne den Hinweis auf die Menschenwürde aus. Den Ausdruck „Würde“ beziehen wir auf Menschen und unterscheiden
sie so von Sachwerten und Schutzrechten von Tieren. Ob Würde dem Menschen nur von anderen Menschen, sei es durch die
6
Vgl. Wieviel Wissen tut uns gut? Chancen und Risiken der voraussagenden Medizin. Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz
und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Woche für
das Leben 1997: „Jedes Kind ist liebenswert. Leben annehmen statt
auswählen.“, Hannover/Bonn 1997.
21
Gesellschaft oder den Staat, zugeschrieben wird, oder ob er
Würde von sich aus besitzt, ist eine der entscheidenden Fragen
in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion.
14. Vor allem in der deutschsprachigen Diskussion spielt das
Argument der Menschenwürde eine prominente Rolle. Das liegt
auch in den spezifischen geschichtlichen Erfahrungen und Erinnerungen begründet. Die Erschütterung durch die Missachtung
der Menschenwürde in der nationalsozialistischen Gewaltdiktatur und die politischen und gesellschaftlichen Nachkriegserfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland haben sich als wirkmächtig erwiesen. Hier erscheint das Menschenwürde-Prinzip
als unhinterfragbare moralische und rechtliche Instanz. Dies
drückt sich in der Überzeugung aus, wie sie im Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland in Art. 1 zum Ausdruck kommt,
dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Mit Bezug auf
diesen Artikel wird argumentiert, dass diese oder jene ethische
oder rechtliche Normierung gegen die menschliche Würde
verstoße. Der Rekurs auf die Menschenwürde übernimmt dann
verschiedene Aufgaben. Einmal soll der Verweis auf die Menschenwürde die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit der
menschlichen Person zum Ausdruck bringen, dann wiederum
verbindet sich mit diesem Argument das Instrumentalisierungsverbot des Menschen, seine Selbstbestimmung oder seine körperliche und seelische Integrität.
15. Vor diesem Hintergrund wird in der wissenschaftlichen und
politischen Debatte vor einem inflationären Gebrauch des Menschenwürde-Arguments gewarnt. Allerdings behält es seine
grundlegende Orientierungsfunktion. Damit diese erfüllt werden kann, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein. Erstens
bedarf es einer genauen Begründung, warum in einer ethischen
Frage mit der Menschenwürde argumentiert werden kann und
muss. Zweitens bedarf der Begriff der Menschenwürde selbst
einer genauen Bestimmung, damit er präzise verwendet werden kann. An dieser Stelle bringen die christlichen Kirchen ihre
Erfahrungen, Einsichten und Überzeugungen in die öffentliche
22
Debatte ein. Sie bauen darauf, dass die Zielsetzung einer gerechten, lebensförderlichen und zukunftsfähigen Gestaltung der
Gesellschaft allgemein anerkannt wird. Christinnen und Christen wissen sich, wenn sie in ethischen Fragen öffentlich sprechen, mit allen Menschen verbunden, die um eine menschenwürdige Gestaltung der Zukunft ringen. Sie respektieren, dass
es verschiedene Positionen gibt, die aus unterschiedlichen
Überzeugungen erwachsen, und wollen ihre eigenen Argumente in einen öffentlichen Diskurs einbringen.
16. Den gesellschaftlichen Debatten über ethische und juristische Fragen liegen konkurrierende Vorstellungen von der Würde
des Menschen zugrunde. Zu klären ist, ob Menschenwürde primär ein Rechtsprinzip oder eine ethische Grundposition darstellt,
ob sie einer philosophischen oder einer religiösen Entdeckung
entspringt und nur in dieser ihre Wirkkraft entfalten kann. Der
Begriff der Menschenwürde ruft heftige Debatten in der Medizin,
der Rechtswissenschaft, der Philosophie und der Theologie hervor. Insbesondere ist umstritten, welche Rolle der Autonomie als
der Selbstbestimmung des Menschen in der Ethik zukommt,
welche Rolle rationales Denken und Handeln in der Sittlichkeit
einnehmen, ja letztlich steht die Frage im Raum, was der Mensch
ist und wer ein Mensch ist. Die einzelnen ethischen Sachbereiche
zeigen, wie sich Akzentverschiebungen im Würdeverständnis
unmittelbar auswirken, wie schwierig es aber auch ist, aus dem
Menschenwürde-Konzept unmittelbar ethische Einzelnormen für
die jeweiligen ethischen und juristischen Problemfelder abzuleiten. Vom Verständnis der Würde des Menschen hängt auch
ab, was als Missachtung der Menschenwürde in den Blick
kommt. Hier sehen sich Christinnen und Christen besonders
verpflichtet, für diejenigen einzutreten und ihre Stimme zu erheben, deren Stimme kaum gehört wird oder welche nicht selbst
für sich sprechen können. Trotz der Strittigkeit des Menschenwürde-Begriffs, der Pluralität seiner Definitionen und Beschreibungen verbindet sich mit ihm die Überzeugung einer grundlegenden Norm für Recht und Ethik als einer nicht hintergehbaren
Begründungsinstanz. Daran schließen sich verschiedene Debatten
23
über den Zusammenhang von Menschenwürde und Menschenrechten an.
17. Im Zuge der Diskussionen über die Menschenwürde verändert sich auch die Rede von Menschenrechten. In den letzten
Jahrzehnten fanden intensive Debatten darüber statt, was zu
Menschenrechten gehört. Dabei hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass über die individuellen Freiheitsrechte hinaus, wie sie
vorwiegend in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland
in den Grundrechten festgeschrieben sind, auch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Grundrechte anzuerkennen sind, die
das Miteinander der Gesellschaften heute bestimmen. Damit
gehören zu den Menschenrechten nicht nur die individuellen
Freiheitsrechte, sondern auch die sozialen Teilhaberechte. Weil
Menschenwürde allen Menschen in gleicher Weise zukommt,
wird der Grundsatz der Gerechtigkeit aus dem mit der Menschenwürde verbundenen Prinzip der Gleichheit abgeleitet.
Damit betreffen Gerechtigkeitsfragen zugleich immer auch die
Menschenwürde.
18. Die Debatte über Menschenwürde hat sich in den vergangenen Jahren noch verdichtet. Um die Menschenwürde ist eine
scharfe Kontroverse entbrannt. Auf der einen Seite wird die
Stichhaltigkeit und Effektivität einer metaphysischen und religiösen Begründung bezweifelt. Sie gerät in den Verdacht, im
Widerspruch zur liberalen Verfassung des staatlichen Gemeinwesens zu stehen. Es wird geltend gemacht, dass eine religiöse
Würdeauffassung nur mehr von einer Minderheit der deutschen Bevölkerung geteilt werde und damit in einer pluralen
Gesellschaft nicht mehr von allen akzeptiert werden könne.
Dies impliziert oft die Unterstellung, die von Menschen mit
Berufung auf ihren Glauben vorgebrachten Begründungen ließen sich nicht nachvollziehbar beschreiben und nicht in allgemein einsichtig zu machende Begründungen übersetzen. Auf
der anderen Seite wird aber teilweise auch argumentiert, das
gesamte Konzept der Menschenwürde sei eine Illusion, weil es
sich aus kulturellen Bedingungen des Abendlandes ableite, die
24
nicht mehr gegeben seien und niemals universale Geltung besessen hätten. Beide Einwände zwingen die christlichen Kirchen
dazu, ihre theologischen Argumente so zu formulieren, dass
sowohl ihre Voraussetzungen transparent werden als auch ihre
Inhalte so formuliert werden, dass ihre Anschlussfähigkeit an
andere Diskurse deutlich wird.
19. Eine Verschärfung dieser Debatte kann man in der Argumentation sehen, nach der die Eigenart der Rede von der
Menschwürde nicht ohne Grund in einer säkularen und abstrakten rechtlichen Sprache vorgenommen wurde. Der Grund liege
in dem Umstand, dass gerade diese abgeklärte, aus der Rechtssphäre stammende Sprache den Abstand zu religiösen oder
weltanschaulich geprägten Glaubensbekenntnissen hält und
dadurch erst Gewähr für die Verallgemeinerungsfähigkeit und
Universalisierbarkeit für alle Völker, Gesellschaften und Staaten
unabhängig ihrer religiösen Prägungen bietet. Hier lautet der
Vorwurf, dass eine religiöse oder metaphysische Begründung
diesen universalen Standpunkt verdunkeln und die Chancen
minimieren würde, Rechts-Prinzip für alle Völker und Staaten zu
sein. Somit sprechen nicht wenige Gründe für einen Verzicht
auf die religiöse Rede und Begründung der Menschenwürde.
Andererseits aber enthalten religiöse Begründungen Sinnpotentiale, die die allgemeine Debatte bereichern können. Damit hat
sich die für die christlichen Kirchen virulente Ausgangslage noch
einmal massiv verschärft. Die christlichen Kirchen müssen sich
deshalb heute fragen, wie sie eine eigene religiöse Begründung
der Menschenwürde so einbringen, dass sie das Projekt der
Menschenwürde ohne eine falsch verstandene religiöse Vereinnahmung vorantreiben.
20. Damit grenzen sich die Kirchen sowohl von folgenden einseitigen fundamentalistischen als auch von säkularistischen
Positionen ab. So wie eine religiöse Begründung der Menschenrechte nicht selten als partikular und deshalb als schwach angesehen wird, gibt es umgekehrt die Kritik, dass eine dezidierte
Abweisung religiöser Begründungen dem Relativismus und In25
differentismus Vorschub leiste. Als Argument wird angeführt,
dass jede Begründung notwendig positionell ist und eine von
Religion absehende Begründung deshalb mit ähnlichen Gründen kritisiert werden kann wie eine religiöse. Auf dieser Grundlage wird dann bekräftigt, dass allein eine theologische Begründung garantieren könne, dass die Menschenwürde unverletzlich
ist. Demnach könne die Menschenwürde nur dann ein tragfähiges Konzept für Staat und Gesellschaft sein, wenn es auf christlicher Grundlage stehe.
21. Auf der anderen Seite sehen sich die Kirchen mit der Kritik
konfrontiert, dass eine religiöse Argumentation zu einer Aushöhlung echter Säkularität führen kann. Sie erfolge, wenn von
kirchlicher Seite mit scheinbar weltanschaulich neutralen, tatsächlich aber christlich positionierten Vorstellungen argumentiert werde; das liege bei einer naturrechtlichen Begründung
vor, die vor allem in der katholischen Tradition vorherrsche.
Von einem solchen Menschenwürde-Konzept müsse man sich
verabschieden, weil eine scheinbare säkulare Legitimation zum
Schaden für die echte Säkularität des Konzepts der Menschenwürde werde. Während also von den einen die liberale Säkularität von Staat und Gesellschaft als Verlust der religiösen Substanz beschrieben wird, wird von anderen eine christliche Okkupation von Säkularität und damit ein Verlust der angestrebten Universalität befürchtet.
22. Eine rein christliche Begründung beschwört die Gefahr
herauf, dass das Menschenwürde-Konzept als ein ausschließlich
westlich-abendländisch geprägtes weltanschauliches Projekt
verstanden wird, das genau aus diesen Gründen von Menschen
anderer Völker, Gesellschaften und Kulturen abgelehnt werden
wird. Umgekehrt steht eine rein säkulare Begründung in der
Gefahr, gleichfalls als ein westlich abendländisch geprägtes
weltanschauliches Projekt verstanden zu werden, das die möglichen religiösen Dimensionen von Menschenwürde-Konzeptionen leugne und auf diese Weise ein typisch westliches Paradigma der säkularen Aufklärung absolut setze. In jedem dieser
26
Fälle verlören die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen
Menschenrechte als ein alle Menschen gleichermaßen verbindendes Norm-Konzept ihren Sinn, ihre Bedeutung und ihre für
die Gesellschaften und ihr Rechtssystem normative Wirkung. In
dieser Perspektive ist es wichtig, sich mit anderen religiösen,
ethischen und rechtlichen Menschenwürde-Konzepten zu verständigen und anderen Begründungskonzepten offen gegenüber zu stehen. Im Gespräch mit den anderen Weltreligionen,
aber auch mit modernen Weltanschauungen kommt es aus
christlicher Sicht darauf an, einerseits die eigene Position klar zu
markieren, um sie zur Diskussion zu stellen, andererseits aber
davon abweichende Konzepte von Menschenwürde weder zu
bekämpfen noch zu verdächtigen, sondern in ihren eigenen
Intentionen und Möglichkeiten zu würdigen. Verständigung mit
Menschen anderer religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen ist unverzichtbar, damit Menschenwürde und Menschenrechte überall auf der Welt als unbedingt und unantastbar
angesehen werden können.
23. Die „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“7 ernst zu
nehmen, ohne sie absolut zu setzen, ist die gegenwärtige gemeinsame und nur mehr ökumenisch zu leistende Herausforderung für die christlichen Kirchen. Hier hilft das Beispiel der Religionsfreiheit weiter. Das Recht auf religiöse Freiheit ist in Verfassungen moderner menschenrechtlicher Demokratien verankert. Als solches bedarf es keiner weiteren religiösen Begründung. Andererseits liegt in der religiösen Begründung die Gewähr, dass Religionen dieses Recht anerkennen und für sich
selbst und für andere als Basis für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft und zwischen den Völkern akzeptieren. Insoweit ist eine religiöse Begründung nach wie vor
unersetzlich und unabdingbar. Auf diesem Wege erweisen sich
die christlichen Kirchen in ihren ökumenischen Bemühungen
gerade als modernisierungsfähig und zugleich der Modernisierung bedürftig. Mit dem Titel „Gott und die Würde des Men7
GS 36.
27
schen“ wollen die lutherischen Kirchen und die römischkatholische Kirche den Gottes-Bezug des MenschwürdeKonzepts ebenso zur Sprache bringen wie seine notwendige
Allgemeinheit und Universalität für alle Völker, Staaten und
Menschen dieser Erde.
24. Die Kirchen weisen den Vorschlag zurück, dem Begriff der
Menschenwürde nur eine negative Funktion beizumessen, nämlich entgegenstehende Auffassungen oder Überzeugungen zu
diskreditieren; denn bei einer solchen Strategie kommen die
positiven Impulse zu kurz. Andererseits ist die Schwierigkeit
nicht zu verkennen, aus der Menschenwürde direkte ethische
Konsequenzen abzuleiten; denn gerade wegen ihrer Universalität und prinzipiellen Bedeutung sind Konkretionen notwendig,
die im Einzelfall oft strittig bleiben. Je nach unterschiedlicher
Begründung und inhaltlicher Füllung des MenschenwürdeBegriffs werden teilweise unterschiedliche, ja gegensätzliche
Ableitungen vorgenommen.
1.2
Das Menschenwürde-Argument in der
Debatte ethischer und rechtlicher Probleme.
Ausgewählte Beispiele
25. Im Folgenden sollen paradigmatisch drei ethische Problemfelder und Aufgabenbereiche herausgegriffen werden, an denen sich zeigen lässt, wie gemeinsame und unterschiedliche
Positionierungen der evangelischen wie der katholischen Seite
entstehen, begründet werden und zu gewichten sind. Alle drei
Beispiele sind brisant. Das erste Beispiel, die Stammzellforschung ist mit dem Schutz des beginnenden Lebens verbunden,
das zweite Beispiel, die Kinderarmut und Bildung, ist in der
Mitte des Lebens verortet, und das dritte Beispiel, die Sterbehilfe, am Ende des Lebens. Um alle Lebensphasen wenigstens
ausschnittweise in den Blick zu nehmen, sind diese Beispiele in
dieser Studie ausgewählt worden. Es handelt sich in allen drei
Fällen um ethische Fragen, in denen die Menschenwürde tan28
giert wird und die in der öffentlichen Debatte eine erhebliche
Rolle spielen. Die Beispiele können in dieser Studie allerdings
nicht als solche untersucht werden; die Studie dient nicht einer
gemeinsamen ökumenischen Positionierung zu diesen ethischen Problemen; dazu müssten sie weit eingehender bearbeitetet werden, als dies hier möglich ist. Es geht den vorliegenden
Beschreibungen nicht darum, nach genauen ethischen Lösungen zu suchen – das muss den intensiven Fachdebatten überlassen bleiben –, sondern die unterschiedliche Verwendung und
die Relevanz des Menschenwürde-Arguments aufzudecken. Die
vorliegenden Überlegungen verstehen sich insofern als Prolegomena zu einer ökumenischen ethischen Urteilsbildung. Die
Beispiele werden deshalb nur als Beispiele dafür diskutiert, wo
und wie zwischen der katholischen Seite einerseits und der
evangelischen Seite andererseits sowohl gemeinsame als auch
partiell abweichende Positionen eingenommen werden. An
diesen Beispielen soll lediglich gezeigt werden, wie sich fundamentale Gemeinsamkeiten in der Anthropologie (die in Kapitel 3 auf biblischer Basis beschrieben werden) einerseits zu
gemeinsamen, andererseits zu abweichenden Stellungnahmen
in ethischen Einzelfragen verhalten und wie beides im ökumenischen Dialog zu gewichten ist. Die Beispiele sind so ausgewählt,
dass zunächst eine Kontroverse aufgegriffen wird, dargestellt an
der Stammzellforschung, an zweiter Stelle eine intensive und
bewährte Gemeinsamkeit in Fragen der Kinderarmut und Bildung, und an dritter Stelle die Sterbehilfe, eine grundlegende
und weitgehende Gemeinsamkeit, die aber Differenzen in wenigen Einzelpunkten nicht ausschließt.
26. Der Bilateralen Arbeitsgruppe ist klar, dass es weitere wichtige Bereiche der Ethik gibt, in denen gegenwärtig Unterschiede
zwischen der evangelischen und der katholischen Seite aufbrechen; auch bei diesen Themen kann die Menschenwürde eine
Rolle spielen. Insbesondere die Themen „Sexualität“ und „Lebensentwürfe gleichgeschlechtlicher Partnerschaften“ erfahren
gegenwärtig in den kirchlichen Gremien und der fachlichen Diskussion eine hohe Aufmerksamkeit. Die Positionen sind dabei
29
nicht klar konfessionell zu unterscheiden, weil die Differenzen
sich durch alle Konfessionen ziehen. Dieser Themenbereich wurde von der Arbeitsgruppe nicht unter den expliziten Beispielen
aufgenommen, weil der Arbeitsauftrag der Gruppe darauf begrenzt war, Grundsatzfragen zu diskutieren. Die Arbeitsgruppe ist
allerdings überzeugt, dass sich in diesen und anderen Bereichen
ähnlich argumentieren ließe wie in den ausgewählten.
Am Anfang des Lebens: Stammzellforschung
27. Die embryonale Stammzellforschung löst hochgespannte
Erwartungen auf neue Heilungsmöglichkeiten aus. Als realistische Ziele der Stammzellforschung werden die regenerative
Therapie und die Heilung von Krankheiten wie Chorea Huntington, Parkinson, Alzheimer und Krebs durch die Biomedizin in
Aussicht gestellt. Biologisch handelt es sich um eine Entnahme
von Zellen, die nach dem fünften Tag der Befruchtung im Inneren der Blastozyste entstehen, dem Zeitpunkt also kurz vor der
Einnistung in die Gebärmutter. Aus den entnommenen Zellen
lassen sich embryonale Stammzell-Linien züchten, die in der
Lage sind, sich zu einer beliebigen Zellart des menschlichen
Körpers zu entwickeln. Das deutsche Stammzellgesetz von 2002
verbietet, Embryonen und auch Blastozysten für Forschungszwecke zu erzeugen, zu klonen oder zu zerstören. Allerdings
erlaubt der Gesetzgeber, unter strengen Auflagen an importierten Stammzellen zu forschen, wenn sie vor dem 1. Januar 2002
gewonnen wurden. Dieser Stichtag wurde 2008 noch einmal
verschoben, so dass es möglich ist, Stammzellen zu importieren,
die vor dem 1. Mai 2007 gewonnen wurden. Hinsichtlich des
moralischen und rechtsethischen Status embryonaler Stammzellen steht insbesondere in Frage, wann von einem Menschen
gesprochen werden kann, dem in voller Weise Menschenwürde
zukommt, und ob zwischen beginnendem menschlichen Leben
und Menschsein differenziert werden kann und darf.
28. Die gesellschaftlichen Positionen unterscheiden sich zunächst darin, wie das Menschsein des Embryos zeitlich be30
stimmt wird. Mögliche Definitionen sind hier die Terminierung
mit der Befruchtung der menschlichen Eizelle, mit der Nidation,
mit dem Beginn von Empfindungsfähigkeit oder zu einem späteren Zeitpunkt. Als weitere Alternative hat ein abgestuftes Statuskonzept zu gelten, das mit mehreren moralisch relevanten
Entwicklungsstufen des menschlichen Embryos rechnet. Positionen, welche die befruchtete Eizelle als Beginn des mit voller
Menschenwürde ausgezeichneten Menschseins ansehen, führen als Argumente die Zugehörigkeit des Embryos zur menschlichen Spezies an oder die Kontinuität in der Entwicklung des
Embryos, die Identität des Embryos mit dem späteren Kind und
Erwachsenen oder auch die Potentialität, insofern aus dem
Embryo nur ein menschliches Kind werden kann. Befürworter
anderer Terminierungen verweisen dagegen darauf, dass zur
Zuschreibung eines moralischen Status bestimmte konkret
erkennbare Eigenschaften vorliegen müssen. Nur eines ist klar:
Mit der Menschenwürde, wann auch immer sie beim menschlichen Embryo angesetzt wird, sind dann auch der Lebensschutz
und das Instrumentalisierungsverbot verbunden.
29. In Verbindung mit der Frage nach dem moralischen oder
rechtlichen Status des Embryos lassen sich unterschiedliche
Positionen zur embryonalen Stammzellforschung ausmachen.
Bei den voneinander teilweise stark abweichenden Positionen
spielt im Wesentlichen die Frage eine Rolle, ob solche bioethischen Probleme als moralische Konflikte zwischen verschiedenen ethischen Gütern zu interpretieren sind oder ob eindeutige
Antworten von übergeordneten Prinzipien her zu gewinnen
sind. Oft werden von der medizinischen Forschung Positionen,
welche die Menschenwürde mit der Befruchtung beginnend
verstehen und daher die Forschung mit embryonalen Stammzellen ablehnen, als wissenschaftsfeindlich und fortschrittshemmend kritisiert. Umgekehrt erscheinen den Befürwortern
und Befürworterinnen des vollen Lebensschutzes für die befruchtete menschliche Eizelle andere Positionen als Überordnung des technisch Möglichen über ethische Bedenken.
31
30. In den Bewertungsdiskursen zur Stammzellforschung wird
oft die weitergehende Fragestellung eingebracht, was eine
Öffnung in dieser Hinsicht für die allgemeine gesellschaftliche
Haltung zur Menschenwürde oder für das Wertegefüge insgesamt bedeuten würde. Auch in vielen anderen ethischen Fragen
wird implizit oder explizit die Bedeutung der Einzelfrage für die
generelle Haltung zur Menschenwürde mitdiskutiert, verbunden mit sogenannten Dammbruchprognosen. Auch wenn die
Forschung mit embryonalen Stammzellen nicht mehr die Bedeutung wie vor gut einem Jahrzehnt hat, zeigt die Debatte
paradigmatisch, wie wichtig die Frage nach einer verantwortlichen Gestaltung menschlicher Zukunft im Dienst am Menschen
ist.
In der Mitte des Lebens: Kinderarmut und Bildung
31. Deutschland ist kein kinderfreundliches Land. Kinder- und
Jugendhilfeberichte weisen schon seit vielen Jahren darauf hin,
dass Kinderreichtum ein besonderes Armutsrisiko darstellt.
Armutsrisiken stehen in einem engen Zusammenhang von öffentlichen Sozialleistungen, nationaler Herkunft, Bildung und
sozialer Schicht. Risikofaktoren sind ungewollte Schwangerschaften, Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse, Drogenkonsum, langanhaltende Krankheiten. Geringe Bildung wird
zunehmend als ein ausschlaggebender Faktor bei der Armut
und vor allem der Kinderarmut ausgemacht. Viele Kinder leiden
insbesondere in den ersten Jahren unter einem Mangel an entwicklungsfördernden Lernanreizen. Bildungsferne reduziert
Chancen für ein existenzsicherndes Berufsleben. Armut wird in
der öffentlichen Debatte oft als selbstverschuldet betrachtet.
Pauschale Schuldzuweisungen helfen aber nicht weiter. Im
Sozialstaat werden finanzielle Aufwendungen an Betroffene
geleistet, um Folgen der Armut zu lindern. Über den Umfang
und die Effektivität wird kontrovers diskutiert. Eine ausschließliche Orientierung an den finanziellen Transferleistungen geht
aber an der tatsächlichen Ursachenbekämpfung vorbei. Die
normative Begründung orientiert sich heute an der Garantie32
funktion eines für ein menschenwürdiges Leben notwendigen
und ausreichenden Sockels und am Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit. Damit werden Fragen um ein menschenwürdiges
Leben komplexer, weil sie weit über die finanziellen Aspekte
hinausreichen. Bemühungen zur Behebung der Armut im Bildungsbereich haben es viel mit den sozialen und psychologischen Rahmenbedingungen zu tun, in denen Bildung und Entwicklung junger Menschen erfolgen können und sollen. Insbesondere steht hier die an der Würde ausgerichtete Selbstachtung der Kinder im Vordergrund. Die bildungsorientierte Armutsbekämpfung führt eine Fülle von basalen Sozial- und Alltagskompetenzen sowie Kulturtechniken mit beruflicher Qualifizierung zusammen. Auch spielt die Bekämpfung der Gewaltproblematik unter Jugendlichen eine herausgehobene Rolle. Sie
ist auf eine umfassende Kultur des Aufwachsens angewiesen.
Die pädagogischen Bemühungen zielen auf die Befähigung jedes Einzelnen, ein selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben zu
führen. Bildung hat mit dem ganzen Menschen zu tun; sie ist
eine Dimension personaler Humanität und Ausdruck seiner
Würde. Daher gehört Bildung zu den sozialen Menschenrechten. Durch die Stagnation des Armutsrisikos bei weiter steigendem Wirtschaftswachstum, die statistisch nachgewiesene
wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und eine zunehmend
sich öffnende Schere in der Einkommensverteilung ist seit kurzem das normative Leitbild der Verteilungsgerechtigkeit wieder
stärker akzentuiert worden.
32. Ein ähnliches gesellschaftliches Problem zeigt sich im Verhältnis der Generationen untereinander. Heutige Generationen
leben auf Kosten der zukünftigen. Wie keine Generation zuvor
wird der heutigen immer klarer, dass die Folgen wirtschaftlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Handelns unserer Zeit
den Raum und Rahmen für Leben, Existenz und Handeln künftiger Generationen beeinflussen und prägen, ermöglichen und in
einem vielleicht nie zuvor gewesenen Maße auch begrenzen.
Das Problem der Begrenzung der natürlichen Ressourcen wird
seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts auf dem
33
Felde der Ökologie unter dem Begriff der Nachhaltigkeit diskutiert. Neben den offenkundigen Grenzen des Wachstums, die
mit der zunehmenden Exploration der natürlichen Ressourcen
einhergehen, bestimmt der globale Klimawandel die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen um die Gefährdung
der Lebensgrundlagen der zukünftigen Generationen. Ist deren
Bedrohung von Menschen verursacht, rücken vielfältige Maßnahmenkataloge in den Fokus politischen Handelns. Mit ihnen
geht die Kritik an Formen des individuellen Lebensstils der gegenwärtigen Generationen einher. Während in dem meist ländlich geprägten Umfeld früherer Generationen die Bestellung
von Haus und Hof für die kommende Generation zum Lebensinhalt der lebenden Generation gehörte, tritt mit den technisch,
wirtschaftlich und finanziell entgrenzten Möglichkeiten heutiger
Generationen der Zukunftsaspekt gegenwärtigen Handelns viel
stärker in den Blick. Waren hauptsächliche Gesichtspunkte des
Generationenverhältnisses früher die Autoritätsfrage zwischen
Eltern und Kindern sowie die Altersversorgung der Eltern durch
Kinder, hat sich das Verhältnis der Generationen nicht nur radikal verändert, sondern wesentlich umgekehrt. War es Aufgabe
der nachfolgenden Generation für die Versorgung der vorangegangenen zu sorgen, ist es heute die Verantwortung der Eltern,
die Lebensmöglichkeiten für die kommende Generation zu
sichern. Zudem tritt die Solidaritätsfrage nicht mehr allein zwischen Eltern und Kindern auf, sondern zwischen Einzelnen,
Partnerschaften, Familien und Gruppen in einer komplexer
gewordenen Generationensolidarität. Familienleistungen sind
nicht mehr selbstverständlicher Teil der persönlichen Lebenspläne, sondern müssen jeweils eigens begründet und entschieden werden. Wurde demgemäß früher soziale Gerechtigkeit als
bloße Verteilungsgerechtigkeit zwischen reicheren und ärmeren
Teilen der Gesellschaft eingefordert und politisch plausibilisiert,
erweitert sich diese soziale Gerechtigkeit in die Forderungen
nach Ermöglichung von Freiheit und Eröffnung von zukünftigen
Chancen. Generationengerechtigkeit stellt sich heute als diachrone Dimension sozialer Gerechtigkeit dar. Sie enthält die
Verpflichtung, der nachfolgenden Generation durch Ermögli34
chung von Lebensräumen und Realisierung von individueller
Freiheit gerecht zu werden.
33. Zur Würde des Menschen gehören all die Aspekte und
Faktoren, die Leben überhaupt erst ermöglichen und Lebensräume für künftige Generationen eröffnen. Jeder Mensch hat
Anspruch auf solche lebensermöglichenden Bedingungen auch
in ökologischer, gesundheitlicher und kultureller Hinsicht. Dass
Menschen diese Bedingungen erhalten, ist eine Frage der Gerechtigkeit. Inhaltlich ist damit auch die Generationengerechtigkeit gemeint, das Recht der künftigen Generationen auf ein
Leben in intakter Umwelt und lebensfördernder Gesellschaft.
Hier setzt in der heutigen Gesellschaft ein neues Nachdenken
über die Würde der Kinder ein.
Am Ende des Lebens: Sterbehilfe
34. Was Sterben in Würde heißt, beschäftigt viele Menschen
existentiell. Aufgrund der stark verbesserten diagnostischen
und therapeutischen Möglichkeiten kann das Leben bis in weit
fortgeschrittene Krankheitsstadien verlängert werden, vor allem auch im Zusammenhang mit der Entwicklung apparativer
medizinischer Unterstützung. Die Zahl pflegebedürftiger und
schwerstkranker Menschen nimmt beständig zu. Die Betreuung
dieser Menschen stellt nicht nur eine Herausforderung für das
Gesundheitssystem dar, sondern ebenso für Familien und Angehörige. Die Gesellschaft ist gefragt; die Kirchen müssen ihren
Beitrag leisten. Dabei haben Kranke und ihre Angehörigen oft
tiefe Angst davor, nur noch Objekt institutionellen und ärztlichen Handelns zu sein. Insbesondere im Sterben sehnen sich
Menschen danach, in ihrer ganzen Individualität wahrgenommen und angenommen zu werden.
35. Für viele Menschen spielt der Gesichtspunkt des „menschenwürdigen Lebens“ oder des „Lebens in Würde“ eine große
Rolle. Es stellt sich dann die Frage, ob es Krankheitssituationen
geben kann, welche ein menschenwürdiges Leben unmöglich
35
machen. Für die einen gehören zu einem menschenwürdigen
Leben gewisse Mindestbedingungen für autonome Lebensvollzüge. Für andere ist es Inbegriff der Menschenwürde, psychische Deformation und physische Entstellung nicht als Einschränkung der unverlierbaren Würde des Menschen zu betrachten.
36. Die Patientenautonomie verpflichtet Ärztinnen und Ärzte,
den Willen von Patientinnen und Patienten auch in der Form
einer Patientenverfügung ernst zu nehmen und umzusetzen,
auch und gerade wenn ein Verzicht auf bestimmte lebenserhaltende oder lebensverlängernde medizinische Möglichkeiten
gewünscht wird. Für Ärztinnen und Ärzte kann in bestimmten
Fällen daraus ein tiefer Gewissenskonflikt entstehen, weil sie
sich in ihrem Beruf zur Lebenserhaltung verpflichtet wissen. In
diesem Zusammenhang unterscheidet man aktive Sterbehilfe
(Tötung auf Verlangen), passive (Sterben lassen) und indirekte
Sterbehilfe (Therapien am Lebensende) sowie ärztlich assistierten Suizid. Die Diskussion um die passive Sterbehilfe gilt mittlerweile auf Grund von höchst richterlichen Urteilen als erledigt,
die Forderung nach Zulassung aktiver Sterbehilfe wird nur von
wenigen erhoben, umstritten bleibt auch nach der neuen gesetzlichen Regelung die Zulässigkeit von ärztlich assistiertem
Suizid.
37. Neben vielen anderen Argumenten spielt in der Debatte
um die Sterbehilfe auch die Berufung auf die Menschenwürde
eine zentrale Rolle. Die einen sehen es als Ausdruck menschlicher Würde an, auch über den Zeitpunkt des eigenen Todes
innerhalb des medizinisch und menschlich Machbaren entscheiden zu können. Die Achtung der Menschenwürde bemisst
sich dann daran, inwiefern der Selbstbestimmung der und des
Sterbenden entsprochen wird. Andere Positionen legen die
Menschenwürde so aus, dass kein Mensch über das Leben und
den Tod eines Menschen verfügen darf, auch nicht der einzelne
Mensch hinsichtlich seines eigenen Sterbens. Danach würde es
zur Achtung der Menschenwürde gehören, dass die Einzelnen in
36
ihrem individuellen Sterben möglichst intensiv nach ihren Wünschen begleitet werden und dass alle die Unverfügbarkeit von
Leben und Tod dabei respektieren. Eine weitere Interpretation
leitet aus der Menschenwürde die Pflicht zum Lebenserhalt ab.
Daraus folgt dann nach Auffassung mancher auch die Verpflichtung, lebenserhaltende und lebensverlängernde Maßnahmen
unter Umständen auch gegen den Willen des Patienten oder
der Patientin einzusetzen.
38. Die hier aufgezeigten verschiedenen gesellschaftlichen und
rechtlichen Debatten, die so vor Jahrzehnten noch nicht erkennbar waren, verweisen darauf, wie wichtig der WürdeBegriff zur humanen Selbstverständigung ist. Zugleich wird
deutlich, wie sehr es auf die genaue Begründung und Interpretation des Würdebegriffs ankommt, wenn er zu einer konkreten
Orientierung helfen soll. Die Pluralität und die Konkurrenz unterschiedlicher Vorstellungen machen aber auch klar, wie umstritten der Menschenwürde-Begriff ist. Die christlichen Kirchen
erkennen heute an, dass die Rede von der Menschenwürde
konfessionell bestimmten Begründungsmustern folgte. Diese
konfessionelle Herangehensweise ließ vielfach offen, wie weit
die ökumenische Gemeinsamkeit reicht.
37
2.
Prinzipien der ethischen Urteilsbildung
im Lichte konfessioneller Traditionen
2.1
Unterschiedliche konfessionelle Zugänge
zur ethischen Reflexion
39. Weit verbreitet ist die Überzeugung, dass evangelische
Ethik in Grundlegung und Konkretisierungen andere Optionen
bereithält als die katholische Moraltheologie. Nicht selten werden in dieser konfessionellen Gegenüberstellung einseitige
Zuschreibungen vorgenommen: Evangelische Ethik habe den
einzelnen Menschen mit seiner unvertretbaren, freien Gewissensentscheidung im Blick, während die katholische Morallehre
universal gültige Normen aufrichte und durch das Lehramt
autoritativ verkünde. Solche konfessionellen Typisierungen beherrschen die öffentliche Diskussion in hohem Maße. Notwendig sind allerdings Differenzierungen und Präzisierungen, die
schematische Abgrenzungen vermeiden und Gemeinsamkeiten
wie Unterschiede genau bestimmen.
40. Aus der Geschichte der Disziplinen leitet sich der Umstand
her, dass auf katholischer Seite traditionell von Moraltheologie,
auf evangelischer aber von Ethik gesprochen wird. Doch ist aus
diesem Unterschied in der Begrifflichkeit kein Gegensatz in der
Sache abzuleiten. Durchweg geht es um die Beurteilung ethischer respektive moralischer Phänomene, um die Begründung
von Werten und Normen sowie um die Motivation zum Handeln im Interesse anderer und zum Wohl des Ganzen. In der
evangelischen und der katholischen Theologie haben sich allerdings unterschiedliche Gestaltungen ethischer Konzepte und
Typen ethischer Argumentation herausgebildet. Einige der
wichtigsten sollen hier unter dem Aspekt diskutiert werden,
inwiefern sie konfessionell geprägt sind und wie sie in einem
ökumenischen Dialog verstanden werden können (2.5).
39
41. In dieser Studie werden die theologischen Grundlegungen
der Ethik behandelt, und zwar sowohl in den Beziehungen zwischen Schrift und Tradition als auch bezogen auf die Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium (2.3). Beides sind
klassische Parameter konfessioneller und ökumenischer Theologie. Außerdem untersucht der Text auch die Bedeutung der
nicht-theologischen Wissenschaften für die theologische Urteilsbildung (2.4). Wegen ihrer besonderen Brisanz werden am
Schluss die innerkirchlichen Beziehungen unter dem Aspekt
behandelt, wie das menschliche Gewissen in seinen Beziehungen einerseits zum freien Diskurs der Meinungen, andererseits
zur kirchlichen Autorität beschrieben werden kann (2.6).
42. Für eine Verständigung über grundlegende Fragen der
gesellschaftlichen Orientierung, wie sie hier im Blick auf die
Menschenwürde vorgenommen wird, ist eine ökumenische
Perspektive leitend. In jüngerer Zeit ist eine positive Veränderung in den Dialogbemühungen festzustellen. Es wächst zunehmend die Einsicht, dass gemeinsame Bemühungen um ein
wechselseitiges Verstehen der unterschiedlichen Formen bei
der ethischen Urteilsbildung die gesamte christliche Gemeinschaft bereichern. Unterschiedlichen Traditionen in der ethischen Urteilsbildung wird respektvolle Aufmerksamkeit geschenkt. Im Blick auf konfessionelle Prägungen der ethischen
Urteilsbildung gilt es, den gegenwärtig viel besprochenen
Grundansatz des „Receptive Ecumenism“ zu würdigen, der sich
in Verwandtschaft mit der „Ökumene der Gaben“ weiß: Die der
eigenen Tradition fremde Umgangsweise mit einer Thematik
wird vom eigenen Standpunkt mit der Bereitschaft zur Wertschätzung und als mögliche Bereicherung des eigenen Horizonts
betrachtet. Dies schließt den Streit bei alternativen Positionen
im zweiten Schritt nicht aus. Angesichts der hohen Bedeutung
der weltweiten ökumenischen Bemühungen, gemeinsam mit
einer Stimme in Fragen der christlichen Ethik zu sprechen, wird
deutlich, wie eng diese Herausforderung mit Grundfragen der
Kirchenlehre verbunden ist. Aber nicht immer sind es konfessionelle Differenzen, die zu bedenken sind; vielmehr zeigen sich
40
im Blick auf das Verständnis zum Beispiel von Ehe, Familie und
Sexualität auch deutlich kultur- und mentalitätsgeschichtliche
Unterschiede innerhalb einer Konfession.
2.2
Wachsende ökumenische Verständigung
in der ethischen Reflexion
2.2.1 Ethische Urteilsbildung als gemeinsame Aufgabe
der Kirchen
43. Die Grundlagenbesinnung auf die Prinzipien der ethischen
Urteilsbildung wird im ökumenischen Dialog inzwischen als
zukunftsweisend betrachtet. Auf internationaler Ebene ist die
katholische Kirche derzeit insbesondere im multilateralen ökumenischen Kontext an Studienprozessen mitbeteiligt, deren Ziel
es ist, Fragen der Anthropologie und der Ethik in den Blickpunkt
des Interesses zu rücken. Die Gemeinsame Arbeitsgruppe des
Ökumenischen Rates der Kirchen und der Römisch-katholischen
Kirche (Joint Working Group) hatte bereits 1987 damit begonnen, den sozialethischen sowie den individualethischen Fragestellungen verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken. Eine doppelte Perspektive war dabei von Beginn an leitend: Fragen der
Ethik könnten sich als Quelle sowohl noch weitergehender
Entfremdung als auch als eine Ermutigung zu einer neuen Verpflichtung zum gemeinsamen gesellschaftlichen Zeugnis erweisen. 1995 kam dieses Studienprojekt zum Abschluss und wurde
unter dem Titel „The Ecumenical Dialogue on Moral Issues“8
veröffentlicht. Angesichts der Komplexität der Thematik verzichtet die genannte Studie auf eine Analyse spezifischer Kont8
World Council of Churches/Joint Working Group, The Ecumenical
Dialogue on Moral Issues, in: Ecumenical Review 48 (1996), S. 143-154;
deutsche Übersetzung: Der ökumenische Dialog über ethischmoralische Fragen: Potenzielle Quellen des gemeinsamen Zeugnisses
oder der Spaltung. Ein Studiendokument der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der Römisch-Katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates
der Kirchen, in: DWÜ 3, S. 682-698.
41
roversen und die Formulierung materialer ethischer Normen.
Stattdessen wird eine Situationsanalyse sowie eine Reflexion
auf mögliche künftige Wege in den Dialogen über Fragen der
Ethik vorgenommen. Einer Verständigung in inhaltlichen Themenbereichen der Ethik gehen grundsätzliche Reflexionen voraus.
44. Die Studie der Gemeinsamen Arbeitsgruppe verweist auf
die Schwierigkeit einer angemessenen Hermeneutik der biblischen Zeugnisse und erinnert an die Unterscheidung zwischen
„(unveränderlichen) Prinzipien ersten Ranges“ sowie „(gegebenenfalls veränderbaren) Regeln zweiten Ranges“. In diesem
Zusammenhang erscheint die konfessionell unterschiedliche
Berufung auf die menschliche „Natur“ sowie auf das „natürliche
Sittengesetz“ von vorrangiger Bedeutung. Mehrfach kommt das
Dokument auf die ekklesiologischen Implikationen der ethischen Urteilsbildung zu sprechen: Zwar gilt: „Die Ausbildung
von Moral und Ethos ist eine Aufgabe, die allen Kirchen gemein
ist. Alle Kirchen versuchen, das ethische Verantwortungsbewusstsein ihrer Glieder für ein Leben in Gerechtigkeit zu stärken
und die ethischen Normen und das sittliche Wohl der Gesellschaft, in der sie leben, positiv zu beeinflussen.“9 Zugleich aber
gibt es in den Kirchen „verschiedene kirchliche Autoritätsstrukturen für eine ethisch-moralische Urteilsbildung.“10 Zehn „Leitlinien für den ökumenischen Dialog über ethisch-moralische
Fragen“ stehen am Ende des Dokuments: Aufrufe zu gegenseitigem Verständnis und Respekt; die Selbstverpflichtung, Ideale
nur mit Idealen zu vergleichen und auf einen Nachweis von
erlebten Unzulänglichkeiten in den anderen Traditionen zu
verzichten; die Erwartung, dem gemeinsamen Erbe mit Wertschätzung zu begegnen; die gemeinsame Bereitschaft zum gesellschaftlichen Diskurs.11
9
Ebd., S. 687.
Vgl. ebd., S. 690-693.
11
Ebd., S. 696-698.
10
42
45. Im bilateralen ökumenischen Dialog auf internationaler
Ebene zwischen der Römisch-katholischen Kirche und dem
Lutherischen Weltbund kam im Kontext der „Gemeinsamen
Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GER) zur Sprache, dass die
„Beziehung zwischen Rechtfertigung und Sozialethik“ noch
weiterer Klärung bedarf. Im Blick auf individualethische Fragen
gilt es zu prüfen, welche Relevanz die im evangelisch-lutherisch/römisch-katholischen Gespräch auf internationaler Ebene
in jüngster Zeit erarbeitete Studie zur bibeltheologischen Begründung der erreichten Konvergenz in der Rechtfertigungslehre im Blick auf das Verständnis von Anthropologie und Ethik
hat.12
46. Die seit der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates
der Kirchen (ÖRK) in Vancouver 1983 verstärkten Anstrengungen zu einer Annäherung der ekklesiologischen und der ethischen Fragen haben in den Folgejahren eine entsprechende
Schwerpunktsetzung in den Studienprogrammen von Faith and
Order bewirkt.13 Bei der 5. Vollversammlung von Faith and
Order 1993 in Santiago de Compostela wurde dieses Anliegen
bekräftigt. Die Ergebnisse der im Anschluss initiierten Konsultationen wurden 1997 unter dem Titel „Ecclesiology and Ethics“
veröffentlicht.14 Dieser Sammelband dokumentiert die Berichte
über drei Konsultationen zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts und präsentiert namentlich gekennzeichnete Reflexionen auf das gesamte Studienprojekt. Bei aller Anerkenntnis
der Schwierigkeiten, die mit einer engeren Verbindung zwischen den seit Beginn der Ökumenischen Bewegung eher ge12
Vgl. W. Klaiber (Hrsg.), Biblische Grundlagen der Rechtfertigungslehre. Eine ökumenische Studie zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, Leipzig/Paderborn 2012.
13
Vgl. World Council of Churches (Hrsg.), Church and World. The Unity
of the Church and the Renewal of Human Community. A Faith and
Order Study Document, Genf 1990.
14
Vgl. T. F. Best/M. Robra (Hrsg.), Ecclesiology and Ethics. Ecumenical
Ethical Engagement. Moral Formation and the Nature of the Church,
Genf 1997.
43
trennten zwei Wegen der Ökumene – der sogenannten Sozialökumene auf der einen Seite und der Suche nach institutioneller sichtbarer Kircheneinheit auf der anderen Seite – verbunden
sind, sieht sich Faith and Order angesichts des eigenen Bemühens um eine Verbindung dieser beiden Perspektiven auf dem
richtigen Weg: „The Right Direction, but a Longer Journey“.15
47. In Fortführung des begonnenen Weges und unter Aufnahme des in der 8. Vollversammlung des ÖRK 1998 in Harare geäußerten Anliegens, die Fragen der menschlichen Sexualität
intensiver zu bedenken, veröffentlichte Faith and Order 2005
ein Studiendokument zur christlichen Anthropologie.16 In
Wahrnehmung der gegenwärtigen Herausforderungen angesichts der vielfältigen Beschädigung der Würde, insbesondere
von kranken sowie an der Entfaltung ihrer Lebenswünsche
gehinderten Menschen, optiert das Dokument auf der Basis der
biblischen Botschaft von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen für ein gemeinsames ethisches Engagement der Kirchen.
Von hier aus hat Faith and Order unter dem Arbeitstitel „Moral
Discernment in the Churches“ von 2007 an weitere Überlegungen mit einer neuen Methodik begonnen: Fall-Studien (case
studies) sollen ermöglichen, einen besseren Einblick in die Erkenntnis leitenden Prinzipien der ethischen Urteilsbildung zu
gewinnen. Auf der Grundlage der Überzeugung, dass ökumenische Kontroversen in ethischen Fragen auf vielfältige Faktoren
zurückzuführen sind, kann dieser Zugang zu exemplarischen
Kontroversen biografische Aspekte als Quelle der Erkenntnis
methodisch innovativ aufgreifen. Eng verbunden mit dieser
Methodenwahl ist die Frage, wer das Subjekt in kirchlichen
Entscheidungsfindungsprozessen ist. Zugleich soll durch diese
Fall-Studien deutlicher werden, welche aus der theologischen
15
Vgl. L. Rasmussen, The Right Direction, but a Longer Journey, in:
ebd., S. 105-111.
16
Vgl. World Council of Churches (Hrsg.), Christian Perspectives on
Theological Anthropology. A Faith and Order Study Document, Genf
2005.
44
Tradition vertrauten Argumentationsformen in welchen Zusammenhängen Erkenntnisrelevanz gewinnen.
2.2.2 Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums
als Grundlage der gemeinsamen ethischen
Verständigung
48. Die von der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz
gemeinsam herausgegebenen Texte zu ethischen Fragen lassen
das in vielen Jahren gewachsene Bewusstsein einer ökumenischen Gemeinsamkeit im Glauben an den dreieinen Gott mit
besonderer Klarheit hervortreten. Hier ist die gemeinsame
Überzeugung leitend, nach der die Kirchen aus dem Wort Gottes leben, wie es ihnen ursprünglich im Zeugnis der Heiligen
Schrift gegeben ist. Bei aller Differenz über Umfang und Auslegung der Heiligen Schrift sowie im Verständnis der Tradition
und der Traditionen gibt es keinen Dissens im Verständnis der
Grundbotschaft der Bibel und ihrer Bezeugung in der lebendigen Überlieferung des Glaubens. Mehr als einmal wird herausgestellt: Der Mensch kann allein auf die Treue und die Zuwendung Gottes, auf seine Gnade und Barmherzigkeit vertrauen.
Als Grundlage der Verständigung in ethischen Fragen wird die
Autorität der Heiligen Schrift anerkannt. Damit folgen die Dokumente der inzwischen im ökumenischen Dialog fest verankerten Einsicht in die gemeinsame Art und Weise, auf das Wort
Gottes in der Heiligen Schrift zu hören, so wie diese Einsicht in
der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“17 ausgedrückt wird.
49. Vor dem Hintergrund einer über anderthalb Jahrzehnte
gewachsenen Praxis gemeinsamen Sprechens in sozialen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Problemkontexten lassen sich einige entscheidende Kernbereiche
17
DWÜ 3, S. 419-441; Klaiber, Biblische Grundlagen (siehe Anm. 12).
45
herausstellen, in denen sich Verständigungen in prinzipieller
Hinsicht eingestellt haben.
2.2.3 Gottebenbildlichkeit als Fundamentalartikel
Theologischer Anthropologie
50. Mit bemerkenswerter Klarheit und zugleich konsequent
gehen die neueren sozialethischen Dokumente von einem gemeinsamen christlichen Verständnis des Menschen aus. Das
Dokument „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“
spricht gar vom „Menschenbild des Christentums“, welches „zu
den grundlegenden geistigen Prägekräften der gemeinsamen
europäischen Kultur“18 gehöre. Der Ansatz zur Darstellung der
Perspektiven und Impulse für weltgestaltendes Handeln stellt in
allen Dokumenten die Würde des Menschen als Person dar:
„Der Mensch ist Person. Das ist Grundlage für alle ethischen
Aussagen.“19 Hierbei wird nicht nur auf die christliche Tradition
verwiesen, sondern die abendländische Geistes- und Kulturgeschichte gleichermaßen in Anspruch genommen. Dieser Fundamentalartikel jeder Ethik – ob christlich oder nicht – bildet
den unhintergehbaren Ausgangspunkt für den Gang der Argumentation. Dabei wird konzediert, dass sich der Personbegriff
sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch innerchristlich
und zwischenkirchlich als pluriform erweist. Dennoch wagt das
Dokument „Gott ist ein Freund des Lebens“ eine gemeinsame
Begriffsklärung, auf die sich alle späteren Dokumente beziehen.
Erst von ihrer Ausrichtung auf den Menschen und seine Würde
her bekommen die verschiedenen ethischen Konzepte wie
Tugend-, Normen-, Verantwortungs- und Güterethik ihre Relevanz, insofern es aus christlicher Sicht der Mensch ist, um dessentwillen gehandelt werden muss.
18
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1),
Nr. 92; vgl. auch „... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“ (siehe
Anm. 1), Nr. 97.
19
Ebd., Nr. 115.
46
2.2.4 Sozialverkündigung als gemeinsame ökumenische
Aufgabe der Kirchen
51. Weil die Kirche aus dem Wort Gottes lebt, liegt ihr daran,
die ihr anvertraute Botschaft der Bibel unter den gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen der Gegenwart und in
Auseinandersetzung mit ihr den Menschen zu Gehör zu bringen.
„Die Verkündigung des Wortes Gottes, seine Zuwendung zu
allen Menschen, steht im Mittelpunkt kirchlichen Handelns.“20
Dieser Aufgabe wissen sich die christlichen Kirchen in gemeinsamem Zeugnis und Dienst verpflichtet. Es ist dabei die besondere Aufgabe der Kirchen, das Grundvertrauen auf Gottes Zusagen und seine Gnade zu verkündigen und damit eine Grundorientierung des Lebens zu eröffnen.21 Der Beitrag des christlichen
Glaubens besteht demnach darin, im Vertrauen auf die Gnade
Gottes Lebenszuversicht zu schaffen. „Der Glaube will zum
Leben ermutigen.“22 Insoweit schließt der kirchliche Auftrag die
Verkündigung der christlichen Glaubensbotschaft von Gottes
Gnade und Heil ebenso ein wie die Sorge für den einzelnen
Menschen und die öffentliche Verantwortung für eine menschenwürdige, freie, gerechte und solidarische Ordnung.23 Damit zeichnet sich als gemeinsame Position unter den Kirchen
ab: Angesichts der komplexer werdenden ethischen Herausforderungen in der Moderne bleibt es primärer Auftrag der Kirchen, den Menschen das Evangelium zu verkündigen, um die
biblische Botschaft unter den Menschen zu verbreiten. Im Zusammenhang mit der Debatte über die Rechtfertigungslehre
hat der ökumenische Dialog aufgezeigt, dass die Kirchen gemeinsam Konsequenzen aus der Rechtfertigungsbotschaft für
die Welt ziehen können und müssen. Die besondere Verantwortung für gesellschaftliche und politische Fragen steht außer
20
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1),
Nr. 253.
21
Wieviel Wissen tut uns gut? (siehe Anm. 6), S. 19f. (Nr. 5).
22
Ebd.
23
„... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“ (siehe Anm. 1), Nr. 211.
47
Zweifel. „Die Kirchen können ihren besonderen Beitrag dazu
umso überzeugender geben, je mehr es ihnen gelingt, die Botschaft von der Liebe Christi einmütig zu bezeugen.“24 Die Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums und die Verkündigung der Kirchen in sozialen Fragen hängen eng miteinander
zusammen und lassen sich nicht voneinander trennen.
52. Von diesem primären Auftrag unterschieden, gleichwohl
aber unmittelbar daraus folgend, wird es als eine wichtige Aufgabe der Kirchen verstanden, zur Gewissensbildung des und der
Einzelnen beizutragen, um damit ein selbstständiges ethisches
Urteil zu ermöglichen.25 In gleicher Weise vom primären Auftrag
der Verkündigung unterschieden, aber nicht getrennt, gehört es
zu den Aufgaben der Kirchen, für eine der biblischen Botschaft
und dem christlichen Glauben verpflichtete Wertorientierung
einzutreten. Der kirchliche Beitrag besteht dabei darin, Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern.26 Die Kirchen sehen
ihre Kompetenz daher eher in einem aus dem christlichen Geist
erfolgenden Dienst an und in der Gesellschaft, nicht aber in der
Wahrnehmung unmittelbar politischer und ökonomischer Kompetenz. Insoweit betrachtet besteht in der Darstellung der Aufgabenbereiche der Kirchen in gesellschaftlicher und politischer
Hinsicht eine Übereinstimmung in der Erkenntnis, zwischen
primärer kirchlicher Verkündigung und sekundärer gesellschaftlicher Verantwortung zu unterscheiden.
2.3
Theologische Grundlegungen der
ethischen Reflexion
53. Die in den ökumenischen Gesprächen inzwischen erreichten weit reichenden Annäherungen in der Frage einer angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen der Heiligen Schrift
24
CS, Nr. 122.
Wieviel Wissen tut uns gut? (siehe Anm. 6), S. 18f. (Nr. 3).
26
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1), Nr. 5.
25
48
und der theologischen Tradition ist im Kontext anthropologischer Überlegungen in ethischen Fragen von hoher Bedeutung.
Hier muss das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, das für
die evangelisch-lutherische Tradition typisch ist, eigens thematisiert werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, in welchem
Verhältnis die Urteilskraft der menschlichen Vernunft zu biblischen Weisungen steht. Eigener Aufmerksamkeit bedarf die
Frage, welche Relevanz der Einbezug von nicht-christlichen
philosophischen Traditionen sowie von nicht-theologischen
Wissenschaften bei der ethischen Urteilsbildung hat.
2.3.1 Schrift und Tradition – eine theologische
Grundlagenbestimmung im ethischen Kontext
54. Als letzte Norm des Glaubens ist die Heilige Schrift das
Ursprungszeugnis der Wahrheit des in Jesus Christus geoffenbarten Gottes. Eine angemessene, ökumenisch konvergenzfähige Bestimmung des Verhältnisses von Schrift und Tradition
bildet die Überzeugung, dass das Wort Gottes als Heilige Schrift
selbst in den Überlieferungsprozess in der Glaubensgemeinschaft eingebettet ist. Die Weitergabe des Evangeliums in der
apostolischen Botschaft (das meint Tradition im Singular) ist
von den unterschiedlichen Entfaltungen der biblischen Botschaft in oft zeitbedingten, situativ wechselnden Herausforderungen bestimmt, in denen konfessionelle Eigenüberlieferungen (das meint Tradition im Plural) zu unterscheiden sind.27
55. Die stets erforderliche Rückbesinnung auf die Heilige Schrift
(als norma normans non normata) als Quelle aller heilsnotwendigen Wahrheit des Evangeliums und alleiniger Maßstab der
Verkündigung der Kirche hebt aus katholischer Sicht die Bedeutung des Einbezugs der Tradition (als norma normans normata)
27
Abschließender Bericht, in: Th. Schneider/W. Pannenberg (Hrsg.),
Verbindliches Zeugnis, III. Schriftverständnis und Schriftgebrauch,
Dialog der Kirchen, Bd. 10, Freiburg i. Br./Göttingen 1998, S. 288-389.
49
bei der theologischen Urteilsbildung nicht auf. Pointiert lehrt
das Zweite Vatikanische Konzil, dass die „Kirche ihre Gewissheit
[…] nicht aus der Heiligen Schrift allein […] schöpft“.28 Inhaltlich
(materialiter) bleibt die Schrift als alleinige Erkenntnisquelle
ausreichend, sofern es um die Heilswahrheit geht; methodisch
(formaliter) ist die Achtung der Traditionszeugnisse im kommunikativen kirchlichen Austausch ein Weg der beständigen
Selbstvergewisserung. Die Heilige Schrift bedarf der Auslegung
im Lebensvollzug der Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil hält
dabei ausdrücklich fest, dass das „Lehramt […] nicht über dem
Wort Gottes ist, sondern […] ihm [dient], indem es nichts lehrt,
als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem
Auftrag und mit dem Beispiel des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht
hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es
als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen
Schatz des Glaubens schöpft.“29 Die Tradition bildet keinen
inhaltlichen Zusatz zur Heiligen Schrift, sie ist aber unverzichtbar zum Verstehen der Heiligen Schrift. Eine ausdrückliche kritische Funktion der Heiligen Schrift gegenüber der Tradition hat
die Offenbarungskonstitution „Dei verbum“ nicht vorgesehen.
56. Wenn aus evangelisch-lutherischer Sicht das sola scriptura
betont wird, geht es gerade um die traditionskritische und in
diesem Sinn genuin reformatorische Funktion der Heiligen
Schrift. Es soll aber mit dem sola nicht ignoriert werden, dass
die Schrift selbst in einem Traditionsprozess entstanden ist und
durch Traditionen in der Kirche überliefert und bewahrt wird.
Auch muss die Schrift ausgelegt werden; so entstehen Traditionen. Auch die evangelische Exegese weiß aber um das Vorverständnis, das sie bei der Auslegung der Texte mitbringt und das
in einem unabschließbaren hermeneutischen Prozess bewusst
gemacht werden muss. Das sola scriptura betont die besondere
Funktion der Schrift als norma normans non normata; demgegenüber sind die kirchlichen Bekenntnisse norma normans
28
29
DV 9.
DV 10.
50
normata. Das sola scriptura stellt die Schrift insofern als kritische Instanz der Kirche gegenüber, als alle Verkündigung der
Kirche an ihrer Übereinstimmung mit der Schrift gemessen
werden muss. Die Heilige Schrift ist das Kriterium für kirchliche
Lehre und christliches Leben.
57. Diese grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Schrift und
Tradition hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Glauben und
Handeln. Die biblischen Schriften sind in einer Zeit entstanden, in
denen viele Fragen, die heute einer ethischen Beurteilung bedürfen, sich noch nicht stellten. Dies trifft insbesondere auf den
gesamten Bereich der durch Fortschritte der Medizin und Technik
bestimmten Handlungen des Menschen zu. Bei anderen Themenkreisen – wie Ehe, Familie und anderen Fragen des individuellen Lebens – sind zwischen den biblischen Zeiten und heute
Veränderungen auf der Ebene humanwissenschaftlicher und
psychologischer Erkenntnisse zu berücksichtigen, die sich bei der
ethischen Urteilsbildung auswirken. Hier bedarf es der grundlegenden hermeneutischen Überlegung, in welcher Weise die biblischen Weisungen angesichts ihrer geschichtlichen Kontextualität
und angesichts neuer Entwicklungen heute zu verstehen und
aufzunehmen sind. Eine solche Hermeneutik der Aktualisierung
kann im Ansatz nicht fraglich sein, weil die Bibel in allen Bereichen des Glaubens und der Moral immer auf eine aktualisierende Auslegung angewiesen ist. Allerdings gibt es Differenzen
über die Kriterien und die Ergebnisse dieser Aktualisierung. Teils
bestehen sie zwischen den Konfessionen, nicht selten aber auch
innerhalb der Konfessionen. Die Konsequenz kann nur in einer
vertieften Schrifthermeneutik bestehen. Hierfür gibt es auf evangelischer30 wie auf katholischer31 Seite neue Überlegungen. In
30
M. Bünker/M. Friedrich (Hrsg.), Gesetz und Evangelium. Eine Studie,
auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen, Leuenberger Texte, Heft 10, Frankfurt a.M. 2007.
31
Päpstliche Bibelkommission, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des
christlichen Handelns (11. Mai 2008), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 184, Bonn 2009.
51
dieser Studie wird die Schrifthermeneutik nicht als solche thematisiert. Aber unter dem Aspekt der Menschenwürde und ihrer
theologischen Bedeutung für die Ethik wird das Zeugnis der Heiligen Schrift in einer ökumenisch gemeinsamen Arbeit exegetisch
erhoben (in 3.1) und theologisch erschlossen (in 3.2).
2.3.2 Gesetz und Evangelium – eine theologische
Unterscheidung im ethischen Kontext
58. Die durch die Reformation Martin Luthers geprägte Theologie hat die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zum
Kriterium rechter Schriftauslegung gemacht. Die Zuordnung von
Gesetz und Evangelium wird zur bleibenden theologischen
Aufgabe. Sie ist nicht mit dem Gegensatz zwischen Altem und
Neuem Testament identisch, wie bisweilen missdeutet wird. Sie
hat auch nichts mit den Unterschieden zwischen jüdischer und
christlicher Exegese zu tun. Sie ist vielmehr eine spezifische
Ausprägung christlicher Schrifthermeneutik, die das Gesetz in
seiner richtenden Funktion vom Evangelium unterscheidet, der
„Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt“ (Röm 1,16f.).
59. Diese Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium hat
Konsequenzen für die ethische Fragestellung. Gebote stehen aus
lutherischer Sicht keineswegs eo ipso im Verdacht der Gesetzlichkeit. Wenn sie dem Evangelium entsprechen, leiten sie die Glaubenden vielmehr an, nach den Weisungen Gottes zu leben. Freilich kann mit dem Halten der Gebote das Heil nicht verdient
werden. Dennoch ist das Verhalten nicht ins Belieben gestellt. Die
guten Werke sind die Folge der Rechtfertigung, nicht deren Voraussetzung. Gebote werden im Glauben erfüllt; dies geschieht
im Wirken des Heiligen Geistes. So soll das von Gott kommende
Gute an die Menschen weitergegeben werden und die Gemeinschaft, in der Christinnen und Christen leben, bereichern.32
32
Die lutherische Zuordnung von Gesetz und Evangelium, in: Gesetz
und Evangelium (siehe Anm. 30), S. 23-35.
52
60. Die katholische Moraltheologie kennt diese Unterscheidung
von Gesetz und Evangelium aus ihrer eigenen Tradition nicht.
Sie hat in ihren traditionellen Handbüchern nach einer philosophischen, nicht aber nach einer biblischen Grundlegung der
christlichen Ethik gesucht. Man spricht daher sogar von einer
traditionellen Schriftvergessenheit katholischer Moraltheologie.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat deshalb zu Recht eine Erneuerung der Moraltheologie aus den biblischen Quellen gefordert. Moraltheologie soll, aus der Lehre der Schrift reicher genährt, wissenschaftlich dargelegt werden.33 Die Bibel enthält
die Verkündigung der Heilsbotschaft des Evangeliums. Dazu
gehört auch die Ethik. Die Verkündigung des Heilshandelns
Gottes geht allen Geboten voran. Die Hermeneutik der Gebote
muss deshalb ihren Zusammenhang mit der grundlegenden
Heilsverkündigung wahren. Die Auslegung der Heiligen Schrift
ist im Blick auf die ethischen Fragen auf den in der Schrift erhobenen Anspruch Gottes an den Menschen ausgerichtet. So
betrachtet, ist auch der katholischen Moraltheologie der unterschiedliche Gebrauch des einen Wortes Gottes vertraut. Die
Heilige Schrift enthält die Gebote der Tora, die von Jesus nicht
aufgelöst, sondern erfüllt werden (Mt 5,17-20); sie überliefert
die Ethik Jesu, die von seinem eigenen Verhalten geprägt ist; sie
bezeugt auch die Gebote der Apostel, die das Evangelium in
seinem ethischen Anspruch in einem anderen historischen
Kontext neu entdecken. Die Moraltheologie bezieht diese Gebote auf die verschiedenen Lebenssituationen der Menschen.
Deswegen ist auch in der katholischen Moraltheologie von
einem spannungsreichen Verhältnis zwischen dem Reich Gottes, dem umfassenden Heilsbegriff, und Ethik, der konkreten
Lebensorientierung, die Rede. In diesem Horizont öffnet sich
auch ein Zugang der katholischen Theologie zum lutherischen
Konzept von Gesetz und Evangelium, wenn es mit der neueren
Diskussion ökumenisch ausgelegt wird. Das Miteinander von
Verkündigen und Lehren spielt dabei eine ausschlaggebende
Rolle. Wenn die katholische Theologie die positive Funktion des
33
OT 16.
53
Gesetzes in den Vordergrund stellt, Gottes gerechten Willen zu
bezeugen, geschieht dies auf der Basis des Evangeliums, das mit
dem Wort Jesu zu Umkehr und Glauben fordert (Mk 1,15).
2.4
Erkenntnisse durch das Gespräch mit
nicht-theologischen Wissenschaften
61. In allen Fragen der Individual- wie der Sozialethik erscheint
es heute nicht nur angeraten, sondern geradezu geboten, das
Gespräch mit den nicht-theologischen Wissenschaften zu suchen. Ein solches Vorgehen ergibt sich aus der Erkenntnis, dass
menschliche Lebens- und Entscheidungsbereiche heute im
hohen Maße durch technische und wissenschaftliche Fortschritte und Erkenntnisse geprägt sind. Aufgrund der Komplexität der
zur Entscheidung anstehenden Fragen sind fachkundige Stellungnahmen oder Expertisen von Fachleuten unumgänglich. Für
die katholische Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich dazu ermutigt, die Autonomie der Wissenschaften in
ihrem Sachurteil zu respektieren. Auch die lutherische Theologie kann aufgrund ihrer Würdigung der Vernunft für den Umgang des Menschen mit seiner Welt andere, nicht-theologische
Wissenschaften in ihrer Funktion für die Gestaltung des Lebens
anerkennen. Zu klären ist dabei freilich jeweils, wie in die wissenschaftlich und technisch orientierten Sachentscheidungen
der Horizont des Gottesbezuges integriert werden kann.
62. Unter den nicht-theologischen Wissenschaften sind vor
allem jene, die unter dem Begriff der „Lebens- oder Humanwissenschaften“ zusammengefasst werden können, für die Theologie von besonderer Bedeutung. Im weiteren Sinn sind auch die
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angesprochen. Hier werden über die medizinischen und technischen Bereiche hinaus
relevante Lebensbereiche in den Blick genommen, die auf ethische Orientierungen angewiesen sind. Diese nicht in jeder Hinsicht klare Terminologie macht darauf aufmerksam, dass einzelne wissenschaftliche Disziplinen – vorrangig die Medizin oder
54
die Psychologie – das menschliche Leben zum Gegenstand der
wissenschaftlichen Betrachtung haben. Dabei sind nicht nur die
Bedingungen der rein vitalen Existenz im Blick, vielmehr richtet
sich heute in der Medizin das Augenmerk auf die psychosozialen Rahmenbedingungen des Lebens. In sehr differenzierter Weise werden die fördernden und die schädlichen Einflüsse
auf die Lebensgestaltung, die sich in Langzeitstudien erkennen
lassen, bedacht. Neben der Medizin erheben die Rechtswissenschaften den Anspruch, einen Beitrag zur ethischen Urteilsfindung in der Gesellschaft zu leisten. Die Bewahrung des Lebens
möglichst vieler Menschen steht im Mittelpunkt des Interesses
einer Reihe unterschiedlicher Wissenschaften und Wissenschaftsbereiche.
2.5
Grundformen ethischer Argumentation
im Christentum
63. Jede ethische Verständigung bezieht die Darstellung und
Profilierung verschiedener tradierter philosophischer und theologischer Theorien vom richtigen und guten Leben ein. Ethische
Theorien und Konzeptionen werden oft konfessionell anders
bewertet. Auch wenn sich philosophische und theologische
Ethikkonzeptionen in ihren Begründungen unterscheiden, weisen sie doch schon aufgrund ihrer gemeinsamen Geschichte
Parallelen auf. Den Kirchen geht es darum, im pluralen Diskurs
theologisch-ethische Positionen so zu formulieren, dass sie als
Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Urteilsbildung wahrgenommen werden können. Im Folgenden werden einige grundlegende ethische Orientierungen beschrieben, die in öffentlichen Debatten vielfach Anwendung finden. Dabei zeigt sich,
dass sich die grundlegenden Orientierungen vielfach überlappen können und sich gegenseitig nicht ausschließen müssen.
64. Die folgende Diskussion von verschiedenen normativen
Ansätzen will im Blick behalten, dass Prinzipien und Einzelnormen unterschieden werden müssen. Die Findung und Statuie55
rung von Normen geschieht nicht über eine reine Ableitung aus
Grundprinzipien. Ethische Urteilsbildung erschöpft sich auch
nicht allein in der Anwendung von Normen. Eine gründliche
Analyse der Situation spielt für die ethische Urteilsbildung
ebenfalls eine entscheidende Rolle. Aus christlicher Sicht haben
ethische Normen ihre Aufgabe darin, den Anderen und sein
Wohl wahrzunehmen und ins Zentrum der ethischen Reflexion
zu stellen. Ethische Normen sind aus christlicher Sicht nicht um
ihrer selbst willen interessant. Überdies ist beim Urteil darüber,
was zu tun ist, eine realistische Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeiten notwendig.
2.5.1 Naturrecht und natürliches Sittengesetz
65. In der neueren katholischen Moraltheologie ist eine naturrechtliche Argumentationsweise zur Begründung konkreter
Handlungsnormen weithin zugunsten anderer Argumentationsweisen aufgegeben worden. Wenn sie überhaupt noch Verwendung findet, geschieht dies in kritisch-reflektierter Form. Es
gibt aber auch Bemühungen, zu einer differenzierten Sicht des
Naturrechts und des natürlichen Sittengesetzes zu finden.34 Die
moraltheologische Erneuerung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil richtete ihr Augenmerk auf die produktive Auseinandersetzung mit der Vorstellung von der unhintergehbaren
Autonomie des Menschen in ethischen Fragen. Damit war keineswegs vordergründig gemeint, die moraltheologischen Vorgaben aus dem Kontext der kirchlichen Lehrverkündigungen
herauszuziehen, sondern die Vernunftgemäßheit, die Rationalität und die Wahrheitsfähigkeit sittlicher Aussagen zu ermöglichen. Dieser Einsicht liegt die Überzeugung zugrunde, dass es
eine der Wirklichkeit innewohnende Wahrheit oder Vernünftigkeit gibt, die erkennbar, aussagbar und mitteilbar ist. Diese
34
Internationale Theologische Kommission, Auf der Suche nach einer
universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz, Rom
2009.
56
Rationalität der Wirklichkeit besitzt ihre eigene Autonomie. Das
Zweite Vatikanische Konzil sprach deshalb auch ganz bewusst
von einer gewissen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten.35
Sittliche Urteile sind formulierbar, verstehbar, anwendbar. Die
wissenschaftliche Theologie hat bei ihrer methodischen Neuorientierung ganz auf die Rationalität der moralischen Normen
und Urteile gesetzt. Solche Artikulationen der Vernunft sind
keine beliebig formbaren Gegenstände, sondern entspringen
der menschlichen Praxis und geben Erfahrungen und geschichtliches Wissen weiter.
66. Ausgangspunkt eines heutigen katholischen Naturrechtsdenkens ist die universale Suche nach einer gemeinsamen ethischen Sprache, die alle Menschen betrifft.36 Naturrechtsethik
will universale Ethik sein. Es geht hierbei um Grundorientierungen eines sittlich-moralischen Handelns, das Übereinstimmungen mit der Natur der menschlichen Person sucht. Aufgrund des
universalen Anspruches des modernen Naturrechtsdenkens ist
klar, dass das Christentum selbst kein Monopol für das natürliche Sittengesetz besitzt. Dieses gründet in der allen Menschen
gemeinsamen Vernunft. Das Naturgesetz will daher auch keinen
Sonderbereich der allgemeinen Ethik darstellen, sondern zielt
von Anfang an auf die Universalität ethischer Fragestellungen.
Das natürliche Sittengesetz ist kein geschlossenes und vollständiges Ganzes sittlicher Normen. Ausgangspunkt der grundlegenden Orientierung ist die schon bei Thomas von Aquin vorzufindende Einsicht des Naturrechts, das Gute zu tun und das
Böse zu unterlassen. Freilich bleibt das Naturrecht nicht bei
dieser Allgemeinheit stehen. Es setzt daher darauf, aus der
Allgemeinheit des Gesetzes herauszutreten. Drei wesentliche
Gesichtspunkte macht das heutige katholische Naturrechtsdenken dabei geltend: die eigene Existenz zu erhalten und zu entwickeln, das Überleben der Art zu realisieren und zu sichern,
mit allen Menschen guten Willens in den Dialog zu treten. Da35
36
GS 36.
Auf der Suche nach einer universalen Ethik (siehe Anm. 34), Nr. 3.
57
bei ist insgesamt die Geschichtlichkeit des natürlichen Sittengesetzes zu berücksichtigen. Die traditionelle katholische Moraltheologie verstand sich vorwiegend als Gesetzesethik, in
deren Zentrum der Gedanke der Gebotserfüllung steht. Heutige
Moraltheologie vollzieht im Unterschied zu einer solchen Gesetzesethik die Idee der Vernünftigkeit und vernünftigen Begründbarkeit von Normen.
67. Auch die reformatorische Theologie hat in ihrer Geschichte
ein Naturrecht vertreten, obwohl sie es immer wieder scharf
kritisiert, ja auch verworfen hat. Im Anschluss an Röm 1,19 war
sie davon überzeugt, dass Gott im Herzen und Gewissen aller
Menschen sein Gebot eingeschrieben hat. Dieses in seiner inhaltlichen Gestalt nicht von kulturellen, historischen oder religiösen Kontexten abhängige Gebot Gottes gilt immer und überall.
Zu diesem Naturrecht gehören die Zehn Gebote, die Goldene
Regel und die Aequitas. Für Luther gehören auch die drei Stände, in welche die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts gegliedert
war, in den Bereich des Naturrechts. Das Handeln der und des
Glaubenden orientiert Luther freilich am Evangelium, nicht am
Gesetz, insofern durch den Glauben an die Rechtfertigung der
Mensch frei wird für die Liebe Gottes und des Nächsten. Nicht
eine allgemeine Norm, sondern die konkrete Not des Anderen
soll das Handeln des Christen leiten. Naturrecht hat daher seine
Funktion im Bereich des weltlichen Regimentes Gottes. Im Bereich des geistlichen Regimentes gilt jedoch uneingeschränkt
das Evangelium. In der späteren evangelischen Theologie gab es
im Kontext der Kritik an der Natürlichen Theologie eine starke
Ablehnung naturrechtlichen Denkens, insofern Argumentationsformen natürlicher Theologie zur Unterstützung einer nationalsozialistischen Rasse- und Volksideologie herangezogen wurden. Dem naturrechtlichen Denken wurde entgegengehalten,
dass nur eine strikt christologische Orientierung es ermögliche,
eine Begründung jeder beliebigen ethischen Norm durch naturrechtliche Überlegungen zu verhindern. Neuere Beiträge vor
allem aus der skandinavischen Lutherforschung haben eine
lutherische Konturierung naturrechtlichen Denkens vorgelegt,
58
die insbesondere der Begründung der Universalität der Menschenrechte dienen kann.
2.5.2 Verantwortungsethik
68. Jede ethische Orientierung sucht danach, der Verantwortung des Menschen für seinen und ihren Nächsten gerecht zu
werden. Während natur- oder vernunftrechtlich geprägte Ethik
stärker die Prinzipienorientierung des Handelns einfordert,
rückt eine Verantwortungsethik die Begegnung mit dem Anderen in den Mittelpunkt. Der Begriff der Verantwortung richtet
sich deshalb an der Relation aus. In diesem Sinne orientiert sich
evangelische Ethik stärker an der Leitkategorie der Verantwortung als an Prinzipien oder Normen. Damit will sie zur Geltung
bringen, dass das jeweilige menschliche Individuum mit seiner
konkreten Not der primäre Adressat des guten Handelns ist. Sie
befürchtet, dass bei einer zu starken Prinzipienorientierung der
Nächste ob einer Orientierung an allgemeinen Pflichten, der
eigenen Tugend oder dem zu erreichenden Gut leicht übersehen werden kann. Ebenso wie für die evangelische Ethik gehört
auch für die katholische Moraltheologie der Begriff Verantwortung zu den ethischen Leitbegriffen einer zukunftsorientierten
Ethik.
69. Verantwortlich zu sein heißt rechenschaftspflichtig sein.
Gegenüber einer materialen Orientierung an Sachen, Gütern
und Werten stellt Verantwortungsethik die Rechenschaft des
Menschen vor Gott, dem Nächsten oder der Gesellschaft in den
Vordergrund. Verantwortlich zu sein heißt, die Folgen seines
Handelns im Voraus zu bedenken zu versuchen und für die entsprechende Entscheidung einzustehen. Dabei lassen sich vielfältige Relationen unterscheiden. Verantwortungsethik sucht
Antworten auf folgende Fragen zu finden: Wer ist verantwortlich wofür, weswegen, vor wem, wann und wie? Entscheidend
bei der Beantwortung dieser Fragen ist die Erkenntnis, die unterschiedlichen Fragerichtungen miteinander kombinieren zu
59
können, um dabei die Verantwortungssituation, in der der einzelne oder Institutionen stehen, schärfer in den Blick zu nehmen. Verantwortungsethik soll sich nicht in einem bloßen Appell an das Verantwortungsbewusstsein erschöpfen, sondern
muss auch auf die ethischen Konkretionen hinweisen.
70. In evangelischer Tradition ist das Gewissen der Ort der
Erfahrung des Rechtfertigungshandelns Gottes. Gott befreit den
Menschen aus seiner Sündenverstrickung und bindet ihn an
sein Wort. In seinem Gewissen wird der Mensch mit dem Urteil
Gottes über sein Handeln konfrontiert. So weist Gott dem Menschen in dieser Zeit und unter den geschichtlichen Bedingungen
den Weg des Glaubens in und nach seinem Gesetz, das in Christus bereits erfüllt ist. Die Gebote Gottes bleiben im Gerechtfertigten in Geltung. So verstanden lebt der Mensch sein Leben in
Verantwortung vor Gott. Dieser Verantwortung vor Gott muss
der Mensch schließlich in den verschiedenen weltlichen Verantwortungsbezügen gerecht werden.
2.5.3 Diskursethik
71. Handlungsnormen können unterschiedlich begründet werden. Bezüglich bestimmter moralischer Probleme können verschiedene normative Geltungsansprüche erhoben werden. Dass
man sich bei fortwährend strittigen moralischen Problemen auf
eine Einigung verständigen sollte, ist wünschenswert und nachvollziehbar. Im Rückgriff auf die Kantische Ethik will eine Diskursethik im freien argumentativen Gespräch der gesellschaftlichen Individuen und Gruppen einen vernünftigen und friedlichen Konsens darüber finden, was verantwortlich zu tun ist. In
Diskursen muss eine Verständigung über Geltung und Reichweite von Normen gefunden werden.
72. Bei der Diskursethik geht es nicht um Normenbegründung
im eigentlichen Sinn, sondern um die Klärung der Frage, wie im
Dialog ein Konsens hinsichtlich strittiger Normen hergestellt
60
werden kann. Diesem Anliegen kann sich auch die theologische
Ethik – gleich welcher Provenienz – nicht verschließen. Auf der
Grundlage ihres christlichen Glaubens hat sie ihre Argumente
sowohl rational als auch konsensorientiert einzubringen. Damit
ein solcher Dialog gelingen kann, hat die Diskursethik Regeln
aufgestellt, insbesondere um die Ehrlichkeit und bleibende
Offenheit des Gesprächs der verschiedenen Glieder der Gesellschaft zu sichern. 1. Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt
darf an Diskursen teilnehmen. 2. Jeder und jede darf jede Behauptung problematisieren, aber er oder sie muss Gründe dafür
angeben. 3. Jede und jeder soll nur das in den Diskurs einbringen, wovon sie oder er auch tatsächlich überzeugt ist. 4. Niemand darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine oder ihre Diskursrechte wahrzunehmen.
73. Der Vorteil der Diskursethik ist, dass sie im Kontext moderner
Gesellschaften eine hohe Plausibilität aufweist. Sie versteht sich
als kultur- und zeitunabhängig, von allen vernünftigen Wesen in
gleicher Weise nachvollziehbar, also universal. Dennoch ist sie für
die ständigen Wandlungen des Lebens offen und versucht die
Erfahrungen der Menschen aufzunehmen. Was sich im Diskurs
als Konsens erweist, besitzt dann normative Gültigkeit. Hinterfragt wird die Diskursethik hauptsächlich deswegen, weil sie
jeden Grundlagenkonflikt für prozedural lösbar hält. Auch setzt
der Diskurs bereits elementare moralische Prinzipien wie die
Ehrlichkeit der Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer,
deren wechselseitiges Lebensrecht und deren Meinungsfreiheit
voraus; diese moralischen Prinzipien werden mithin nicht erst
durch Diskurs hergestellt. Zu erörtern ist weiterhin, wie man mit
der Abwesenheit der zukünftig Betroffenen (Embryonen, Kleinkinder, künftige Generationen) und mit jenen umgeht, die (noch)
nicht diskursfähig sind (geistig Schwerstbehinderte). Schließlich
stellt sich die kritische Frage, ob und inwieweit überhaupt ein
Konsens diskursiv erzielt werden kann. Von den normativen Ansprüchen der Diskursethik zu unterscheiden, wenn auch nicht zu
trennen, ist die diskursive Verständigung über Inhalte. Die christ61
lichen Kirchen suchen in modernen Gesellschaften die diskursiven Verständigungen zu stärken.
2.5.4 Tugendethik
74. Im Gegenüber und zum Teil im Gegensatz zur Normenethik
hat sich schon in der Antike die Tugendethik entwickelt. In der
aktuellen Ethikdiskussion findet die in der Tradition von Aristoteles und Thomas von Aquin stehende Tugendethik besondere
Beachtung. Tugend kann verstanden werden als eine Disposition, welche unsere Handlungen, aber auch unsere Gedanken
und Emotionen formt. Bei der Tugend geht es nicht um ein
einmaliges Handeln, auch nicht um ein Set von praktischen
Verhaltensregeln, sondern um bleibende Einstellungen und
Geneigtheiten (Grundhaltungen), die sich in einem guten Lebensstil niederschlagen und dem Handelnden ein „moralisches
Gesicht“ verleihen. Meistens redet man von Tugenden im Plural, z. B. den Kardinaltugenden (Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit). Spricht man von Tugend im Singular, versteht man darunter insbesondere die freie und leichte Entscheidung zum Guten, die sodann in den Einzeltugenden zum
Ausdruck kommt. Wie das Denken und das Handeln des Menschen sind auch Tugenden auf geschichtliche Situationen bezogen und erhalten in ihnen ihren Sinn. Großmut war für Aristoteles eine ethische Tugend, heute ist sie fast vergessen. Die die
eigene Person zurücknehmende Tugend der Demut hielt Aristoteles für so wenig wert wie Selbstüberschätzung und Aufgeblasenheit. Im Mittelalter wurde die Demut unter dem Einfluss des
Christentums zu einer wesentlichen Tugend; in der Gegenwart
ist sie vollkommen verblasst und drückt eher eine negativ verzichtende Haltung aus. Dagegen war die heute hochgeschätzte
Tugend der Fairness Aristoteles unbekannt. Tugenden sind stark
im Wandel begriffen.
75. Die Frage nach der Bedeutung von einzelnen Tugenden für
das sittliche Handeln ist zu unterscheiden von der Frage nach
der Möglichkeit einer Tugendethik in Absetzung von einer nor62
mativen Ethik deontologischer wie teleologischer Art. Die Ethik
und Moraltheologie der letzten Jahre waren sehr von der
Normproblematik geprägt und haben damit eine Gestalt von
Ethik und Moraltheologie vorangetrieben, die auf ein Sollen und
Müssen abzielt. Eine Tugendethik bezieht sich weniger auf die
Denkform des Sollens, sondern motiviert durch ein entwickelbares Können, das im Gelingen auf ein Gutes hinführt. Eine
Tugendethik trägt vor allem der Bedeutung des Affektiven und
der Motivation in der sittlichen Handlung Rechnung.
76. Dennoch ist die Leistungsfähigkeit einer Tugendethik begrenzt. Sie enthält keine vollständige Antwort auf die Fragen,
was soll, was muss sein, was ist zu tun? Wer Rat sucht, dem ist
unter Umständen wenig geholfen mit dem Hinweis: Handle
tapfer! Handle als ein guter Freund! Außerdem vermag eine
Tugendethik nicht die gelegentlich auftretenden (und unvermeidbaren) tragischen Auswirkungen menschlichen Handelns
direkt einzuschätzen, da ihr Begriffsschema in der Vorstellung
vom guten Menschen wurzelt. Tugenden sind wesentliche Momente moralischen Lebens, machen aber Kriterien zur Beurteilung einer Handlung nicht überflüssig.
77. Auch wenn in der Theologiegeschichte die katholische Moral einer Tugendlehre mehr zugeneigt war als die evangelische
Ethik, ist heute kein grundlegender Unterschied festzustellen.
Seit einigen Jahren sucht auch die evangelische Ethik in Aufnahme von tugendethischen Fragestellungen die mit Tugenden
anzusprechenden Verhaltensdispositionen der Menschen und
innere Überzeugungen in den Mittelpunkt zu rücken. Beide
plädieren für eine Komplementarität im Sinne einer Ergänzung
einer Normenethik durch die Tugendethik.
2.5.5 Güterethik
78. Nach Aristoteles ist die Bestimmung eines Gutes das Ziel, zu
dem alles strebt. Ein Gut ist etwas, das erstrebt wird. Von hier
63
aus unternimmt Aristoteles die Beschreibung seiner Ethik, nach
der es ein höchstes Gut für den Menschen gibt, das zu erstreben er durch seine Natur bestimmt ist. Dieses Gut nennt Aristoteles Eudaimonia. Das Glück ist das letzte Ziel aller Handlungen
von Menschen. Der Begriff des Guten ist in der ethischen Tradition vor allem mit der Frage nach dem Glück verbunden worden. Doch erschöpft sich darin die Bedeutung der moralischen
Orientierung keineswegs. Für das Leben und Zusammenleben
der Menschen werden Güter als wichtig erachtet, die notwendig sind, damit Leben gelingen kann: z. B. Gesundheit, Freiheit,
Frieden, Sicherheit des Eigentums. Vor allem im Blick auf die
Frage nach den Menschenrechten ist eine solche Güterethik
von hervorgehobener Bedeutung.
79. Friedrich Schleiermacher gilt innerhalb der evangelischen
Theologie als einer der profiliertesten Vertreter einer Güterethik, obwohl ihm selbst eine Kombination aus Güter-, Tugendund Pflichtenlehre als Ideal vorschwebte. Charakteristisch für
die Güterethik ist, dass sie das Handeln des Menschen in seiner
Zielorientierung beschreibt, sei dies nun ein letztes Ziel oder
seien es konkrete Ziele. Schleiermacher bestimmt als das höchste Gut eine Einheit von Vernunft und Natur. Es ist die Bestimmung des Menschen, die Natur mittels seiner Vernunft zu
durchdringen, um so beide miteinander zu vereinen. Da dies auf
verschiedene Weise geschehen kann, ergeben sich vorgelagerte
Handlungsfelder, die konkrete „Güter“ beschreiben: Wissenschaft, Religion, Politik etc. So wird der Mensch als ein auf Zukunft ausgerichtetes Wesen bestimmt, das zugleich in konkreter
Weise auf seine Welt- und Selbstgestaltung ansprechbar ist.
80. Gerade in der Verknüpfung des Guten mit dem Glück liegt
eine tiefe Problematik dieser ethischen Konzeption, die sich bis
in die Moderne hinein zieht. Unabweisbar ist die Forderung, das
Gute um seiner selbst willen zu wollen. Schwieriger wird es,
wenn man fragt, was das Gute überhaupt sei. Wenn die Antwort auf diese Frage lauten müsste, das Gute ist das, was für
mich gut ist, dann droht eine gefährliche Perversion des ethi64
schen Themas. In der Bindung der Frage nach dem Guten an
das Streben nach privatem Glück lässt sich eine tiefe Paradoxie
aller Suche nach dem Guten um seiner selbst willen ausmachen.
Immanuel Kant hat angesichts dieses Dilemmas dafür plädiert,
zwischen dem obersten und dem höchsten Gut zu unterscheiden. In einer solchen Hierarchie der Güter lassen sich zwar
Zielkonflikte nicht vermeiden, die Ausrichtung auf durchaus
fragwürdige und eher zeitliche Güter lässt sich aber besser
kontrollieren und korrigieren. Das Gute um seiner selbst willen
zu wollen, ist ein fundamentales Motiv jeder Ethik.
2.6
Individuelle und institutionalisierte Formen
der ethischen Entscheidungsfindung
2.6.1 Gewissen und synodale Prozesse
81. Die Ausrichtung am eigenen Gewissen ist für evangelische
und katholische Christen und Christinnen Orientierungspunkt
der ethischen Entscheidungsfindung. Die Bildung des Gewissens
geschieht in der kirchlichen Gemeinschaft und im Dialog.
82. „Evangelische Tradition ist […] daran orientiert, zwischen
dem Auftrag des kirchlichen Amtes, über der Lehre zu wachen,
und der im Glauben gebundenen Gewissensentscheidung des
einzelnen im christlichen Leben zu unterscheiden, ohne doch
Lehre und Ethik auseinanderreißen zu wollen.“37 Verantwortung
für die rechte Lehre kommt dabei nicht nur den Pfarrern und
Pfarrerinnen (in Zusammenarbeit auch mit den nichtordinierten
theologischen Lehrern und Lehrerinnen) zu, sondern es haben
„auch die aus Laien und Ordinierten zusammengesetzten Synoden und die Gemeinden selbst an der Verantwortung für die
rechte apostolische Lehre teil.“38
37
38
KWS, Nr. 76.
Ebd.
65
83. Letztlich sind nach evangelischem Verständnis die Gemeinden selbst für die Beurteilungen von Fragen der Lehre und des
Lebens verantwortlich. Sie beauftragen die Synode, zu Fragen
der Lehre Stellung zu nehmen. Auf den Synoden wird durch
demokratische Diskurse und Wahlen ein inhaltlicher Konsens
innerhalb der Kirche in Fragen von Ordnung, Lehre und Leben
ermittelt, wobei für die Bereitstellung der entsprechenden
theologischen Kompetenz die Theologischen Fakultäten unverzichtbar sind. „Konziliarität bezeichnet […] die besondere Form,
in welcher in der christlichen Kirche der Streit um die Wahrheit
und um deren Konsequenzen ausgetragen wird. […] Die Kirche
als die Gemeinschaft der Verschiedenen bedarf einer Lebensform, in der die Einheit in der Pluralität immer wieder neu gewonnen werden kann.“39 Synodale Entscheidungen sind, weil
im Vertrauen auf den Geist und im Wissen um die Geschichtlichkeit menschlicher Wahrheitserkenntnis getroffen, „für künftige Revisionen offen“.40 Bei allen Fragen von Lehre, Leben und
Ordnung bleiben formal Schrift und Bekenntnis und inhaltlich
die Lehre von der Rechtfertigung der normierende Orientierungspunkt.
84. Von dem bei Synoden durch öffentlichen Diskurs hergestellten Konsens ist der magnus consensus41 noch einmal zu
unterscheiden. Ein solcher wird nicht durch Mehrheitsverhältnisse beschlossen oder hergestellt, sondern er besteht bzw.
„stellt sich ungesucht und unverfügbar ein“, durch „ein unverfügbares Wirken des Geistes“; von Menschen kann er nur „festgestellt werden“.42 Auch bei diesem sind der Schriftbezug und
das Bekenntnis als weitere Kriterien nicht aufgegeben. „Der
39
W. Huber, Synode und Konziliarität. Überlegungen zur Theologie der
Synode, in: G. Rau/H.-R. Reuter/K. Schlaich (Hrsg.), Das Recht der
Kirche, Bd. 3, Zur Praxis des Kirchenrechts, Gütersloh 1994, S. 319-348,
hier S. 340.
40
Ebd., S. 345.
41
Vgl. CA 1 [BSELK, S. 93].
42
Magnus consensus, Texte aus der VELKD, Nr. 166, Hannover 2013,
S. 4.
66
‚magnus consensus‘ hat das zum Gegenstand, was die Kirche
konstituiert und ihrem Verfügen somit entzogen ist.“43
85. Den einzelnen Glaubenden sollen synodale Entscheidungen
Orientierung geben. Aber sie können ihre persönliche Verantwortung nicht an Synoden, auch nicht an Bischöfe oder akademische Lehrer und Lehrerinnen delegieren. Sie ist eine Gewissensfrage, die ihnen niemand abnehmen kann. Freilich isoliert
ihr Gewissen die Glaubenden nicht von der Kirche als Ganze
und ihrer verbindlichen Lehre. Nur als Glied der Gemeinschaft
der Glaubenden, im Hören auf die Brüder und Schwestern kann
der und die Einzelne die Wahrheit finden. Gleichzeitig bleibt
letzte formale Instanz für die Einzelnen das Gewissen. Nur in
der Ausrufung der Situation des status confessionis beanspruchen synodale Entscheidungen letzte bindende Kraft.
86. Auch für die katholische Lehre ist das Gewissen für die
Gläubigen die entscheidende Instanz des moralischen Urteilens
und Handelns. Ebenso ist charakteristisch, dass das Lehramt
keine selbstbezogenen, isolierten Entscheidungen trifft, sondern den Glauben der gesamten Kirche bezeugt. Synoden und
Konzilien haben – in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom –
eine wesentliche Bedeutung für die Lehrentwicklung in der
katholischen Kirche. Weil katholische Lehre die Kollegialität der
Bischöfe betont und den Glaubenssinn des Gottesvolkes als
theologische Erkenntnisquelle betrachtet, kann sie aus einem
theologischen Grund die Praxis der evangelischen Synoden
würdigen. Allerdings stellt sich für die katholische Theologie im
Blick auf die Praxis der synodalen Lehrentscheidungen die Frage, wer mit welcher Kompetenz und Autorität an Prozessen der
Urteilsbildung beteiligt ist und welchen theologischen Status die
Entscheidungen haben. Aus katholischer Sicht bleibt überdies
klärungsbedürftig, welche Bedeutung für die evangelischlutherische Seite das sola scriptura hat und welcher Stellenwert
den Traditionszeugnissen zukommt.
43
Ebd., S. 7.
67
87. Es gibt bei allen Unterschieden viele ökumenische Gemeinsamkeiten im Blick auf die Herausforderungen des ethischen
Diskurses in der Gesellschaft heute. Viele Herausforderungen
sind in diesem Zusammenhang gemeinsam zu bedenken: Welche Bedeutung haben die öffentlichen Medien bei der Meinungsbildung der Getauften in ethischen Fragen? Wie könnte
erreicht werden, dass beispielsweise in den Familien in einem
offenen Gespräch ethische Themen vorkommen? Wie könnte
eine Bewusstseinsbildung mit christlicher Orientierung in ethischen Fragen gelingen?
2.6.2 Gewissen und lehramtliche Autorität
88. Nach katholischer Tradition ist es die vornehmste Aufgabe
der Bischöfe als authentische Lehrer des Glaubens, die unter
dem Wort Gottes stehen, einzeln, untereinander und in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom in Treue zur Lehre der
Kirche das Evangelium zu verkünden.44 Die Verkündigung der
Botschaft des Glaubens erstreckt sich auch auf das sittliche
Leben der Gläubigen. Diese sind gehalten, den lehramtlichen
Weisungen zu folgen und in ihren Gewissensentscheidungen zu
berücksichtigen. Dabei ist es nicht die Absicht des kirchlichen
Lehramtes, den Gläubigen ein theologisches oder philosophisches System aufzuerlegen, sondern das Wort Gottes getreu
auszulegen und zu bewahren. Die Aufgabe des Lehramtes gerade in ethischen und moraltheologischen Fragen ist es nicht, den
Gläubigen einen vollständigen Gebots- oder Verbotskatalog vorzulegen, sondern in bestimmten Fällen und unter Berücksichtigung bestimmter Umstände auf die Unvereinbarkeit bestimmter theologischer oder philosophischer Auffassungen mit der
von Gott geoffenbarten Wahrheit hinzuweisen. Insoweit vollzieht das kirchliche Lehramt ein Werk der Unterscheidung, der
Ermahnung und der Unterweisung.45
44
45
LG 25.
Enzyklika Veritatis splendor von Papst Johannes Paul II. an alle Bi-
68
89. Aus katholischer Sicht ist das Gewissen als Ort des Urteils
über eine Handlung zu betrachten. Es ist ein Urteil in der Überzeugung, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Insofern folgt
das Gewissen dem Naturgesetz. Doch ist das Urteil des Gewissens ein praktisches Urteil, das anordnet, was der Mensch zu
tun oder zu unterlassen hat. Das Gewissen vollzieht die Anwendung des allgemeinen Gesetzes auf den Einzelfall und wird so zu
einem inneren Gebot des einzelnen Menschen. Das Gewissen
ist die maßgebliche Norm der eigenen Sittlichkeit.46 Als persönliches sittliches Urteil ist das Gewissen unaufhebbar. Das Urteil
des Gewissens ist allerdings nicht frei von der Möglichkeit zu
irren. In der Gewissensentscheidung finden die Gläubigen eine
Hilfe im kirchlichen Lehramt.47
90. Auch in lutherischen Bekenntnisschriften finden sich Ausführungen zur lehramtlichen Aufgabe im Zusammenhang der
Verkündigung und gläubigen Annahme des Evangeliums. In den
Schmalkaldischen Artikeln heißt es: „Gottes Wort soll Artikel
des Glaubens [auf]stellen und sonst niemand, auch kein Engel“.48 Diese Aussage könnte zu der fälschlichen Annahme führen, dass die lutherischen Kirchen jegliche lehramtliche Autorität ablehnen und in ethischen Fragen sowie in Verkündigung
und Annahme des Evangeliums nur auf die an das Wort Gottes
gebundene Gewissensfreiheit des Einzelnen Wert legen. Eine
für die rechte Schriftauslegung und die Weisungen der Schrift
bürgende und sie versichernde Autorität eines Lehramtes kennt
die lutherische Theologie nicht; sie lehnt ein solches geradezu
ab. Für sie legt sich die Schrift vielmehr in einem sehr differenzierten Prozess, an dem alle Getauften gleichermaßen Anteil
haben, selbst aus – und zwar so, dass darin die Wahrheit der
schöfe der katholischen Kirche über einige grundlegenden Fragen der
kirchlichen Morallehre (6. August 1993), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 111, Bonn 1993, Nr. 29.
46
Ebd., Nr. 60.
47
Ebd., Nr. 64.
48
ASm II.2 (BSELK, S. 734).
69
Gottesgeschichte Jesu Christi selbst zur Entfaltung kommt. Von
dem Zwang und der Sorge, die Schrift und ihre autoritative
Auslegung, auch in ethischen Fragen, sicherstellen zu müssen,
ist das kirchliche Leitungsamt befreit.
91. Obwohl also die lutherischen Bekenntnisschriften ein der
katholischen Lehre entsprechendes Lehramt nicht kennen,
messen sie dem kirchlichen Leitungs- und Lehramt doch eine
entscheidende Aufgabe im Selbstauslegungsprozess der Heiligen Schrift zu: nämlich Lehre zu prüfen, dem Evangelium widerstreitende Lehre zu verwerfen, auf einen kirchlichen Konsens
über die rechte Lehre hinzuarbeiten und diesen auch darzustellen. Dies hat allerdings immer unter der Wahrung der Vorrangstellung des Wortes Gottes zu geschehen: „Das Lehramt der
Kirche besitzt keine eigene Lehrgewalt neben oder gar vor der
Heiligen Schrift, sondern hat nur die Lehrgewalt des Wortes
Gottes geltend zu machen. In diesem abgeleiteten Sinne ist die
Lehrgewalt von Gott der ganzen Kirche, Amt und Gemeinde,
übertragen.“49 Primärer Ort dieses Lehrauslegungsprozesses ist
die Versammlung der Glaubenden, „für die Amtsträger in geordneter Weise berufen und ordiniert werden, um öffentlich zu
lehren und die Sakramente zu verwalten (CA XIV).“50 Neben
dem ordnungsgemäß berufenen Pfarramt und dem Zeugnisamt
aller Glaubenden sind an dieser Auslegungsgemeinschaft auch
das episkopale Aufsichtsamt sowie Synoden und Lehrende an
den theologischen Ausbildungsstätten beteiligt. Die Gewissensfreiheit der Glaubenden wird in der und durch die Teilnahme an
der Auslegungsgemeinschaft gebildet und geschärft.
49
Lehrordnung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche
Deutschlands vom 16. Juni 1956 in der Fassung vom 3. Januar 1983, in:
W. Härle/H. Leipold (Hrsg.), Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung, Bd. 2,
Kirchenrechtliche Dokumente, Gütersloh 1985, S. 147-153, hier S. 148.
50
Die Apostolizität der Kirche. Studiendokument der Lutherisch/
Römisch-katholischen Kommission für die Einheit, 2006 (künftig als AK
bezeichnet), in: DWÜ 4, S. 527-678, hier Nr. 450.
70
92. Trotz unterschiedlicher Gestaltung von lehramtlicher Autorität können Lutheraner und Katholiken gemeinsam festhalten,
„dass die Kirche Glieder benennen muss, die der Weitergabe
des Evangeliums dienen; das ist notwendig für den rettenden
Glauben. Gäbe es kein Lehramt und wirkte dies nicht auf jeweils
spezifische Weise auf den Ebenen der örtlichen Gemeinden und
der Regionen mit mehreren oder vielen Gemeinden, würde die
Kirche an einem Mangel leiden.“51 Zugleich haben Lutheraner
und Katholiken wiederholt gemeinsam festgestellt, „dass das
verbindliche Lehren unter der Norm des Evangeliums steht.“52
2.7
Zusammenfassung und Ausblick
93. Die hier angesprochenen, verschiedenen Fragerichtungen,
insbesondere die unterschiedlichen Typen ethischer Reflexion,
der Einfluss nicht-theologischer Wissenschaften und die unterschiedliche Zuordnung von Schrift und Tradition erwecken in
der Zusammenschau den Eindruck einer irritierenden Pluralität
von ethischen Ansätzen und Denkmustern. Daher besteht sowohl auf lutherischer wie katholischer Seite noch immer Reflexionsbedarf. Bei der Beschreibung und Erklärung der unterschiedlichen Typen treten charakteristische konfessionelle Profile hervor, die bei näherem Hinsehen offene Fragen aufwerfen,
keineswegs aber den Eindruck unüberwindbarer Dissense und
sich ausschließender Gegensätze hinterlassen. Oftmals lassen
sich Verständigungsschwierigkeiten auf Missverständnisse oder
unterschiedliche Akzentsetzungen zurückführen. Was schon bei
den klassischen kontroverstheologischen Fragen beobachtet
werden konnte, dass für unverrückbar gehaltene Urteile sich im
Lichte gemeinsamer Betrachtung einer Klärung zuführen lassen,
bewährt sich auch in Fragen der Ethik. Die Differenzierungen in
den ethischen Profilen verhindern keineswegs die Verständigung, sie bereichern vielmehr die Kenntnis der ethischen Argu51
52
AK, Nr. 453.
Z.B. CS, Nr. 61.
71
mentationen insgesamt. Niemand kann die wissenschaftlichen,
gesellschaftlichen und ökonomischen Sachfragen heute noch im
Ganzen überschauen. Ökumenische Gespräche sensibilisieren
für die Komplexität der Sachfragen und vertiefen das Verständnis für verschiedene Perspektiven.
72
3.
Perspektiven Theologischer Anthropologie
im Lichte des biblischen Zeugnisses
94. Nachdem in Kapitel 1 die Aufgabe beschrieben worden ist,
die mit dieser Studie gelöst werden soll, und in Kapitel 2 die
verschiedenen Methoden diskutiert worden sind, die auf evangelischer wie katholischer Seite in ethischen Fragen angewendet werden, soll in Kapitel 3 das christliche Menschenbild beschrieben werden. Hier kommt es im Kern darauf an, aus christlicher Perspektive den Zusammenhang zwischen dem Glauben
an Gott und der Überzeugung von der unbedingten Würde des
Menschen zu explizieren. Die Einheit von Liebe zu Gott und
Liebe zum Nächsten (Mk 12,28-34 parr.; vgl. Dtn 6,4f und Lev
19,18) ist Leitbild christlichen Lebens.
95. Die theologische Anthropologie wird in zwei Schritten entwickelt. Zuerst wird das biblische Menschenbild in einigen wichtigen Aspekten nachgezeichnet (3.1). Darauf folgen systematisch-theologische Reflexionen über die Menschenwürde im
christlichen Verständnis (3.2). Beide Teile dürfen nicht voneinander isoliert werden, weil sich die christliche Theologie von
einem gegenwärtigen Standunkt aus am biblischen Zeugnis
orientiert und die Auslegung der Bibel immer nach ihrer aktuellen Relevanz für die Gegenwartsprobleme fragt. An strittigen
Punkten wird die Vermittlung transparent gemacht. Der Beginn
mit der Bibel ist programmatisch, weil christlicher Glaube von
der Fülle der biblischen Einsichten, Bilder, Erfahrungen und
Geschichten lebt. In dieser Fülle zeigt sich das geschichtliche
Ursprungszeugnis des Glaubens.
96. In ökumenischer Gemeinsamkeit können katholische und
evangelisch-lutherische Kirche sowohl das Menschenbild der
Bibel als auch die theologische Systematik der Anthropologie
beschreiben. Zwar lassen sich bei wichtigen Fragen des Schrift73
verständnisses und der Schriftauslegung ebenso wie der Gottebenbildlichkeit, der Rechtfertigung und der Erlösung des Menschen charakteristische Differenzen zwischen evangelischlutherischer und katholischer Theologie ausmachen. Der Text
will zeigen, dass solche Differenzen aber, wie in der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ begründet, heute
keinen kirchentrennenden Charakter mehr haben. Der biblische
Teil (3.1) macht die Ansätze der Kontroversen kenntlich, und
der systematische Teil (3.2) diskutiert sie eingehend. Dabei
drückt sich die Dynamik der katholisch-lutherischen Verständigungen mit dem Ergebnis aus, dass die Konflikte aufgearbeitet,
die Gegensätze überwunden und die Unterschiede für ein vertieftes Verständnis der Heiligen Schrift und des christlichen
Menschenbildes fruchtbar gemacht werden können.
97. In vielen nicht-theologischen Wissenschaften werden Fragen der Anthropologie und der Ethik heute mit hoher Aufmerksamkeit wahrgenommen. Nicht alles, was für den Menschen
heute machbar erscheint, ist in einer längerfristigen Perspektive
ethisch richtig und lebensförderlich. In den kontrovers geführten interdisziplinären Gesprächen wird offenkundig, dass es
einen Unterschied gibt zwischen Optionen, die ausschließlich
das Wohl eines einzelnen Menschen im Blick haben, und anderen, die das universale Gemeinwohl in den Blick nehmen.
3.1
Grundlinien biblischer Anthropologie
98. Für evangelische und katholische Christinnen und Christen
ist das biblische Menschenbild grundlegend. Deshalb verbindet
die gemeinsame Vergegenwärtigung dessen, was die biblischen
Texte über das Menschsein sagen, und das dialogische Erkunden, was dieses Zeugnis der Schrift heute bedeutet.
99. Die Bibel hat keine Patentrezepte für die Lösung ethischer
Detailfragen. Aber sie ist wesentlich, damit theologisch beurteilt
werden kann, welchen Stellenwert die Fragen haben und wel74
che Antworten eine echte Orientierung geben, weil sie den
Glauben, die Liebe und die Hoffnung konkretisieren. In den
Auseinandersetzungen mit der Geschichte und in den Herausforderungen der Gegenwart ist die Heilige Schrift die Grundlage, auf der eine theologische Orientierung über die Würde des
Menschen gewonnen wird; sie spannt eine Richtschnur, an der
sich konkrete Entscheidungen zu messen haben; und sie ist eine
starke Motivationsquelle, um Menschlichkeit zu praktizieren.
100. Das Menschenbild der Bibel ist vielseitig. Vielfältig sind
auch die Methoden, die Bibel zu lesen und zu verstehen. In der
gegenwärtigen Debatte über Gott und die Würde des Menschen sind einige Kerntexte und Leitmotive des Alten wie des
Neuen Testaments von besonderer Bedeutung. Zuerst wird die
Gottebenbildlichkeit des Menschen beschrieben (3.1.1); dann
wird der Mensch in seiner Schuld und Not vor Augen gestellt
(3.1.2); schließlich wird die Erlösungshoffnung des Menschen
nachgezeichnet (3.1.3). Den Abschluss bilden kurze Hinweise
darauf, welche Zugänge die Bibel zu den Fallbeispielen dieser
Studie öffnet: den Anfang und das Ende des Lebens (3.1.4) und
die Option für die Armen (3.1.5). Dieser Abschnitt wird im
Schluss der Studie (Kapitel 5) aufgenommen und ausgeweitet.
3.1.1 Der Mensch als Gottes Ebenbild
101. Die Bibel beginnt mit Gott: Er ist der Schöpfer des Himmels und der Erde (Gen 1,1). Er ist auch der Schöpfer der Menschen. Vom sechsten Tag heißt es in der Genesis: „Gott sprach:
Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns ähnlich ist. Sie
sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel
unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des
Feldes und über alle Kriechtiere auf der Erde. Und Gott schuf
den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als
Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,26-27). Dieser Teil der
Schöpfungsgeschichte enthält die grundlegende Aussage über
das Menschenbild in der Bibel. Höher kann man nicht vom
75
Menschen sprechen. Die Gottebenbildlichkeit ist die biblische
Begründung dessen, was heute der Begriff der Menschenwürde
bezeichnet. In Gen 9,6 wird aus der Gottebenbildlichkeit das
Tötungsverbot (vgl. Ex 20,13; Dtn 5,17) abgeleitet.
102. Der evangelischen und katholischen Theologie ist klar,
dass die Genesis keine Alternative zur naturwissenschaftlichen
Erklärung der Welt und des Menschen bietet. Die Bibel drückt
vielmehr die eine theologische Wahrheit aus: Der Mensch
macht sich nicht selbst; er wird erschaffen. Er ist nicht nur ein
Tier, aber er ist ein Geschöpf wie alle anderen Geschöpfe auch.
Er gehört in die Welt, die Gottes Schöpfung ist; aber er hat in
der Welt eine einzigartige Stellung. Der Mensch ist nicht Gott;
aber Gott ist sein Schöpfer. Durch die Beziehung zu Gott erfährt
der Mensch, wer er ist: geschaffen und geliebt, Gott ähnlich, zur
Gemeinschaft mit ihm und mit den anderen Menschen in Gottes Schöpfung berufen.
103. Die biblische Schöpfungsgeschichte verbindet Gottes
Schöpferkraft mit der Gottebenbildlichkeit jedes einzelnen
Menschen (Gen 1,26f.). In der kulturellen Umwelt gibt es Analogien. Viele Mythen sagen von Herrschern und Kriegern, von
herausragenden Männern des Geistes, des Kampfes und der
Politik, dass sie Ebenbilder Gottes seien. Einzelne Quellen lassen
daran denken, dass alle Menschen Gott gleichen. Die meisten
Mythen erzählen, dass die Menschen von den Göttern erschaffen sind, um ihnen zu dienen, weil sie dieser Dienste bedürfen.
In vielen Mythen werden Kämpfe zwischen Göttern beschrieben, die auf die Kämpfe unter den Menschen abfärben. Diese
Mythen haben ihre eigene Wahrheit; sie bilden nicht nur einen
großen kulturellen Reichtum; sie können die Augen für wichtige
Aspekte des Lebens öffnen. Aber sie lassen sich vom Gottesund vom Menschenbild der Bibel klar unterscheiden, weil die
Genesis einen klaren Unterschied zwischen Schöpfer und
Schöpfung macht, der zu einer engen Verbindung führt. Wegen
dieses Gottesglaubens sieht die Bibel Gottes Ebenbild in jedem
Menschen, unabhängig von Geschlecht und Nation, Alter und
76
Bildung, Religion und Moral, Stärke und Schwäche. Dass ausnahmslos alle Menschen Gottes Ebenbild sind, ist darin begründet, dass es nur einen einzigen Gott gibt, der sie alle erschaffen
hat. Aus demselben Grund ist Gott nicht auf die Unterstützung
durch Menschen angewiesen; er hat sie von sich aus erschaffen,
aus reiner Liebe. Deshalb begründet die Schöpfung nicht die
Dauerhaftigkeit des Krieges, sondern die Verheißung des Friedens, für den in der Schöpfungsgeschichte der Sabbat steht
(Gen 2,1-4a).
104. In der Gegenwart hat die Schöpfungsgeschichte mit ihrer
Anthropologie der Gottebenbildlichkeit, von der die ganze Bibel
geprägt ist, nichts von ihrer Bedeutung verloren. Wenn Rassismus und Fremdenhass dominieren, wenn Menschen wegen
ihres Geschlechtes, ihrer Herkunft, ihres Alters, wegen körperlicher oder geistiger Handicaps, wegen bestimmter Verfehlungen
oder ihres Glaubens diskriminiert werden, braucht es die Erinnerung an das, was auf der ersten Seite der Bibel über den
Menschen steht: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Es gibt keine Abstufung, keine Einschränkung, keinen Vorbehalt. Weil die
Würde von Gott kommt, ist sie unverletzlich. Niemand darf sie
einem anderen Menschen absprechen, niemand darf sie missachten.
105. Worin die Gottebenbildlichkeit des Menschen besteht, ist
theologisch und philosophisch immer wieder diskutiert worden.
Die Bibel bezieht sich nicht nur auf bestimmte Attribute des
Menschen, z. B. sein Aussehen, seinen Verstand, seine Bildung,
sein Herz, seine Religiosität oder seine Moralität. Sie reduziert
den Menschen auch nicht auf seine Fähigkeiten in der Technik,
der Kunst und der Kultur. Die biblischen Texte sehen vielmehr
den Menschen als ganzen in seiner Beziehung zu Gott wie in
seiner Beziehung zu den anderen Menschen und sich selbst. Im
hebräischen Urtext steht das Wort zaelaem, das mit „Statue“,
„Abbild“ übersetzt werden kann. In der griechischen Übersetzung der Genesis steht das Wort eikon, von dem das deutsche
Fremdwort „Ikone“ abgeleitet ist: Der Mensch ist die Ikone
77
Gottes. Wer einen Menschen ansieht, sieht durch ihn Gott, den
Schöpfer. Denn der unsichtbare Gott macht sich durch den
Menschen sichtbar. Der Mensch ist ein Zeichen Gottes in der
Welt. Er ist geschaffen, um für Gott einzutreten und die Blicke
auf ihn zu richten. In ihrer Beziehung zu den anderen Menschen, in ihrem Auftrag, die Schöpfung zu wahren, und in ihrem
Gottesdienst (vgl. Gen 2,1-4) wird diese Berufung, die alle Menschen haben, konkret.
106. Dass Gott den Menschen männlich und weiblich erschaffen
hat (Gen 1,26f.), betont die Genesis besonders. Die Zweigeschlechtlichkeit ist mit dem Auftrag, sich zu vermehren, verbunden (vgl. Gen 5,1-3). Die Geschlechter haben dieselbe Stellung zu
Gott; sie haben dieselbe Würde. Die moderne Forderung gleicher
Rechte von Mann und Frau entspricht dieser biblischen Auffassung nach vielen Jahrhunderten großer rechtlicher und politischer Ungleichbehandlung von Frauen. In der Entstehungszeit
der Schöpfungsgeschichte ist die gleiche Würdigung von Mann
und Frau ungewöhnlich. Auch sie erklärt sich aus dem gemeinsamen Bezug auf den einen Gott. Zwar gibt es in der Bibel
und in der Geschichte der Auslegung viele andere Aussagen, die
patriarchalisch sind. Sie müssen sich aber am Grundsatz der
Schöpfungstheologie messen lassen. Deshalb sind sie theologisch
zu kritisieren, damit sie praktisch überwunden werden.
107. Dass der Mensch Gottes „Bild“ ist, begründet seinen Auftrag, in der geschaffenen Welt zu herrschen, auch über die Tiere
(Gen 1,26.28). Dieser Auftrag ist kein Freibrief zur Ausbeutung.
Er ist im Gegenteil die Übertragung einer großen Verantwortung. Als Gottes Ebenbild darf der Mensch die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstören. Er ist vielmehr berufen, sie zu
bewahren. Er kann sie kreativ nutzen. Aber er ist selbst ein Teil
der Schöpfung. Wenn in Gen 9,2 davon die Rede ist, das sich
„Furcht und Schrecken“ von den Menschen auf die Tiere legen
soll, ist damit keine Legitimation zur Tierquälerei gegeben, sondern die Erlaubnis vorbereitet, Tiere ebenso wie Pflanzen zur
Nahrung zu gebrauchen (Gen 9,3f.).
78
108. Der Ansatz bei der Gottebenbildlichkeit des Menschen
verstellt in der Bibel nicht den Blick auf seine Not, seine Fragilität und seine Schuld. Aber so groß das Elend des Menschen ist,
bleibt er doch Kind Gottes. In Ps 8 wird die Frage gestellt: „Seh‘
ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die
du bereitest: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und
des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,3-4).
Der Psalm antwortet nicht einfach auf diese Frage, sondern
führt tiefer in das Staunen des Menschen über die Weisheit
Gottes und die eigene Stellung in Gottes Schöpfung hinein: „Du
hast ihn als König gesetzt über die Werke deiner Hände, alles
hast du ihm unter seine Füße gelegt, die Schafe und die Rinder
all, sogar die wilden Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels
und die Fische des Meeres, die Wanderer auf den Wegen des
Meeres. Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf
der ganzen Erde“ (Ps 8,7-10).
109. Psalm 8 wird im Neuen Testament auf Jesus bezogen
(Hebr 2,6-8). Der Gottessohn ist wahrer Mensch. Er ist „in allem
uns gleich geworden“ (Hebr 2,17). Er hat das Leben eines Menschen geführt und ist den Tod eines Menschen gestorben. Er
hat in seinem Leben und in seinem Sterben das Leben und den
Tod aller Menschen ein für alle Mal mit Gott verbunden. „Es ist
ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der
Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Lösegeld
für alle“ (1 Tim 2,5-6).
110. Bei Paulus wird Jesus, der auferstandene Gekreuzigte, als
„Bild Gottes“ verkündet (2 Kor 4,4). Er macht die Herrlichkeit
Gottes sichtbar; wer ihn anschaut, wird selbst vom Licht Gottes
erhellt (2 Kor 4,5f.). Die große Hoffnung, die der Apostel macht,
besteht darin, dass Gott diejenigen, die er rettet, „dem Bild
seines Sohnes“ gleichmacht, so dass sie der Herrlichkeit Gottes
teilhaftig werden (Röm 8,29), als Brüder und Schwestern des
Gottessohnes Jesus. Durch die Rechtfertigung werden die Gläubigen „in Christus“ zu einer „neuen Schöpfung“ (2 Kor 5,17). Die
„Herrlichkeit Gottes“, derer sie ermangeln (Röm 3,22), gewin79
nen sie durch die Rechtfertigung aus dem Glauben im Heiligen
Geist, indem sie ihre Gotteskindschaft durch Teilhabe an der
Beziehung des Sohnes zum Vater verwirklichen (Gal 4,4ff.; Röm
8,10-17). Isoliert betrachtet, könnte 1 Kor 11,7 den Eindruck
erwecken, die Gottebenbildlichkeit der Frau sei für Paulus von
der des Mannes abhängig; aber das wäre ein Irrtum. Paulus
sieht allerdings die Aufgabe, im Rahmen einer zeitgenössischen
Genesisexegese, die aus Gen 2 die schöpfungsmäßige Unterordnung der Frau unter den Mann ableitet, so zu argumentieren, dass die Gleichheit, die in der Taufe gefeiert wird (Gal
3,26ff.), die Schöpfungsordnung nicht zerstört, sondern transzendiert. Deshalb führt er den Gedanken in 1 Kor 11,11f. so
weiter, dass das essentielle Miteinander und Zueinander von
Mann und Frau im Sinn von Gen 1,26f. eingeholt wird.
111. Nach dem Kolosserbrief ist Jesus „Bild des unsichtbaren
Gottes“ (Kol 1,15). Er hebt Gottes Unsichtbarkeit nicht auf,
sondern stellt sie dar. „In ihm“, „durch ihn und auf ihn hin“ ist
alles geschaffen (Kol 1,16). „In ihm“, „durch ihn“ und „auf“ ihn
„hin“ wird alles versöhnt (Kol 1,19-20). Durch Jesus Christus,
den präexistenten Sohn Gottes, der Mensch geworden und von
den Toten auferweckt worden ist, ist das Geheimnis des Menschen im Geheimnis Gottes selbst begründet – für alle Zeit und
Ewigkeit. „Nach“ dem Bild Gottes, das Jesus Christus abgibt, ist
der Mensch geschaffen; deshalb können und müssen die Gläubigen jetzt schon als neue Menschen leben (Kol 3,9-10). Dieses
neue Leben ist Ausdruck der Liebe zu Gott und zu Jesus Christus; es ist ein erfülltes, gereiftes, erwachsenes, mündiges Leben,
das anderen zum Vorbild dienen kann (Eph 4,7-16).
112. Nach dem Johannesevangelium ist Jesus der „Sohn“, der
den „Vater“ offenbart. Zum Abschied sagt er seinen Jüngern
nach Joh 14,9: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“
(vgl. Joh 12,45). Jesus ist die vollkommene Ikone, das wahre Bild
Gottes. Nach der Johannespassion soll Jesus, gefoltert und verhöhnt, mit der Dornenkrone als „König der Juden“ öffentlich
gedemütigt werden: „Seht, der Mensch“, sagt Pilatus nach
80
Joh 19,5 (lateinisch: Ecce homo). Unter unmenschlichen Bedingungen bleibt Jesus menschlich, weil er bei Gott bleibt. Er tritt
für die Würde aller ein, die der öffentlichen Schande preisgegeben werden, weil man ihnen die Ehre nimmt. Mehr noch: Er
identifiziert sich mit ihnen und offenbart dadurch den entehrten, gedemütigten, verhöhnten Menschen als Ebenbild Gottes.
Durch seinen Tod und seine Auferstehung bahnt er den Weg
der Erlösung. Als Auferstandener trägt er die Wundmale, die
Stigmata seiner Kreuzigung (Joh 20,20.24-27). An ihnen erkennt
Thomas, wer Jesus ist: „Mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28).
113. Die Frage nach Gott und dem Menschen, die das Alte
Testament umtreibt, ist heute aktueller denn je. Was die Physik
über das Alter und die Größe des Kosmos und was die Biologie
über die Evolution des Menschen lehren, lässt viele zweifeln, ob
das, was die Bibel über die Gottebenbildlichkeit des Menschen
sagt, wahr sein kann. Tatsächlich hat die moderne Wissenschaft
gezeigt, dass über den Mikro- und den Makrokosmos, über das
Alter und die Größe des Universums in ganz anderen Dimensionen gedacht werden muss, als sich die Menschen in biblischen
Zeiten haben vorstellen können. Was die Biologie über die Evolution und was die Medizin wie die Pharmazie über die menschliche Physis und Psyche, über die Wirkungen von Medikamenten und Umwelteinflüssen erforscht haben, verschafft neue
Einsichten in das Wesen der Menschen und stellt neue ethische
Fragen. Aber das christliche Menschenbild, das durch die Bibel
entsteht, wird dadurch nicht negiert. Im Gegenteil, es tritt in
seiner Pointe noch deutlicher heraus: Jeder Mensch muss sterben; jeder Mensch ist betroffen von Schuld, von Not und Leid.
Aber weil er Gottes Geschöpf ist und Gott an seiner Seite steht,
hat jeder Mensch eine Bedeutung, die über seine Herkunft und
seine Pläne, über seine Erfolge und Misserfolge, über seine
Leistungen und Versuchungen unendlich hinausgeht. Er ist und
bleibt Gottes Ebenbild.
114. Die Bibel sieht die Würde und die Rechte der Menschen in
einem universalen Horizont. Der Bogen spannt sich von der
81
Erschaffung des Menschen (Gen 1-2) bis zur Vollendung der
Welt im himmlischen Jerusalem (Offb 21-22). Dazwischen steht
die Geschichte Abrahams, in der Gott „alle Völker“ zu segnen
verheißt (Gen 12,3), was nach dem Neuen Testament durch
seinen „Nachkommen“, den Messias, geschieht (Gal 3,16 mit
indirektem Verweis auf Gen 22,18). In diesem Horizont geschieht die Erwählung Israels. Das Neue Testament verkündet
Jesus als „Sohn Davids, Sohn Abrahams“ (Mt 1,1), der Gottes
universale Segensverheißung dadurch erfüllt, dass er als Messias sein Leben hingibt.
115. Die biblischen Texte verschweigen nicht die Schwierigkeiten von Menschen, die Würde und die Rechte anderer Menschen zu erkennen und zu respektieren. Das Alte und das Neue
Testament kennen auch die Versuchung, anderen mit Berufung
auf Gott das wahre Menschsein abzusprechen. Aber die Bibel
als ganze stellt sich auf die Seite derer, deren Rechte mit Füßen
getreten werden. Sie erzählt, wie durch das Wirken des Heiligen
Geistes Menschen ihre eigenen Grenzen überwinden und die
Gottebenbildlichkeit anderer Menschen aus einem anderen
Volk und mit einer anderen Religion erkennen. Ein neutestamentliches Beispiel liefert Petrus. Nach der Apostelgeschichte
hat er größte Schwierigkeiten, mit dem Evangelium auch zu den
sogenannten Heiden zu gehen. Aber der Heilige Geist lässt ihn
erkennen: „In Wahrheit begreife ich jetzt, dass Gott nicht parteiisch ist, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer
ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt“ (Apg 10,34f.; vgl. 10,28).
116. Dem alttestamentlichen und neutestamentlichen Zeugnis
der Gottebenbildlichkeit des Menschen wohnt eine starke
Spannung inne. Der Blick richtet sich sowohl auf die Schöpfung
als auch auf die Erlösung. In dieser Spannung spiegelt sich das
Drama des Menschen, der seiner göttlichen Berufung untreu,
aber von Gott dennoch nicht fallen gelassen wird. Wie sich die
Gottebenbildlichkeit zur Sünde der Menschen verhält, ist zwischen evangelischer und katholischer Theologie traditionell
umstritten. Nach einer traditionell evangelischen Lesart verliert
82
der von Gott aus dem Paradies vertriebene Mensch seine Gottebenbildlichkeit, während sie nach einer traditionell katholischen Lesart nur verwundet worden ist. In Kapitel 3.2 wird gezeigt, dass keine dieser Positionen in ihrer Einseitigkeit dem
biblischen Zeugnis oder den differenzierten konfessionellen
Traditionen entspricht; der traditionelle Gegensatz ist im heutigen ökumenischen Gespräch überwunden.53 Entscheidend ist
das gemeinsame Zeugnis für die unverlierbare und unantastbare Würde jedes Menschen aufgrund von Gottes Zuwendung zu
allen Menschen.
3.1.2 Der Mensch in seiner Schuld und Not
117. Die Bibel kennt eine zweite Schöpfungsgeschichte (Gen
2,4b-25). Sie beleuchtet eine andere Seite des Menschen. Sie
redet von „Adam“ und „Eva“. „Adam“ heißt „Mensch“. In der
Sprache der Bibel ist es ein sprechender Name; denn er wird
vom hebräischen Wort für „Erde“, adamah, abgeleitet: „Da
formte Gott, der Herr, den Menschen [adam] aus Staub von der
Erde [adamah] und blies ihm den Atem des Lebens in die Nase.
So wurde der Mensch ein lebendiges Wesen“ (Gen 2,7). Der
Mensch trägt Gottes Odem, seinen Lebensatem, in sich; er hat
eine „Seele“. Aber er ist aus der Erde genommen. Beides gehört
zusammen; beides gehört zum Wesen des Menschen.
118. Nach der biblischen Erzählung wird die Frau aus der Seite
– oft wird problematisch übersetzt: aus der „Rippe“ – des Menschen genommen. So gibt es Mann und Frau (Gen 2,22-24),
„denn es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Gen 2,18).
Später heißt es in der biblischen Geschichte, dass „Adam“ die
Frau „Eva“ nennt, „denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen“
(Gen 3,20). Früher wurde die Erzählung oft so gedeutet, dass
zuerst der Mann und danach die Frau erschaffen wurde (so auch
in 1 Kor 11,8f.). Allerdings ist der Schrifttext nicht so eindeutig.
53
GER, Nr. 25-27.
83
Unter dem Vorzeichen von Gen 1 gelesen, beleuchtet er das
gleiche Menschsein von Mann und Frau nur von einer anderen
Seite (vgl. 1 Kor 11,11f.). Eine anthropologische Dimension besteht darin, dass beide, Mann wie Frau, „Fleisch“ sind (Gen 2,23)
und deshalb auch in der sexuellen Vereinigung „ein Fleisch“ werden (Gen 2,24). Sexualität gehört zum Wesen des Menschen.
„Fleisch“ zu sein, heißt in der biblischen Anthropologie: einen
Körper zu haben, geboren zu werden, sterben zu müssen, leidensfähig zu sein, auf andere Menschen angewiesen zu sein und
mit ihnen zusammen zu leben – all das ist nichts, was dem Menschen äußerlich wäre; es gehört zu seiner Identität.
119. Die Erzählung von Adam und Eva umschließt die Geschichte vom Sündenfall (Gen 3). Als große Verführung erscheint die
Schlange (Gen 3,1-4.13.14). Der Mensch erliegt der Versuchung,
„wie Gott“ sein zu wollen (Gen 3,5), also weder Gottes Ehre zu
achten noch die Würde des Menschen zu bejahen. Indem sie
Gottes Gebot widersprechen, widersprechen sie seinem Gottsein und ihrem Menschsein. Dieser Übergriff hat schlimme
Folgen. Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben. Die
Geschichte konfrontiert sie mit der bitteren Realität eines Lebens „jenseits von Eden“ (Gen 3,23), das in seiner Mühe und
Plage, seinem Unrecht und Leid Folge der Sünde, nämlich eines
verzerrten Gottesverhältnisses ist. Der Frau sagt Gott nach der
biblischen Urerzählung, dass sie unter Schmerzen gebären und
vom Mann beherrscht werden wird (Gen 3,16). Zum Mann sagt
er im selben Zusammenhang: „Im Schweiße deines Angesichts
sollst du dein Brot essen […] Du bist Staub und kehrst zum
Staub der Erde zurück“ (Gen 3,19).
120. Die Bibel öffnet in ihren Erzählungen, aber auch in ihren
Gebeten und Reflexionen die Augen dafür, dass es im Leben,
das Menschen auf der Erde führen, Liebe, aber auch Hass und
Gewalt gibt. Es ist gut, dass Menschen geboren werden; aber
alle Menschen müssen sterben. Menschen morden, aber Menschen schenken einander auch Güte und Mitgefühl. Im Leben
leuchten Momente tiefen Glücks, aber schlimmes Unglück und
84
tiefe Traurigkeit werfen auch dunkle Schatten. Es gibt den
Schrei nach Gerechtigkeit, aber niemand ist frei von Schuld. Es
gibt die Treue Gottes, aber auch die Untreue des Menschen.
121. Das Alte Testament bezieht sich immer wieder auf die
Geschichte von der Erschaffung und vom Fall des Menschen
zurück. Auch Psalm 8, das Lied vom Menschenkind, dessen Gott
gedenkt, wird in der Weisheit Israels neu bedacht. Hiob, der
unschuldig leidet, klagt vor Gott: „Meiner Ehre hat er mich
entkleidet, die Krone mir vom Haupt genommen“ (Hiob 19,9).
Hiob muss einen langen Weg gehen, bis er erfährt, was er trotz
allem glaubt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Hiob 19,25).
122. Die Geschichten vom Leben und Sterben der Menschen, die
das Alte Testament erzählt und bedenkt, lassen die offenen und
verborgenen Formen der Sünde erkennen, die von den Menschen innerhalb und außerhalb Israels begangen werden und ihre
Not immer nur größer machen. Dass nach der Vertreibung aus
dem Paradies vom Brudermord Kains an Abel erzählt wird
(Gen 4), öffnet die Augen für die mörderische Brutalität der Sünde und ihre weitreichenden Folgen, die menschliches Leben belasten. Sünde erscheint im Alten Testament als Übertretung des
Gesetzes, des göttlichen Gebotes, das Gott erlassen hat, um das
Leben der Menschen zu ordnen (Gen 9,1-6; Ex 20; Dtn 26). Sie
erscheint aber auch als Unheilsmacht, die weit über das moralische Versagen einzelner hinausreicht. Nicht nur die Opfer
müssen unter dem Unrecht leiden, das ihnen angetan worden ist;
die Sünde fällt auch auf die Täter und Täterinnen zurück, selbst
wenn sie zu triumphieren scheinen. Die Weisheit Israels hat den
Zusammenhang von Tun und Ergehen weit ausgeleuchtet; die
Bibel warnt vor dem Umkehrschluss, dass selbst schuld sei, wer
leiden muss (vgl. Joh 9,2f.), aber im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit hält sie dafür: „Der Böse bleibt nicht ungestraft, doch die
Söhne der Gerechten werden gerettet“ (Spr 11,21).
123. Im Bußpsalm heißt es: „Ich erkenne meine Missetaten,
und meine Sünde steht mir immer vor Augen. An dir allein habe
85
ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du recht behaltest
in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest. Denn ich
bin in Schuld geboren und in Sünde hat mich meine Mutter
empfangen“ (Ps 51,5-7). In dieser ausweglosen Lage hilft nur
noch die Bitte: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib
mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von
deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von
mir“ (Ps 51,11-14). Dass diese Bitte von Gott erhört werde, ist
die Hoffnung der Beter Israels wie der Kirche.
124. Die Propheten Israels verschaffen denen, die von Königen
und Priestern um ihr Recht gebracht werden, eine Stimme vor
Gott. Besonders Amos ist als Prophet profiliert, der die Mächtigen anklagt, um die Schwachen zu verteidigen (Am 4,1-3; 5,7).
Alle Propheten klagen nicht nur individuelle Hilfen, sondern –
im Rahmen ihrer Zeit – gerechte Strukturen ein. Alle sehen eine
untrennbare Verbindung zwischen der Ehre Gottes und dem
Menschenrecht der Armen. Die Gerichtsbotschaft der Propheten unterstreicht den Appell für Gerechtigkeit, weil Gott die
Verhältnisse geraderücken wird – durch sein gerechtes Urteil.
125. Das Neue Testament teilt den Realismus des Alten Testaments in der Beschreibung der menschlichen und unmenschlichen Realitäten und seine prophetische Botschaft, die das
Recht der Menschen schützen will. Es beginnt mit der Umkehrforderung (Mk 1,4 parr.) und der Gerichtsbotschaft des Täufers
Johannes: „Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr
dem künftigen Zorn entrinnen könnt? Bringt also Frucht, würdig
der Umkehr. Meint nur nicht, dass ihr bei euch sagen könntet:
Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken“
(Mt 3,7-9; vgl. Lk 3,7-8). Johannes weiß, dass er nicht selbst der
Retter ist; aber er spendet „die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1,4; Lk 3,3; vgl. Mt 3,11); er kündigt den
an, der mit dem Heiligen Geist taufen wird (Mt 3,11; Mk 1,8;
Lk 3,16).
86
126. Jesus hat zur Umkehr und zum Glauben an das Evangelium
gerufen, weil die Gottesherrschaft nahegekommen ist (Mk
1,15). Er selbst hat vor der tödlichen Macht der Sünde gewarnt
und zur Umkehr gerufen (Lk 13,1-9). Er hat die Sünde auch dort
entdeckt, wo sie sich in scheinbarer Gesetzestreue verbirgt:
In der Bergpredigt hat er die religiöse Heuchelei kritisiert
(Mt 6,1-18), im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner den religiösen Hochmut (Lk 18,9-14), in der Weherede gegen die Pharisäer
und Schriftgelehrten, die sich auch an seine Jünger richtet, die
religiöse Hartherzigkeit und Engstirnigkeit (Mt 23). Doch die
Perspektive Jesu ist immer die Verheißung der Vergebung. In
seinen Gleichnissen bringt er das Leben, das Menschen in dieser
Welt führen, mit dem Reich Gottes in Verbindung, das „nahegekommen“ ist (Mk 1,15; Mt 4,17; vgl. Mt 10,7; Lk 10,9.11).
Jesus öffnet die Augen für die Gegenwart Gottes mitten in der
Freude und im Leid, in der Not und im Glück, in der Schuld und
der Güte von Menschen. Jesus macht Hoffnung auf die Überwindung aller Schuld und Not im vollendeten Reich Gottes. Er
selbst kommt als Retter.
127. Paulus hat in seinen Briefen, bewegt von der Größe der
Gnade, auch das Unwesen der Sünde ausgelotet. Er hat die
unlösbare Verstrickung des Sünders in ein Unheil analysiert, das
er selbst verschuldet, aber nicht aus eigener Kraft abwenden
kann. Der Apostel versetzt sich selbst in die Lage eines sündigen
Menschen hinein, der nur schreien kann: „Ich elender Mensch,
wer wird mich aus diesem Leib des Todes retten?“ (Röm 7,24).
Paulus hat auch den Zusammenhang zwischen dem Leiden der
Menschen und dem Leiden aller Kreaturen entdeckt und auf die
Macht der Sünde zurückgeführt, die nur Gott überwinden kann
(Röm 8,20-27).
128. Paulus beschreibt die Abgründe menschlicher Schuld und
Not in der Perspektive der Hoffnung. Diese Hoffnung hat einen
Grund: Jesus Christus. Er ist der „zweite“ Adam, der den Ungehorsam des ersten Adam durch seinen Gehorsam überwindet
(Röm 5,12-21). Er teilt das Leben und den Tod der Menschen,
87
um ihnen das ewige Leben zu schenken. Paulus zitiert aus dem
Buch der Genesis, um das Evangelium der Auferstehung zu
verkünden: „‚Es wurde der erste Mensch, Adam, zu einem beseelten Lebewesen, der letzte Adam zu lebendig machendem
Geist“ (1 Kor 15,45). Deshalb kann allen Menschen Hoffnung
gemacht werden, ohne dass die Leiden der Gegenwart schöngeredet werden: „Gesät wird in Vergänglichkeit, auferweckt in
Unvergänglichkeit; gesät wird in Schande, auferweckt in Ehre;
gesät wird in Schwäche, auferweckt in Kraft“ (1 Kor 15,42-43).
129. Ähnlich wie beim Thema der Gottebenbildlichkeit werden
auch Sünde und Erlösung in der evangelischen wie der katholischen Theologie auf der gemeinsamen biblischen Basis unter
wichtigen Gesichtspunkten unterschiedlich interpretiert. Auf
der Basis der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ werden wir in Kapitel 3.2 zeigen, dass die verschiedenen
Interpretationen zwar verschiedene Aspekte biblischer Soteriologie erhellen, aber keinen Dissens in der Anthropologie erkennen lassen. In einer neuen ökumenischen Studie zur biblischen
Rechtfertigungslehre wird der Ansatz vertieft und mit dem
Dienst an der Gerechtigkeit verknüpft: „Die heilende Kraft der
göttlichen Zusage von Vergebung, Versöhnung und Erneuerung
berührt auch Menschen von heute im Kern ihrer Existenz. Die
soziale Dimension der Rechtfertigungslehre, ihre eindeutige
Ablehnung jeder Vergötterung von Erfolg, Gier oder Macht, und
ihre klare Zurückweisung aller Versuche, den Wert von Menschen aufgrund ihrer Nützlichkeit einzustufen, wird uns anleiten, neue Wege zu finden, auf denen wir die Botschaft der
Rechtfertigung als den tiefsten Ausdruck des befreienden Evangeliums von Gottes Gnade in Jesus Christus leben, lehren und
verkündigen können.“54
54
W. Klaiber, Biblische Grundlagen (siehe Anm. 12), S. 166.
88
3.1.3 Die Erlösung des Menschen
130. Das biblische Menschenbild stellt nicht nur die Erschaffung, sondern auch die Erlösung und Vollendung des Menschen
vor Augen. So wenig Schuld und Leid relativiert werden, so groß
ist doch die Hoffnung auf Vergebung und Erlösung. Den Menschen ist das ewige Leben verheißen, dessen Vorschein die
Gläubigen schon hier und jetzt sehen können, auch in Not und
Leid. Der Glaube an die Gegenwart des Heils und die Hoffnung
auf die Zukunft des vollendeten Heils prägen das Bekenntnis zu
Gott, der aus Liebe alle Menschen zur endgültigen Gemeinschaft mit sich beruft.
131. Nach alter Auslegung ist bereits der Geschichte von der
Vertreibung aus dem Paradies die Hoffnung auf Erlösung eingeschrieben. Gott spricht nach Gen 3,15 zur Schlange, dem Symbol des Bösen: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dich und
der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Er
wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“ Eva, in der die christliche Theologie später ein Gegenüber Marias gesehen hat, steht nicht auf der Seite des Bösen,
sondern auf der Seite Gottes. Durch Evas Nachkommen, in dem
die christliche Theologie Jesus gesehen hat, wird das Böse besiegt – durch den Tod hindurch.
132. In der alttestamentlichen Prophetie wächst die Verheißung, dass Gott seinem Volk nicht den Untergang bereitet,
obwohl es Schuld auf sich geladen hat, sondern ihm Zukunft
eröffnet (Jer 29,11). Im Laufe der Zeit entsteht eine Hoffnung
auf die Auferstehung. Sie ist angetrieben von der Erfahrung
unschuldigen Leidens und der Frage nach der Gerechtigkeit
Gottes. Sie leugnet nicht die harte Realität des Todes. Aber sie
vertraut auf Gott, dass er einen neuen Himmel und eine neue
Erde erschaffen wird (Jes 65,17; 66,22 – 2 Petr 3,13; Offb 21,1).
Es gibt schon im Alten Testament das Zeugnis einer Auferstehung von den Toten, die den Gerechten das ewige Leben bereitet (Dan 12,1-3).
89
133. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments ist Jesus frei von
der Sünde (Hebr 4,15). Aber er ist nicht auf Abstand zu den
Sündern gegangen, sondern ist ihnen nahegekommen. Als
„Freund der Sünder“ (Mt 11,19; Lk 7,34) ist er kritisiert worden;
aber er hat ihnen Gott nahegebracht. Jesus scheut nicht die
Nähe zu den Sündern, auch nicht zu den Unreinen, den Aussätzigen und den Befleckten, weil er den Segen, die Gnade, die
Heiligkeit Gottes ausstrahlt.
134. Jesus hat das Evangelium Gottes verkündet, um „allen zu
leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes“
(Lk 1,79). Das Neue Testament sieht den Zusammenhang von
Sünde und Tod, der von Israels Gesetz aufgestellt, von Israels
Weisheit reflektiert und von Israels Prophetie eingeschärft wird:
Sünde macht krank; sie bringt den Tod, weil sie Leben zerstört
(Röm 6,23). Aber Jesus kritisiert nach Lk 13,1-9 und Joh 9,2f.
den Umkehrschluss, dass ein Mensch, der leidet, durch sein
Leiden als Sünder entlarvt wird, der eine eigene oder fremde
Schuld büßen muss. Jesus ist zeitlebens auf dem Weg zu Menschen, die im Verdacht standen oder sich selbst im Verdacht
hatten, ungeliebt und ungewollt zu sein, um ihnen Gottes Nähe
zuzusagen (Lk 15). Ob sie schuldig sind oder nicht: Sie sind und
bleiben Gottes Geschöpfe; Gott hat sie zur Teilhabe an seiner
Liebe berufen.
135. Jesus bringt den Sündern Gottes Gerechtigkeit als große
Gnade. Er geht in das Haus des Oberzöllners Zachäus, eines
notorischen Sünders, um bei ihm Gast zu sein. Dort sagt er:
„Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, weil auch er ein Sohn
Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, die verloren sind“ (Lk 19,9-10). Alle Evangelien erzählen von vielen Gesten und Worten, mit denen Jesus
Krankheit heilt, Not lindert und Sünden vergibt. Die Ehebrecherin schützt er vor dem drohenden Tod: „Wer unter euch ohne
Sünde ist, werfe als erster den Stein auf sie“ (Joh 8,7). Der Sünderin, die ihm das Haar und die Füße salbt, sagt er: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (Lk 7,36-50).
90
136. Der Heilsdienst, den Jesus in seinem Leben leistet, vollendet sich in seinem Tod: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, bedient zu werden, sondern zu dienen und sein Leben zu
geben als Lösegeld für viele“ (Mt 20,28; Mk 10,45). Das Neue
Testament kennt viele Bilder und Begriffe, Motive und Formeln,
um die Heilsbedeutung des Todes Jesu auszudrücken. Im Kern
steht, dass Jesus „für“ die Menschen gestorben ist: ihnen zu
gute, damit sie das Leben haben; an ihrer Stelle, weil sie sich
nicht selbst retten können; ihretwegen, weil sie Schuld auf sich
geladen haben. Jesus befreit von der Macht des Todes dadurch,
dass er ihn auf sich genommen hat: für alle Menschen, die sterben müssen. Nach dem Johannesevangelium erscheint Jesus als
der Gute Hirt, der „sein Leben einsetzt für die Schafe“ (Joh
10,11). Nach dem Matthäusevangelium sagt Jesus beim Letzten
Abendmahl: „Dies ist mein Blut des Bundes, vergossen für viele
zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28; vgl. Mk 14,24). In der
Feier des Herrenmahls wird Jesu heilvolle Hingabe am Kreuz
Gegenwart.
137. Der Heilstod Jesu steht in untrennbarer Verbindung mit
seiner Auferstehung. Paulus schreibt im Römerbrief: „Er wurde
um unsrer Übertretungen willen hingegeben und um unsrer
Rechtfertigung willen auferweckt“ (Röm 4,25). Die Auferstehung Jesu geschieht im Zuge der Erhöhung: Christus „ist zur
Rechten Gottes und tritt für uns ein“ (Röm 8,34). Er selbst vergegenwärtigt seinen Heilsdienst, den er durch seinen Tod am
Kreuz vollendet hat. Deshalb kann Paulus den gemeinsamen
Glauben als Grund größter Freude und Zuversicht beschreiben:
„Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes
noch Tiefes noch eine andere Kreatur können uns scheiden von
der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (Röm
8,38-39).
138. Die Auferstehung Jesu begründet die Hoffnung auf die
Auferstehung der Toten. Nach dem Johannesevangelium verheißt Jesus seinen Jüngern, die über seinen Tod trauern und
91
Angst haben, allein in der Welt zurückzubleiben: „Ich werde
euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen und niemand nimmt euch eure Freude“ (Joh 16,22). Paulus verbindet
das Bekenntnis des Glaubens mit der Hoffnung auf Vollendung:
„Wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist,
wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm
zusammenführen. […] So werden wir immer beim Herrn sein“
(1 Thess 4,13-18). Die Gemeinschaft mit Gott durch die Gemeinschaft mit dem auferstandenen Jesus Christus im Heiligen
Geist ist der Inbegriff der Vollendung. Aus dieser Gemeinschaft
schöpfen Glaubende Hoffnung auf die durch Gott geschenkte
Gemeinschaft aller Menschen untereinander.
139. Die Hoffnung auf die Gegenwart und Zukunft der Erlösung
folgt aus dem Glauben. Sie ist aber nicht nur auf diejenigen
beschränkt, die glauben. Vielmehr gehört es zum Glauben, für
das Heil aller Menschen zu beten und auf Gottes Gnade für alle
zu hoffen. Für alle gilt, dass es nicht die guten Werke sind, die
zur gegenwärtigen und künftig vollendeten Erlösung führen,
sondern dass Gottes Liebe den Menschen das ewige Leben
schenkt. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“
beruft sich für die Hoffnung auf den Apostel Paulus: „Durch die
gerechte Tat Christi wird es ‚für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt‘ (Röm 5,18).“55
140. In der Taufe wird die gegenwärtige Rechtfertigung wie die
ausstehende Vollendung gefeiert. Sie gliedert in die Kirche ein,
die ein Leib ist mit vielen Gliedern (1 Kor 12,12-27). Sie ist die
eine Taufe für Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Männer
und Frauen (Gal 3,26ff.). Sie verschafft das Bürgerrecht im Gottesvolk. Sie gibt Anteil an Jesu Tod und Auferstehung (Röm
6,3f.). Sie verleiht den Heiligen Geist, der ein Angeld der Vollendung ist (2 Kor 1,22).
55
GER, Nr. 12.
92
3.1.4 Anfang und Ende des Lebens
141. Die Bibel ist ein Buch des Glaubens, das die Spuren seiner
Entstehungszeit an sich trägt. Die Erkenntnisse der modernen
Medizin sind ihr nicht gegeben. Die biblischen Aussagen über
den Anfang und das Ende des Lebens sind im Rahmen ihrer Zeit
entstanden und können nur unter ihren eigenen Voraussetzungen verstanden werden. Sie bedürfen der kreativen Übersetzung in die Gegenwart. Eine solche Übersetzung wird in den
folgenden Teilen der Arbeit vorgeschlagen. Hier geht es nur
darum, Grundaussagen der Bibel über den Anfang und das Ende
in Erinnerung zu rufen, die auch heute noch Orientierung geben.
142. Auch wenn in der Zeit der Bibel nicht die heutigen Kenntnisse über die Entstehung des menschlichen Lebens herrschten,
ist zu sehen, dass jeder Mensch von Anfang an, schon „im Mutterleib“, Gottes Kind ist (Hiob 10,8-11; 31,15; Ps 139,13-16;
Weish 7,1; Jes 49,1; Jer 1,5). Schon vor der Geburt beginnt die
Geschichte Gottes mit dem Menschen. „Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter
Schoß an“ (Ps 22,11). Nach der Bibel beginnt das menschliche
Leben mit der Zeugung (Mt 1,1-17) resp. der Empfängnis (Ps
51,7; Jes 7,14; Hos 9,11; Mt 1,23; Lk 1,31.36; 2,21). Kinder erhalten einen Namen; das war auch bei Jesus so (Lk 2,21). Der
„Name“ steht für die Individualität, die Person des Menschen,
wie man mit philosophischen Begriffen sagen kann. Menschen,
die einen Namen haben, können zu Gott „Du“ sagen, weil er zu
ihnen „Du“ sagt: „Ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst zu mir“ (Jes 43,1) – was Gott nach dem Prophetenwort zu
Israel sagt, sagt er übertragen zu jedem Menschen.
143. In der Bibel gelten Empfängnis, Schwangerschaft und
Geburt als großes Glück, als Segen und Gnade. Sie lösen Freude
und Dankbarkeit aus (1 Sam 2,1-11). Wenn eine Frau Kinder
haben will, aber nicht bekommen kann, kann sie wie Hanna das
Unglück aussprechen, das sie empfindet (1 Sam 1). In der Bibel
93
wird aufgearbeitet, dass Kinderlosigkeit als Schande (Gen 16,5;
30,23; Jes 54,4; Lk 1,25) und gar als Strafe Gottes (vgl. Jer 15,7;
Jes 49,21 – metaphorisch auf Israel bezogen) angesehen wurde.
Tatsächlich drohen die Gerichtspropheten Israel Kinderlosigkeit
an, um ihm Gottes Zorn widerzuspiegeln (Hos 9,14). Aber die
Bibel ergreift Partei für die gedemütigten und verdächtigten
Frauen. Sie erzählt von unverhofften Geburten nach langen
Zeiten der Enttäuschung, die ein großes Glück nicht nur für die
Mütter und Väter, sondern auch für ganz Israel geworden sind
(Gen 11,30; 18,1-19; Ri 13; Lk 1,7.36; Röm 4,19; Hebr 11,11).
Die Prophetie kennt die Verheißung größten Glücks für die
Unfruchtbare (Jes 54,1). Jesus misst Frauen nicht an ihren Kindern, sondern er begegnet Frauen und Männern als von Gott
geliebten Menschen mit ihrem je individuellen Weg. Dabei legt
er weder Frauen noch Männer auf bestimmte Rollen fest.
144. „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) ist eine Ermutigung zum Leben, aber kein Gebot, das von jedem Menschen befolgt werden muss. „Kinder sind eine Gabe des Herrn“
(Ps 127,3), aber der Sinn des Lebens hängt nicht davon ab, Kinder zu bekommen. Jeremia hat ehelos gelebt als Zeichen seiner
Zugehörigkeit zum Gottesvolk, das in die Verbannung zieht (Jer
16,1-9). Jesus (Mt 19,12) und Paulus (1 Kor 7,7) haben um des
Himmelreiches willen ehelos gelebt. Bei Jesaja findet sich die
Verheißung, dass all jene, die keine Kinder haben, in einer großen Familie leben werden, wenn die Vollendung kommt (Jes
54,1; vgl. Gal 4,27 und Jes 62,4).
145. Aus der Schöpfungstheologie erklärt sich die Stellung der
frühen Kirche zur Abtreibung, auch wenn es keine genauen
gynäkologischen Kenntnisse über den Verlauf der Schwangerschaft gegeben hat. In der Bibel wird der Schwangerschaftsabbruch nicht direkt erwähnt. In der Umwelt hat es immer wieder
Abtreibungen gegeben, aber auch Kindesaussetzungen, vor
allem von Mädchen und von körperlich beeinträchtigten Säuglingen; freilich gab es auch Kritik an solchen Praktiken. Es gehört
zu den biblisch begründeten Überzeugungen des frühen Chris94
tentums56, dass Abtreibung gegen Gottes Gebot ist, weil das
Kind schon im Mutterleib Gottes Kind ist.
146. Auch wenn die Bibel in Zeiten entstanden ist, die durch
große Krisen, durch viel Armut, durch häusliche Gewalt und
Sklaverei, durch Krieg, Flucht und Vertreibung gekennzeichnet
waren, wird das Leben durch und durch bejaht. Die Freude,
dass ein Mensch geboren wird und sein Leben führt, ist groß
(Tob 10,13). Sie ist in der Liebe des Schöpfers begründet, der
das Glück eines menschlichen Lebens ausmacht (Koh 2,24),
auch wenn es im Schatten des Todes steht (Koh 4,1-3; 6,3-5).
Nach der Geburt beginnt der Mensch, die ersten Schritte auf
dem eigenen Lebensweg zu machen. Er braucht die Hilfe, die
Erziehung, die Liebe seiner Eltern und der ganzen Familie. Er
braucht andere Menschen, die für ihn Verantwortung übernehmen, wenn die nächsten Angehörigen ihm nicht helfen
wollen oder können. Er braucht Freundinnen und Freunde. Ihm
soll die Zukunft gehören; er soll erwachsen werden.
147. In der Bibel haben Kinder einen besonderen Stellenwert.
Sie sind voll und ganz Mensch, weil sie Kinder Gottes sind. In
den biblischen Texten werden allerdings Mädchen und Jungen
oft nicht gleich wertgeschätzt und nicht gleich behandelt. In
diesen Unterscheidungen zeigt sich aber nicht der genuine
Ansatz biblischer Schöpfungstheologie und Soteriologie, sondern die Zeitbedingtheit der Bibel. Gott sei Dank gibt es starke
Gegenbeispiele. In Ps 8 heißt es, ohne dass zwischen Mädchen
und Jungen unterschieden würde: „Aus dem Mund der Kinder
und Säuglinge schaffst du dir Lob“ (Ps 8,3; Mt 21,16). Ein klares
Zeichen ist die Kindersegnung durch Jesus: Auch hier werden
Jungen wie Mädchen zu Jesus gebracht und von ihm zu Vorbil56
Vgl. Didache 2,2; Barnabasbrief 19,5; Diognetbrief 5,5 (alle in: Schriften des Urchristentums, Zweiter Teil, hrsg. von K. Wengst, Darmstadt
1984, 69, 189, 319); Tertullian, Apologeticum 9,8 (Fontes Christiani,
Bd. 62, eingeleitet und übersetzt von T. Georges, Freiburg i. Br. 2015,
103).
95
dern für Menschen gemacht, die in das Reich Gottes wollen (Mt
19,13-15; Mk 10,13-16; Lk 18,15-17; vgl. Mt 18,3-5; Mk 9,36-37;
Lk 9,47-48). Jesus selbst stellt ein Kind in die Mitte, um seinen
Jüngern zu zeigen, was menschliche Größe ist (Mt 18,1-5; Mk
9,33-37; Lk 9,46-48).
148. Das Leben der Menschen endet mit dem Tod. Die Bibel
kennt das Ideal, „alt und lebenssatt“ zu sterben (Gen 25,8;
35,29). Aber sie weiß, dass die Realität oft anders aussieht:
„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so
sind's achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist Mühe
und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir
davon“ (Ps 90,10). Die Bibel weiß um den allzu frühen, den
qualvollen und den ersehnten Tod. Trauer und Leid werden
nicht relativiert. Aber auch im Sterben bleibt der Mensch Kind
Gottes. Das Wissen um den kommenden Tod zu verdrängen, ist
eine Versuchung. Deshalb wird gebetet: „Lehre uns bedenken,
dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps 90,12).
149. Wenn ein Kind stirbt, sei es durch Gewalt oder ein Unglück, sei es durch Krankheit oder Krieg, ist es härtestes Unglück
und Grund zu großer Trauer. Die Frage bricht auf, wie Gott
diesen Tod hat zulassen können. Wenn Eltern über den Tod
eines Kindes untröstlich sind, darf ihnen ihre Trauer nicht ausgeredet werden. Sie hat vielmehr ihren festen Platz im menschlichen Leben, wie es in der Bibel verstanden wird. „Rachel weint
um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen; denn sie sind
dahin“ – dieses unsägliche Leid, von dem das Buch des Propheten Jeremia Zeugnis ablegt (Jer 31,15), ist auch im Neuen Testament nicht vergessen, insofern Matthäus in seiner Geschichte
vom Kindermord in Bethlehem dieser Klage Raum gibt (Mt
2,18). Die Bibel setzt darauf, dass Gott eine Antwort geben
wird, durch die alle Tränen getrocknet werden (Jer 31,15-22).
Die Bibel erzählt so von Gott, dass er am Leiden der Menschen
Anteil nimmt und ihnen auch darin nahe ist. Das beantwortet
nicht die Frage, wie Gott das Leid und den Tod hat zulassen
können. Glaubende Menschen erfahren, dass sie im Glauben
96
mit solchen offenen Fragen leben können, weil sie vor Gott
klagen dürfen.
150. In einigen Texten des Alten Testaments bricht die Auferstehungshoffnung durch. Im Neuen Testament ist sie durch die
Verkündigung Jesu (Mk 12,18-27 parr.) und durch seine eigene
Auferstehung von den Toten grundlegend (1 Thess 4,13-18;
1 Kor 15; Röm 8). Die Auferstehungshoffnung relativiert nicht
das irdische Leben, sondern setzt darauf, dass Gott alles irdische ins ewige Leben verwandelt (1 Kor 15,15-55 mit Hos
13,14). Ohne die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten wäre
das Evangelium leer (1 Kor 15,14; vgl. 20.28. 43-49); mit dieser
Hoffnung ist es eine große Verheißung geglückten Lebens in der
Gegenwart Gottes.
3.1.5 Option für die Armen
151. Nach dem Lukasevangelium beginnt Jesus seine öffentliche Verkündigung in der Synagoge von Nazareth mit einem
Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja: „Der Geist des Herrn
ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit
ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden
das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18-19; Jes 61,1-2).
Diese Option für die Armen ist das Lebensprogramm Jesu. Auf
den Wegen seiner öffentlichen Verkündigung hat er die Armen
reich gemacht: durch die Heilung von Kranken, durch die Befreiung der Besessenen von bösen Geistern, durch die Speisung
der Hungernden. Er hat die Armut der Armen geteilt (Lk 9,58).
Er hat in seinen Gleichnissen die Geschichten ausgebeuteter
Tagelöhner, betrogener Witwen und gedemütigter Sünder erzählt, um sie mit Gott und seiner Herrschaft in engste Verbindung zu bringen. Er hat die Reichen ermahnt, ein Herz für die
Armen zu haben. Die Beispielgeschichte vom reichen Prasser
und armen Lazarus (Lk 16,19-31) zeigt schlaglichtartig, wo Jesus
97
steht. Die Seligpreisung der Armen (Lk 6,20f.; vgl. Mt 5,3-12)
vertröstet sie nicht auf ein besseres Jenseits, sondern verändert
jetzt schon ihr Elend, indem sie ihnen Gottes Segen zuspricht.
152. Die jesuanische Option für die Armen steht auch in der
Tradition der Prophetie Israels. Nicht nur das Jesajabuch ist von
entschiedener Eindeutigkeit (vgl. Jes 3,14f.; 10,2 u. ö.). Jeremia
kritisiert korrupte Richter (Jer 5,28) und setzt auf Gott, der den
Armen Recht schafft (Jer 20,13; 22,16). Amos prangert die Gier
der Reichen an, welche die Armen ausbeuten (Am 2,6; 4,1-3;
8,4-14) und diskriminieren (Am 5,12). Sacharja mahnt die Mächtigen: „Unterdrückt nicht die Witwen und Waisen, die Fremden
und Armen und plant in eurem Herzen nichts Böses gegeneinander!“ (Sach 7,10). In den Psalmen kommt die Hoffnung auf
Gottes Hilfe für die Armen zum Ausdruck (Ps 9-10; 35,10; 68,11;
69,34; 72 u. ö.); die Armen erhalten aber auch selbst eine
Stimme: Sie sind nicht nur die Empfänger solidarischer Unterstützung, sondern Subjekte eines Vertrauensglaubens, der für
alle Menschen vorbildlich ist, weil er alle Hoffnung auf Gott
setzt und darin nicht betrogen wird (Ps 22,22-27; 40,18; 86;
140). In der Tora gibt es eigene Gesetze, die das Recht der Armen schützen – sicher nicht auf dem Niveau heutiger Sozialstaaten, aber in bemerkenswerter Klarheit, die für spätere Generationen richtungsweisend ist. Besonderes Augenmerk gilt
den Witwen und Waisen, weil ihre soziale Lage besonders
schwierig war (Dtn 10,18; 14,29; 24,17-22 u.ö.).
153. Im Urchristentum ist das alttestamentliche Ethos der Armen lebendig, das im Heilswillen Gottes selbst begründet
ist. Die Urgemeinde organisiert eine caritativ hoch effektive
Gütergemeinschaft, um die Armen nicht hungern zu lassen (Apg
2,42-46; 4,32-37). Als die Versorgung der Witwen schwierig
wird, findet sie eine Lösung, die zur Etablierung einer verlässlichen Armenfürsorge geführt hat (Apg 6,1-7). Auf dem Apostelkonzil wird eine Kollekte der neugegründeten Gemeinden für
Jerusalem vereinbart (Gal 2,10). Für Paulus ist die Missachtung
der Armen bei der Feier des Herrenmahles das schlimmste
98
Sakrileg (1 Kor 11,17-34). Der Jakobusbrief ist eine scharfe
Mahnrede an die Reichen, ihren Glauben durch ihr Verhalten,
besonders die Anerkennung und Unterstützung der Armen, zu
bewahrheiten (Jak 2,1-13; 5,1-6). All diese sozialen Aktivitäten
bleiben im kleinen Rahmen, weil die urchristlichen Gemeinden
als eine kleine, verfolgte Minderheit keine Sozialpolitik treiben
können. Damit aber weisen die frühen Christinnen und Christen
die Richtung, an welcher sich dann christliche Sozialgestaltung
zu späteren Zeiten und in anderen Kontexten orientieren kann.
154. In einem Brief, den Paulus an die Korinther schreibt, um
die vereinbarte Kollekte für die Armen in Jerusalem zum Abschluss zu bringen, macht der Apostel den tiefsten Grund der
Option für die Armen deutlich: die Anteilnahme Gottes selbst
an der Armut der Menschen, durch die sie unendlich reich werden. Mit Blick auf Jesus, den gekreuzigten und auferstandenen
Christus, schreibt Paulus: „Er, der reich war, ist unseretwillen
arm geworden, damit wir durch seine Armut reich werden“
(2 Kor 8,9). Die Option für die Armen ist nicht nur eine ethische
Verpflichtung; sie ist auch eine Anerkennung der eigenen Armut
und ein Ausdruck der Hoffnung auf den Reichtum der Gnade
Gottes, die alle Armut beendet.
3.2
Menschenwürde als Grundbegriff gegenwärtiger
Theologischer Anthropologie
155. Im vorhergehenden Abschnitt wurde das biblische Zeugnis
von der in Gott begründeten Menschenwürde ökumenisch
gemeinsam erschlossen. Jetzt geht es darum, in einer gleichfalls
ökumenisch verbindenden Reflexion dieses Zeugnis systematisch-theologisch zu reflektieren. Aus diesem Grund wird zuerst
das christliche Menschenbild im Horizont der kirchlichen Traditionen und der gegenwärtigen Diskussionen beschrieben und
dann die theologische Bedeutung des Menschenwürdebegriffs
aufgewiesen. Das setzt eine Vergewisserung über die Geschichte des Menschenwürdebegriffs voraus.
99
3.2.1 Zur Geschichte des Menschenwürdebegriffs
156. Der Begriff der Würde des Menschen hat eine lange Tradition. In der römischen Antike wurde der Begriff dignitas verwendet, um die hervorgehobene Stellung Einzelner in einer
Gesellschaft zu bezeichnen. „Würde“ meinte dann die besondere Ehre, die einzelnen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer
Ämter oder öffentlich sichtbarer Leistungen gesellschaftlich
zukommt. Gleichzeitig wurde damit die Vorrangstellung des
Menschen gegenüber dem Tier benannt. Cicero sprach dabei
schon von einer allgemeinen Menschenwürde aufgrund der
allen Menschen gemeinsamen Vernunftteilhabe. In der antiken
christlichen Theologie bildete sich bald die Vorstellung aus, dass
die Würde aller Menschen an ihrer Gottebenbildlichkeit hängt,
welche sich vor allem in der menschlichen Vernunft und Willensfreiheit zeige.
157. Dennoch erreichte der Würdebegriff aus verschiedenen
Gründen keine die Gesellschaft der christlichen Antike und des
Mittelalters prägende Funktion. Denn gleichzeitig war der
christlichen Theologie bewusst, dass der Mensch auch ein aus
der Erde genommenes Wesen ist, Adam, das wie Gras vergeht.
Auch ist er aus theologischer Sicht Sünder und Sünderin. Mit
der starken Betonung, dass der Mensch sein Recht vor Gott
verwirkt hat, schien es unmöglich, von einer unverbrüchlichen
menschlichen Würde auszugehen, aus der unveräußerliche
Rechte folgten. Die Unterscheidung von Christinnen und Christen gegenüber Heiden und Heidinnen schien es schließlich zu
verwehren, allen Menschen in gleicher Weise Würde zuzuerkennen. Würde schien nur Christen und Christinnen zuzukommen, weil sie sich als Kinder Gottes verstehen.
158. In der Philosophie der Renaissance wurde dann die Würde
aller Menschen neu herausgestrichen: Sie hänge mit der Gottebenbildlichkeit zusammen, die darin liege, dass der Mensch
sich in Freiheit selbst bestimmen kann als „Bildner seiner
selbst“. Gegen die Vorstellung, nur Christinnen und Christen
100
besäßen Menschenwürde, begründete die spanische Spätscholastik die menschliche Würde in der Geselligkeit des Menschen,
die ihrerseits aus der Schöpfung folgt. Diese Geselligkeit finde
sich auch bei den Heiden und Heidinnen. Deshalb besäßen
Heidinnen und Heiden ebenfalls Würde und seien mit den gleichen Rechten wie die Christen und Christinnen ausgestattet.
159. Stärkere ethisch-rechtliche Relevanz erhielt der Begriff der
Menschenwürde dann in der Aufklärung. Dabei begründeten
Aufklärungsdenker die Würde nicht mehr über die Gottebenbildlichkeit des Menschen, sondern mit der Vernunft und der
Autonomie des Menschen. Nach Immanuel Kant hat der
Mensch Würde als moralisches Vernunftwesen, das sich selbst
das Gesetz seines Handelns gibt und deshalb auch entsprechend behandelt werden muss. Ein Mensch ist nie nur Mittel
zum Zweck, sondern muss immer auch als „Zweck an sich
selbst“ betrachtet werden. Dadurch unterscheiden sich Person
und Sache: Sachen haben nach Kant einen „relativen Wert“
oder „Preis“, Personen einen „unbedingten Wert“ oder eine
„Würde“: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis
oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann
auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“57 Im Gefolge Kants haben sich in der
Philosophie zahlreiche Begründungen von Menschenwürde
entwickelt, die von anthropologischen Grundbeschaffenheiten
ausgehen und ohne einen Gottesbezug auskommen. Andere
philosophische Konzeptionen der Gegenwart verweisen in der
Begründung der Menschenwürde auf die Rolle der geschichtlichen Erfahrung der Negation von Würde; an der Erfahrung der
Verletzung von Menschenwürde erkenne man, was Menschenwürde ist. Jüdische Philosophinnen und Denker wie zum Beispiel Hannah Arendt, Emmanuel Lévinas und Avishai Margalit
haben zum Verstehen von Menschenwürde und Menschen57
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (hg. von Karl Vogtländer), Hamburg 1965, S. 58.
101
rechten ganz Wesentliches beigetragen. Hannah Arendt hat
angesichts der Staatenlosigkeit von Flüchtlingen gezeigt, dass
für die Wirksamkeit von Menschenrechten es darauf ankomme,
dass das Menschenrecht ein Recht auf Staatsbürgerschaft und
somit das Recht auf (nationalstaatlich garantierte) Rechte sei.
Emmanuel Lévinas stellt ins Zentrum seiner Überlegungen, dass
Menschenwürde bedeute, die „Andersheit des anderen“ wahrzunehmen und zu respektieren. Avishai Margalit hat auf den
Zusammenhang von Menschenwürde, Selbstachtung und Verzicht auf Demütigung aufmerksam gemacht; er fragt, wie Gesellschaft aussehen muss, die institutionell und intersubjektiv
auf Demütigung verzichtet. Dabei hat er für die vielfältigen
Formen sensibilisiert, durch die Menschen Demütigung erfahren. Für die gegenwärtige Debatte um Menschenwürde gehören der Gleichheitsaspekt – alle Menschen haben gleichermaßen Menschenwürde und damit das Recht auf Rechte – und der
Individualitätsaspekt – jedem Menschen kommt als Individuum
und in seiner Individualität Würde zu – zusammen.
160. Menschenwürde hat einen normativen Gehalt, der besagt,
dass kein Mensch mit anderen Gütern, auch nicht mit einem
anderen Menschen, verrechnet werden darf. Dieses Instrumentalisierungsverbot, das auf Kant zurückgeht, besagt: Kein
Mensch darf in seinem Eigenwert dadurch negiert werden, dass
er um des Wohlergehens anderer willen verzweckt wird. Der
Wert eines Menschen kann durch nichts und niemanden aufgewogen werden. Wenn aus der Menschenwürde Menschenrechte abgeleitet werden, wird der normative Gehalt der Menschenwürde explizit gemacht und es wird entfaltet, in welchen
konkreten Hinsichten die Würde des Menschen einen bestimmten Umgang mit ihm ge- bzw. verbietet. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die UN 1948 umfasst neben
Freiheitsrechten auch soziale und kulturelle Rechte, wie zum
Beispiel das Recht auf Bildung und das Recht auf Arbeit.
161. Es gibt zwei Weisen, die Menschenwürdekonzeption zu
verstehen. In der einen wird Menschenwürde so begriffen, dass
102
der Mensch sie immer schon besitzt und sie deshalb unabhängig von der Anerkennung durch Andere ist. In der anderen wird
Menschenwürde als etwas begriffen, was beschädigt und verletzt werden kann.58 Im ersten Fall ist Würde nicht von einem
Zugesprochenwerden durch andere Menschen oder von deren
Achtung abhängig. Entsprechend ist sie unverlierbar. Sie begründet aber den unbedingten Anspruch an Andere, diese
Würde durch das Anerkennen der darin liegenden Rechte des
Würdeinhabers zu achten. Das meint die Rede von der unantastbaren Würde. Auch im zweiten Fall hat der Begriff „Menschenwürde“ einen normativen Anspruch. Aber es wird stärker
betont, dass die Würde eines Menschen durch eigenes oder
fremdes entwürdigendes Verhalten beschädigt werden kann. So
verstanden, kann sie stärker oder schwächer verletzt und sogar
zerstört werden. Hier hat die Rede vom notwendigen Schutz
der Menschenwürde und von einem menschenwürdigen Leben
ihren Ort.
162. Diese zweite Verwendungsweise kann aber zu einem
problematischen Missverständnis führen. Zum Beispiel findet
man im Kontext von Krankheiten die Aussage, ein bestimmtes
Leid mache ein menschenwürdiges Leben unmöglich. Dann
scheint es, als könne eine Krankheit einem Menschen die Würde nehmen, so dass es sich gar nicht lohnen könne weiterzuleben. Dagegen kann die erste, die Unverlierbarkeit betonende
Verwendungsweise geltend gemacht werden. Auch wenn ein
Mensch schwer leiden muss, seine Würde verliert er dadurch
nicht, sondern er behält sie. Diese Würde verlangt von anderen
Menschen, ihn immer und unter allen Umständen als ein Wesen mit Würde zu behandeln. Umgekehrt gilt ebenso: Wie
schlimm Menschen auch immer die Würde anderer missachten,
sie zerstören mit ihrem furchtbaren Tun niemals den Anspruch
eines Menschen auf Anerkennung seiner Würde. Die Aufgabe
58
Vgl. die Analyse bei Ch. Horn, Die verletzbare und die unverletzbare
Würde des Menschen – eine Klärung, in: Information Philosophie,
Heft 3 (2011), S. 30-41.
103
der menschlichen Gemeinschaft ist es, solche Missachtungen
von Menschenwürde möglichst zu verhindern und in jeder Hinsicht Menschen zur Anerkennung ihrer unverlierbaren Menschenwürde zu verhelfen.
163. Wir verwenden im Folgenden Würde im Sinne der unverlierbaren, dem Menschen immer zukommenden Würde. Das
Anliegen der zweiten Verwendungsweise wird aber in der Sache
dort aufgenommen, wo davon geredet wird, dass es darauf
ankommt, der eigenen Würde gemäß zu leben bzw. mit anderen ihrer Würde entsprechend umzugehen.
164. Auch wenn in den meisten ethischen Konzeptionen jedem
Menschen Würde zugestanden wird, gibt es Ansätze, die von
einem gestuften Menschenwürdeschutz ausgehen. Zwar hätten
alle Menschen Würde, aber je nach Entwicklungsstufe und
Umständen fordere diese Würde einen anderen Schutz. Die
normative, orientierende Kraft des Würdebegriffs wird damit
jedoch aufgeweicht und letztlich ausgehöhlt. Deshalb werden
diese Konzeptionen abgelehnt; sie widersprechen der biblischen Anthropologie und schwächen den Kampf um die Durchsetzung von Menschenrechten.
3.2.2 Wer ist der Mensch? – Grundelemente
Theologischer Anthropologie
165. Jedem Konzept von Menschenwürde liegt ein Verständnis
von Menschsein zugrunde. Entsprechend hängt das christliche
Verständnis von Menschenwürde daran, wer aus christlicher
Sicht der Mensch ist. Dies soll im Folgenden, in Aufnahme der
biblischen Basis (Kap. 3.1) knapp gezeigt werden.
166. In den letzten Jahren ist das Aufgreifen der Rede von einem „christlichen Menschenbild“ im Zusammenhang mit der
Menschenwürde mehrfach und mit verschiedenen Argumenten
kritisiert worden. Dabei wird zum einen auf die unsachgemäße
104
Rede vom christlichen Menschenbild hingewiesen. Mit der
Bezugnahme auf das „christliche Menschenbild“ könne man je
nach Zeitsituation sehr Verschiedenes kritisieren oder einfordern. Die Kirchen seien, so die Kritik, nicht davor gefeit, mit
Verweis auf das christliche Menschenbild eigene institutionelle
Interessen durchzusetzen oder zu verdecken. Dieser Kritik ist zu
begegnen, indem die Kirchen bei ihrem Einsatz für die Menschenwürde immer auch selbstkritisch ihre eigene Praxis befragen und ihre Position diskursiv und einladend in die gesellschaftlichen Debatten einbringen. Zum anderen wird an der
Rede vom „christlichen Menschenbild“ kritisiert, dass damit der
einzelne Mensch mit seiner konkreten Notsituation übergangen
und stattdessen in ethischen Problemkonstellationen ein normativer Begriff herangezogen wird, der mit der tatsächlichen
Lebensgeschichte von Menschen nichts mehr zu tun habe. Das
„christliche Menschenbild“ sei eine abstrakte Kategorie, die
nicht zur Sensibilität im Umgang mit dem konkreten Menschen
anleite. Unser Text will zeigen, dass dieser Vorwurf nicht zutrifft, sondern ein Nachdenken über das „christliche Menschenbild“ gerade für eine Wahrnehmung des und der Einzelnen in
der Individualität seines und ihres Lebens und Erlebens öffnet.
Der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes
167. Der Mensch ist Geschöpf Gottes. Er hat sich nicht selbst
ins Sein begeben, sondern ist von woanders her. Wie alle anderen Geschöpfe auch verdankt er sein Sein der Liebe Gottes. Wie
alle anderen Geschöpfe wird er durch Gott im Sein gehalten.
Gott ist der Ursprung und der Quell seiner Lebenskraft.
168. Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Der Mensch ist in besonderer, ihn von anderen Geschöpfen unterscheidender Weise
das Gegenüber Gottes. Der Mensch ist zur Gemeinschaft mit
Gott berufen. Er soll in seinem Leben der Liebe Gottes zu ihm
entsprechen und auch in der Gemeinschaft mit anderen Menschen diese Liebe leben. Ebenbild Gottes zu sein ist nichts, was
Menschen erst realisieren müssten. Jeder Mensch ist es, und
105
zwar allein dadurch, dass Gott ihn zur Beziehung mit ihm geschaffen hat. Dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, besagt nicht,
dass sein Tun in dieser Welt göttlich ist. Die Schöpfung durch
Gott steht weder im Widerspruch zu den natürlichen Prozessen
der Zeugung und Empfängnis noch zur evolutiven Entwicklung
des Menschengeschlechts; vielmehr sind die natürlichen Prozesse gerade die kreatürlichen. Sie auf Gott zu beziehen, bietet
die Gewähr, Menschen nicht nur als Produkte ihrer Gene, sondern als sie selbst in ihrer genuinen Würde zu betrachten. Vielmehr impliziert es den Auftrag an den Menschen, in seinem
Verhalten gegenüber der Welt Gottes Bezogenheit auf die Welt
zu entsprechen. Der Mensch ist als freies Wesen dazu geschaffen, seiner Verantwortung in der und für die Welt gerecht zu
werden. Er darf die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstören, sondern soll sie bewahren. Dazu gehören der Respekt vor
der Gottebenbildlichkeit, Freiheit und Verantwortung der anderen Menschen und ein schonender Umgang mit allen anderen
Geschöpfen. Nicht nur die zeitgleich mit ihm lebenden Menschen sollen dabei im Blick sein, sondern die gegenwärtigen
Menschen sollen auch Rücksicht auf nachfolgende Generationen nehmen und ehrlich das Tun und Erleiden vorangehender
Generationen erinnern. Dazu gehört in besonderer Weise das
Erinnern derjenigen Menschen, deren Würde missachtet wurde, und derjenigen Menschen, die sich für die Würde anderer
eingesetzt haben. In Deutschland ist und bleibt es Aufgabe, der
Menschen zu gedenken, welche durch den Nationalsozialismus
systematisch in ihrer Menschenwürde missachtet und ermordet
wurden. Dieses konkrete Gedenken macht sensibel und wach
für Menschenrechtsverletzungen, die gegenwärtig in vielerlei
Hinsicht geschehen.
169. Alle Menschen sind Gottes Ebenbild. Gleichzeitig beinhaltet die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen auch seine Individualität und unaustauschbare Personalität. Gott ruft die Einzelne und den Einzelnen beim Namen. In dieser zweifachen Dimension des Menschen als Gattungswesen wie als Individuum
liegt eine Spannung begründet, die in ethischen Fragen auf106
leuchtet, wenn zwischen der grundlegenden universalen Norm
und dem Einzelfall unterschieden wird. In vielen konkreten
ethischen Fragen wird es zu einer schwierigen Aufgabe, zwischen dem individuellen Menschen in seiner Situation und der
Ausrichtung am Wohl für alle Menschen zu vermitteln.
Der Mensch in seiner Schuld und Not
170. Der Mensch ist als ganzer von Gott angesprochen. Aus
christlicher Sicht ist jeder Aspekt seines Menschseins, sowohl
seine Seele als auch sein Leib und sein Geist, dem Menschen
von Gott gegeben. Alles dient dazu, gottentsprechend zu leben.
Jede Reduktion des Menschen nur auf seine Seele oder seinen
Geist oder nur auf seinen Körper ist aus der Sicht theologischer
Anthropologie abzulehnen. Alle menschlichen Erfahrungen,
Glück wie Leid, Gesundheit wie Krankheit, Freude wie Trauer,
Hoffnung wie Verzweiflung, gehören aus christlicher Sicht zur
Existenz des Menschen hinzu. Sie vollziehen sich im Horizont
der Wirklichkeit Gottes. Dies wird deutlich an der Existenz Jesu
Christi, der „in allem uns gleich geworden“ (Hebr 2,17) ist. Die
schmerzlichen Erfahrungen wie Leid oder Verzweiflung haben
jedoch keinen Selbstwert; die biblischen Texte verheißen ein
Ende des Leides und eine Überwindung der Verzweiflung.
171. Der Mensch lebt als Sünder. Aus christlicher Sicht lebt er
in der Abwendung von Gott und in der Orientierung an seinem
eigenen Wohlergehen. Nicht selten benutzt er Gott und die
anderen Geschöpfe dazu, sich selbst zu sichern. Die Sünde „ist
das selbstsüchtige Begehren des alten Menschen und mangelndes Vertrauen und mangelnde Liebe zu Gott.“59 Damit übergeht
er, dass nicht er selbst, sondern Gott sein Schöpfer ist, und dass
die anderen Menschen, genauso wie er, Ebenbild Gottes sind
und die anderen Lebewesen Mitgeschöpfe. Der Begriff des
„Sünders“ soll zum Ausdruck bringen, dass der Mensch an dieser falschen Grundausrichtung essentiell beteiligt ist; er voll59
GER, GOF Annex, Nr. 2.B.
107
zieht sie selbst, wobei das individuell sehr verschiedene konkrete Gestalt annimmt. Deshalb wird gesagt, dass der Mensch
daran Schuld trägt. Gleichzeitig ist der Mensch aber der Macht
der Sünde unterworfen und kann ihr nicht entfliehen. Das entschuldigt nicht sein Fehlverhalten, zeigt aber ein Unheil, das er
nicht beheben kann.
Die Erlösung des Menschen
172. Trotz seines Seins als Sünder lässt Gott den Menschen
nicht los. Durch Jesus wird dies erkennbar. Die Verheißung der
Vergebung prägt sein Tun. Er macht durch sein Verhalten, durch
sein Wort und sein Leiden deutlich: Auch als Sünder und Sünderin hört der Mensch nicht auf, zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt zu bleiben. Durch sein Handeln in Jesus Christus hat
Gott dem Sünder und der Sünderin gezeigt, dass er ihn und sie
nicht verlässt, sondern erlöst und sie und ihn allein aus Gnade
dazu beruft, auch seinerseits wieder in der Gemeinschaft mit
Gott zu leben.
173. Gott eröffnet dem Menschen Zukunft: in diesem Leben
durch Vergebung seiner Schuld und durch ein durch den Heiligen Geist gewirktes neues Leben, in dem der Mensch gute
Werke aus Dankbarkeit für die ihm widerfahrene Gnade vollbringt, und in jenem vollendeten Leben, in dem der von Sünde,
Schuld und Leid erlöste Mensch in ungetrübter Gemeinschaft
mit Gott leben wird.
174. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ hat
gezeigt, dass es zwar typisch evangelisch-lutherische und typisch katholische Traditionen gibt, von der Sünde und den Sünden vor wie nach der Taufe zu reden, dass diese Unterschiede
aber keinen kirchentrennenden Charakter haben. Die Basis der
ökumenischen Einigung ist das gemeinsame Verständnis der
biblischen Lehre von der Rechtfertigung. „Die Gerechtfertigten
leben aus dem Glauben, der aus dem Wort Christi kommt
(Röm 10,17) und der in der Liebe wirkt (Gal 5,6), die Frucht des
108
Geistes ist (Gal 5,22f.). Aber da Mächte und Begierden die
Gläubigen äußerlich und innerlich anfechten (Röm 8,35-39, Gal
5,16-21) und diese in Sünde fallen (1 Joh 1,8.10), müssen sie die
Verheißungen Gottes immer wieder hören, ihre Sünden bekennen (1 Joh 1,9), an Christi Leib und Blut teilhaben und ermahnt
werden, in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes gerecht zu
leben.“60
175. Die Befreiung von der Schuld ist gleichzeitig eine Befreiung
des Menschen zu einem neuen Leben in Dankbarkeit gegenüber
und in Entsprechung zu Gott. Die Freiheit des Menschen wäre
als „Freiheit von“ theologisch unterbestimmt. Sie ist stets eine
Freisetzung für den Anderen. Insofern verwirklicht sich christliche Freiheit im sozialen Miteinander. Auch dem Anderen ist
dieses Leben in „Freiheit für“ zuzugestehen. „Freiheit für“ impliziert das Recht auf Leben und Unversehrtheit des Leibes, weil
man Leben und Leib sonst nicht frei für andere einsetzen kann.
Sie impliziert das Recht auf Selbstbestimmung, die sich in der
Bestimmung seiner selbst zum Wohl des und der Anderen vollendet. Und sie impliziert Glaubens- und Gewissensfreiheit,
insofern jede und jeder in der Realisierung dieser „Freiheit für“
der Bindung an die eigene Befreiungserfahrung folgen können
muss.
3.2.3 Die theologische Begründung der Menschenwürde
176. Menschenwürde ist ein begründungsoffener Begriff, der
erst durch eine bestimmte religiöse, weltanschauliche oder
philosophische Füllung seine orientierende Funktion in ethischen Einzelfragen gewinnt. „Begründungsoffen“ bedeutet
dabei nicht, dass es keine Begründung gibt, sondern dass eine
Begründung notwendig und aus verschiedenen weltanschaulichen Perspektiven möglich ist. Warum ein Mensch Würde hat,
muss begründet werden; und es kann unterschiedlich begrün60
GER, Nr. 12.
109
det werden. Dieser Sachverhalt entspricht der Situation in einer
pluralen Gesellschaft. Um die Angemessenheit der Begründung
kann und muss in ihr mit Argumenten gestritten werden. Die
jeweilige Begründung, warum ein Mensch Würde besitzt, liefert
dabei eine konkrete Füllung des Begriffes, entfaltet also, worin
diese Würde liegt. Nur konkret gefüllt, kann der Begriff der
Menschenwürde dabei helfen, die Frage zu beantworten, welches Verhalten der Menschenwürde entspricht. Ein christliches
Verständnis der Menschenwürde ist eine solche konkrete Füllung. Andere Begründungswege gibt es in großer Zahl. Sie verfahren beispielsweise subjektivitätstheoretisch, diskurstheoretisch oder vertragstheoretisch. Sie müssen in ein argumentatives Verhältnis zum christlichen Menschenbild gesetzt werden.
In dieser Studie konzentrieren wir uns auf die christlichen Ansätze, die wir im ökumenischen Gespräch präzisieren, so dass
ein Diskurs mit anderen Begründungsmustern besser möglich
wird, der aber in dieser Studie nicht mehr zu leisten ist.
177. Die Begründungsoffenheit der Menschenwürde bedeutet
auch: Der Menschenwürdebegriff hat nicht schon in sich selbst
konkreten normativen Gehalt; aus ihm können nicht direkt
Handlungsanweisungen abgeleitet werden. Erst im konstruktiven Streit um das Verständnis von Menschsein und Menschenwürde gewinnt der Ausdruck für eine Gesellschaft Profil. Je
nachdem, wie Menschenwürde begründet und inhaltlich gefüllt
wird, ergeben sich andere normative Orientierungen. Indem die
Kirchen sich an dieser Auseinandersetzung beteiligen, leisten
sie einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte darüber, wie
das Zusammenleben zu gestalten und zu regeln ist. Auch innerkirchliche und innertheologische Diskussionen tragen konstruktiv zu dieser gesellschaftlichen Debatte bei. Ein wichtiger Ort für
solche Diskussionen waren und sind die kirchlichen Akademien.
178. Menschenwürde wird in der gegenwärtigen christlichtheologischen Diskussion schöpfungstheologisch, christologisch,
rechtfertigungstheologisch und eschatologisch begründet. In
allen vier Aspekten geht es um die Bezogenheit des Menschen
110
auf Gott. Es werden jedoch jeweils andere Dimensionen des
Menschseins vor Gott akzentuiert. Dadurch entfaltet der Menschenwürdebegriff in unterschiedlichen Kontexten je andere
argumentative Kraft. Vorausgreifend kann festgehalten werden:
Der schöpfungstheologische Ansatz akzentuiert, dass ausnahmslos jeder Mensch diese Würde besitzt. Der christologische Ansatz betont die Würde auch des leidenden und benachteiligten Menschen, der rechtfertigungstheologische Ansatz die
Würde auch des versagenden und schuldigen Menschen. Der
eschatologische Ansatz schließlich spricht dem Menschen auch
in seiner Begrenztheit und Unvollkommenheit, angesichts gebrochener Biographien und unvollendeter Lebensentwürfe,
Würde zu. Die vier Begründungsansätze schließen einander
nicht aus, sondern zeigen zusammengenommen: Aus christlicher Sicht besitzt der Mensch Würde in allen seinen Lebenssituationen.
Die Würde des Ebenbildes Gottes.
Schöpfungstheologische Begründung
179. Schöpfungstheologisch wird zur Begründung der Menschenwürde darauf verwiesen, dass der Mensch Bild Gottes ist.
Diese Vorstellung zeichnet den Menschen nicht aufgrund bestimmter Qualitäten aus, sondern beschreibt den Menschen in
seiner besonderen Bezogenheit auf Gott und in seiner besonderen Aufgabe, Gott in der Schöpfung zu repräsentieren. Genau
darin ist der Mensch eine Ikone Gottes. Der Mensch soll Gott
entsprechend über diese Welt herrschen. Gottebenbildlichkeit
meint diesen dem Menschen gegebenen Auftrag. Die Würde
des Menschen besteht darin, dass jedem Menschen mit seinen
individuellen Gaben dieser Auftrag gegeben ist.
180. Im Horizont einer schöpfungstheologischen Begründung
von Menschenwürde begegnen auch naturrechtliche Argumentationsfiguren. Sie sind nicht allein auf den katholischen Bereich
beschränkt. Auch Luther hat für die Beschreibung gelingenden
Menschseins im „Reich der Welt“ auf naturrechtliche Ideen
111
Bezug genommen. Gott regiert nicht nur im „Reich Christi“,
sondern auch im „Reich der Welt“ durch eine vorgegebene
Ordnung und Gesetze, die er in die Herzen der Menschen gibt.
Sie zeigen, welches Verhalten der Würde der Menschen entspricht. Allerdings ist diese Ordnung und sind diese Gesetze, so
wird heute geltend gemacht, nicht ewig, sondern unterliegen
geschichtlichen Transformationen.
181. Die schöpfungstheologische Begründung der Würde des
Menschen hat ihre besondere Stärke darin, dass sie unbestreitbar für alle Menschen gilt. Sie ist universal zu verstehen. Jedem,
der als Mensch geschaffen wurde, kommt diese Würde zu, und
zwar vom Beginn seiner Existenz bis zu ihrem Ende. Die Begründung entfaltet ihre argumentative Kraft dort, wo es um die
Würde derjenigen geht, bei denen bestimmte menschliche
Eigenschaften nicht, noch nicht oder nicht mehr feststellbar
sind. Auch Menschen, die krank und dement, körperlich und
geistig behindert sind, sind Ebenbilder Gottes. Außerdem ist die
schöpfungstheologische Begründung anderen religiösen Begründungen der Würde des Menschen, die von einer Geschöpflichkeit des Menschen ausgehen, komplementär. Überdies
leuchtet der Bildgehalt der Gottebenbildlichkeit intuitiv auch
Menschen ein, die keine religiöse Bindung haben. Eine rein
schöpfungstheologische Begründung beinhaltet allerdings die
Gefahr, dass der Widerspruch des Menschen zu seiner Berufung
nicht ausreichend reflektiert wird.
182. In der evangelischen Anthropologie wurde in der Vergangenheit oft behauptet, dass der Mensch durch den Sündenfall
seine Gottebenbildlichkeit verloren habe und erst durch den
Glauben wieder erlange. Die katholische Anthropologie sagt
hingegen typischerweise, dass des Menschen Gottebenbildlichkeit durch den Sündenfall nicht verloren, sondern verwundet
worden ist und dass sie durch Jesus Christus geheilt wird. Manche sehen in diesem Unterschied einen unauflöslichen Widerspruch. Aber das ist ein Irrtum. Die Bibel selbst sagt weder das
eine noch das andere. Deshalb geht es nur um die Frage, wel112
che Aspekte des biblischen Menschenbildes durch die eine und
die andere Interpretation sichtbar gemacht werden. Die evangelische Seite betont die Ernsthaftigkeit der Sünde, will damit
aber nicht sagen, dass der Sünder in den Augen Gottes kein
Mensch mehr wäre; im Gegenteil: „Der Mensch ist auch als
Sünder der Mensch und keine Schildkröte.“61 Die katholische
Seite betont die bleibende Verantwortung des Menschen gegenüber Gott, will damit aber nicht sagen, dass die Sünde des
Menschen nicht ernst zu nehmen wäre, weil er seine Gottebenbildlichkeit nicht verloren hat; im Gegenteil: Er muss ja für seine
Taten und Untaten gerade stehen. Deshalb kann von katholischer Seite der evangelischen Intention zugestimmt werden, die
Gnade der Neuschöpfung zu betonen, während von evangelischer Seite der katholischen Intention zugestimmt werden
kann, die moralische Verantwortung eines jeden Menschen zu
betonen, unabhängig davon, ob er gläubig ist oder nicht. Inzwischen können daher katholische und evangelische Kirchen gemeinsam sagen, dass die Gottesebenbildlichkeit jedem Menschen von Gott unwiderruflich und unverlierbar geschenkt wird.
Die Würde des wahren Menschen. Christologische Begründung
183. Christologische Begründungen der Menschenwürde gehen
von der christlichen Überzeugung aus, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Darin liegt aus dieser Perspektive die
Würde des Menschen. Gott hat in Jesus Christus den Menschen
in allem, was ihn und sein Leben ausmacht, angenommen.
Nichts kann den Menschen fortan von Gott trennen. Auch mit
dem ausgestoßenen, leidenden und sterbenden Menschen hat
sich Gott in Christus identifiziert. Deshalb hat für christliche
Anthropologie auch der Mensch in seiner Verletzlichkeit und
Schwäche, der ausgestoßene und verspottete Mensch, Würde.
Der leidende, beschädigte Mensch ist nicht von Gott getrennt,
sondern ganz Mensch: „Ecce homo!“ (Joh 19,5).
61
K. Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, in: Theologische Existenz
heute 14 (1934), S. 16.
113
184. Die christologische Begründung der Würde des Menschen
entfaltet ihre argumentative Kraft vor allem dort, wo es um die
Würde der Ausgestoßenen, Leidenden und Sterbenden geht.
Jesu Christi Tod bezeugt die Würde aller, die der öffentlichen
Schande preisgegeben werden. Zwar ist auch bei einer christologischen Begründung bereits die Schuld von Menschen im
Blick, insofern Christus in seinem Leiden derjenige ist, der, obwohl er von keiner Sünde wusste, von Gott zur Sünde gemacht
wurde (2 Kor 5,21). Doch dass nicht nur der Leidende, sondern
auch der Schuldige, also der, der Leid zugefügt hat, Würde besitzt, wird in besonderer Weise rechtfertigungstheologisch
herausgearbeitet.
Die Würde des zur Rechtfertigung Berufenen.
Rechtfertigungstheologische Begründung
185. Rechtfertigungstheologisch wird für die Begründung des
Menschenwürdegedankens geltend gemacht, dass der Mensch,
der „unfähig [ist], sich von sich aus Gott um Rettung zuzuwenden oder seine Rechtfertigung vor Gott zu verdienen oder mit
eigener Kraft sein Heil zu erreichen“62, von Gott dennoch angenommen wird. „Wenn Katholiken sagen, dass der Mensch bei
der Vorbereitung auf die Rechtfertigung und deren Annahme
durch seine Zustimmung zu Gottes rechtfertigendem Handeln
‚mitwirke‘, so sehen sie in solch personaler Zustimmung selbst
eine Wirkung der Gnade und kein Tun des Menschen aus eigenen Kräften.“63 Dass die Würde des Menschen soteriologisch
allein durch Gottes Gnade und Annahme gegeben ist, wird
katholischerseits also nicht negiert. Der Mensch wird vor aller
Leistung, trotz aller Schuld allein durch Christus von Gott gerechtfertigt. „Alle Menschen sind von Gott zum Heil in Christus
berufen. Allein durch Christus werden wir gerechtfertigt, indem
wir im Glauben dieses Heil empfangen.“64 Gottes Rechtferti62
GER, Nr. 19.
Ebd., Nr. 20.
64
Ebd., Nr. 16.
63
114
gung kommt dem Menschen „allein aus Gnade im Glauben an
die Heilstat Christi“65 zu, der das Vertrauen „auf Gottes gnädige
Verheißung“66 ist. „Wenn Lutheraner betonen, dass Christi Gerechtigkeit unsere Gerechtigkeit ist, wollen sie vor allem festhalten, dass dem Sünder durch den Zuspruch der Vergebung die
Gerechtigkeit vor Gott in Christus geschenkt wird und sein Leben nur in Verbindung mit Christus erneuert wird. [… sie] verneinen damit [aber] nicht die Erneuerung des Lebens des Christen“.67 Die Rechtfertigung negiert also nicht die Notwendigkeit
guter Werke für ein Christenleben, denn „dieser Glaube ist in
der Liebe tätig.“68 Aber solche guten Werke sind „nicht Grund
der Rechtfertigung“69, sondern ihre Folge: „Wir bekennen gemeinsam, dass gute Werke – ein christliches Leben in Glaube,
Hoffnung und Liebe – der Rechtfertigung folgen und Früchte
der Rechtfertigung sind.“70
186. Dieses in der Rechtfertigungslehre beschriebene Angenommensein des Menschen ist kein allgemeiner anthropologischer Grundsatz, über den man nur aufgeklärt werden müsste.
Es ist in Gottes geschichtlichem Heilshandeln in Jesus Christus
begründet. Aber was bedeutet es für eine rechtfertigungstheologische Begründung der Menschenwürde, dass nicht alle Menschen an diesen Jesus Christus glauben? Paulus spitzt die Rechtfertigung tatsächlich auf die Glaubenden zu: Durch den Glauben
wird man gerechtfertigt (Röm 3,28). Dennoch muss daraus kein
Ausschluss von Nicht-Glaubenden aus einer rechtfertigungstheologischen Begründung der Würde gefolgert werden. Vielmehr
sind alle Menschen von Gott dazu berufen, Ebenbild Christi zu
werden (Röm 8, 29). Bei den Glaubenden ist realisiert, wozu alle
Menschen eingeladen sind. Da das rechtfertigende Handeln auf
65
Ebd., Nr. 15.
Ebd., Nr. 25.
67
Ebd., Nr. 23.
68
Ebd., Nr. 25.
69
Ebd.
70
Ebd., Nr. 37.
66
115
alle Menschen zielt, kann dann die Würde aller Menschen damit begründet werden, dass alle Menschen dazu berufen sind,
an Gottes rechtfertigendes Handeln in Christus zu glauben.
187. Diese rechtfertigungstheologische Begründung der Würde
des Menschen begegnet vor allem im evangelisch-lutherischen
Bereich, kann aber von beiden Konfessionen geteilt werden. Sie
hat die Stärke, dass die Verfehlung des Menschen gegenüber
seinem Auftrag und die Abhängigkeit des Menschen von der
Gnade Gottes deutlich herausgestellt werden. Sie entfaltet ihre
argumentative Kraft im Kontext von Versagen und Schuld von
Menschen – auch sie haben Würde – und lädt zur Versöhnung
ein. Gleichzeitig beinhaltet sie die Problematik, sich einer spezifisch christlichen Figur zu verdanken und damit schwerer allgemein vermittelbar zu sein. Sie kann exklusivistisch missverstanden werden, als ob nur die Glaubenden und Gerechtfertigten
Würde besäßen.
Die Würde des zur Vollendung Bestimmten.
Eschatologische Begründung
188. Eschatologisch kann Menschenwürde damit begründet
werden, dass Christus in einer noch ausstehenden Heilstat den
Menschen mit seiner Welt und Geschichte zur endgültigen
Erfüllung bringen wird. Die eschatologische Botschaft spricht
von der Parusie und der mit ihr hervortretenden Vollendung
von Mensch und Welt und davon, dass diese jetzt schon begonnen hat. Von dem Ziel her, in dem der „neue Mensch“ vollendet
geboren wird, begreift sich der gegenwärtige Mensch als der
Sich-selbst-noch-Verborgene, als der Noch-nicht-Ausgereifte,
aber Zur-Vollkommenheit-Berufene. Diese Berufung verändert
sein Leben schon jetzt; inmitten des Leides gibt es schon jetzt
für ihn Trost, inmitten der Schuld schon jetzt Vergebung. Das
bedeutet: Die Würde des Menschen besteht auch angesichts
menschlicher Unvollkommenheit und Endlichkeit. Auch Menschen, die an der Entfaltung ihrer Gaben durch Gewalt und
Lebensumstände gehindert werden, sind von Gott gehalten und
116
haben die gleiche Würde wie Menschen, die ihre Talente ausbilden und sichtbar einsetzen können. Der Mensch ist auch ein
Leidender und ist mit Krankheit, Ungerechtigkeit und Tod belastet. Gewalt und Tränen zeichnen seinen Weg durch die Geschichte genauso wie Freude und Dankbarkeit. Viele Kinder
sterben durch Hunger und Gewalt, bevor sie ihr Leben selbst
gestalten können. Menschen werden durch Krieg oder Verfolgung aus ihrem Leben gerissen und müssen auf der Flucht ihr
gewohntes Leben zurücklassen. Die Erfahrung, an eigenen Idealen und Träumen zu scheitern, verbindet fast alle Menschen. All
dies macht menschliches Leben aus. Aber das ist nicht das letzte
Wort. Zum menschlichen Wesen gehört es, dass Gott ihm Zukunft eröffnet.
189. Die eschatologische Begründung der Menschwürde entfaltet ihre argumentative Kraft angesichts der Unvollkommenheit
und Heilsbedürftigkeit menschlichen Lebens. Dem Menschen
kommt auch in seiner Fragilität, Verletztheit und Unvollkommenheit Würde zu. Gerade durch die Begegnung mit benachteiligten, leidenden und kranken Menschen können Menschen
tiefer verstehen, dass Würde im christlichen Sinne in keiner
Weise an Erfolg, Schönheit und Gesundheit hängt. Das tröstet
im Leben und im Sterben: Wenn der Mensch mit seiner Begrenztheit konfrontiert wird, darf jede und jeder sich als ein
Wesen wissen, das von Gott gewollt und gehalten ist und dereinst heil werden wird.
190. In der Geschichte der evangelischen und katholischen
Theologie hat es lange Zeit starke Restriktionen der Heilshoffnung gegeben. Sie wirken zum Teil bis heute nach. Sie können
aber durch die gemeinsame Auslegung der Heiligen Schrift
überwunden werden. Auf katholischer Seite wurde das Grundprinzip extra ecclesiam nulla salus oft so verstanden, dass nur
die Mitglieder der Kirche gerettet, alle anderen aber verdammt
werden. Ins Licht der Schrift gestellt, liegt der Sinn des Grundsatzes aber darin, dass die Kirche in der Nachfolge Jesu für die
Verkündigung und die Vermittlung des Heiles steht, das Gott
117
allen Menschen bereitet hat, und dass alle diese Menschen
Platz im Gottesdienst, im Glaubenszeugnis, im Heilsdienst und
in der Caritas der Kirche haben. Auf lutherischer Seite ist der
Grundsatz sola fide oft so gedeutet worden, als würden nur
diejenigen gerettet werden können, die jetzt schon explizit an
Gott glauben, den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist. Ins Licht
der Heiligen Schrift gestellt, liegt der Sinn des Grundsatzes aber
darin, dass nur die Gläubigen jetzt schon Gottes Gnade in Jesus
Christus erkennen und bekennen können. In diesem Glauben
daran, dass Gott durch Jesus Christus „die Welt mit sich versöhnt“ (2 Kor 5,19) hat, wagen sie zu hoffen, dass am Ende
„Gott alles in allem ist“ (1 Kor 15,28).
191. Alle vier Konzepte theologischer Menschenwürde-Begründung haben gemeinsam, dass sie die Würde des Menschen
nicht von bestimmten Eigenschaften des Menschen (wie beispielsweise seiner Leistungsfähigkeit) her verstehen, sondern
von Gottes Beziehung und Zuwendung zum Menschen. Die
Würde des Menschen verdankt sich aus theologischer Sicht
nicht ihm selbst, sie ist immer von Gott geschenkte Würde. Es
entspricht dieser Würde des Menschen, sein Leben selbst bestimmen zu können, soweit er damit nicht in die Selbstbestimmung oder das Lebensrecht anderer Menschen eingreift. Die
Würde des Menschen ist aber nicht konstituiert durch seine
Fähigkeit zur Selbstbestimmung und den Vollzug von Selbstbestimmungsakten. Eine Identifikation von Menschenwürde mit
Selbstbestimmungsfähigkeit und -vollzug greift aus christlicher
Sicht zu kurz. Umgekehrt gefährdet ein Verlust seiner Selbstbestimmungsfähigkeit auch nicht seine Würde. Wohl aber ist der
Mensch in seiner leiblichen und seelischen Verletzbarkeit, aber
auch in seiner Kreativität und seinem Gerechtigkeitsstreben
darauf angewiesen, von anderen Menschen in seiner Menschenwürde erkannt und anerkannt zu werden.
192. Die Würde eines Menschen kann ignoriert und missachtet,
sie kann ihm aber nicht genommen werden. Weil in Gott begründet, ist die Würde eines Menschen unverlierbar. Alle Men118
schen sind in der gleichen Weise Geschöpfe Gottes, in Christus
angenommen wie der Rechtfertigung und Erlösung bedürftig.
Menschenwürde ist unaufhebbar. Deshalb kommt allen Menschen in der gleichen Weise Würde zu. Würde ist aus theologischer Sicht kein abgestufter und kein abstufbarer Begriff. Sie gilt
unbedingt.
193. Christinnen und Christen hoffen darauf, dass alle Menschen dereinst mit Gott leben. Aus dieser Hoffnung speist sich
der Auftrag von Christen und Christinnen gegenüber dieser
Welt. Sie wollen diese Welt so gestalten, dass alle Menschen
schon jetzt so leben können, wie es ihrer Würde entspricht. Die
alttestamentlichen Propheten haben zwar nicht explizit die
Kategorie der Menschenwürde verwendet. Aber die von ihnen
vorgebrachte Sozialkritik, ihr Eintreten für die Entrechteten und
Unterdrückten zeichnen eine Gesellschaft vor, in der für alle
Menschen ein ihrer Würde gemäßes, gerechtes Leben möglich
wird.
194. Aus dem hier entfalteten Menschenbild können nicht
direkt Handlungsanweisungen abgeleitet werden. Aber die
Auseinandersetzung mit ihm leitet dazu an, immer wieder neu
zu entdecken, wie ein der biblischen Tradition entsprechendes
Handeln und Verhalten aussehen kann in Bezug auf die hochkomplexen und in sich mehrdeutigen empirischen Sachverhalte.
Jene Auseinandersetzung kann durch Neu-Erzählen der biblischen Geschichten geschehen, aber auch durch eine vernunftgeleitete Diskussion der darin aufscheinenden Grundsätze.
3.3.
Zusammenfassung und Ausblick
195. Sowohl der gemeinsame Blick in die Heilige Schrift als
auch die gemeinsame systematische Reflexion der unterschiedlichen Deutungstraditionen haben die These belegt, dass es
lutherisch – katholisch einen differenzierten Konsens in der
Anthropologie gibt. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtferti119
gungslehre“ hat die soteriologischen Dimensionen erhellt. In
dieser Studie werden die schöpfungstheologischen, christologischen und eschatologischen Dimensionen der Anthropologie so
erschlossen, dass ein differenziertes Ganzes entsteht, das geeignet ist, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und der
Würde des Menschen substantiell zu beantworten.
196. Sowohl in der Schriftauslegung als auch in der Aufarbeitung der theologischen Traditionen und in der theologischen
Begriffsbildung gibt es unterschiedliche Methoden, Kategorien
und Prinzipien, sowohl innerhalb der Konfessionen wie zwischen ihnen. Diese Vielfalt verhindert nicht die Gewinnung
gemeinsamer Standpunkte zur Gottebenbildlichkeit, zur Christusförmigkeit, zur Rechtfertigung und zur Erlösung des Menschen; sie zeigt vielmehr, dass eine theologische Pluralität die
Intensität der Reflexion erhöht, wenn die Voraussetzungen und
Perspektiven der verschiedenen Ansätze transparent gemacht
worden sind.
197. Zum differenzierten Konsens gehört nicht nur eine stabile
gemeinsame Grundlage, die in der Anthropologie durch die
gemeinsame Überzeugung von der Erschaffung des Menschen
zum Bild Gottes, seiner Berufung zur Gemeinschaft mit Christus,
seiner Rechtfertigung durch den Glauben und seiner Bestimmung zur eschatologischen Vollendung gegeben ist. Ebenso
wichtig ist eine qualifizierte Beschreibung der konfessionstypischen Unterschiede, aber auch der dynamischen theologischen
Entwicklungen in den Konfessionen, die nicht zuletzt durch die
Ökumene angestoßen sind. In diesem Kapitel wurde beschrieben, wo diese Differenzen bei den Themen der Gottebenbildlichkeit und des Sündenfalls, des Christusglaubens und der
Rechtfertigung, der ethischen Verantwortung und der Vollendungshoffnung bestehen; es wurde aber auch gezeigt, warum
sie nicht nur keinen kirchentrennenden Charakter haben, sondern als verschiedene, aber jeweils sachgerechte Auslegungen
des Evangeliums erkannt und wechselseitig anerkannt werden
können.
120
198. Mit diesem Zwischenergebnis ist die Voraussetzung geschaffen, dass in Kapitel 4 der differenzierte Konsens in der
Anthropologie unter dem Aspekt seiner Bedeutung für die sittliche Urteilsbildung und das ethische Handeln der Kirchen genauer bestimmt und ins Verhältnis zu den bestehenden Differenzen in einigen konkreten Fragen angewandter Ethik gesetzt
werden können.
121
4.
Der ökumenische Umgang mit Konvergenzen
und Divergenzen in der Ethik
199. In Kapitel 4 werden Folgerungen aus den Darlegungen zu
den Prinzipien theologischer Urteilsbildung (Kap. 2) und den
Perspektiven Theologischer Anthropologie (Kap. 3) gezogen.
Zunächst wird gezeigt, worin der differenzierte Konsens in der
Theologischen Anthropologie besteht (4.1); dann werden die
drei einleitend (in 1.3) angesprochenen Fallbeispiele – Stammzellforschung, Kinderarmut und Bildung sowie Sterbehilfe –
aufgenommen, um an ihnen zu zeigen, wo und inwieweit von
einem begrenzten Dissens gesprochen werden kann und wie
mit ihm ökumenisch umzugehen ist (4.2).
4.1
Der differenzierte Konsens in der
Theologischen Anthropologie
200. Zwischen der lutherischen und der katholischen Kirche
gibt es einen tief verwurzelten und breit gefächerten Konsens in
der Anthropologie. Durch Differenzen in einigen wenigen, eng
begrenzten, wenngleich wichtigen Fragen der Ethik wird dieser
Konsens nicht erschüttert. Die Besinnung auf die weitreichenden Übereinstimmungen zwischen den Kirchen ist notwendig,
damit die Kirchen das gemeinsame christliche Zeugnis für die
Würde des Menschen stärken. Dadurch wollen sich die Kirchen
im Einsatz für Menschlichkeit in einer Welt beteiligen, die
schreiendes Unrecht, brutale Unterdrückung und massive Verletzung von Menschenrechten kennt, sowie in einer Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit und Freiheit, Frieden und förderlichen Lebensbedingungen für alle sucht. Die Kirchen engagieren sich für eine solidarische Gesellschaft, welche sich Notleidenden und Flüchtlingen zuwendet.
123
201. Von einem differenzierten Konsens wird gesprochen, wenn
es klare Unterschiede zwischen typisch evangelisch-lutherischen
Argumentationen und Positionen auf der einen, typisch katholischen auf der anderen Seite gibt, diese Differenzen aber auf
dem Boden einer starken Gemeinsamkeit ausgehalten werden
können und keinen kirchentrennenden Charakter haben, weil sie
jeweils von der anderen Seite als konsequente, wenngleich spezifische Ausfaltungen des gemeinsamen Ansatzes erkannt werden können. Die Studie will in der Hermeneutik des differenzierten Konsenses einen Schritt weitergehen, indem sie das relative Recht der konfessionell differenten Positionen unter dem
Aspekt betrachtet, inwiefern sie die eigene Sicht bereichern können und eine begründete Anerkennung der anderen Seite von
der eigenen Position aus erlauben, offene Kritik von Schwachstellen auf der eigenen wie der anderen Seite eingeschlossen.
202. Aus diesem Grund werden zuerst (4.1.1) grundlegende
Übereinstimmungen reflektiert, die sich aus der gemeinsamen
Exegese der Heiligen Schrift (s. o. 3.1) und aus der systematischtheologischen Reflexion der Menschenwürde (s. o. 3.2) ergeben, wenn die Prinzipien der ethischen Urteilsbildung beachtet
werden, die in Kapitel 2 dargestellt worden sind. Danach werden (4.1.2) diese Gemeinsamkeiten in einer rechtfertigungstheologischen Erörterung differenziert, die von der „Gemeinsamen
Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ ausgeht und sie im Lichte
der Diskussion, die sie ausgelöst hat, für die Klärung des Verhältnisses zwischen dem Gottesglauben und dem Verständnis
der Menschenwürde heranzieht.
4.1.1 Grundlegende Übereinstimmungen in
der Theologischen Anthropologie
203. Die Kirchen melden sich in den gesellschaftlichen Debatten über humanitäre Fragen zu Wort, engagieren sich caritativ
und diakonisch in lokalen wie in globalen Projekten. Der Grund
ist ebenso einfach wie stark: Der Glaube an Gott gehört un124
trennbar mit der christlichen Überzeugung von der Würde des
Menschen zusammen. In Jesus Christus ist Gott selbst Mensch
geworden. Deshalb ist die Menschenwürde für die Kirchen
theologisch begründet; die Menschenwürde zu achten, ist ein
Gebot Gottes; und die Rettung derjenigen Menschen, deren
Würde missachtet wird, ist eine Verheißung Gottes.
204. Gemeinsam bekennen sich katholische und evangelische
Christinnen und Christen zu Gott, der „Himmel und Erde“ erschaffen hat (Gen 1,1). Es ist dieser Glaube an den einen Gott
als den Schöpfer aller Menschen, der sie zu der Erkenntnis
führt, dass alle Menschen Gottes Ebenbild sind (Gen 1,26f.),
unabhängig von Geschlecht und Nation, Hautfarbe und Herkunft, Religion und Kultur, Gesundheit und Krankheit, Bildung
und Leistung, Schuld und Reue.
205. Gemeinsam bekennen sich evangelische und katholische
Christen und Christinnen zu Jesus Christus, in dem „die Güte
und Menschenfreundlichkeit Gottes erschienen“ ist (Tit 3,4). Es
ist dieser Glaube an Jesus Christus, der für alle Menschen auf
Erlösung hoffen lässt (2 Kor 5,14), so sehr sie auch der Macht
der Sünde und des Todes ausgesetzt sind.
206. Gemeinsam bekennen sie sich zum Heiligen Geist, der
„ausgegossen ist über uns aus der Höhe“ (Jes 32,15). Es ist dieser Glaube an den Heiligen Geist, der Menschen bewegt, der
„Gerechtigkeit“ zu dienen (Joh 16,10), die allen Menschen zugutekommen muss, besonders denen, die unter Ungerechtigkeit leiden. Ihnen wird Gerechtigkeit verheißen (Mt 5,6).
207. Die Anerkennung der Würde eines jeden Menschen ist für
Christinnen und Christen ein Prüfstein des Glaubens. Die Menschenwürde gilt unbedingt. Der Glaube an den einen Gott sichert diese Unbedingtheit der Menschenwürde und schützt sie
vor allen Versuchen, sie aufgrund religiöser, sozialer, juristischer, medizinischer oder biologischer Gründe zu relativieren.
Der Einsatz für die Menschenrechte folgt aus der Einheit von
125
Gottes- und Nächstenliebe, die Jesus verkündet (Mk 12,18-34
parr.) und im Gleichnis vom barmherzigen Samariter veranschaulicht hat (Lk 10,30-37).
208. Die wesentlichen Gemeinsamkeiten, welche die katholische und die evangelische Theologie im Bild des Menschen
verbinden, sind in der Heiligen Schrift begründet, die Gläubige
gemeinsam lesen und im Gottesdienst hören – in unterschiedlichen Formen, aber mit demselben Ziel, das ursprüngliche Zeugnis des Glaubens in seiner prägenden Kraft für das Leben der
Menschen zu erkennen und heute zu konkretisieren.
209. Die Übereinstimmungen im Verständnis der Menschenwürde sind durch die Ökumenische Bewegung vertieft worden.
Sie hat die Kirchen gelehrt, die Sprache, die Intentionen, die
Denkformen, die Befürchtungen und die Entdeckungen der
anderen Traditionen besser zu verstehen. Sie hat dazu geführt,
die charakteristischen Unterschiede, die es zwischen den Kirchen gibt, nicht zu relativieren, sondern zu interpretieren. Diese
Unterschiede sind nicht nur Probleme, die es zu lösen gilt, sondern sie sind vor allem auch Chancen, die Einheit von Gottesund Nächstenliebe und die Tiefe des christlichen Glaubens umfassender zu erkennen. Im Gespräch mit anderen bereichern
sich die eigenen Interpretationen, auch durch mögliche Konflikte hindurch, wenn am Gespräch geduldig und ehrlich festgehalten wird. Dadurch werden Menschen befähigt, zwischen verschiedenen christlichen Ausdrucksformen und Sprachweisen zu
übersetzen. Christen und Christinnen verschiedener Konfessionen lernen darin voneinander und miteinander, um ihren Glauben in noch größerer Fülle zu leben.
4.1.2 Charakteristische Profile Theologischer Anthropologie
und ihre ökumenische Bedeutung
210. Um die charakteristischen Profile sowohl der evangelischen wie der katholischen Theologie in Grundfragen der An126
thropologie herauszuarbeiten und darzustellen, wie sie kritisch
und konstruktiv aufeinander zu beziehen sind, werden aus der
Vielzahl relevanter Themen in zwei konvergierenden Durchgängen zwei Paare von Themen besprochen, die mit der Menschenwürde verbunden sind: zuerst die Macht der Gnade und
das Unheil der Sünde, dann die Verantwortung des Menschen
und der Gehorsam gegenüber Gottes Gebot. Traditionell gelten
die beiden ersten Themen als besondere Anliegen evangelischer, die beiden letzten als besondere Anliegen katholischer
Theologie. In dieser Studie werden sie auf der Basis der „Gemeinsamen Erklärung“ interpretiert und auf die Frage nach der
theologischen Begründung der Menschenwürde bezogen. Die
stabile Basis bilden die grundlegenden Übereinstimmungen, die
in 4.1.1 dargestellt worden sind; das gemeinsame Ziel des
Dienstes in der Welt und an der Welt, auf den hin die theologischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezogen werden
müssen, wird anschließend in 4.1.3 skizziert. Im Mittelstück soll
paradigmatisch gezeigt werden, wie gerade der ökumenische
Dialog, der Kontroversen nicht scheut, aber Konsense anstrebt,
die Unterschiede nicht verwischt, sondern hilft, die Konturen
christlicher Anthropologie zu schärfen und dadurch den Einsatz
der Kirchen für die Achtung der Menschenwürde in einem gesellschaftlichen Umfeld zu stimulieren, das viele Bündnispartnerinnen, aber auch einige Gegner kennt.
Die Macht der Gnade
211. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“
stellt fest: „Es ist unser gemeinsamer Glaube, dass die Rechtfertigung das Werk des dreieinigen Gottes ist.“71 Deshalb ist es
eine gemeinsame Überzeugung, dass die Rechtfertigung allein
durch den Glauben und allein aus Gnade geschieht.72 Aus diesem Grund kann einerseits von katholischer Seite aus die Inten-
71
72
GER, Nr. 15.
Ebd., Nr. 25-27; vgl. auch GER, GOF Annex, Nr. 2.C.
127
tion des lutherischen sola fide73 anerkannt werden und andererseits von lutherischer Seite die katholische Position, dass die
Gläubigen in der Rechtfertigung „von Christus Glaube, Hoffnung
und Liebe“ empfangen.74 Denn die lutherische Seite erklärt:
„Aus der Liebe Gottes, die dem Menschen in der Rechtfertigung
geschenkt wird, erwächst die Erneuerung des Lebens“75; und
die katholische Seite sagt, dass die „Erneuerung in Glaube,
Hoffnung und Liebe immer auf die grundlose Gnade Gottes
angewiesen“ ist, weshalb die Menschen „keinen Beitrag zur
Rechtfertigung“ leisten.76
212. In der Ökumene wird positiv gewürdigt, dass die evangelische Theologie in allen Fragen der Anthropologie darauf aus ist,
ohne jeden Abstrich die Gnadenmacht Gottes zur Geltung zu
bringen, der die Menschen alles verdanken: ihr Leben, ihren
Glauben, ihre Rechtfertigung und ihre Hoffnung. Durch keine
noch so große Anstrengung, durch keinen noch so guten Willen,
durch keine noch so starke Leistung kann Gottes Gnade erworben, erhalten oder ergänzt werden. Martin Luther hat durch
seine Exegese der Heiligen Schrift, durch seine Theologie, nicht
zuletzt durch seine Predigten und Streitschriften dieser Gnadentheologie die Richtung gewiesen.
213. In der Ökumene wird auch die alte katholische Verdächtigung überwunden, diese Theologie der Gnade entlasse die Menschen aus ihrer ethischen Verantwortung. Tatsächlich hat die
evangelische Theologie in ihren prägenden Zeugnissen immer
Gottes Gnade so in Aktion gesehen, dass der Mensch, der nicht
durch religiöse „Werke“, sondern nur durch seinen Glauben gerechtfertigt wird, gerade dadurch, vom Geist Gottes erfüllt, zu
einem Leben erneuert wird, das im Dienst der Gerechtigkeit
steht. Allerdings hat die konstruktive Teilhabe an der ökumeni73
GER, Nr. 26.
Ebd., Nr. 27.
75
Ebd., Nr. 26.
76
Ebd., Nr. 27.
74
128
schen Diskussion auch dazu geführt, dass die evangelische Theologie missverständliche Formulierungen überdacht und die ethische Dimension der Rechtfertigungslehre neu betont hat.
214. Umkehrt kann die katholische Theologie nicht nur die
Intention der evangelischen Gnadentheologie würdigen. Sie
kann vielmehr auch anerkennen, dass die evangelische Betonung der Gnadenmacht Gottes eine große kritische Kraft gegen
jede Relativierung der Menschenwürde durch Nützlichkeitserwägungen, durch kulturelle Konditionierungen oder naturwissenschaftliche Relativierungen hat. Im ökumenischen Dialog hat
die katholische Seite an der evangelischen Theologie ebenso die
konstruktive Kraft zu schätzen gelernt, die Würde der Menschen gerade dort zu suchen, wo sie durch Schuld und Versagen
verdeckt zu werden droht.
215. Gemeinsam kann deshalb gesagt werden, dass die Betonung der Gnadenmacht Gottes die Menschenwürde nicht schmälert, so als ob sie nicht die Würde eben des Menschen sei, sondern dem Menschen nur uneigentlich zukomme, sondern dass sie
sie im Gegenteil begründet und stärkt, weil sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen unverbrüchlich und unantastbar begründet. Es ist die spezifische Aufgabe der Kirchen, im gesellschaftlichen Diskurs über die Menschenwürde und die Menschenrechte
Gott als den zur Sprache zu bringen, der unbedingt auf der Seite
der Menschen steht und deshalb ihre Würde und ihre Rechte
unabhängig von gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen oder
weltanschaulichen Konditionen garantiert.
Das Unheil der Sünde
216. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“
stellt als ökumenische Gemeinsamkeit fest, dass „wir Sünder
unser neues Leben allein der vergebenden und neu schaffenden
Barmherzigkeit Gottes verdanken“.77 Deshalb hat sie von die77
Ebd., Nr. 17.
129
sem Ansatz aus einen ökumenischen Zugang zur typisch lutherischen Rede vom simul justus et peccator gebahnt.78 Denn einerseits hat die evangelisch-lutherische Seite erklärt, dass die Sünde „keine den Christen ‚beherrschende‘ Sünde mehr (ist), weil
sie durch Christus ‚beherrscht‘ ist.“79 Andererseits hat die katholische Seite erklärt, dass die „Neigung“ zum Sündigen, die
vom Sündigen selbst zu unterscheiden sei, aber aus der Sünde
kommt und zur Sünde drängt80, „objektiv Gottwidrigkeit und
Gegenstand lebenslangen Kampfes ist“.81
217. In der Ökumene wird positiv gewürdigt, dass die evangelische Theologie mit ihrer Gnadentheologie darauf aus ist, die
verheerende Macht der Sünde insbesondere dort zu entdecken
und zu bekämpfen, wo sie sich verbirgt. Der wichtigste Fall ist
der, dass die Sünde sich den Anstrich der Frömmigkeit gibt. Die
Kritik der „Werkgerechtigkeit“ hat hier ihre Spitze. Die evangelische Theologie konzentriert sich auf das Grundverständnis der
Sünde, dass ein Mensch, wie die Bibel es in der Geschichte von
Adam und Eva erzählt, sein will „wie Gott“ (Gen 3,5). Sie entdeckt, dass der Mensch darin auch seine Menschlichkeit leugnet. Sie plädiert dafür, dass es gerade die Anerkennung Gottes
ist, in welcher der Mensch seiner Menschlichkeit entspricht. Um
die Katastrophe der Sünde nicht zu beschönigen, ist in der
evangelischen Theologie lange Zeit immer wieder gelehrt worden, dass die Menschen, die aus dem Paradies vertrieben wurden, wegen ihrer Sünde die Gottebenbildlichkeit verloren hätten. Wie in dieser Studie gezeigt, ist dies aber nicht als Leugnung der Menschenwürde zu verstehen, sondern als Hinweis
auf die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, der durch Gottes
Gnade sich selbst in seiner Menschlichkeit wiederfindet. Es
78
Ebd., Nr. 28-30; vgl. GER, GOF Annex, Nr. 2.A.
GER, Nr. 29.
80
GER, GOF Annex, Nr. 2.B.
81
GER, Nr. 30. Dieser Ansatz ist aufgenommen und vertieft in der Studie
des Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen: Th. Schneider / G. Wenz (Hrsg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische
Klärungen, Dialog der Kirchen, Bd. 11, Freiburg i. Br./Göttingen 2001.
79
130
schließt auch, wie gezeigt, nicht aus, dass heute ein gemeinsames Verständnis des Sündenfalls zur Diskussion gestellt werden
kann.
218. In der Ökumene wird auch die alte katholische Verdächtigung überwunden, die evangelische Theologie sei einerseits
sündenfixiert, relativiere aber andererseits die konkreten Erscheinungsformen der Sünde in Form der Übertretung göttlicher Gebote, wie sie von der Schrift und der Tradition bezeugt
werden. Tatsächlich will jedoch die evangelische Hamartiologie
die Verstöße gegen Gottes Weisung gerade in ihrer Tiefendimension ausleuchten. Sie will den Unterschied zwischen Gotteswort und Menschensatzung markieren, auch wenn diese von
der Autorität der Kirche gedeckt zu werden scheinen. Allerdings
hat die konstruktive Partizipation am ökumenischen Gespräch
die evangelische Theologie dazu geführt, ihre eigene Position
zum theologischen Stellenwert ethischer Lehraussagen und zur
Bedeutung des Rechts in der Kirche zu präzisieren.
219. Umgekehrt kann die katholische Theologie nicht nur die
Intention der evangelischen Hamartiologie würdigen. Sie kann
vielmehr auch anerkennen, dass sie die kritische Kraft hat, die
offenen und sublimen Formen von Heuchelei zu entlarven, die
tödliche Bedrohung der Sündenmacht zu entdecken und
Machtansprüche, die im Namen Gottes geltend gemacht werden, zu hinterfragen. Ebenso kann die katholische Seite anerkennen, dass die evangelische Hamartiologie die konstruktive
Kraft hat, ideologische Verschwörungen gegen die Menschlichkeit, auch in der eigenen Geschichte, aufzudecken und den
Kampf um Gerechtigkeit auch dort zu befördern, wo er mit
Berufung auf heilige Traditionen behindert wird.
220. Gemeinsam kann deshalb gesagt werden, dass die Aufdeckung des Unheils der Sünde fordert, die Mechanismen des
Bösen zu analysieren und auszuhebeln, das die Würde von
Menschen missachtet. Gemeinsam kann gleichfalls gesagt werden, dass die Würde auch derjenigen Menschen zu achten und
131
zu schützen ist, die schwerste Schuld auf sich geladen haben
oder, aus welchen Gründen auch immer, anderen Menschen als
Unmenschen gelten. Es ist die spezifische Aufgabe der Kirchen,
im gesellschaftlichen Diskurs über die Menschenwürde und die
Menschenrechte Gott als den zur Sprache zu bringen, der den
Abgrund unmenschlicher Verhältnisse ausleuchtet und Hoffnung auf Rettung, Anerkennung und Versöhnung auch dort
macht, wo menschliche Möglichkeiten am Ende sind.
Die Verantwortung des Menschen
221. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ stellt
als ökumenische Gemeinsamkeit fest, dass der Heilige Geist „die
Gläubigen zu jener Erneuerung ihres Lebens führt, die Gott im
ewigen Leben vollendet.“82 Deshalb hat sie von diesem Ansatz
aus einen ökumenischen Zugang zu der typisch katholischen
Lehre gebahnt, dass der „Mensch bei der Vorbereitung auf
die Rechtfertigung und deren Annahme durch seine Zustimmung
zu Gottes rechtfertigendem Handeln ‚mitwirke‘“83 und dass in
diesem Zusammenhang „gute Werke“ getan werden sollen.84
Denn einerseits hat die katholische Seite erklärt, dass sie „in solch
personaler Zustimmung selbst eine Wirkung der Gnade“ sieht
„und kein Tun des Menschen aus eigenen Kräften“85 und dass sie
„nicht den Geschenkcharakter der guten Werke“ bestreitet.86
Andererseits hat die evangelisch-lutherische Seite erklärt, das
mere passive schließe zwar „jede Möglichkeit eines eigenen
Beitrags des Menschen zu seiner Rechtfertigung [aus], nicht aber
sein volles personales Beteiligtsein im Glauben, das vom Wort
Gottes selbst gewirkt wird“87, und dass sie nicht nur „den Gedanken eines Bewahrens der Gnade und eines Wachstums in
82
GER, Nr. 16.
Ebd., Nr. 20; vgl. ebd., Nr. 24.
84
Ebd., Nr. 37-39.
85
Ebd., Nr. 20.
86
Ebd., Nr. 38.
87
Ebd., Nr. 21.
83
132
Gnade und Glauben“ kennt, sondern auch „das ewige Leben
gemäß dem Neuen Testament als unverdienten ‚Lohn‘ im Sinn
der Erfüllung von Gottes Zusage an die Glaubenden“ erhofft.88
„[…] der Gerechtfertigte ist dafür verantwortlich, die Gnade
nicht zu verspielen, sondern in ihr zu leben.“89
222. In der Ökumene wird positiv gewürdigt, dass die katholische Theologie in allen Fragen der Anthropologie darauf aus ist,
die moralische Verantwortung des Menschen zu betonen, die
ihm Gott übertragen hat und die wahrzunehmen er von Gott
befähigt wird. Der entscheidende Punkt ist, dass die Rede von
der „Mitwirkung“ kein additives Verhältnis beschreiben soll,
sondern ein integratives: Gott schenkt den Menschen seine
Gnade so, dass sie in ihrer Freiheit als sie selbst sowohl wirken
als auch von Gott anerkannt werden. In dieser Linie hat die
katholische Theologie im ökumenischen Dialog klargestellt, dass
sie von „Verdiensten“ in keinem anderen Sinn als dem der biblischen Lohnverheißung spricht.90 So wenig Gott sich in seiner
Gnade von der Moralität oder Amoralität von Menschen abhängig macht, so sehr verschafft er in seiner Gerechtigkeit dem
eschatologische Geltung, was Menschen in Gedanken, Worten
und Werken Gutes getan und gewollt haben.
223. In der Ökumene wird auch die alte evangelische Verdächtigung überwunden, die katholische Theologie wolle die göttliche Gnade von menschlichen Vorleistungen abhängig machen
und fröne einem Moralismus, der Rigorismus und Disziplinierung begünstige. Tatsächlich geht es der katholischen Anthropologie aber darum, die kreative Kraft der Gnade zu betonen,
die an den Menschen nicht ohne sie wirkt, und die ethischen
Konsequenzen des rechtfertigenden Glaubens zu sichern, der
„durch Liebe wirksam ist“ (Gal 5,6). Allerdings hat die konstruktive Partizipation am ökumenischen Gespräch die katholische
88
Ebd. Nr. 39.
GER, GOF Annex, Nr. 2.D.
90
GER, Nr. 38.
89
133
Theologie dazu geführt, missverständliche Formulierungen zu
überdenken und die christliche Ethik deutlich in der Gnade der
Rechtfertigung zu verankern.
224. Umgekehrt kann die evangelische Theologie nicht nur die
Intention der katholischen Betonung menschlicher Verantwortung und Mitwirkung würdigen. Sie kann vielmehr auch anerkennen, dass die katholische Theologie in ihrer Heilslehre die
kritische Kraft hat, jedes Ausweichen vor den ethischen Ansprüchen des Evangeliums zu bekämpfen. Ebenso kann die evangelische Seite anerkennen, dass die katholische Theologie die konstruktive Kraft hat, aus dem Glauben heraus die Menschen in
ihrer Freiheit vor Gott anzuerkennen, gerade dort, wo ihnen die
Freiheit geraubt und die Verantwortung abgesprochen wird,
nicht zuletzt in der Kirche selbst.
225. Gemeinsam kann deshalb gesagt werden, dass die Verantwortung für die Achtung der Menschenwürde und die Anerkennung der Menschenrechte eine Konsequenz des rechtfertigenden Glaubens ist. Christen und Christinnen wissen, dass
sie vor Gott Rechenschaft darüber ablegen müssen, was sie
den Geringsten ihrer Brüder und Schwestern getan oder nicht
getan haben (Mt 25,31-46). Es ist die spezifische Aufgabe der
Kirchen, im gesellschaftlichen Diskurs über die Menschenwürde
und die Menschenrechte Gott als den zur Sprache zu bringen,
der die ethische Verantwortung in der Gottebenbildlichkeit des
Menschen selbst verankert und zugleich die Hoffnung auf ewiges Leben begründet, das die Bestimmung des Menschen vollendet.
Der Gehorsam gegen Gottes Gebot
226. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“
stellt als ökumenische Gemeinsamkeit fest, dass es das „gemeinsame Hören auf die in der Heiligen Schrift verkündigte
frohe Botschaft“ ist, das zum rechtfertigenden Glauben und
zum gemeinsamen Verständnis der Rechtfertigungslehre
134
führt.91 Aus diesem Grund kann das Verhältnis von Gesetz und
Evangelium (wie oben in 2.3.2 gezeigt) gemeinsam bestimmt
werden.92 Denn beide Seiten machen sich zu eigen, „dass die
Gebote Gottes für den Gerechtfertigten in Geltung bleiben und
dass Christus in seinem Wort und Leben den Willen Gottes, der
auch für den Gerechtfertigten Richtschnur seines Handelns ist,
zum Ausdruck bringt.“93
227. In der Ökumene wird positiv gewürdigt, dass die katholische Theologie darauf aus ist, die Geltung der Gebote Gottes
einzuschärfen. Sie versteht das Gesetz nicht als drückende Last,
sondern als Wegweiser in das Reich der Freiheit, als Warnung
vor Fehlverhalten und als Magna Charta des Volkes Gottes.
Deshalb wird der Gebotsgehorsam als Wesensdimension des
Glaubens eingeschärft. Da aber das Gesetz immer auf aktualisierende Auslegung angewiesen ist, wird nicht nur die schriftliche Tora und die überlieferte Weisung Jesu wie der Apostel,
sondern auch das Gebot und das Recht der Kirche, wiewohl
reformabel und vielfach reformiert, als verpflichtend eingeschärft. Dahinter steht das große Anliegen, dass die Menschen
die Bestimmung ihres Lebens nicht verfehlen.
228. In der Ökumene wird auch die alte evangelische Verdächtigung überwunden, die katholische Theologie leiste einer Gesetzlichkeit Vorschub, die den Glauben an Äußerlichkeiten
festmache und in die Versuchung führe, Ansprüche vor Gott
geltend zu machen. Tatsächlich arbeitet die katholische Gesetzestheologie gerade im Gegenteil daran, die Herrschaft zu konkretisieren, die Gott über das Leben von Menschen ausübt und
gewinnen will, um sie zum Heil zu führen. Die konstruktive
Auseinandersetzung mit der evangelischen Kritik führt die katholische Theologie aber dazu, der Gefahr des Rigorismus zu
wehren, die moralische Verurteilung von menschlichen Lebens91
Ebd., Nr. 14.
Ebd., Nr. 31-33.
93
Ebd., Nr. 31.
92
135
formen, die gegen die katholische Lehre sind, nicht als Verachtung der in ihnen lebenden Menschen erscheinen zu lassen und
das, was sie als iure divino oder als iure modo humano identifiziert, genauer zu beschreiben und klarer zu unterscheiden.
229. Umgekehrt kann die evangelische Theologie nicht nur die
Intention der katholischen Betonung des göttlichen Gebotes
würdigen. Sie kann vielmehr auch anerkennen, dass die katholische Theologie in ihrer Gebotslehre die kritische Kraft hat, jede
Vertröstungsideologie und jede Aushöhlung des Rechts zu bekämpfen. Ebenso kann sie anerkennen, dass sie die konstruktive
Kraft hat, klare ethische und rechtliche Standards zu setzen, an
denen sie sich allerdings zuerst selbst messen lassen muss.
230. Gemeinsam lässt sich sagen, dass der Verweis auf Gottes
Gebot den Einsatz für die Achtung der Menschenwürde nicht
schwächt, sondern stärkt. Weil es ein Gebot Gottes ist, das im
Handeln Gottes selbst begründet ist, kann die Achtung für die
Menschenrechte nicht ins Kalkül ethischer Konkurrenzen gezogen werden. Vielmehr ergibt sich eine unauflösbare Verbindung
zur philosophischen Begründung, dass kein Mensch verzweckt
werden darf, sondern jeder aus sich selbst heraus unbedingt
dieselbe Würde hat. Im Glauben erscheint das Gebot Gottes
nicht als fremde Macht, die Unterwerfung verlangt; es ist vielmehr ins Herz geschrieben (vgl. Jer 31,31-34), so dass es gerade
das zum Ausdruck bringt, was dem Menschsein entspricht und
über die Grenzen hinaus trägt, die dem guten Willen und dem
Handeln von Menschen gesetzt sind. Das Gebot Gottes ist zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe.
4.1.3 Gemeinsamer Dienst
231. Die grundlegende Übereinstimmung im Verständnis der
Rechtfertigung, die durch die charakteristischen Profile der
evangelisch-lutherischen und der katholischen Theologie nicht
relativiert, sondern konkretisiert wird, bewährt sich im gemein136
samen Einsatz der lutherischen und der katholischen Kirche für
die Anerkennung der Menschenwürde gerade dort, wo sie verweigert oder bedroht wird. Die Kirchen stehen gemeinsam für
den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens vom Anfang
bis zum Ende ein. Sie wehren sich gemeinsam gegen den Versuch, mit deterministischen Konstruktionen Freiheit und Verantwortung der Menschen in Frage zu stellen. Die katholischen
und evangelischen Christinnen und Christen stehen in kritischer
Zeitgenossenschaft zusammen, wenn Menschenwürde als Ideologie hingestellt oder von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Mündigkeit oder Nützlichkeit
abhängig gemacht werden soll. Christen und Christinnen sehen
sich als Teil zahlreicher Initiativen, durch die Bekämpfung von
Armut, durch die Förderung von Bildung und Inklusion, durch
die Anerkennung des Rechtes der unverletzlichen Würde aller
Menschen eine verbindliche Form zu geben.
232. Die Tragfähigkeit des differenzierten Konsenses in der
theologischen Anthropologie soll im Folgenden durch eine Diskussion paradigmatischer ethischer Konkretionen bewährt
werden. Hier werden auch aktuelle Konflikte auf Gebieten reflektiert, die einleitend beschrieben worden sind. Dadurch soll
beispielhaft klar werden, mit welchem Recht und mit welchen
Konsequenzen von einem differenzierten Konsens und einem
begrenzten Dissens in Fragen angewandter Ethik gesprochen
werden kann.
4.2
Differenzierter Konsens und begrenzter
Dissens in der Ethik
233. Die lutherische und die katholische Kirche treten gemeinsam dafür ein, dass die Würde jedes Menschen unter allen
Umständen geachtet und geschützt wird. Es ist, wie in den vorangehenden Abschnitten gezeigt, der gemeinsame Glaube an
den dreieinigen Gott in seinem schöpferischen, erlösenden und
versöhnenden Handeln, der sie dazu befähigt, antreibt und
137
verpflichtet. In der Gegenwart ist dies (wie in Kap. 1 gezeigt)
nötiger denn je. Der wissenschaftliche Fortschritt stellt vor neue
ethische Probleme. Die Debatte über die Menschenwürde verändert sich in Politik, Rechtswissenschaft und Philosophie, aber
auch in der Theologie. Trotz aller Fortschritte im Bereich der
Menschenrechte werden die Würde und die Rechte von Menschen in vielen Bereichen nach wie vor mit Füßen getreten. In
dieser Situation sind die Kirchen neu gefordert, für die Würde
und die Rechte von Menschen einzutreten. Je klarer sie mit
einer gemeinsamen Stimme sprechen können, umso deutlicher
wird ihre Stimme vernehmbar.
234. Freilich ist theologisch auch davon Rechenschaft abzulegen, dass sich der differenzierte Konsens in der Anthropologie
gegenwärtig nicht so auswirkt, dass die lutherische und die
katholische Kirche bei jedem ethischen Thema identische Positionen beziehen. Das ist als begrenzter Dissens zu bezeichnen,
weil es sich um vergleichsweise wenige und eng definierte Fälle
handelt, die sich aus unterschiedlichen Gewichtungen ethischer
Einzelaspekte in äußerst komplexen Sachverhalten ergeben. Zu
diesen Fragen finden sich auch jeweils innerhalb der Kirchen
und der konfessionellen Theologien verschiedene Positionen.
Im Folgenden ist zu zeigen, dass diese begrenzten Dissense
nicht auf einen Grunddissens hinweisen, sondern im Gegenteil
verschiedene Ausdifferenzierungen der grundlegenden Übereinstimmungen in der theologischen Anthropologie darstellen,
die freilich ihr eigenes Gewicht haben.
235. Zunächst folgen Überlegungen, wie sich der differenzierte
Konsens und der begrenzte Dissens in Fragen der Ethik zueinander verhalten (4.2.1). Der nächste Abschnitt thematisiert
dann die in Kapitel 1 beispielhaft angesprochenen aktuellen
Fragen der Stammzellforschung, der Kinderarmut und der Sterbebegleitung erneut, um zu zeigen, wie auf der Basis der starken Gemeinsamkeiten ein gemeinsames Eintreten für die Menschenwürde möglich ist (4.2.2).
138
4.2.1 Das Verhältnis zwischen dem differenzierten Konsens
und dem begrenzten Dissens in der Ethik
236. Auch auf dem Gebiet der Ethik gilt das Wort, das Papst
Johannes XXIII. im Blick auf Glaubensfragen gesprochen hat:
„Das, was uns verbindet, ist viel stärker als das, was uns
trennt“. Der beste Beweis ist die tägliche Arbeit, die in evangelischen wie in katholischen Krankenhäusern, Sozialstationen,
Hospizen, Jugendzentren, Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen geleistet wird. Die Arbeit der kirchlichen Hilfswerke
– auf katholischer Seite z. B. Caritas, Adveniat, Misereor, Missio
und Renovabis, auf evangelischer z. B. Diakonie und Brot für die
Welt – ist konkrete Arbeit für die Menschenrechte und für die
Anerkennung der Würde der Menschen. Wie das 2014 von der
EKD und der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedete Sozialwort „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ zeigt, gibt es in den entscheidenden Fragen der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik ein starkes und breites Fundament sozialethischer Gemeinsamkeiten; die entscheidende
Orientierung wird im biblischen Bild des Menschen gefunden.
Es kann kein Zweifel herrschen, dass es im Bereich der Ethik
zwischen der katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen einen tief verwurzelten und breit gefächerten Konsens
gibt.94
237. Allerdings lässt sich nicht übersehen, dass bei einigen
ethischen Themen, die in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit finden, die evangelische und die katholische Seite unterschiedliche Positionen bezogen haben. Dennoch ist der Eindruck irrtümlich, der frühere dogmatische Dissens, der sich
nicht zuletzt durch die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zu einem differenzierten Konsens gewandelt hat,
würde nun durch einen ethischen Dissens abgelöst. In dieser
94
Ein Beispiel ist die „Christliche Patientenvorsorge“ (siehe Anm. 1),
die zwar beim Wachkoma einen geringen Unterschied benennt, im
Übrigen aber durchweg gemeinsame Positionen bezieht.
139
Studie wird gezeigt, wie Glaube und Handeln zusammengehören. Das ist wichtig, weil die Ökumene sich immer auch mit den
praktischen Konsequenzen der Theologie zu beschäftigen hat.
Diejenigen, die auf die Stimme der Kirchen angewiesen sind,
würden im Stich gelassen, wenn die Kirchen sich auf die begrenzten konfessionellen Differenzen konzentrieren würden
anstatt auf das konkrete Engagement für die Menschenwürde.
238. Der ethische Dissens zwischen den und teilweise innerhalb
der konfessionellen Traditionen ist eng begrenzt. Er bezieht sich
ausschließlich auf einige wenige Probleme, die auch in der öffentlichen Debatte und im wissenschaftlichen Gespräch hoch
strittig sind. Wie gezeigt, erklärt er sich weder aus prinzipiellen
Differenzen in den Methoden ethischer Urteilsbildung noch aus
einem konfessionellen Gegensatz in der Anthropologie. Die
entscheidende Ursache liegt vielmehr darin, dass die angewandte Ethik immer Urteile verlangt, die von zahlreichen Faktoren beeinflusst sind, die unterschiedlich eingeschätzt werden
können. Je konkreter die Fragen werden, desto mehr müssen
Zweifelsfragen berücksichtigt, Handlungsoptionen abgewogen
und Risiken eingeschätzt werden. Aufgrund der Komplexität der
Probleme können sich unterschiedliche Einschätzungen ergeben. Die katholische Seite neigt im Zweifel stärker zu einer Orientierung an ethischen Grundsätzen, um den Anfängen zu wehren und die Schwachen zu schützen, die evangelische Seite
neigt im Zweifel zu einer größeren Zurückhaltung in der ethischen Bewertung, um Raum für die persönliche Gewissensentscheidung zu schaffen und den Erfordernissen der Praxis Rechnung tragen zu können. Erforderlich ist, dass die entscheidenden Gründe und die prägenden Urteilsprozesse transparent
werden und wechselseitig erläutert werden.
239. Aus evangelischer Sicht ist zu betonen, dass die Gewissensbildung und Gewissensentscheidung des Einzelnen in ethischen Fragen durch einen differenzierten Auslegungsprozess in
Bezug auf die Heilige Schrift zustande kommt, in dem keine
letzte Autorität eines Lehramtes für die Wahrheit und Richtig140
keit einer Entscheidung bürgen kann. Das bedeutet aber nicht,
dass eine evangelische materiale Ethik unmöglich wäre, die
theologische und andere Argumente für eine bestimmte ethische Position vorbringt. Diese wird allerdings nicht ein für allemal und lehramtlich festgelegt. Wenn die evangelischen Kirchen
sich zu materialethischen Fragen äußern, dann im Bewusstsein,
damit einen Beitrag zur ethischen Debatte unter Christen und
Nichtchristen zu leisten, der keinen Gehorsam fordern kann,
sich aber als Orientierung zur Urteilsbildung anbietet.
240. Aus katholischer Sicht ist zu betonen, dass sich die genuine Kompetenz des Lehramtes auch auf Fragen der Moral bezieht. Das bedeutet aber nicht, dass eine theologische Prüfung
nicht statthaft wäre oder dass der „Glaubenssinn des Gottesvolkes“ nur im Gehorsam gegenüber dem Lehramt bestünde
und nicht auch eine eigene Quelle theologischer Erkenntnis
wäre. Vor allem ist auch nach katholischer Lehre das Gewissen
eines Menschen bindend, selbst wenn es irren sollte. Wenn die
katholische Theologie sich zu materialethischen Fragen äußert,
dann nicht mit dem Anspruch lehramtlicher Kompetenz, sondern in dem Bestreben, die ethische Debatte zu bereichern.
241. Gemeinsam ist heute für die katholische Moraltheologie
wie die evangelische Ethik die Orientierung an der Heiligen
Schrift. Diese Orientierung hebt aber nicht die Notwendigkeit
auf, aktuelle wissenschaftliche Forschung und politische Erwägungen in die Urteilsbildung einfließen zu lassen. Viele ethische
Probleme stellen sich ganz neu, weil es in der Medizin, in den
Human- und Sozialwissenschaften, in der Gesellschaft und Politik neue Entwicklungen gibt, die in der Bibel gar nicht abzusehen waren. Die Schriftorientierung dient vielmehr dazu, die
Grundlagen der christlichen Anthropologie zu vergegenwärtigen, die die ethischen Urteile der Kirchen prägen.
242. Die nachstehenden Beispiele zeigen, dass auch in strittigen Einzelfragen der Ethik von einem differenzierten Konsens
und einem nur begrenzten Dissens zwischen katholischer Kirche
141
und evangelisch-lutherischen Kirchen gesprochen werden kann,
der den grundsätzlichen Konsens nicht in Frage stellt. Aus diesem Grund sind weiterhin gemeinsame Stellungnahmen auch in
ethischen Fragen möglich. Die nachfolgenden Überlegungen
führen dies für die drei Einzelbeispiele – Stammzellforschung,
Kinderarmut und Bildung, Sterbehilfe – durch. Analoges lässt
sich auch für andere ethische Einzelfragen entfalten.
4.2.2 Der differenzierte Konsens und begrenzte Dissens
im Zusammenhang der Diskussion ethischer und
rechtlicher Probleme – Ausgewählte Probleme
243. In Kapitel 1 ist gezeigt worden, inwieweit die Stammzellforschung, die Kinderarmut und Bildung sowie die Sterbehilfe
die Menschenwürde betreffen und wie sie in dieser Perspektive
von der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden. Diese Themen wurden auch im biblischen Teil behandelt. An dieser Stelle
werden die kirchlichen Stellungnahmen beschrieben und unter
dem Aspekt ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede reflektiert. Die innerkonfessionelle und zwischenkonfessionelle Pluralität von Positionen war auch in der Arbeitsgruppe repräsentiert. Wie in der Einleitung ausgeführt, zielt der Abschnitt nicht
darauf, eine gemeinsame Stellungnahme abzugeben, sondern
an den Beispielen zu zeigen, wie sich der differenzierte Konsens
zum begrenzten Dissens verhält.
Am Anfang des Lebens: Forschung mit embryonalen Stammzellen
244. Gemeinsam sind die evangelischen Kirchen und die katholische Kirche davon überzeugt, dass schon vor der Geburt eines
Menschen die Geschichte Gottes mit ihm begonnen hat. Von
Anfang an ist jeder Mensch zum Gegenüber Gottes, zu seinem
Ebenbild erschaffen. Er hat einen eigenen, von Gott gegebenen
Wert, der nicht von der Anerkennung durch Menschen abhängig ist. Jede ethische Entscheidung, die Embryonen betrifft,
bedarf besonderer Verantwortung, gerade weil sie besonders
142
schutzbedürftig sind. Gegen die Tendenz zum Verständnis von
Embryonen als „Zellhaufen“ und „Sache“ machen die Kirchen
gemeinsam die Würde des menschlichen Lebens von Anfang an
und in allen seinen Entwicklungsstadien geltend. Aus diesem
Grund setzen sie sich für den Schutz des ungeborenen Lebens
ein. Es darf nicht für Interessen anderer instrumentalisiert oder
gar ihnen geopfert werden. Gemeinsam treten die Kirchen
gegen das Klonen von Menschen und die Manipulation der
menschlichen Keimbahn ein.
245. Gleichwohl gibt es einen begrenzten Dissens zwischen den
evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche in der Frage
der Zulassung von Forschung mit embryonalen Stammzellen.
Die katholische Kirche lehnt die Forschung mit embryonalen
Stammzellen grundsätzlich ab und kennt keine Ausnahme. Sie
macht geltend, dass mit der Verschmelzung von Samen und
Eizelle ein Mensch entstanden ist; deshalb muss die befruchtete
Eizelle bereits vor der Einnistung geschützt werden. Auch wenn
das medizinische Ziel der Forschung hochrangig sei, legitimiere
dies keine Instrumentalisierung des Menschen, indem Stammzellen eines Embryos für die Forschung „verbraucht“ werden. In
den evangelischen Kirchen finden sich hingegen zu diesem
Handlungsfeld unterschiedliche Haltungen. Viele evangelische
Christinnen und Christen lehnen die Forschung mit embryonalen Stammzellen ebenfalls grundsätzlich ab und haben sich auch
2008, als im Bundestag die Entscheidung anstand, energisch
gegen eine Verschiebung des Stichtags gewandt, vor dem die
zur Forschung verwendeten, aus dem Ausland importieren
Stammzelllinien erzeugt worden sein müssen. Andere evangelische Christen und Christinnen hingegen lehnen zwar die Gewinnung von embryonalen Stammzellen ab, weil dadurch Embryonen zerstört werden, nicht aber die Forschung mit bereits
existierenden Stammzelllinien; sie haben sich 2008 für eine
Verschiebung des Stichtags entschieden, um eine medizinische
Forschung mit den Stammzellen zum Wohl der Menschen zu
ermöglichen.
143
246. Der ethische Dissens besteht also nicht einfach zwischen
der katholischen und der evangelischen Ethik, er bildet sich
vielmehr auch innerhalb der evangelischen Theologie ab und
zeigt sich auch auf katholischer Seite in einzelnen Stimmen von
Ethikerinnen und Ethikern, die nicht mit dem Lehramt und der
großen Mehrheit der katholischen Moraltheologie übereinstimmen. Im Streit steht der Status der Embryonen, aus denen
embryonale Stammzellen gewonnen werden. Für die katholische Kirche entsteht mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein Mensch, dem alle Rechte eines Menschen zukommen.95 Alle weiteren Entwicklungen des Embryos sind deshalb
Entwicklungen „als Mensch“, so dass dem Embryo die gleiche
Würde und der gleiche Würdeschutz zukommt wie einem geborenen Menschen. Dieser Sicht schließen sich etliche evangelische Ethikerinnen und Ethiker an. Hingegen gehen andere
evangelische Ethiker und Ethikerinnen davon aus, dass der
Embryo nicht von Anfang an als Mensch anzusehen ist, sondern
sich erst „zum Menschen“ entwickelt. Für diese Entwicklung ist
die Einnistung in die Gebärmutter wesentlich, weshalb von der
Möglichkeit des Embryos zu dieser Einnistung für die Frage nach
seinem Status nicht abgesehen werden könne. Auch sie sprechen von der Würde des Embryos, unterscheiden diese aber
von der umfassenden Würde eines geborenen Menschen. Entsprechend argumentieren sie für eine abgestufte Schutzwürdigkeit und halten eine auf bessere Heilungschancen kranker Menschen zielende Forschung an embryonalen Stammzellen für
angemessen angesichts der ethischen Verantwortung den
Kranken gegenüber. Indem sie sich aber gegen die Erzeugung
von Embryonen zu Forschungszwecken einsetzen, betonen sie
gleichzeitig, dass man Embryonen nicht wie eine Ware behandeln oder beliebig instrumentalisieren darf. Auch eine abgestufte Schutzwürdigkeit erlaubt keinen verantwortungslosen, ins
95
Vgl. Instruktion Donum vitae der Kongregation für die Glaubenslehre
über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die
Würde der Fortpflanzung (10. März 1987), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 74, Bonn 20005, S. 14-16.
144
Belieben der Forschung gesetzten Umgang mit menschlichen
Embryonen.
247. Evangelische Theologen und Theologinnen würdigen die
Eindeutigkeit der katholischen Position und die Konsequenz,
mit der jede verbrauchende Forschung an Embryonen abgelehnt wird. Die evangelische Seite erkennt in dieser Eindeutigkeit den berechtigten Hinweis auf die Gefahr, dass die Formel
von der abgestuften Schutzwürdigkeit zur Leerformel wird. Sie
weiß sich dadurch auf die Problematik aufmerksam gemacht,
dass bislang nicht überzeugend begründet wird, wieso mit ausländischen, aber nicht mit inländischen „überzähligen“ Embryonen gearbeitet werden darf. Eine Reihe evangelischer Ethikerinnen und Ethiker akzeptiert allerdings nicht die naturrechtliche Begründung der katholischen Kirche für das umfassende
Verbot der Forschung, sondern sieht in ihr einen Rigorismus,
der unmenschlich sei. Sie plädiert für die theologische Legitimität einer Pluralität in ethischen Fragen wie denen der Forschung
mit embryonalen Stammzellen.
248. Katholische Theologen und Theologinnen schätzen es
hoch, dass viele evangelische Voten – wenngleich auf teils anderen Wegen – zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie sie
selbst kommen, dass die Forschung mit embryonalen Stammzellen verboten wird. Sie können die Argumente derjenigen
evangelischen Ethiker und Ethikerinnen, die – unter bestimmten Bedingungen – Forschung an embryonalen Stammzellen
gesetzlich erlauben wollen, nicht teilen. Auch weisen sie die
gelegentlich von evangelischer Seite erhobene Kritik, einem
metaphysischen aufgeladenen Naturalismus zu erliegen, mit
Entschiedenheit zurück, indem sie im Gegenteil gerade die
neuen medizinischen Kenntnisse über die Entstehung des Menschen als Grund erhöhter Vorsicht geltend machen. Aber sie
verkennen nicht, dass es verantwortungsethische Motive sind,
die in der ethischen Frage zu einer abweichenden Position führen. Sie anerkennen, dass auch jene Ethiker und Ethikerinnen
weit davon entfernt sind, Embryonen als Versuchsmaterial
145
medizinischer Forschung zu sehen. Sie sehen, dass aus dieser
Sicht nur „verwaiste“ Embryonen, die aller Voraussicht nach nie
mehr eingepflanzt werden können, nur zu hochrangigen Forschungszielen gebraucht werden sollen. Sie ziehen nicht in
Zweifel, dass mit der evangelischerseits erhobenen Forderung
nach hochrangigen Forschungszielen das hohe ethische Gut der
Heilung schwerster Krankheiten verfolgt wird. Insofern sehen
sie zwar zu einem nicht geringen Teil der evangelischen Ethiker
einen Gegensatz, der allerdings nur auf einem eng begrenzten
Gebiet aufbricht.
249. Die Kirchen wissen, dass die Debatte auch in der Wissenschaft und der Gesellschaft kontrovers verläuft, weil Dissens
über den Status des menschlichen Lebens herrscht. Sie setzen
sich gemeinsam für einen verantwortlichen Umgang mit Embryonen ein und verlangen insbesondere, dass die wirtschaftlichen Interessen derjenigen, die Forschung an embryonalen
Stammzellen treiben wollen, offengelegt werden. Sie verlangen
von den Protagonisten der Stammzellforschung, realistische
Ziele zu formulieren und ehrlich über Risiken und Nebenwirkungen zu informieren. Sie setzen gemeinsam auf den Fortschritt der medizinischen Forschung, dass die Forschung mit
embryonalen Stammzellen nicht weiter getrieben wird, sondern
die Forschung mit adulten Stammzellen, die ethisch weit weniger problematisch ist, vorankommt. Die Kirchen erklären, dass
sie sich von der Suche nach gemeinsamen ethischen Positionen
nicht abhalten lassen, weil es nicht gelungen ist, zur Frage der
Forschung mit embryonalen Stammzellen eine gemeinsame
Position zu vertreten. Die katholische Seite muss ihren ethischen Konsens in dieser Frage im christlichen und gesellschaftlichen Pluralismus argumentativ bewähren. Die evangelische
Seite muss trotz internem Pluralismus öffentlich Position beziehen und in der innerevangelischen Auseinandersetzung über
die verschiedenen Ansichten zu weiteren Klärungen kommen.
Pluralismus wie Konsens sind kein Selbstzweck, sondern müssen sich im Streit um das Wohl des Menschen bewähren.
146
In der Mitte des Lebens: Kinderarmut und Bildung
250. Bei den zentralen Themen der Kinderarmut und der Bildung besteht zwischen den evangelischen Kirchen und der
katholischen Kirche keinerlei Dissens, sondern im Gegenteil ein
tief begründeter und umfassender Konsens. Die Kirchen engagieren sich in der Bekämpfung von Kinderarmut und in der
Ermöglichung von Bildung für alle. Ihre großen nationalen diakonischen Einrichtungen (Diakonie, Caritas u. a. m.) stehen
Menschen allen Alters, jeder Religion, jeglicher Herkunft offen,
um ihnen zu helfen, einen Ausweg aus der Armut zu finden und
durch Bildung ihre Lebensmöglichkeiten zu verbreitern. Ihre
internationalen Organisationen (u. a. Misereor, Adveniat, LWB
Weltdienst, Missio, Renovabis, Brot für die Welt) arbeiten
weltweit, um Kinderarmut, Hunger und Krankheit zu bekämpfen und Menschen zu befähigen, durch Bildung aus eigener
Kraft ihre Lebenssituation zu verbessern. Sie sind überzeugt:
„der Kampf gegen die Bildungsarmut ist zugleich ein wesentliches Mittel zur Überwindung von Armut generell“.96 Die caritativen Institutionen beider Kirchen arbeiten vielfach zusammen.
Sie verstehen das diakonische Engagement als essentiellen
Ausdruck des christlichen Glaubens.
251. Kinderarmut zu bekämpfen, geschieht nicht nur dadurch,
den heute Armen zu helfen. Auch die ungerechten Strukturen,
die zu Kinderarmut führen, müssen benannt und verändert werden. Selbst wenn manchmal strittig ist, worin diese genau bestehen und wie sie zu verändern sind, sind die Kirchen darin eins,
solche Strukturen aufzudecken und zu benennen. Sie betten die
Verteilungsgerechtigkeit in ein umfassendes Konzept von Beteiligungsgerechtigkeit ein. Weil sie aufgrund ihrer rechtfertigungstheologischen Begründung von der Würde eines jeden
Menschen ausgehen – unabhängig davon, ob er für seine gegenwärtige Lage selbst verantwortlich ist oder nicht –, fordern sie für
96
Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft (siehe
Anm. 1), S. 39.
147
alle Menschen Rahmenbedingungen, die dieser Würde entsprechen. Der Staat muss für alle Menschen im Bedarfsfall die notwendigen Mittel bereitstellen, damit diese sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen können. In ihren Erziehungseinrichtungen
und mit ihrer Bildungsarbeit helfen die Kirchen Kindern, aber
auch Erwachsenen, sich als Menschen zu sehen, denen diese
Würde von Gott zuerkannt wird und die sich für ihre Rechte und
die anderer Menschen einsetzen können.
252. In ihrem gemeinsamen Sozialwort haben sich der Rat der
EKD und die Deutsche Bischofskonferenz dafür eingesetzt, dass
allen Menschen ein ihrer Würde entsprechendes Leben ermöglicht wird. „Es geht im Grundsatz um die Teilhabe aller Menschen in unserem Land in den unterschiedlichen Lebensbereichen. Es gehört zur Würde der Person, dass ihre jeweiligen
individuellen Begabungen bestmöglich gefördert werden. Dem
Bereich der Bildung in allen Lebensphasen kommt dabei eine
herausragende Bedeutung zu.“97 „Nur was die Lage der Schwächeren bessert, hat Bestand. Bei allen grundlegenden Entscheidungen müssen die Folgen für die Lebenssituation der Armen,
Schwachen und Benachteiligten bedacht werden. Diese haben
ein Anrecht auf ein selbstbestimmtes Leben, auf Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben und an den gesellschaftlichen Chancen
sowie auf Lebensbedingungen, die ihre Würde achten und
schützen.“98
Am Ende des Lebens: Sterbehilfe
253. Die katholische und die evangelisch-lutherische Kirche
haben einen grundlegenden Konsens in Fragen der Sterbehilfe.
Er besteht darin, dass jeder Mensch bis ans Ende seines Lebens
in uneingeschränktem Maße Würde besitzt. Bis zu seinem letzten Atemzug ist jeder Mensch ein Ebenbild Gottes. Kein Leiden
97
Ebd., S. 42f.
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (siehe Anm. 1),
Nr. 41.
98
148
und keine Entstellung nehmen ihm diese Würde. Denn Gott hat
sich in Jesus Christus gerade mit dem leidenden und sterbenden
Menschen identifiziert. Dieser Einsicht soll durch würdige Bedingungen im Sterben entsprochen werden, die in besonderer
Weise die Vorstellungen des Sterbenden respektieren. Deshalb
setzen die Kirchen auf den Ausbau der Palliativmedizin. Es darf
keinen medizinischen Zwang geben, das Leben künstlich zu
verlängern, aber es muss eine umfassende medizinische Versorgung geben. In diesem Rahmen soll alles getan werden, das
Sterben in Würde zu erlauben, indem Schmerz gelindert und
Trost gespendet wird. Gerade die Ärzte sind hier in der Pflicht.
Wenn das Tötungsverbot aufgehoben oder aufgeweicht würde,
würde nicht nur die Standesethik verletzt, sondern auch große
Unsicherheit verbreitet, ob man sich auf die Ärzteschaft verlassen kann, dass sie sich der Heilung von Menschen und der Linderung ihrer Schmerzen verpflichtet sehen, wie es der hippokratische Eid von ihnen verlangt. Die Patienten und Patientinnen können von Ärztinnen und Ärzten erwarten, dass sie ihnen
Samariterdienste leisten (vgl. Lk 10,25-35); für Ärztinnen und
Ärzte darf das Töten nicht zu einer gesetzlich legitimierten und
vorgesehenen Option gemacht werden, auch wenn die Befürworter und Befürworterinnen eines ärztlich assistierten Suizids
beteuern, dass sie enge Grenzen setzen wollen.
254. Die Kirchen verstehen das Leben als Gabe, über die der
Mensch nicht eigenmächtig verfügen darf. Nach ihrer Überzeugung entspricht es der Würde des Menschen, über die Gestaltung seines geschenkten Lebens selbst bestimmen zu können.
Dabei aber schließen sie aus, dass Selbstbestimmung auch die
Selbsttötung einschließt. Beide Kirchen sind davon überzeugt,
dass nur Gott – und kein Mensch – Herr ist über Leben und Tod.
Aus diesem religiösen Wissen folgt eine hohe ethische Verantwortung. Oft finden sich Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegende
in einer Situation, dass sie um das Leben eines Menschen mit
aller Kraft und aller medizinischen Kompetenz kämpfen. Dafür
gebührt ihnen dankbare Anerkennung, selbst wenn das Bemühen nicht erfolgreich sein sollte. Aber es gehört nicht zur Auf149
gabe von Ärztinnen und Ärzten, den Tod mit allen Mitteln hinauszuschieben. Wenn die Zeit gekommen ist, müssen Menschen sterben dürfen. Menschen zu töten, ist aber nach Gottes
Willen verboten; für Ärzte und Ärztinnen gilt das Tötungsverbot
mit einem ganz besonderen Gewicht. Alle Kirchen lehnen deshalb eine Lebenserhaltung um jeden Preis und gegen den Willen des Patienten und der Patientin genauso ab wie aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid (erst recht in seiner gewerbsund geschäftsmäßigen Form). Sie wenden sich mit Entschiedenheit gegen ein mögliches Alltagsbewusstsein, für kranke und
alte Menschen bestünde so etwas wie eine ethische Pflicht,
durch einen verfrühten, selbst oder mit Hilfe anderer herbeigeführten Tod Anderen nicht länger zur Last zu fallen. „Menschlichem Leid (Schmerzen, Einsamkeit und Verzweiflung) dürfen
wir nicht durch Tötung, sondern müssen ihm durch menschliche
Zuwendung und Fürsorge begegnen. Wir wollen Leiden lindern
und uns nicht der Leidenden entledigen.“99
255. Durch eine aufmerksame Sterbebegleitung, wie sie z. B. in
der Hospizbewegung geschieht, kann der Sorge, unter unwürdigen Bedingungen sterben zu müssen, entgegengewirkt werden.
Die liebevolle Begleitung durch Angehörige nimmt die Angst, für
andere zu einer unzumutbaren Last zu werden. „Alle Teilnahme
an der Krankheit und am Leiden eines Sterbenden wird darauf
zielen, gemeinsam mit ihm herauszufinden, was sein Leben
auch unter den Einschränkungen, die ihm auferlegt sind, in der
ihm noch verbliebenen Spanne Zeit lebenswert und sinnvoll
macht.“100 Die Kirchen setzen sich für den Ausbau von Palliativmedizin, auch in der medizinischen Ausbildung, ein und ermutigen Menschen, eine Patientenverfügung zu erstellen.
256. Katholische und evangelisch-lutherische Kirche lehnen den
assistierten Suizid als gesetzlich legitimierte Option am Lebens99
Einführung, in: Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe. Eine
Sammlung kirchlicher Texte, Bonn/Hannover 20112, S. 15.
100
Gott ist ein Freund des Lebens (siehe Anm. 1), S. 109f.
150
ende prinzipiell ab. Gleichzeitig besteht zwischen beiden Kirchen ein begrenzter Dissens in Bezug auf den Einzelfall. Die
evangelischen Kirchen gehen davon aus, dass es Grenzsituationen wie unerträgliches, lange andauerndes und sicher zum
Tode führendes Leiden gibt, in denen Menschen in einem Gewissenskonflikt um Beihilfe zum Suizid bitten und andere sich
durch diese konkrete Not in ihrem Gewissen so gebunden sehen, dass sie ihnen beim Suizid helfen. Hier ist die Gewissensbindung des Menschen anzuerkennen; ein moralisches Urteil
über einen Menschen, der in diesem Konflikt sich so oder so
entscheidet, steht aus evangelischer Sicht niemandem zu.101 Die
katholische Kirche lehnt eine Entscheidung zum Suizid oder zur
Suizidhilfe grundsätzlich ab, weil sie in jedem Fall gegen Gottes
Gebot verstößt, nicht zu töten. „Anfang und Ende des Lebens
sind der Verfügung des Menschen entzogen.“102 Sie ist aber
weit davon entfernt, Menschen, die sich selbst das Leben nehmen, zu verdammen, sondern empfiehlt sie der Gnade Gottes.103 Sie verurteilt nicht die Intention, helfen zu wollen, aber
sie kann die Beihilfe zur Selbsttötung nicht verantworten, weil
das Leben ein Geschenk Gottes ist und das Gebot: „Du sollst
nicht töten“ bis zum letzten Atemzug gilt.
257. Die katholische Seite nimmt wahr, dass die evangelischen
Kirchen mit ihrer Haltung der Gewissensentscheidung des Einzelnen und der Einzelnen Raum geben. Sie weiß, dass damit
aber nicht behauptet werden soll, Menschen dürften über ihr
Leben frei verfügen. Denn auch aus evangelischer Sicht ist ein
solcher (assistierter) Suizid eine Tat, durch die der tötende
Mensch Schuld auf sich lädt, weil er dem Gebot, nicht töten zu
sollen, zuwider handelt. In der hier übernommenen Verantwor101
Vgl. Pressemitteilung zur Erklärung des Rates der EKD zur Debatte
über die Beihilfe zur Selbsttötung, 19. November 2012: Jede Form
organisierter Suizidbeihilfe ist abzulehnen!
102
Deutsche Bischofskonferenz, Sterben in Würde – Worum geht es
eigentlich? (Flyer), Bonn 2014, S. 2.
103
Vgl. KatKK, Nr. 2283.
151
tung wird der Mensch schuldig. Der evangelischen Seite ist
umgekehrt bewusst, dass in Fragen der Gesetzgebung und der
gesellschaftlichen Grundeinstellung zum assistierten Suizid eine
kompromisslose, nicht diskursiv verhandelbare Haltung Orientierung stiftend ist. Wenn die katholische Seite hier grundsätzlicher argumentiert, dann erinnert sie daran, dass auch eine an
der Gewissensbindung der Einzelnen orientierte Ethik nicht auf
Normenorientierung verzichten kann.
258. Die Haltung der Kirchen zum Umgang mit Schwerkranken
und Sterbenden ist getragen von der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten. Was der Mensch ist, entscheidet sich nicht
am Ende seines Lebensweges. Die Würde und die Identität
jedes Menschen haben eine eschatologische Dimension. Der
Sterbende ist ein Mensch, dem Gott Zukunft eröffnet. Menschen dürfen darauf vertrauen, dass ihre Schuld dereinst vergeben wird, ihre Wunden geheilt und sie in ihrer Identität vollendet werden.
4.3
Zusammenfassung und Ausblick
259. Die öffentliche Debatte innerhalb der Kirchen wie in Politik
und Gesellschaft hat die Unterschiede zwischen katholischen und
evangelischen Positionen im Blick, die in einigen strittigen Fragen
der Ethik bezogen worden sind. Die Gründe hierfür haben wir
genauer analysiert und reflektiert. Das Ergebnis ist eine kritische
Differenzierung. Die ethischen Gemeinsamkeiten sind weit stärker als die Unterschiede. Die moraltheologischen und ethischen
Begründungsmuster in der evangelischen wie der katholischen
Theologie gehen nicht von einem Grunddissens aus. Die wesentlichen Elemente einer gemeinsamen theologischen Anthropologie sind unstrittig; die konfessionellen Differenzen können
heute wechselseitig als Bereicherung auf diesem Gebiet beurteilt
und gewürdigt werden. Die Unterschiede beziehen sich auf eng
begrenzte Themengebiete; sie resultieren vielfach auf nichttheologischen Faktoren, die unterschiedlich in die Theologie
152
eingeholt werden. Gemeinsame ethische Stellungnahmen der
Kirchen sind nach wie vor möglich und notwendig. Sie müssen
allerdings ein qualifiziertes Verhältnis zu einer begründeten Pluralität von ethischen Positionen entwickeln.
260. Die Studie der Bilateralen Arbeitsgruppe stellt fest, dass
die Unterschiede, die sich beispielhaft an der Frage der Verschiebung des Stichtages für die Forschung an embryonalen
Stammzellen und bei der ethischen Bewertung des assistierten
Suizids festmachen lassen, weder auf unterschiedliche Begründungsmuster in ethischen Urteilsprozessen zurückführen lassen, die prinzipiell inkompatibel seien, noch auf Dissense im
Menschenbild selbst, die nicht zu vermitteln wären. In Kapitel 2
ist gezeigt worden, dass die wichtigsten Begründungstypen
ethischer Urteilsbildung sowohl in der katholischen Kirche als
auch in den evangelischen Kirchen durch den akademischen
Diskurs und durch die ökumenische Debatte eine solche Dynamik gewonnen haben, dass heute nicht nur die jeweils eigenen
und anderen Argumentationsmuster einer nüchternen Analyse
ihrer Leistungsfähigkeit unterzogen, sondern auch miteinander
kommuniziert werden können. In Kapitel 3 ist gezeigt worden,
dass die gemeinsame Schriftlektüre eine theologische Anthropologie entwickeln lässt, die charakteristisch lutherische und
charakteristisch katholische Perspektiven aufgreift, um sie zueinander in Beziehung zu setzen. In Abschnitt 4.1 hat dies zu dem
Ergebnis geführt, dass auch an den traditionell strittigen,
ethisch virulenten Punkten heute grundlegende Gemeinsamkeiten festgehalten werden können, die konfessionelle Differenzen
nicht leugnen, sondern in ein konstruktives Verhältnis zu den
Gemeinsamkeiten setzen. Das gilt für die Macht der Gnade, die
nicht gegen die Freiheit des Menschen steht, und das Unheil
der Sünde, das im konkreten Fehlverhalten tiefe Probleme des
Gottesverhältnisses und des Selbstbildes erkennen lässt, aber
auch für die Verantwortung des Menschen, die gerade aus dem
Glauben folgt, und den Gehorsam gegen Gottes Gebot, der
keine Fremdbestimmung, sondern eine Selbstbestimmung kraft
des Geistes ist.
153
261. Sowohl für die Diskussion ethischer Differenzen wie für
die Entwicklung gemeinsamer ethischer Stellungnahmen bilden
diese Positionen, die als signifikante Beispiele für andere stehen, eine tragfähige Basis, die nicht nur Konflikte aushalten,
sondern auch mit dem Ziel einer besseren Verständigung austragen lässt. Die gemeinsamen Aktionen und Positionen im
sozialethischen Bereich – beispielhaft sind die Kinderarmut und
die Bildungsarbeit beschrieben worden – beweisen, wie stabil
das Fundament ist und wie weit der Wille, gemeinsame Positionen zu beziehen, in die Tat umgesetzt werden kann.
262. Die Aufarbeitung der begrenzten Dissense in bestimmten
Feldern angewandter Ethik zeigt aber auch, dass es keine einseitigen Ableitungsverhältnisse zwischen anthropologischen
und ethischen Grundsätzen einerseits und konkreten Schlussfolgerungen in ethischen Fragen andererseits gibt. Ohne starke
Grundsätze und Prinzipien herrschte purer Pragmatismus, der
im Zweifel immer das Recht der Stärkeren durchsetzt. Aber der
Verweis auf Grundsätze und Prinzipien ist nicht hinreichend. Die
Aufmerksamkeit der Kirchen muss stärker als bislang den Vermittlungsproblemen gelten, den Bedingungen, unter denen
politische Entscheidungen getroffen werden, den Risiken und
Nebenwirkungen ethischer Urteile und moralischer Aktionen.
Über die bisherigen Stellungnahmen (und auch über diese Studie) hinaus ist der ethische Stellenwert dieser Vermittlungsaufgaben genauer zu reflektieren.
263. Die Ökumene auf dem Gebiet der Ethik dient nicht dazu,
die Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Ethik
kleinzureden, sondern dazu, sie in ein konstruktives Verhältnis
zueinander zu setzen, das den ethischen Diskurs bereichert.
Erforderlich ist die Fähigkeit, eine abweichende Position von
ihren eigenen Voraussetzungen her in ihrem relativen Recht
anzuerkennen und in der eigenen Argumentation kritisch zu
berücksichtigen, auch wenn über das Ergebnis kein Einverständnis erzielt werden kann. Daraus entwickelt sich eine der
kommenden Aufgaben ökumenischer Theologie.
154
264. Auf dem Gebiet der Ethik bewährt sich die Hermeneutik
des differenzierten Konsenses. Sie zielt keine Uniformität, sondern eine kommunikative Pluralität an, die Gemeinsamkeiten
nicht geringschätzt und Unterschiede zu ihnen in Beziehung
setzt. Wie auf dem Gebiet der Soteriologie und Ekklesiologie
angelegt, muss sie auch auf dem Gebiet der Ethik so weiter
entwickelt werden, dass die Unterschiede nicht nur als Probleme gesehen werden, die es zu lösen gilt, sondern als mögliche
Lösungen, die zur wechselseitigen kritischen Hinterfragung der
jeweils eigenen Position anregen und dadurch Alternativen
generieren können. Auf dem Gebiet der Ethik zeigt sich aber
auch, dass die ökumenische Hermeneutik so weiter entwickelt
werden muss, dass sie ein qualifiziertes Verhältnis zu verbleibenden Dissensen entwickelt. Es gilt, sie in ihrem Umfang und
Gewicht genau zu bestimmen und mit der jeweils innerkonfessionellen Pluralität zu vermitteln.
265. Im Fall der Forschung mit embryonalen Stammzellen wie
im Fall des assistierten Suizids gibt es nicht einfach den – womöglich prinzipiellen – Gegensatz zwischen katholischer und
evangelischer Theologie. Es gibt vielmehr deutliche Differenzen
auf der evangelischen Seite, von denen einige mit der katholischen Position übereinstimmen, die jedoch von anderen dezidiert abgelehnt werden. Es gibt aber auch auf der katholischen
Seite in der Theologie und in den Auffassungen der Gläubigen
nicht nur eine einzige Auffassung, so wie es auch bei wichtigen
ethischen Fragen eine Entwicklung des Lehramtes gibt. Diese
Differenzen müssen offen angesprochen und theologisch bewertet werden. Auf diesem Wege bleiben die Kirchen ökumenisch urteils- und handlungsfähig, auch wenn ihre Positionen
nicht in jeder Hinsicht deckungsgleich sind. Bei der Stammzellforschung eröffnet der Fortgang der Medizin neue Möglichkeiten der medizinischen Heilung, aber auch neue Gefahren für
den Menschen. Bei der Frage eines menschenwürdigen Sterbens müssen die Kirchen ihre gemeinsamen Anstrengungen auf
den Ausbau der Palliativmedizin richten, aber auch im öffentlichen Diskurs über das Ethos des Arztes und das Menschenbild
155
einer Gesellschaft eine Position beziehen, die den Wunsch nach
Gesundheit nicht absolut setzt und den Willen zur Selbstbestimmung nicht als unerträglichen Druck auf die Leidenden und
ihre Angehörigen lenkt.
266. Wo die Kirchen sich in erster Linie zu engagieren haben,
erkennen sie in der Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift
und der sensiblen Wahrnehmung der Gegenwart. Während in
den bisherigen Kapiteln vor allem theologische Argumente
erwogen worden sind, um Transparenz in den ethischen Urteilen herzustellen, soll zum Schluss in einer anderen Sprachform
beispielhaft verdeutlicht werden, wofür die Kirchen sich einsetzen wollen. Es sind „Optionen für Menschlichkeit“, die aus den
Seligpreisungen der Bergpredigt entfaltet werden. Das Ziel
besteht nicht in einer detaillierten Exegese, sondern darin, den
Blick für die entscheidenden Impulse zu öffnen, sich im Namen
des menschenfreundlichen Gottes für die Menschenwürde
einzusetzen. Daraus soll auch sichtbar werden, welchen sinnvollen Beitrag die Beschreibung differenzierter Konsense und begrenzter Dissense für das gemeinsame christliche Engagement
leistet.
156
5.
Optionen für Menschlichkeit.
Das Zeugnis der Bergpredigt
267. Das Menschenbild der Bibel begründet ein Ethos der
Menschlichkeit. Dieses Ethos bezieht sich auf alle Menschen. Es
beruht auf der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe (Mt
22,34-40; Mk 12,29-34; Lk 10,25-37) und weitet die Nächstenliebe zur Feindesliebe aus (Mt 5,38-48; Lk 6,27-36). Aber es
erschöpft sich nicht in Geboten und Gesetzen. Es spannt seinen
Bogen von der Menschwerdung des Wortes Gottes (Joh 1,14)
hin zur Gemeinschaft mit Gott in der Teilhabe an der Liebe
zwischen dem Vater und dem Sohn im Heiligen Geist (Joh 17).
Das christliche Ethos ist inspiriert durch die Güte Gottes selbst,
„der seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und lässt
regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Deshalb
setzen sich die Gläubigen dafür ein, die Lage von Menschen
zum Guten zu verbessern. Gleichzeitig wissen sie um die Grenzen menschlicher Möglichkeiten und bezeugen auch im Leiden,
durch die Kraft des Heiligen Geistes, den lebendigen Gott.
268. Das biblische Ethos begründet Optionen für Menschlichkeit, die Menschen verpflichtet; das Evangelium erinnert Menschen an ihre eigene Schuld, für die sie Gott und alle Brüder
und Schwestern um Vergebung bitten müssen; aber es ermutigt
auch, nach neuen Wegen zu suchen, um die Einheit von Gottesund Nächstenliebe zu konkretisieren. Einige dieser Optionen
sind: das Mitleid mit den Leidenden, die Vergebung der Schuld,
der Einsatz für das Menschenrecht aller, die Förderung der
Gerechtigkeit und die Arbeit am Frieden. Sie orientieren sich an
den Seligpreisungen der Bergpredigt.
157
„Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich“
(Mt 5,3).
269. Die Seligpreisung der Armen weist darauf hin, dass Armut
zu einer Missachtung der Menschenwürde führt. Gott hat sein
Reich den Armen bereitet. Der Kampf gegen die Armut ist ein
Kampf für die Durchsetzung der Menschenrechte und für die
Anerkennung ihrer Menschenwürde.
270. Jesus selbst hat die Armut der Armen geteilt. Er ist realistisch genug, um zu sagen, dass es „immer Arme“ geben wird
(Mk 14,7) – nicht weil das Gottes Wille wäre, sondern weil es
die Folge von einem schuldhaften Miteinander der Menschen
ist. Nach dem Gleichnis vom Weltgericht hat Jesus sich mit den
Geringsten identifiziert (Mt 25,31-46). Er hat dem Verdacht
widersprochen, sie seien in ihrem Elend in den Augen Gottes
weniger wert. Das Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus öffnet die Augen für die Ungerechtigkeit der Welt
und die Liebe Gottes zu den Armen (Lk 16,19-31). Damit steht
Jesus ganz in der Linie der Propheten Israels. Er klagt das Unrecht an, aber er macht Hoffnung auf den überfließenden
Reichtum der vollendeten Herrschaft Gottes. Paulus hat diesen
Einsatz Jesu für die Armen als Geheimnis der ganzen Erlösung
entdeckt: „Er, der reich war, ist um unseretwillen arm geworden, damit wir in seiner Armut reich werden“ (2 Kor 8,9).
271. Für die Urkirche ist die Armut Alltagserfahrung, aber auch
Anlass zur Diakonie. Von der Urgemeinde wird erzählt, wie sie
Armut mildert, zunächst (weil die Kräfte für mehr noch nicht
reichen) in ihren eigenen Reihen: durch eine Kultur des Teilens
(Apg 2,42-47; 4,32-37; 6,1-7). Die ersten Gläubigen leben aus
der Erfahrung, von Gott reich beschenkt zu sein; sie sehen es
deshalb als ihre Aufgabe an, die empfangenen Gaben nicht für
sich zu behalten, sondern den Armen zu geben.
272. Für die Kirchen heute folgt aus der Seligpreisung der Armen zuerst ein Bekenntnis, wie sehr die Kirchen durch ihr Re158
den und ihr Schweigen, durch ihr Handeln und Unterlassen
selbst die Armut in der Welt vergrößert haben. Die Seligpreisung fordert ein Handeln der Kirchen, Armut zu bekämpfen,
weltweit und in jeder Form, so wie die Kräfte reichen.
273. Die Seligpreisung öffnet die Augen dafür, in den Armen
Christus zu sehen, und motiviert, ihnen beizustehen. Sie macht
aber auch Hoffnung über das hinaus, was Menschen zum Abbau
der Armut tun und inmitten ihrer eigenen Armut leisten können
– mit den Worten des alttestamentlichen Psalms: „Der Arme ist
nicht auf ewig vergessen, des Elenden Hoffnung ist nicht für
immer verloren“ (Ps 9,19).
„Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden“
(Mt 5,4).
274. Die Seligpreisung der Trauernden ist ein stiller, aber starker Protest gegen die Missachtung der Menschenrechte und ein
stilles, aber starkes Zeugnis für jene Würde, die keinem Menschen genommen werden kann. Die Seligpreisung gilt all denjenigen, die sich mit dem Elend dieser Welt, mit Not und Ungerechtigkeit nicht abfinden wollen, aber darunter leiden, dass
ihre Versuche, Veränderungen zu bewirken, nicht greifen oder
versagen. Gott wird den Trauernden Trost spenden.
275. Jesus selbst hat getrauert (Joh 11,34-36). Und er hat die
Trauernden getröstet (Joh 11,17-27). Nach dem Gleichnis vom
Weltgericht hat er sich mit den Geringsten identifiziert
(Mt 25,31-46). In denen, die unter fremder oder eigener Schuld
leiden, die arm und krank, verlassen und gefangen sind, wird
der arme und leidende, der verlassene und gefangene Jesus
Christus selbst erkannt. Die Zuwendung zu den Trauernden ist
eine Bewegung, die auf eine Veränderung der Situation aus ist.
Jesus hat zeit seines Lebens und noch in seiner Passion die Nähe
zu den Leidenden gesucht, um ihnen Hilfe zu leisten und Trost
zu spenden. Das Mitleid treibt seine Sorge für die Schwachen
an. In Jesus wird der leidende Gottesknecht gesehen, der von
159
allen verachtet wird, aber allen das Leben Gottes bringt
(Jes 53).
276. Für die Urkirche ist dieses Ethos Grund zur Dankbarkeit
und zur Mission: Die Jünger sind in ihrer Trauer über den Tod
Jesu getröstet worden; sie haben den Mut gewonnen, auf den
Sieg der Liebe über den Tod zu hoffen. Im Glauben an die Auferstehung verdrängen sie die Trauer nicht, sondern geben ihr
einen Ort in der Klage vor Gott, in der Bitte um seine Hilfe und
im Lobpreis seiner Barmherzigkeit.
277. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung der Trauernden
eine Vorgabe und eine Aufgabe, die Frohe Botschaft gerade
denen zu verkünden, die in ihrer Trauer die Hoffnung auf Gott,
aber auch die Hoffnung für sich selbst und ihre Lieben verloren
haben. Die Kirchen haben dem Missverständnis zu begegnen,
dass die Leidenden von Gott verlassen oder bestraft würden.
Sie haben sich auch gegen den Verdacht zu wehren, der Trost,
den sie mit Berufung auf Jesus spenden, sei eine Vertröstung.
Beides können sie nur, wenn sie selbst zur Trauer, zum Mitleid,
zur Anteilnahme bereit sind und in dieser Haltung den Kampf
gegen das Unrecht aufnehmen. Das Ethos des Mitleids ist in der
Nähe Gottes zu den Leidenden begründet: Sie sind Gottes
Ebenbild; Gott hat sie zur Teilhabe an seiner Liebe berufen.
278. Die Seligpreisung öffnet die Augen dafür, in den Trauernden
Jesus Christus zu erkennen. Sie motiviert zu trösten – mit Worten
und Taten. Sie gibt aber auch Grund zur Hoffnung, dass Gott dort
zu trösten vermag, wo Menschen in dieser Welt untröstlich sind –
nicht, weil diese Menschen sich getäuscht hätten, sondern weil
Gott „alle Tränen abwischen wird“ (Jes 25,8; Offb 21,4).
„Selig, die sanftmütig sind; denn sie werden die Erde erben“
(Mt 5,5).
279. Die Seligpreisung der Sanftmütigen (oder derer, „die keine
Gewalt anwenden“, wie auch übersetzt werden kann) spricht
160
an, dass alle, die nicht auf Gewalt, sondern auf Liebe setzen,
menschlich handeln. Gott wird ihnen die ganze Erde öffnen. Die
Unterstützung der Sanftmut und Gewaltlosigkeit ist ein hintergründiges, aber nachhaltiges Eintreten für die Würde der Menschen.
280. Jesus selbst wird im Matthäusevangelium beim Einzug in
Jerusalem mit Worten des Propheten Sacharja (Sach 9,9) beschrieben: „Siehe, dein König kommt zu dir; er ist sanftmütig; er
reitet auf einem Esel, einem Füllen, dem Jungen eines Lasttieres“ (Mt 21,5; vgl. Joh 12,5). Jesus hat nicht nur zur Feindesliebe
aufgerufen (Mt 5,38-48; Lk 6,27-36). Er hat sie auch zeit seines
Lebens praktiziert. Am Kreuz bittet er für seine Henker: „Vater,
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). In
der Sanftmut Jesu verwirklicht sich die Liebe Gottes.
281. Für die Urkirche ist die Seligpreisung ein Zuspruch und ein
Anspruch. Sie bestärkt die Gemeinde in der Haltung, auf Gewalt
nicht mit Gegengewalt zu reagieren. Die neutestamentlichen
Schriften bezeugen den Geist der Demut Jesu (vgl. Phil 2,6-9)
und fordern dazu auf, diese anzunehmen (vgl. Phil 2,5).
282. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung der Sanftmütigen ein Anlass, Schuld zu bekennen, weil sie in ihrer Geschichte
Gewalt ausgeübt, gefordert und gerechtfertigt haben. Die Seligpreisung wird zum Anspruch, auf jede Form von noch so sublimer Gewalt zu verzichten und alles, was möglich ist, zu tun, um
im privaten wie im politischen Bereich Gewalt zu überwinden
und nach Wegen des Friedens Ausschau zu halten.
283. Die Seligpreisung öffnet die Augen dafür, in den Sanftmütigen Jesus zu erkennen. Dass sie von Gott geehrt werden, ist
die Verheißung des Evangeliums. Auch wenn alles gegen diese
Verheißung zu sprechen scheint, ist sie doch in Gott selbst begründet und macht Hoffnung, dass die „Liebe stärker ist als der
Tod“ (Hld 8,6).
161
„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit;
denn sie werden gesättigt werden“ (Mt 5,6).
284. Die Seligpreisung der Hungernden und Dürstenden verbindet die Frage nach der Gerechtigkeit mit den realen Verhältnissen, in denen Hunger und Durst herrschen. Sie weist auf die
Ernsthaftigkeit der Lage von Hungernden und Dürstenden hin.
Ihnen wird die Verheißung zugesprochen, dass Gott ihren Hunger und Durst stillen wird. Der Einsatz für Gerechtigkeit „wie im
Himmel, so auf Erden“ (Mt 6,10) ist ein Einsatz für die Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde.
285. Jesus selbst erklärt nach dem Matthäusevangelium vor
der Taufe im Jordan Johannes dem Täufer: „Wir müssen alle
Gerechtigkeit erfüllen“ (Mt 3,15). Diese Gerechtigkeit ist der
Heilswille Gottes. Die Menschen hungern nach irdischer Gerechtigkeit. Jesus ermutigt sie, auf die himmlische Gerechtigkeit
zu vertrauen. Gott wird ihnen zu ihrem Recht verhelfen, auch
wenn es ihnen auf Erden genommen wird.
286. Für die Urkirche ist die Seligpreisung eine Bekräftigung ihrer
eigenen Suche nach Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt. Dass
die himmlische Gerechtigkeit nicht auf Erden zu erreichen ist,
rechtfertigt keine Form von Ungerechtigkeit. Deshalb sieht sich die
Kirche, so klein sie anfangs ist, berufen, Gerechtigkeit walten zu
lassen, die in ihren Gemeinden beginnt und von diesen ausstrahlt.
287. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung eine Aufforderung, all diejenigen zu unterstützen, die sich für Gerechtigkeit
einsetzen und Gerechtigkeit einklagen. Sie befähigt Menschen
dazu, selbst ihre Rechte wahrzunehmen und für andere einzutreten. Christlicher Glaube bezeugt, dass die Würde der Menschen nicht davon abhängt, ob sie von anderen Menschen anerkannt wird, sondern dass sie in Gott begründet und deshalb
unverletzlich ist. Die Menschenwürde ist unverletzbar, weil sie
dem Menschen zu eigen ist. Sie zu achten und zu schützen, ist
ein Ausdruck der Gerechtigkeit.
162
288. Die Seligpreisung weist darauf hin, dass in denen, die nach
Gerechtigkeit hungern und dürsten, Jesus Christus erkennbar
wird, weil er mit der Verkündigung der Gottesherrschaft der
Sehnsucht nach Gerechtigkeit eine Bestimmung gegeben hat.
Auch wenn der Hunger und Durst auf Erden immer neu erwachen, bleibt die Verheißung, dass um Gottes willen nicht der
Ungerechtigkeit, sondern der Gerechtigkeit die Zukunft gehört.
„Selig, die barmherzig sind; denn sie werden Barmherzigkeit
erlangen“ (Mt 5,7).
289. Die Seligpreisung der Barmherzigen bezieht all jene ein,
die sich für ein menschliches Leben einsetzen. Gott selbst wird
sich als barmherzig erweisen. Die Praxis der Barmherzigkeit ist
ein nachhaltiger Dienst an der Durchsetzung der Menschenrechte und der Achtung der Menschenwürde. Sie verwischt
nicht den Unterschied zwischen Tätern und Opfern, aber räumt
denen, die Schuld auf sich geladen haben, die Möglichkeit der
Umkehr ein und spricht ihnen, wenn sie sich der Barmherzigkeit
Gottes nicht verweigern, die Vergebung Gottes zu.
290. Jesus hat die Barmherzigkeit Gottes verkündet. Barmherzigkeit kommt aus dem Herzen Gottes selbst. Sie gilt gerade
denen, deren Herz verhärtet ist. Sie wird von Jesus dadurch
bewahrheitet, dass er das Leben derer teilt, derer er sich erbarmt. Nach einem Glaubensbekenntnis des Apostels Paulus,
der nicht nur auf das Leben, sondern auch auf das Kreuz und die
Auferstehung Jesu schaut, hat „Gott den, der die Sünde nicht
kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gottes
Gerechtigkeit werden“ (2 Kor 5,21). Der Glaube an Gott schenkt
das Vertrauen, die eigene Sünde in ihren zerstörerischen Dimensionen auszuleuchten und dennoch auf Vergebung und
Erlösung zu hoffen. Wer sündigt, verdeckt zwar seine eigene
Gottebenbildlichkeit oder missachtet die der anderen Menschen, aber in eine solche Finsternis scheint das Licht Gottes,
und die Finsternis hat es nicht ergriffen (vgl. Joh 1,5).
163
291. Für die Urkirche ist die Seligpreisung eine Erinnerung an
ihren eigenen Grund und eine Ermutigung, Barmherzigkeit
walten zu lassen. Die Urkirche lebt aus der Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes; sie kennt Sünder und Sünderinnen in ihren
eigenen Reihen; sie wird um ihres Glaubens willen unbarmherzig verfolgt. Wie schwer den ersten Gläubigen die Orientierung
an der Barmherzigkeit Gottes gefallen ist, wird im Neuen Testament offengelegt – aber auch, wie gut es ist, wenn Barmherzigkeit waltet.
292. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung eine Wegweisung zu einer Kultur des Erbarmens sowohl in ihren eigenen
Reihen als auch in ihrem Umfeld. Dabei beherzigen sie die Unterscheidung von Tat und Person, die auf Augustinus zurückgeführt wird: dass zwar die Sünde zu hassen, aber die Sünder zu
lieben seien. Die Christen und Christinnen haben die Vollmacht,
Sünden zu vergeben; sie haben in ihrem Gottesdienst, in ihrer
Glaubenslehre und in ihrem sozialen Engagement alles in ihren
Kräften Stehende einzusetzen, um Barmherzigkeit walten zu
lassen. Das motiviert sie, Unrecht beim Namen zu nennen und
Unbarmherzigkeit anzuklagen.
293. Die Seligpreisung öffnet dafür, in denen, die barmherzig
sind, Jesus Christus zu erkennen. Sie macht Mut, auf Gottes
Barmherzigkeit auch dort zu vertrauen, wo menschliche Möglichkeiten enden. Sie lebt im Bekenntnis, das der Täufer Johannes ausspricht und das in jeder Abendmahls- und Eucharistiefeier erneuert wird: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der
Welt trägt“ (Joh 1,29).
„Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“
(Mt 5,8).
294. Die Seligpreisung derer, die reinen Herzens sind, spricht
von jenen Menschen, die sich aus Herzensgüte anderen Menschen zuwenden. Gott wird sich ihnen zeigen. Ein Herz zu haben, ist ein biblischer Ausdruck für die Würde des Menschen.
164
Herzlichkeit zwischen den Menschen ist eine alltägliche und
gerade deshalb wesentliche Form, die Würde der Menschen zu
wahren.
295. Jesus selbst hat sich nach dem Lukasevangelium in der
Synagoge von Nazareth das Wort des Propheten Jesaja zu eigen
gemacht: „Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der
Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz
zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung“ (Lk 4,18-19 – Jes
61,1-2). Er hat die Reinheit nicht an Äußerlichkeiten festgemacht, sondern im Herzen der Menschen selbst gesucht (Mt
15,1-20; Mk 7,1-23). Er hat die Herzensfreude geteilt, die alle
erfüllt, die ein Ohr für das Wort Gottes haben (Joh 16,22). Die
Reinheit des Herzens ist die Freiheit vom Bösen, Offenheit für
Gott, die Zuwendung zum Nächsten und die Übereinstimmung
mit sich selbst. Diese Reinheit ist auch innerhalb der Jüngerschaft bedroht: durch Machtstreben und Heuchelei. Die Reinheit des Herzens ist aber auch außerhalb der Kirche zu finden:
bei allen Menschen guten Willens.
296. Für die Urkirche verleiht die Seligpreisung der Herzensreinen die Freiheit, nach allen Menschen Ausschau zu halten, die
das Böse bekämpfen und das Gute fördern, um mit ihnen Partnerschaften für den Frieden einzugehen. Die Reinigung der
Herzen ist ein Zeichen des Evangeliums selbst, das weder durch
eine Veräußerlichung der Religion noch durch eine Herzenshärte der Gläubigen verdunkelt werden darf.
297. Für die Kirchen heute gibt die Seligpreisung Grund zur
Dankbarkeit für alle Gläubigen, die durch die Gnade Gottes die
Reinigung ihrer Herzen erfahren haben. Sie wird auch immer
wieder zur Verpflichtung, die Herzen für das Wirken des Heiligen Geistes zu öffnen und zu einer Verkündigung des Evangeliums zu gelangen, in der die Herzlichkeit Jesu von allen Menschen entdeckt werden kann.
165
298. Die Seligpreisung öffnet die Augen dafür, in allen Menschen reinen Herzens Jesus Christus zu sehen, der ein reines
Herz hat und die Herzen reinigt. Sie erneuert die Verheißung,
dass Gott ein neues Herz und einen neuen Geist geben wird
(Ez 36,26) und dass sie sich so in unendlicher Weite erfüllt, was
das Alte Testament als Wunsch des Königs Salomo überliefert:
„Weisheit zieht ein in dein Herz, Erkenntnis beglückt deine
Seele“ (Spr 2,10).
„Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes heißen“
(Mt 5,9).
299. Die Seligpreisung der Friedensstifter bestärkt alle, die für
Versöhnung und gegen Gewalt eintreten, um die Erde für
Mensch und Tier bewohnbar zu machen. Gott sieht sie als seine
nächsten Verwandten. In einer Welt, in der die gewaltsamen
Konflikte eher zu- als abnehmen, klagt die Friedensarbeit die
Verletzung von Menschenrechten an und fördert die Durchsetzung von Menschenrechten.
300. Jesus selbst hat seine Jünger gesandt, den Frieden zu bringen (Mt 10,12-13; Lk 10,5). Die Bibel sieht die Menschen von
Gott zum Frieden mit ihm und untereinander berufen. Es ist die
große Vision der Propheten Israels, dass der verlorene Friede
der ganzen Schöpfung wiederkehrt, weil Gott sein Reich aufrichtet und die Menschen mit sich und untereinander versöhnt
(Jes 11,1-16). Die Feier des Sabbats in Israel ist die Vergegenwärtigung des ursprünglichen (Gen 2,1-4a; Ex 20,11) und der
Vorgeschmack des endgültigen Friedens (Hebr 4,1-13). Es ist der
Friede, den Jesus seinen Jünger schenkt „nicht, wie die Welt
gibt“, sondern wie Gott gibt (Joh 14,27). Gott ist kein Gott des
Krieges, sondern des Friedens; der aktive, mutige Einsatz für
den Frieden gehört wesentlich – im Privaten wie im Politischen – zum Glauben an Gott und zur Nachfolge Jesu.
301. Für die Urkirche ist die Seligpreisung eine Berufung, die
Verkündigung des Evangeliums als Friedensmission zu begrei166
fen. Der Apostel Paulus, der vom religiös motivierten Gewalttäter zum Friedensapostel geworden ist, liefert das beste Beispiel.
Der Friede Gottes ist Geschenk und Verheißung, Zusage und
Auftrag. „Er selbst ist unser Friede“ (Eph 2,14), lautet deshalb
ein Grundbekenntnis des Glaubens.
302. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung ein Segen und
eine Verpflichtung, auf allen Ebenen der Gewalt zu wehren und
dem Frieden zu dienen. Die schrecklichen Kriege, die im Namen
Gottes geführt worden sind, um andere Menschen in ihrem
Glauben zu unterdrücken oder vom Unglauben zu befreien,
stehen deutlich mahnend vor Augen. Sie sind Warnung und
Forderung, dem „Gott des Friedens“ (Röm 15,33) in Gedanken,
Worten und Werken die Ehre zu erweisen. Die Ökumene ist
selbst ein Ausdruck dieser Friedensarbeit. Aber auch im politischen Bereich wirken die Kirchen auf die Förderung eines Friedens hin, der nicht auf Unterdrückung, sondern auf Befreiung
und Gerechtigkeit beruht.
303. Die Seligpreisung weist darauf hin, dass in allen Menschen, die Frieden stiften, sich Jesus Christus zu erkennen gibt.
Sie motiviert, nach Wegen des Friedens zu suchen und der Gewalt zu wehren. Sie stiftet auch Hoffnung auf einen ewigen
Frieden, die auch angesichts einer Welt der Gewalt nicht zuschanden wird. Diese Hoffnung bekräftigt die Vision der Propheten, dass „Schwerter zu Pflugscharen“ geschmiedet werden
(Jes 2,4; Mi 4,3).
„Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;
denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,10).
304. Die Seligpreisung der Verfolgten bekennt sich eindeutig zu
allen Menschen, die von anderen zu Opfern gemacht werden,
weil sie dem Unrecht widerstehen. Ihr Einsatz ist sinnvoll, weil
sie für Gerechtigkeit eintreten. Gott selbst wird ihnen in seiner
Königsherrschaft Recht verschaffen. Die Verfolgung „um der
Gerechtigkeit willen“ ist Realität, die herausstellt, welcher per167
sönliche Einsatz für die Rechte und die Anerkennung der Würde
der Menschen gewagt wird, gerade dort, wo Menschenrechte
verweigert werden und Menschenwürde bestritten wird.
305. Jesus selbst ist um der Gerechtigkeit willen verfolgt worden. Er ist den Weg des Leidens gegangen. Mit Worten des
vierten Liedes vom Gottesknecht (Jes 53) heißt es von ihm im
Ersten Petrusbrief: „Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht;
er litt, drohte aber nicht, sondern überließ seine Sache dem
gerechten Richter“ (1 Petr 2,23).
306. Für die Urkirche ist die Seligpreisung ein Signal, dem Ruf
Jesu treu zu bleiben. Die Urkirche hat die Verfolgungen, die
Jesus prophezeit hatte, selbst erlebt und sich die Forderung der
Bergpredigt zu eigen gemacht, die Verfolger nicht zu verfluchen, sondern zu segnen, d.h. sie der Barmherzigkeit Gottes
anzuempfehlen (Mt 5,44; Lk 6,28; Röm 12,14).
307. Für die Kirchen heute ist die Seligpreisung eine Mahnung,
sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, in der Christen und
Christinnen andere Menschen aufgrund ihres Glaubens verfolgten. Sie ist auch ein Anlass, laut zu protestieren, wo heute Christinnen und Christen um ihres Glaubens willen verfolgt werden,
aber auch ungerechte Verfolgungen in jeder Form anzuprangern. Die Kirchen müssen Orte sein, in denen Verfolgte Asyl
genießen – in den Mauern ihrer Glaubenshäuser, in ihren Gebeten und in ihren Aktionen.
308. Die Seligpreisung verschließt nicht die Augen davor, wie
viele um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. In ihnen gibt
sich Jesus Christus zu erkennen, der verfolgt worden ist, weil er in
einer Welt voller Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes verkündet hat. Die Nachfolge Jesu begründet die Solidarität mit den
Verfolgten. Der Glaube hat aber auch die Verheißung, dass Gott
am Ende das Unrecht nicht hingehen lässt, sondern dem Recht
zum Sieg verhilft. Deshalb ist das Gebet nicht ohne Verheißung:
„Zu Unrecht verfolgt man mich. Komm mir zu Hilfe!“ (Ps 119,86).
168
Abkürzungen
AK
ASm
BSELK
CA
CS
DWÜ
DV
GER
GOF
GS
KatKK
KWS
LG
OT
Die Apostolizität der Kirche (Lutherisch / Römischkatholische Kommission für die Einheit)
Articuli Smalcaldici (BSELK)
Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen
Kirche
Confessio Augustana (BSELK)
Communio Sanctorum – Die Kirche als Gemeinschaft
der Heiligen (Bilaterale Arbeitsgruppe II).
Dokumente wachsender Übereinstimmung
Dei verbum – Dogmatische Konstitution über die
Offenbarung (Vaticanum II)
Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre
(Katholische Kirche / Lutherischer Weltbund)
Gemeinsame Offizielle Feststellung zur Bestätigung der
GER (Katholische Kirche / Lutherischer Weltbund)
Gaudium et spes – Pastoralkonstitution über die Kirche
in der Welt von heute (Vaticanum II)
Katechismus der Katholischen Kirche
Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament
(Bilaterale Arbeitsgruppe I)
Lumen gentium – Dogmatische Konstitution über die
Kirche (Vaticanum II)
Optatam totius – Dekret über die Ausbildung der
Priester (Vaticanum II)
169
Mitglieder der Bilateralen Arbeitsgruppe
(2009-2016)
Römisch-katholische Mitglieder
Bischof Dr. Gerhard Feige (Vorsitzender) (ab 2012)
Bischof Prof. Dr. Gerhard Ludwig Müller (Vorsitzender)
(bis 2012)
Prof. Dr. Johannes Reiter
Prof. Dr. Dorothea Sattler
Prof. Dr. Thomas Söding
Prof. Dr. Wolfgang Thönissen
Prof. Dr. Eberhard Tiefensee (bis 2013)
Dr. Dorothee Kaes (Geschäftsführerin)
Evangelisch-lutherische Mitglieder
Landesbischof Dr. Karl-Hinrich Manzke (Vorsitzender) (ab 2015)
Landesbischof i.R. Prof. Dr. Friedrich Weber (Vorsitzender)
(bis 2014)
Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm (ab 2010)
Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann (bis 2010)
Landespastor Heiko Naß (ab 2010)
OKR i.R. Dr. Ernst Öffner (bis 2010)
Prof. Dr. Miriam Rose
Prof. Dr. Christiane Tietz
Prof. Dr. Joachim Track (bis 2013)
OKR Dr. Oliver Schuegraf (Geschäftsführer)
170
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