Was ist Weisheit? Wenn das Gespräch sich um Quantität oder Qualität drehte, sprach mein Zen-Lehrer immer von buddhistischen Lehrer Boddhidharma, der nur einen Schüler gehabt haben soll, und nach 800 Jahren war ganz China von buddhistischen Klöstern besiedelt. Es gibt keine Religion ohne Gesellschaft. Auch im Buddhismus gibt es offene und versteckte Gesellschaftsvorstellungen. Z.B. sitzt der Lehrer vorne auf einem Sitz oder Podest, dann folgen die Mönche, die Nonnen und ganz am Ende die Laien, beim Lehrgespräch wie beim Essen. Im Wort Laie steckt wiederum der “Unwissende”, wahrend der Mönch als “Wissend” gilt. Dahinter steht eine Top-DownStruktur, der Einzelne hat sich auf einem Level einzufinden und den höheren Leveln zu vertrauen. In einem Rang-System bedeutet das Einnehmen eines höheren Ranges auch Machtzuwachs. Schließlich ist Wissen Macht, und irgendwann ist Macht Wissen. In der Soziologie wird Macht als ein Zustand des “nicht-mehr-lernen-muessens” verstanden. Es wäre hilfreich, statt von Mönchen und Laien von Ordinierten und Nicht-Ordinierten zu sprechen. Der Weise ist und war der Mittelpunkt einer Gemeinschaft. Natürliche Autoritäten be-weisen ihre Erfahrung und Umsicht immer wieder aufs neue. Doch nachfolgende Generationen begründen Institutionen, strukturieren Gemeinschaften auf Grund von Überlieferungen und in Systemen werden Rang und Abzeichen wichtiger als die Weisheit des Einzelnen. Das schließt nicht Weisheit beim Regieren aus, eröffnet aber auch jenen Karrierechancen, denen es an spirituellen und sozialen Qualifikation fehlt. So erscheint es mir ratsam, wenn es ähnliche wissenschaftliche Untersuchungen zum chinesischen und vietnamesischen Buddhismus wie die von Brain Victoria zum japanischen Buddhismus (“Zen, Nationalismus und Krieg”) geben würde. Es ist zu fragen, ob die klerikalen Strukturen mit den Machtstrukturen der Eliten in den Länder praktizierten und inwieweit sie eine Mitverantwortung an den gesellschaftlichen Umständen bzw. der Ignoranz trugen, die den Boden für die “Kulturrevolutionen” bereiteten. Insbesondere für die Entwicklung des Buddhismus in Europa halte ich eine Aufarbeitung, ähnlich der Kirchen nach dem 3. Reich, für sinnvoll. Es ist bezeichnend, dass gerade in klerikalen Gesellschaften von Vater bzw. Patriarchen bei Fuehrungspersonen gesprochen wird. In der Soziologie werden drei Ebenen der RollenBeziehungen definiert, die Vater-, Erwachsenen- und die Kind-Ebene. Kommunikation läuft dann gut, wenn Erwachsene miteinander sprechen. Oder vom Vater zum Kind. Alle anderen Beziehungen wie Erwachsenen-Vater oder Kind-Erwachsenen führen zu Störungen. Die deutsche Gesellschaft ist demokratisch organisiert, d.h. menschliche und geschlechtliche Gleichberechtigung und Verantwortung, Würdigung der Leistung des Einzelnen, Konsensbildung und nicht zuletzt ein humaner Sprachgebrauch. Die Demokratie hat sich derzeit als das stabilste System im Westen etabliert. Die Gesellschaft hat in einem langen Zeitraum aus den Fehlern einer klerikalen und feudalen Gesellschaft sowie von Diktaturen gelernt. Insbesondere die Erfahrungen des Dritten Reiches haben ihren Niederschlag im Grundgesetz gefunden. Und auch die Deutsche Buddhistische Union (DBU), wenn sie demokratisch sein will, wird immer auf Fragen antworten müssen zu: Aemterhaeufung und Amtsmissbrauch, fehlende Transparenz und Informationsfluss, unklare Entscheidungsprozesse. Oder eine unabhängige Berichterstattung über die DBU/Rat innerhalb der Lotosblaetter, dem Organ der DBU. Doch wie ist mit Kritik von Außen umzugehen? Winston Churchill sagte dazu: “Kritik braucht man nicht zustimmen, aber sie ist notwendig, so wie der Schmerz im Körper auf eine Krankheit aufmerksam macht.” Wird der Schmerz nicht wahr genommen und der Kritik mit Ignoranz begegnet, so wird die Kritik letztlich destruktiv und lähmt jedes Engagement. Es geht also um nichts geringeres als kulturelle Integrität und religiöse Authenzitaet. Der Abt der Pagode Vien Giac (Hannover), traditionell ostasiatisch orientiert, und Vorsteher von 60.000 buddhistischen Vietnamesen in Deutschland hat der DBU vor einiger Zeit das Angebot eines Zusammengehens gemacht. Ein gemeinsamer Antrag auf eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft kann z.B. die Folge sein. Aus Firmengeschichten ist bekannt, dass das Kooperieren oder Mergen von unterschiedlichen Betriebs- und Kommunikationsstrukturen problematisch ist und manchmal geht der kleinere Partner dabei auch zugrunde. Ich bin sehr für Integration von Minoritäten. Um eine langfristige Beziehung zum vietn. Buddhismus in Deutschland aufzubauen, wäre es deshalb ratsam, gemeinsame Projekte, wie z.B. buddha-dharmaexpo2000 eines war, zu initiieren. Aufgrund der gewonnenen Erfahrung koennen Konzeptionen für eine neue DBU Struktur erarbeiten werden, mit der sowohl Tradition als auch Demokratie gewürdigt werden. Es geht dabei aber nicht nur um Gesellschaftliches, sondern auch um ein neues Verständnis von Politik und Religion, was sich im Bewusstsein spiegelt. Werden beide Anteile in einem selbst nicht gewürdigt, führt es entweder zur Idealisierung einer Seite und Abwertung der anderen, oder zu ständigen Aggression. Denn der Terror beginnt im Kopf und setzt sich in die Welt fort. Franz von Assisi betete: Herr, gib mir die Kraft, zu ändern, was ich ändern kann; gib mir die Kraft, dem zu widerstehen, was ich nicht ändern kann, und gib mir die Weisheit, den Unterschied zwischen beidem zu erkennen. In den Ostasiatischen Religionen hört man häufig: “Ändere Dich selbst und nicht die Welt”. Das ist richtig, doch nicht unter allen Umständen. Wohin führt es, wenn das Subjekt sich bestehenden Strukturen anpasst, die die inhärente mögliche Gewalt akzeptierten oder vielleicht den Kern zur Ignorance schon in sich tragen und nicht mehr die menschlichen Werte praktizieren? Mahatma Gandhi hat die Demütigungen eines Rassenssystems in Südafrika am Anfang seines Weges nicht toleriert und sich angepasst. Er hat die Demütigungen in wunderbare Erkenntnisse verwandelt und zu einer eigenen Dharma-Interpretation gefunden, die ihn selbst UND die Welt verändert haben. Es ist gewiss nicht einfach, die Balance zwischen Selbstverwirklichung und Wertveränderung zu finden. Doch wenn das Dharma nicht mehr als “Belehrung” verstanden wird, sondern als Unterstützung des “Selbst”-Bewusstseins und des Demokratischen Verstaendnisses, dann wird es sicher auch Eingang in Europa finden. Wenn Weisheit wirklich weise ist, kann sie sich auch selbst relativieren. In einer Geschichte von Lao Tzu heißt es dazu: Ein Lehrer wurde gefragt, wieso er all die Dummheiten seines Schülers mitmacht? Er antwortete, er würde sonst den Schüler verlieren! Boddhidharma nach Europa einladen? Ja, auf alle Fälle! Vielleicht wird es ja ein Buddha aus dem Westen sein, der die torlose Schranke der Patriarchen durchschreitet! Dieser Artikel sollte in dem Buddhistischen Journal ‘Ursache und Wirkung’ erscheinen. Er entstand auf Grund meiner Erfahrungen während des Projektes. Ich möchte an dieser Stelle dem Journal meine Anerkennung für das Sonderheft zur EXPO ausdrücken.