Ingo Zechner: Kultur und Kolonisation 2. Der Einsatz der

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Ingo Zechner
Kultur und Kolonisation II
Entwurf für ein Forschungsprojekt zur Kulturphilosophie
Der Einsatz der Philosophie und das Problem der „Kultur“
Der Einsatz der Philosophie wird immer ein zweifacher sein: der Moment und der Ort, an
dem sie einsetzt und was sie dabei aufs Spiel setzt.
Allerorts ist von “Kultur” die Rede; warum also nicht auch in der Philosophie? Oder muß
man nicht umgekehrt fragen: Warum soll nun auch in der Philosophie von etwas die Rede
sein, worüber man ohnedies überall spricht? Gibt es eine spezifische Differenz oder
wenigstens einen signifikanten Unterschied, durch den sich ein philosophisches Sprechen von
jedem anderen unterscheidet? Oder gibt es eine unspezifische Differenz und einen asignifikanten Unterschied, der umso weniger vernachlässigt werden darf, als er leicht
übergangen wird: Wenn zwar nicht das Bedeutungslose, wohl aber das Unbedeutende die
Aufmerksamkeit erregen müßte, um ein Sprechen zu einem philosophischen zu machen? Wo
und vor allem wie muß das Sprechen dann einsetzen? Und wie wird es der Gefahr begegnen,
das Unbedeutende, das jedem anderen Sprechen entgangen ist, unter der Hand in das
Bedeutsamste zu verwandeln – so daß man dann von ihm sprechen kann, als hätte man es
bloß übersehen? Was dabei auf dem Spiel steht, wird weniger die “Kultur” als die Philosophie
selbst sein: Falls sich herausstellen sollte, daß die Philosophie zur “Kultur” nichts oder nichts
anderes zu sagen hat, als andernorts schon gesagt werden konnte (oder gesagt hätte werden
können), wird die “Kultur” davon nicht wesentlich betroffen sein; wohl aber die Philosophie
— denn was bleibt ihr dann noch zu sagen?
Es könnte nun eingewandt werden, daß die Philosophie nicht zu allem etwas zu sagen haben
muß, um sich nicht aufs Spiel zu setzen. Und tatsächlich gehört es zur Tradition, zunächst
einmal die Frage zu stellen, ob etwas Bestimmtes denn überhaupt Gegenstand der Philosophie
sein könne (etwa Hegels Frage am Anfang seiner Ästhetik, ob denn die Kunst überhaupt ein
würdiger Gegenstand einer philosophischen Betrachtung sein könne). Was aber, wenn es
nicht darauf ankommt, worüber man spricht, sondern wie man über etwas spricht?
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Das drohende doppelte nichts des Nichtssagenden (nichts oder nichts anderes zu sagen zu
haben) ist das Dilemma der Philosophie. In ihm gibt es zwei Gesten, die ein philosophisches
Sprechen vermeiden muß:
Zum einen die Feststellung, daß es “die Kultur” gar nicht gibt und daß niemand recht weiß,
was damit gemeint ist, wenn von “Kultur” die Rede ist (selbst wenn dieser Eindruck nicht
ganz von der Hand zu weisen ist). Das wäre die erste klassische Geste: “Man beweist, daß
etwas nicht sein kann, anstatt zu zeigen, daß es ist und warum es ist”.
Zum anderen die Behauptung, daß nur die Philosophie sagen kann, was “Kultur” überhaupt
ist. Die zweite klassische Geste: Man beweist, daß etwas zwar bekannt, nicht aber erkannt ist
und verspricht, nun endlich die Wahrheit über sein Wesen zu sagen, anstatt zu zeigen, was
von ihm bekannt ist und warum das noch nicht genügt.
Wenn das genannte Dilemma die Bedingungen markiert, unter denen die Philosophie aufs
Spiel gesetzt wird, dann sind es die beiden Gesten, mit denen ihr Einsatz am sichersten
verspielt werden kann.
Wo aber und wie soll ein philosophisches Denken dann einsetzen? Die Frage zielt auf einen
Beginn, auf eine Bewegung des Anfangens hin. Und sie führt zu einer dritten Geste zurück,
die am schwersten zu vermeiden sein wird, weil sie als grundlegende Geste den anderen
beiden stets vorausgegangen sein wird — und weil gerade sie die Geste ist, mit der sich die
Philosophie – seit Descartes – von allen anderen Disziplinen zu unterscheiden trachtet, indem
sie sich zugleich ihres Einsatzes (im doppelten Sinn) zu versichern versucht: Es ist die Geste
des verschobenen, aufgeschobenen und versetzten Einsatzes, die alles zurückweist, bis die
Philosophie ihren eigenen Anfang gefunden hat. Sie eröffnet einen endlosen “Discours de la
Méthode”, der über der Suche nach dem rechten Weg (hodos) die Bewegungen vergißt, die er
selbst im ungangbaren Gelände noch machen könnte; gegen die Wendigkeit seiner selbst und
die Wendbarkeit der Dinge setzt er die meditative Einkehr bei sich. Dabei unterschlägt dieser
Diskurs, daß er die Verschiebung nur macht, um den letztlich gefundenen Weg als den
richtigen ausweisen zu können; und daß er die Suche selbst nachträglich zum Weg rechnen
wird, um vorgeben zu können, schon in ihr weiter gekommen zu sein als jeder andere. Denn
wer in diesem Diskurs die Frage nach der Methode stellt, wer den Einsatz der Philosophie mit
der Methodenfrage verschiebt, will wohl kaum mit einer jener Gestalten verwechselt werden,
die als Zerrbilder des Philosophen die Philosophie seit jeher begleiten: mit dem Sophisten,
dem Skeptiker usw. Dagegen gehen wir davon aus, daß die Philosophie ihren Einsatz schon
gemacht hat, wenn sie sich auf der Suche nach ihrem Anfang befindet: Sie hat ihren Beginn
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schon hinter sich (diese Ungleichzeitigkeit ist irreduzibel); und sie steht selbst schon am
Spiel: Aber das Wort “rien ne va plus” ist lange noch nicht gesprochen.
Wenn hier von einer Positivität des Problematischen die Rede ist, soll darin auch ein Moment
des Zwanges zu spüren sein. Um den absolut freien Anfang der Philosophie wird es dann
nicht mehr gehen. “Es gibt etwas in der Welt, das zum Denken nötigt”, sagt Gilles Deleuze:
“Dieses Etwas ist Gegenstand einer fundamentalen Begegnung”.1 Das heißt, daß wir auf das
Problematische gestoßen sind. Man darf die Nötigung aber nicht mit einer Notwendigkeit
gleichsetzen: Der Einsatz ist zwar nicht absolut frei. Die Begegnung wird vielleicht sogar
zufällig sein. Aber es bleibt doch die Möglichkeit, sich dem Zwang zu entziehen. Der Einsatz
der Philosophie liegt demnach jenseits oder diesseits der Alternative von Freiheit und
Notwendigkeit. Auf das gestoßen zu sein, was man “Kultur” genannt hat, ist für die
Philosophie eine Begegnung mit dem Problematischen der Kultur: Nicht nur im Sinne des
Fraglichen als dem Ungewissen, mehr noch in dem des Bedenklichen. So ist “Kultur” zum
Beispiel stets mit dem “Menschen” verknüpft. Es gibt keine Kultur, die nicht irgendwo und
irgendwann auf das Unmenschliche gestoßen wäre, das ihr meist in menschlicher Gestalt
entgegen getreten ist. Noch weniger gibt es eine Kultur, die sich bloß von anderen Kulturen
unterscheidet, ohne zugleich jede Kultur vom Unkultivierten zu scheiden. Darin bleiben
Kultur und Kolonisation jenseits ihrer gemeinsamen Wortgeschichte untrennbar miteinander
verknüpft. Die Kolonie ist ein anderes Wort für das Problematische der Kultur. Positivität
kann hier nur noch heißen, daß etwas gegeben ist; denn was hier gegeben ist, ist im
unzweideutigen Sinn problematisch: Etwa im Namen der Kultur die fehlende Humanität einund die Gewalt anzuklagen, zugleich aber jene Gewalt zu vergessen und womöglich zu
rechtfertigen, mit der das Inhumane zugunsten des Humanen getilgt wird. Die Rede vom
Problematischen der Kultur besagt jedoch noch nicht, daß es ein philosophisches Problem
der Kultur geben muß, es heißt nicht einmal, daß es ein Problem der Kultur geben muß – daß
die “Kultur” von vornherein ein Problem sein muß. Es gibt zwar etwas Problematisches an
der Kultur, ein Problem der Kultur ist aber nicht einfach gegeben; es kann nur gestellt werden.
Man wird der Philosophie immer wieder vorwerfen können, aus allem ein Problem zu
machen. Wir wollen diesem populären Vorwurf entgegen kommen und sagen, daß die
Philosophie vielleicht nichts ist, wenn sie nicht die Tätigkeit ist, Probleme zu stellen.
Allerdings muß hinzugefügt werden, daß es immer verschiedene Arten gegeben haben wird,
Probleme zu stellen und daß nicht jede eine philosophische ist. Philosophie ist – genauer
1
Gilles Deleuze. Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen übersetzt von Joseph Vogl, München:
Fink 1992, S. 182.
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gesagt – eine Art und Weise, Probleme anders zu stellen – oder noch genauer – nicht einfach
nur andere Probleme, sondern anders Probleme zu stellen. Vor jeder Festlegung auf eine
bestimmte Art ist damit vor allem eines gemeint: Philosophie versucht, ein Problem als
solches zu stellen (ihr Gegenstand bleibt ihr genauso problematisch wie sie selbst). Es kommt
nicht auf die Lösungen an, eher schon auf die möglichen Lösungen. Vielmehr geht es aber
darum, in einer gegebenen Situation das Problematische an ihr zu benennen, um sie selbst als
Lösung eines Problems zu begreifen, das erst formuliert werden muß. Dazu muß sich das
philosophische Denken aber zuerst von der Geschichte der Philosophie losreißen, in der das
Problem und die Frage meist als momentane und vorübergehende Unwissenheit gegolten
haben, die vom Wissen beseitigt wird. Ein gut gestelltes Problem verschwindet jedoch in
seinen Lösungen nicht.
Die Philosophie unterscheidet sich von anderen Disziplinen (etwa von den Künsten) dadurch,
Probleme in Form einer Frage zu stellen. Sie verbalisiert jedes Problem. Es ist derselbe
Unterschied, den sie mit einigen anderen Disziplinen hingegen teilt (etwa mit einzelnen
Wissenschaften). Er markiert die Grenze, an die eine mögliche interdisziplinäre
Zusammenarbeit von Seiten der Philosophie immer stoßen wird. Er erinnert jedoch zugleich
auch an den Ausschluß von allem, was jenseits der Grenze liegt und vielleicht niemals Sache
der Philosophie gewesen sein wird. Die Philosophie wird diese Erinnerung zulassen müssen,
weil das Ausgeschlossene sie nicht nur von außen heimsucht, sondern Bedingung ihrer
Möglichkeit ist. Sie unterscheidet sich von anderen Disziplinen aber auch in der Intensität, mit
der sie Probleme als Fragen stellt: Ein Exzeß des Fragens bewahrt sie davor, nur eine
Disziplin unter oder neben anderen zu sein. Längst wäre es lächerlich, den Platz einer
Königsdisziplin beanspruchen zu wollen. Aber gleich welchen Status die Philosophie in den
Institutionen einnehmen mag: In einer bestimmten Intensität des Fragens hat sie die Grenzen
jeder Interdisziplinarität immer schon überschritten. Im interdisziplinären Dialog oder Polylog
wäre eine undisziplinierte Philosophie in der Lage, die Rolle des Proteus zu spielen, der die
anderen Disziplinen durchquert: Gute Philosophie (vielleicht gibt es keine andere) war immer
schon transdisziplinär.
Wenn man die Philosophie als ein Stellen von Problemen begreift, ist der technische Aspekt
dieser Definition ohnedies kaum zu übersehen. Trotzdem sollte er eigens hervorgehoben
werden: Das philosophische Denken wird auf eine Technik des Eingreifens nicht verzichten
können; also auf die Verwendung eines Dispositivs von möglichen Einstellungen, in denen
bewährte Handlungen (genau lokalisierte und koordinierte Eingriffe) verschiedene
Umstellungen vornehmen. Doch bleibt das Ziel dieser Eingriffe so weit offen, daß es die
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Technik als Technik desavouiert. Die Philosophie wird daher mehr eine Kunst, denn eine
Technik des Stellens von Problemen sein (und selbst das griechische Wort techne bietet dafür
kein Äquivalent).
In einem gewissen Sinn wird der Philosophie ihr Einsatz im Feld der Kultur von dieser selbst
abgenommen: Weil es kaum zu umgehen ist, daß sie – als eines ihrer Produkte – schon zur
Kultur (sei es zu einer bestimmten “Kultur” oder zur “Kultur” schlechthin) gezählt wird,
während sie noch ihren spezifischen Zugang zu finden versucht. Statt sich im Feld der Kultur
einen Ort zuweisen zu lassen oder im Gegenteil einen eigenen Ort in ihm zu wählen, kommt
es jedoch darauf an, es als ein Feld offenzulegen: als ein “bestelltes” Feld, das die Philosophie
nicht besetzt, sondern durchquert.
Die bereits vertraute Rede von einem “Feld der Kultur” könnte für den Einsatz der
Philosophie ein Glücksfall sein. Von den Sozialwissenschaften aus hat sich der Begriff des
Feldes neuerdings für mancherlei Art einer regionalen Abgrenzung behaupten können.
Bourdieu etwa spricht von einem sozialen Feld. Der Begriff des Feldes wurde jedoch
zunächst in der Physik des 19. Jahrhunderts entwickelt. Maxwell war wohl der erste, der ihn
systematisch verwendet hat: In seiner Theorie des elektromagnetischen Feldes wird der Raum
zu einem Kraftfeld; als solches ist er weder ein leerer Raum, noch ein endgültig geordneter
Raum, in dem jedes Ding einen für es bestimmten Platz hätte, sondern ein Raum, in dem
Kräfte auf- und gegeneinander wirken – ausgehend von Körpern und abgewandelt von
anderen Körpern. Entscheidend daran ist der Versuch – gegen einen gewissen cartesianischen
Zug in der Philosophie – die Körper nicht länger zu isolieren und statt vom partikulären
einzelnen Ding von einem Komplex auszugehen, der von Kraftverhältnissen bestimmt wird.
Die Gestalttheorie eines Wolfgang Köhler etwa hat den Begriff des Feldes in die
Wahrnehmungspsychologie versetzt. Und aus ihr haben ihn Husserl, Merleau-Ponty und
andere übernommen, so daß er seither in der Phänomenologie sogar zu den Grundbegriffen
zählt.
Die Philosophie wird das Potential des Feldbegriffs nutzen können. Aber sie wird die
metaphorischen Implikationen der Rede von einem “Feld der Kultur” ernst nehmen müssen:
nicht nur, um die Vielfalt ihrer Sinnschichten erschließen zu können; mehr noch, um zu
verhindern, daß die Metaphern jedem Gedanken gleichsam im Nacken sitzen. Die Verbindung
von Kultur und Feld ist in metaphorischer Hinsicht redundant: Kultur hat immer mit der
Kerbung eines “Bodens” zu tun. Das lateinische Wort cultura nennt zunächst die Bestellung
eines Feldes im wörtlichen Sinn: die “Pflege des Bodens”; cultura als Kurzform von
agricultura. Cultivare, kultivieren, heißt zuallererst “urbar machen” und dann “bebauen” und
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“bauen”. Die Bestellung eines Feldes wird eine Topologie errichtet haben, in der die Dinge
einen bestimmten Ort behaupten. Zur Orientierung wird gelegentlich eine Topographie des
Feldes angelegt worden sein – um so eher, als das Feld unüberschaubar wird (und es kann
sein, daß die Topologie erst durch die Topographie kenntlich wird). Eine solche Topographie
wird zunächst eine Verortung des ganzen Feldes neben anderen versucht haben und dann ein
Verzeichnis der Elemente des Feldes und ihrer Orte unternommen haben.
Wo mit dem Wort cultura die “Pflege des Körpers” und “die Pflege des Geistes” genannt ist,
wendet die Kultivierung sich ausgehend vom Menschen auf den Menschen zurück: Körper
und Geist werden im übertragenen Sinne zum “Feld”. Das Wort colere, das als gemeinsame
Wurzel die Kolonie mit der Kultur verbindet, heißt soviel wie “bewohnen” und “bebauen”,
dann erst “pflegen” und “ehren”. Colunus nennt man den “Ansiedler”, den “Bebauer” oder
einfach den “Bauer”. Diesem Archetypus des seßhaften Menschen wurde in der Philosophie
mit der drohenden Anarchie (Kant) oder Geschichtslosigkeit (Hegel) immer wieder der
Nomade vor Augen geführt, der kein Feld bestellt und die bestellten Felder verwüstet
(Deleuze und Guattari). Per definitionem ist er kulturlos und unkultiviert — was auch immer
das schlechte Gewissen der Kultivierten heute darüber denken mag. Was ihm einst als Mangel
ausgelegt wurde, macht den Nomaden zur Schlüsselfigur einer Utopologie der Kultur. Wenn
als ursprünglicher Sinn des Wortes colere “sich gewöhnlich irgendwo aufhalten” erschlossen
wurde – womit neben dem Wohnen die Gewohnheit genannt ist – verdeckt dieser Sinn die
Bedeutung, die man in der ebenfalls erschlossenen idg. Wurzel der Wortgruppe um Kultur
entdeckt zu haben glaubt: “(sich) herumbewegen”, “(sich) drehen”. Muß erst der Nomade
auftauchen, um in der Kultur daran zu erinnern, welche Bewegungen sie vergessen hat?
Das Projekt einer Utopologie der Kultur soll als Kartographie angelegt werden: nicht weil das
Ziel des Projekts eine Karte wäre, sondern weil jede strategische Operation in einem
komplexen Gebiet Karten verwendet. In der Kartographie ist das Studium vorliegender
Karten mit dem Zeichnen von neuen gepaart. Wenn die Topologie der kulturellen Felder
vermessen werden soll, müssen die Felder zugleich durchmessen werden. Und das Vermessen
hat hier wenig mit einem quantitativen Verfahren und noch weniger mit einem äußeren
Maßstab zu tun. Quantitativ ist es nur, wo es um die Einschätzung der Kräfteverhältnisse
geht. Anders als in einer topologischen Karte werden in einer u-topologischen die Topoi im
zweifachen Sinne des Wortes verzeichnet sein: als “Orte” des Feldes und zugleich als
“Gemeinplätze” – Gewohnheiten, die es beherrschen.
Eine U-Topologie wird versuchen, das Feld als “bestelltes” zu zeichnen und zugleich als
offenes Feld freizulegen (vielleicht werden die Karten eher den phantastischen Weltkarten
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ähneln). Sie wird das Offene des Feldes aufzuspüren versuchen, schon allein, um für die
Philosophie einen Fluchtweg aus ihm zu finden. Ein solcher Fluchtweg wird kein bloßer
Ausweg sein, über den sich die Philosophie – gleichsam durch die Hintertüre – unbeschadet
aus einem Bereich zu retten versucht, den sie besser vielleicht niemals betreten hätte: Die
Philosophie wird sich nicht in die Flucht schlagen lassen, aber sie wird versuchen, die Dinge
mit sich zu reißen, die Elemente des Feldes zur Flucht zu bewegen – ohne sogleich einen
neuen Ort für sie bereitzuhalten. Vergessen wir nicht, was Deleuze und Guattari, die Denker
der Fluchtwege, am Ende ihres gemeinsamen Denkweges zur Utopie zu sagen haben –
obwohl dieses Wort in der öffentlichen Meinung nur noch einen verstümmelten Sinn bewahrt
hat: “Die Utopie ist nicht zu trennen von der unendlichen Bewegung: Etymologisch
bezeichnet sie die absolute Deterritorialisierung, stets aber an jenem kritischen Punkt, an dem
diese sich mit dem vorhandenen relativen Milieu, vor allem aber mit den darin unterdrückten
Kräften verbindet.” Freilich birgt die Utopie immer “die Gefahr einer Restauration der
Transzendenz, zuweilen die ihrer arroganten Affirmation”. Aber das Wort Utopie bezeichnet
immer auch “diese Verbindung der Philosophie oder des Begriffs mit dem vorhandenen
Milieu: politische Philosophie”.2 Das ist die Chance einer Utopologie.
Das vorrangige Forschungsziel des Projekts wird es sein, ein Problem der Kultur überhaupt
erst zu stellen. Deshalb kann in einer Skizze für das Projekt ein solches Problem noch nicht
formuliert werden — andernfalls wäre die Forschung ja schon an ihr Ende gelangt. Wohl aber
kann das Problematische am Feld der Kultur schon jetzt grob umrissen werden:
1. Die Grenzen des Feldes sind völlig unscharf gezogen. Es scheint, daß diese Unschärfe
jedoch kein Mangel, sondern die konstitutive Bedingung dafür ist, daß von “Kultur”
überhaupt gesprochen werden kann. Mit anderen Worten und auf den gegenwärtigen
erfolgreichen Trend des Kulturbegriffs (cultural studies usw.) bezogen: Seine fehlende Bestimmtheit ist die Voraussetzung seines extensiven Gebrauchs. Einmal ist das Feld gleichsam
nur ein “Beet”, dann wieder ein “Landstrich”, ein “Land” oder ein “Länderverbund”. Der
Begriff der Kultur oszilliert zwischen der äußersten Partikularität und der äußersten
Totalität (von der “Subkultur” zur “Menschheitskultur”, um ein Beispiel zu nennen). Die
Grenzen seiner Regionalität (im Sinne der Phänomenologie oder einer regionalen
Ontologie) tendieren dazu, mit dem Horizont aller Regionen zusammenzufallen. Und es ist
nicht zu vergessen, was jede Region mit einer Regierung und einem Reich verbindet.
2
Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari. Was ist Philosophie?, aus dem Französischen übersetzt von Bernd
Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 115 f.
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2. Unter dem Titel “Kultur” muß zudem nicht nur ein “bestelltes” Feld verstanden werden
(welchen Umfang auch immer es haben mag). Er kann auch die Bestellung des Feldes
benennen und genauer die Ordnung, nach der diese Bestellung geschieht: In einem
gewissen Sinn nennt das Wort Kultur dann nicht nur ein Feld, sondern zugleich auch den
“Boden”, auf dem jede Bestellung stattfindet – so weit er sie trägt. Die Philosophie stößt
hier auf den ausweglosen Gedanken, daß sie womöglich derselben Ordnung gehorcht,
selbst wenn sie das Feld durchquert.
Für die Philosophie läßt sich an dieser Stelle ein erstes Problem schon formulieren: Wie kann
sie ein solches Feld durchqueren, ohne in ihm ansässig zu werden oder in ihm zu versanden.
Es genügt auch nicht, bloß Spuren in ihm zu hinterlassen; nicht einmal, seine Elemente neu zu
gruppieren. Wie kann die Philosophie aber ein Feld durchqueren, so daß man es ihm ansieht
— ohne das Feld zu verwüsten?
Ingo Zechner
(Überarbeitete Fassung) Wien, 27. und 28. Juni 1998
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