Mahmud Mohammed Taha: Märtyrer des Versuchs einer

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Mahmud Mohammed Taha:
Märtyrer des Versuchs einer Erneuerung des islamischen
Denkens im Sudan
Taha Ibrahim
Es ist nicht möglich, Tiefe, Reichweite und Bedeutung des Denkens von
Mahmud Mohammed Taha zu erfassen, ohne sich im Detail mit den
historischen Wurzeln des Kampfes vertraut zu machen, der schon in den
allerersten Anfängen um den heiligen Text des Islam, den Koran, entbrannt
ist.
Unmittelbar nach dem Tode des Propheten Mohammed, der seinem Volk
das Buch und die Sunna hinterlassen hatte, begannen die Muslime, sich
um das Verständnis dieser Hinterlassenschaft zu bemühen. Ihr
Ausgangspunkt dabei war, daß dies die heilige göttliche Botschaft sei, die
Mohammed offenbart wurde mit dem Auftrag, diese Botschaft in der
arabischen Sprache zu verkünden: "Siehe, wir haben es (das Buch)
herabgesandt als einen arabischen Koran" (Sure 12 "Joseph", Vers 2).
"Und demgemäß sandten wir ihn als eine Vorschrift in arabischer Sprache
nieder" (Sure 13 "Der Donner", Vers 37). "Also haben wir dir einen
arabischen Koran geoffenbart" (Sure 42 "Die Beratung", Vers 5). "Die
Sprache dessen, den sie meinen, ist eine fremde, aber dies ist die klare
arabische Sprache" (Sure 16 "Die Bienen", Vers 105).
Das Arabische war jedoch zu der Zeit, als mit dem Tode des Propheten die
Kette der Offenbarungen abgerissen war, eine Sprache, die aus
ausschließlich mündlicher Überlieferung lebte, d.h. die Dichtung stellte ihr
einziges literarisches und künstlerisches Erbe dar. Es gab keine
festgelegten sprachlichen Regeln, keine schriftliche Fixierung der
Wortbedeutungen und der Syntax. Deshalb waren diejenigen, die sich mit
der Wissenschaft von Koran und Sunna befaßten, vor allem anderen erst
einmal darum bemüht, die arabische Sprache zu kodifizieren, d.h. die
Bedeutung und den Gebrauch ihrer Begriffe festzustellen und ihre
sprachlichen Regeln zu entdecken. Die Sprachwissenschaft machte also
den Vorreiter für die Wissenschaft von der Auslegung des Korans, oder,
anders ausgedrückt, die Auslegung des Korans und der Sunna entwickelte
sich im Schatten der Sprachwissenschaft.
Im Verständnis der Sprachforscher war der Koran der genaueste und
authentischste Bezugstext für die arabische Sprache, und so wurde der
Koran behandelt wie ein Sprachbuch, d.h. als Ausgangstext für die
Festsetzung von Normen und grammatischen Regeln für das Arabische.
Naturgemäß nahm man auch die arabische Dichtung zur Hilfe, um die
Normen und Grundsätze, die man aus der Sprache des Koran gewonnen
hatte, zu bestätigen, oder um die Bedeutung der Ausdrücke und die Syntax
und die im Koran vorhandene Sprachkunst genauer zu bestimmen.
Im Laufe ihrer Forschungen bezogen die Sprachwissenschaftler
darüberhinaus auch die überlieferten Berichte in ihre Untersuchungen mit
ein und untersuchten sie nach den grammatischen Regeln und
Wortbedeutungen und der Satzbildung, um sie nach ihrer Richtigkeit zu
überprüfen und Falsches auszusieben, und daraus entstand die
Wissenschaft von der Überlieferung und den Überlieferern.
Insofern nun eines der Hauptmerkmale der Sprache - und das gilt für jede
Sprache - ihre Konventionalität ist, machte sich die Forschung daran,
herauszufinden, was als Konvention Geltung hatte, sowohl im Hinblick auf
die grammatischen Regeln als auch hinsichtlich der Bedeutungen und der
sprachlichen Form. Und so stellten die Sprachforscher die Normen auf,
nach denen die Regeln festzusetzen waren, und zwar nahmen sie als
Grundlage die Folgerichtigkeit der Chronisten und die Kongruenz der
Berichte hinsichtlich der grammatischen Regeln und hinsichtlich der
Bedeutung der gebrauchten Ausdrücke. Konnte man z.B. aufgrund der
Folgerichtigkeit, die sich in den Berichten der Chronisten fand, feststellen,
daß das Satzsubjekt stets im Nominativ steht und das Satzobjekt im
Akkusativ, dann stand dies als Norm und Regel der arabischen Sprache
fest und war für alle Zeiten gültig. Dafür mußte aber eben geklärt sein, daß
sich die überwiegende Mehrheit tatsächlich an diese Regel gehalten hat.
Wenn aber eine bestimmte Form nur bei einem einzigen Chronisten
auftauchte, mußte von allen Seiten her untersucht werden, welche
Glaubwürdigkeit der betreffende Chronist besaß. Daraus entstand die
"Wissenschaft von der Überprüfung der Überlieferer".
Hier ist zu bemerken, daß gegen diese Methode zur Auffindung und
Festlegung von grammatischen Regeln im Allgemeinen nichts
einzuwenden ist, daß aber, sobald man sie auf den Bereich des Denkens
überträgt, die Sache gefährlich wird, da man die Gültigkeit eines
Gedankens nicht danach bewerten darf, in welcher Häufigkeit er auftritt.
Zwar ist gültige Praxis, festzustellen, von wem der Text stammt, den wir
vor Augen haben, aber dies kann für uns kein Maßstab dafür sein, ob wir
diesem eine Verbindlichkeit für alle Zeiten und alle Orte der Erde
zusprechen, während es hinsichtlich der sprachlichen Form durchaus
möglich ist, zu sagen, daß die daraus abgeleiteten grammatischen Regeln
verbindlich sind für alle Zeiten und Orte, wo es Menschen gibt, die sich
der arabischen Sprache bedienen.
Die Dogmatiker jedoch, die sich mit der wissenschaftlichen Erforschung
der Grundlagen des Glaubens beschäftigten und dabei den
Sprachwissenschaftlern folgten, übernahmen diese linguistischen Normen
und wandten sie auf die Gedanken des Korans an. D.h. sie erklärten, daß
die Frage, inwieweit ein Text oder eine Bestimmung Gültigkeit habe an
allen Orten und für alle Zeiten, sich entscheiden ließe anhand der
Häufigkeit, in der der Text oder das Urteil bei den Überlieferern auftrete,
und diese Regel wandten sie auch auf den koranischen Text und die darin
enthaltenen Vorschriften an.
Damit gelangten sie zu dem gefährlichsten Dogma, das je in der
Geschichte des arabisch-islamischen Denkens aufgestellt worden ist,
nämlich, daß eine Textstelle an allen Orten und für alle Zeiten gültig sei,
wenn ihr Vorkommen "eindeutig belegt und erhärtet worden ist". Und es
war selbstverständlich, daß man den Text des Korans für eindeutig belegt
und übereinstimmend überliefert, und entsprechend seine Weisungen als
für alle Zeiten und an allen Orten gültig erklärte. Der Forschung bleibe
demnach nichts weiter zu tun übrig, als die Bedeutungen und die
sprachlichen Formen des Korans eindeutig zu bestimmen.
Hingegen blieb für die vom Propheten überlieferten Aussprüche (Hadith)
die Möglichkeit bestehen, die Dauer und Häufigkeit der einzelnen
Überlieferungen zu überprüfen. So entstand die "Wissenschaft vom
Hadith", in der man aber ebenfalls sklavisch den von den Sprachforschern
aufgestellten Regeln folgte und diese buchstabengetreu auf die
Bestimmung und Deutung der Aussprüche des Propheten anwandte.
Dabei ist klar, daß die islamischen Dogmatiker den gewaltigen und
grundlegenden Unterschied mißachteten, der zwischen zwei Arten von
Logik besteht: der Logik der Sprachwissenschaft, die zu befolgen ist bei
der Festlegung von Sprachnormen und Begründung von grammatischen
Regeln - und der Logik im philosophischen Sinne, die auf das Denken
anzuwenden ist, wenn man einen bestimmten Gedanken zu erfassen und zu
bewerten sucht. Allerdings kam diese Unterordnung der gedanklichen
unter die grammatische Logik nicht von ungefähr. Sie entsprach den
Interessen der sich im islamischen Herrschaftsbereich etablierenden
Mächte, die fester Regeln zur Legitimierung ihrer Herrschaft bedurften und
infolgedessen darauf drängten, das Tor für Auseinandersetzungen, worin
die Grundlagen ihrer Herrschaft und ihrer Befugnis zur Gesetzgebung und
ihrer Befehlsgewalt in Frage gestellt wurden, zu verschließen .
Deshalb beschränkten sich in der Folgezeit die Dogmatiker darauf, die
Normen für die Festsetzung der grammatischen Regeln auf das koranische
Denken und die Bestimmungen des Koran zu übertragen. So übernahmen
sie danach z.B. auch den von den Sprach- und Literaturwissenschaftlern
entwickelten Begriff der Ausnahmeregelung. Dieser Begriff beruhte auf
der Entdeckung, daß die Dichter sich gelegentlich gezwungen sehen, eine
überlieferte poetische Regel zu durchbrechen, sei es hinsichtlich des
Sprachduktus oder sei es hinsichtlich des Reimes, ohne daß dies die
Vollkommenheit des Gedichts beeinträchtigte. Daraus leiteten sie die
"Regel von der Notwendigkeit" ab, wonach es dem Dichter gestattet ist,
innerhalb enger Grenzen und nur aus zwingenden Gründen, die sich aus
den Erfordernissen des Gedichts selbst ergeben, eine bestimmte Regel zu
übertreten. Wollte der Dichter jedoch diese Übertretung verallgemeinern,
so würde er damit seine Dichtung entwerten.
Diese Bestimmung übernahmen die Dogmatiker nun für die Praxis des
Glaubens und stellten die Regel auf, daß die Notwendigkeit ein Verbot
außer Kraft setzen kann. Aber sie zogen den Möglichkeiten, eine solche
Notwendigkeit geltend zu machen, darin den Sprachwissenschaftlern
folgend, derart enge Grenzen, daß sie den Weg versperrten für ein Denken,
das darauf ausgerichtet ist, in einer veränderten geschichtlichen Lage die
Normen früherer Epochen den neuen Gegebenheiten entweder anzupassen
oder sie notfalls ganz außer Acht zu lassen, womit es zu einer neuen
"Regel der Notwendigkeit" gekommen wäre mit einer neuen Grundlage,
nämlich dem Bewußtsein vom Wandel des Lebens und der Gesellschaft.
Ein letztes Beispiel: Die Sprachwissenschaftler haben den Gebrauch
bestimmter Ausdrücke, die sich nicht von einem arabischen Ursprung
herleiten ließen, für zulässig erklärt, wenn sie häufig gebraucht wurden und
allgemein verbreitet waren. Sie haben es dann für notwendig erachtet,
nachzuforschen, wann und bei welcher Gelegenheit der eine oder andere
Ausdruck in die arabische Sprache eingedrungen ist und den Anlaß dafür
untersucht. Sie taten dies, um die genaue Bedeutung des Ausdrucks zu
bestimmen, und keineswegs aus interpretatorischen Gründen. Denn die
Sprache ist ein Mittel der Verständigung, d.h. der Angesprochene soll
möglichst genau das verstehen, was ihm der Sprecher mitteilen will, indem
er einen bestimmten Ausdruck gebraucht.
Die islamischen Dogmatiker übertrugen dieses linguistische Verfahren auf
den Koran und trennten so das koranische Denken von seinem
geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext, von dem es lebt, und von
der Methode, durch die es geprägt ist, nämlich der Methode, der Bewegung
der Gesellschaft und deren Veränderung Rechnung zu tragen. Durch die
Übertragung aller Normen und Grundlagen und Regeln für Grammatik und
Semantik auf die Interpretation des Koran haben die Dogmatiker eine
außerordentlich gefährliche Wissenschaftsrichtung geschaffen, die das
arabisch-muslimische Bewußtsein bis heute gefangen hält: die
Wissenschaft von den Grundlagen der Dogmatik . Was die Sache so
besonders gefährlich macht, ist, daß sich im allgemeinen Bewußtsein der
Muslime diese Wissenschaft inzwischen mit dem Heiligen Text so eng
verknüpft hat, daß ein Einspruch dagegen oder eine Abweichung davon als
Ketzerei und damit als todeswürdiges Verbrechen gilt.
So erstarrte der Heilige Text zu einem tauben Stein oder einem
unverrückbaren Fels, und das Dogma von der buchstäblichen Gültigkeit
des Textes und seiner Anwendbarkeit für alle Zeiten und an allen Orten
wurde darauf gegründet, daß er "eindeutig belegt und erhärtet" sei, ohne
Rücksicht darauf, ob zwischen dem Text einerseits und den aktuellen
Problemen und der neuen Lage andererseits ein Spannungsverhältnis
besteht, ja ohne Rücksicht darauf, ob der Text in seiner wörtlichen
Auslegung eine Lösung bietet für die aktuellen Probleme und eine Antwort
auf die neue Lage, oder ob dies nicht vielmehr zu deren Verwicklung und
Verschärfung beiträgt.
Grundlage hierfür ist die Methode, vom Buchstaben des Textes
auszugehen, die formal sprachlogische Methode, im Gegensatz zur
Methode, die sich um die Erfassung des Inhalts bemüht und sich der
gedanklich-inhaltlichen Logik bedient. Der bekannte Dogmatiker Ibn
Hasm hat die Grundregel der Dogmatik in folgenden Worten dargestellt:
"Was zum Zeitpunkt, als der Prophet starb (der Segen Gottes sei mit ihm
und sein Friede) erlaubt war, bleibt erlaubt bis in alle Ewigkeit, und was
zum Zeitpunkt, als der Prophet starb (der Segen Gottes sei mit ihm und
sein Friede) verboten war, kann bis in alle Ewigkeit nicht erlaubt sein."
(Aus: "Umfassender Abriß der Glaubensgrundsätze" von Ibn Hasm AlAndalûsi).
Die Wissenschaft von den Grundlagen der Dogmatik entwickelte sich vor
dem Hintergrund einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung, die
sich im arabisch-islamischen Staatsgebiet vollzogen hatte: Einfache
arabische Hirtenstämme hatten ein Feudalreich geschaffen mit blühendem
Handel, das zentral regiert wurde von einem religiösen Oberhaupt (Imam).
Damit tat sich eine weite Kluft auf zwischen den versteinerten Texten und
der spannungsgeladenen neuen Situation. Dies führte zu zahlreichen
Versuchen, eine Antwort darauf zu geben, und so entstanden die
verschiedensten Sekten, Schulen und philosophischen Richtungen, die sich
darum bemühten, eine Lösung für die Probleme der Zeit zu finden, ohne
sich dem gefährlichen Vorwurf der Ketzerei auszusetzen.
Zu den Sekten oder religiösen Bewegungen, die sich damals innerhalb des
Islam neu bildeten, gehörten vor allem auch die sufischen Bruderschaften ,
auf die wir uns in unserer Darstellung im Folgenden beschränken wollen,
da aus ihrer Mitte Mahmud Mohammed Taha hervorgegangen ist.
Festzuhalten ist jedoch ganz allgemein, daß alle Gruppen, die eine Lösung
für die anstehenden Probleme suchten, nicht deren Verbindung erkannten
mit dem Problem der Erstarrung des Textes, da sie denselben unbefragt aus
den Händen der Dogmatiker übernahmen.
Nach der sufischen Lehre von der Gotteserkenntnis belehrt Gott das
Menschengeschlecht und erleuchtet es hinsichtlich des Guten und des
Bösen, und Gott begnadet einen Menschen mit der Gabe der Erleuchtung
in dem Maße, wie dessen Frömmigkeit wächst, denn er hat gesprochen:
"Und fürchtet Gott, denn Gott ist es, der euch lehrt, und Gott weiß alle
Dinge." (Sure 2 "Die Kuh", Vers 282, Ende). Wer den Weg der göttlichen
Erkenntnis sucht, ist nach Auffassung der Sufis dazu verurteilt, sich zu
verirren, wenn er keinen Scheich (religiösen Führer) hat, der ihm auf
diesem Weg vorausgegangen ist im Vertrauen auf seinen Glauben.
Bei den Sufis ist das Prophetentum und die Botschaft ein Maßstab für den
Grad der Frömmigkeit, d.h. diese hat beim Propheten eine Stufe erreicht,
wo er sein Wissen von Gott selbst empfängt, ohne Vermittler und ohne
Scheich. Und so verkündet der Prophet dieses Wissen als Offenbarung, die
er von seinem Herrn empfangen hat. Theoretisch steht die Möglichkeit,
sein Wissen unmittelbar vom Herrn zu empfangen, jedem Menschen offen,
aber nur eine kleine Minderheit von Menschen kann einen solchen Grad
der Vollkommenheit erreichen. Wenn ein Sufi mit Hilfe seines Scheichs
den Weg der Frömmigkeit beschritten und, dessen Vorbild folgend, die
Erkenntnisstufe des Scheichs erreicht hat, kann er diesen an Frömmigkeit
übertreffen und so die Stufe der Heiligkeit erlangen, aufgrund derer es ihm
möglich wird, sein Wissen von Gott selbst zu empfangen. Das heißt, der
Mensch, der bis dahin seinem Scheich gefolgt ist, verwandelt sich in einen
vollkommenen Menschen, der keinen Vermittler braucht, denn an diesem
Punkt lüftet sich der Schleier zwischen ihm und seinem Schöpfer, und so
kann er die Absicht Gottes erkennen und das, was dieser mit seiner
Schöpfung vorhat.
Wenn ein geoffenbarter heiliger Text vorliegt, und ein Schriftgelehrter
kommt und behauptet, dieser hätte die Bedeutung, die sich aus der
Bedeutung seiner Vokabeln erschließen läßt, wird ihm der Heilige
antworten, ihm sei der Sinn des Textes von dessen Urheber selbst
anvertraut worden, das heißt von Gott, der den Text geoffenbart hat. So hat
jeder geoffenbarte Text für die Sufis eine äußerliche Bedeutung, die man
durch die sprachliche Analyse erschließen kann, aber er hat auch einen
verborgenen göttlichen Sinn, der nur den Heiligen zugänglich ist und den
nur diese vermitteln können. Auf diese Weise fanden die Sufis eine
Möglichkeit, das Problem der Erstarrung der Texte zu umgehen, ohne
unmittelbar mit den Dogmatikern in Konflikt zu geraten. Wenn also ein
neues Problem auftauchte, für das der Text wegen seiner Erstarrung keine
Lösungsmöglichkeit bot, verkündete der Heilige den tieferen Sinn, der die
Spannung zwischen dem Text und der neuen Realität auflöst, und in der
Mehrzahl der Fälle stand diese Lösung in völligem Widerspruch zu den
von den Dogmatikern vertretenen Interpretationen.
Mahmud Mohammed Taha folgte von Anfang an dem Weg der Sufis, da er
erkannt hatte, daß sich in dem von den Dogmatikern angebotenen
Analysen keine Erklärungen oder Lösungsmöglichkeiten für die Probleme
der Muslime im XX.Jahrhundert finden ließen. Es waren andere
Denkrichtungen aufgetreten, die, wie der Liberalismus und der
Sozialismus, ihre Lösungen für die Wirtschaftsprobleme anboten, und es
waren Bedingungen entstanden, unter denen die Befreiung der Frau zur
Notwendigkeit wurde und für sie die Möglichkeit verlangten, außer Haus
und zur Arbeit gehen zu können. Es waren politische Herrschaftsformen
entstanden wie die freiheitliche Demokratie, die eine neue Antwort gaben
auf das Problem der politischen Macht, und das menschliche Bewußtsein
hatte einen Stand erreicht, wo es sich mit den meisten Vorschriften der
muslimischen Dogmatiker nicht mehr abfinden konnte. Das betraf vor
allem die Fragen von Krieg und Frieden, die Rechte der Nicht-Muslime
und der Minderheiten, die internationalen Beziehungen und die
Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in den internationalen
Abkommen festgelegt sind.
Mahmud war der Überzeugung, daß der Sufi-Weg der vorbildliche Weg
sei, auf dem man die Erstarrung der Texte überwinden könne. Bestärkt
wurde er im Glauben an diese Möglichkeit durch die Tatsache, daß die
überwiegende Mehrheit der sudanesischen Muslime den Islam auf dem
sufischen Weg der Toleranz kennengelernt und angenommen haben,
weshalb ihm der Sudan ein fruchtbarer Boden zu sein schien, der
aufgeschlossen ist für das Neue und damit für das, was Mahmud als
zeitgemäße Lösungen für die heutigen Probleme erkannte.
Wie es der sufische Weg vorschreibt, wählte sich Mahmud einen Scheich,
der ihn auf den rechten Pfad leiten sollte, und zwar wählte er sich dazu den
Propheten Mohammed selbst, womit er sich und die ihm anvertrauten
Schüler darauf verpflichtete, dessen Vorbild nachzufolgen. Über mehrere
Jahre lebte Mahmud in der Zurückgezogenheit und bemühte sich, den Weg
der Frömmigkeit seines Scheichs, des Propheten Mohammed, zu gehen, in
der Hoffnung, Gott möge ihn erleuchten und ihm einen neuen Sinn der
heiligen Texte erschließen, der das Heil enthält, womit sich den Problemen
des Menschengeschlechts begegnen ließe. Es gelang Mahmud in der Tat,
zu einer originellen, wenn auch verwickelten, Lösung zu finden, um dem
Sinn der erstarrten Texte beizukommen.
Ich glaube, Mahmud hielt es nicht für zweckdienlich, zu verkünden, daß er
die Stufe der Heiligkeit erreicht habe, weil er von Hause aus Ingenieur war,
der die modernen Naturwissenschaften an einem modernen Institut studiert
hatte, während er zugleich Zeuge wurde, wie der Fundamentalismus
entstand und an Einfluß gewann, der die Wissenschaft von den Grundlagen
der Dogmatik zum obersten Maßstab für die Fragen des Glaubens und der
Rechtsprechung erhob. Das machte es ihm äußerst schwer, zu erklären, daß
sich ihm mit Hilfe seines Schöpfers ein neuer Sinn der Texte erschlossen
habe., und so bemühte er sich nach allen Kräften, eine Lösung zu finden,
die es ihm ermöglichte, sich den heiligen Texten auf dem Weg der Sufis zu
nähern, ohne besagten Schritt zu tun. Er fand, was er suchte, durch
Hinweise aus der Sufi-Literatur, insbesondere in den Werken des
andalusisch-arabischen Mystikers Ibn Arabi (1165-1240), die, ausgehend
von den Widersprüchen im koranischen Text, die Aussage des Korans
bekräftigten, daß die Festen im Wissen - und fest im Wissen ist nur der
Fromme - die wahre Bedeutung des Korans erkennen.
Mahmud war aufgefallen, daß die mekkanischen Suren, d.h. die Suren, die
Mohammed vor der Hidschra, der Auswanderung nach Medina,
geoffenbart worden waren, in ihrer Problemstellung und -lösung sich von
den medinensischen Suren tiefgreifend unterscheiden. Ganz allgemein, so
stellte er fest, geht es in den mekkanischen Suren darum, die göttliche
Botschaft zu verbreiten vermittelst der Überzeugungskraft des Wortes,
durch einen vom Geist der Toleranz geprägten Dialog, gegründet auf dem
Respekt vor dem Anderen und der Ächtung von Gewalt. Diese Tugenden
werden aber in eben den Versen verkündet, von denen die Dogmatiker
behaupten, daß sie von späteren Versen abrogiert (aufgehoben) worden
seien. Der Unterschied zwischen den mekkanischen und den
medinensischen Suren erschien Mahmud als so gewaltig, daß er zu der
Überzeugung gelangte, der Islam enthalte in seinem heiligen Buch zwei
Botschaften in einer, die beide "eindeutig belegt und erhärtet" seien.
Damit schien sich ihm eine außergewöhnliche Möglichkeit aufzutun, die
Dogmatiker mit ihrer eigenen Waffe zu schlagen, der Waffe des Textes
und seiner sprachlichen Auslegung, ohne daß er dabei hätte aufdecken
müssen, daß er zu diesem neuen Verständnis des Textes auf dem Weg der
Gotteserkenntnis gelangt sei. So blieb sein Ausgangspunkt der der Sufis,
die Lösung dagegen war orthodox, d.h. dem heiligen Text verpflichtet.
Mahmud stellte seine Thesen vor in seinem Buch: "Die zweite Botschaft
des Islam", worin er darlegte, daß im Islam zwei Botschaften enthalten
seien. Die erste Botschaft sei den Zeitgenossen des Propheten verkündet
worden unter Berücksichtigung ihres Bewußtseinsstandes, ihrer
Bedürfnisse und ihrer Fähigkeiten. Die zweite Botschaft, die im heiligen
Buch enthalten ist, richte sich an spätere Generationen, d.h. die Generation
unserer Zeit, da sie deren Bewußtseinsstand widerspiegelt, Antwort gibt
auf deren Probleme und deren Fähigkeiten berücksichtigt.
Auf diese Weise entwarf Mahmud ein weitgehend umfassendes
islamisches Weltbild, das dem traditionellen Weltbild der Orthodoxie
diametral entgegengesetzt war, sich aber dennoch voll und ganz auf die
heiligen Texte stützen konnte. Es war ein Weltbild, das alles in allem den
Islam als zeitgemäße, menschliche und fortschrittliche Religion darstellt,
eine Religion, die die Gleichberechtigung der Menschen fordert, die den
Krieg verurteilt und zum Frieden aufruft. Hier soll anhand von ein paar
Grundproblemen das Weltbild Mahmuds und die Methode seiner Schule
dargestellt, und, anhand der Art und Weise, wie die Fundamentalisten diese
Probleme behandeln, der Gegensatz aufgezeigt werden, in dem beide
Schulen zueinander stehen.
Erstes Problem: Der Umgang mit den Anderen, das heißt mit den NichtMuslimen. Mahmud stellte fest, daß nach Ansicht der Dogmatiker dieses
Problem in den (dem Zeitpunkt der Offenbarung nach) letzten Suren,
vielleicht sogar der allerletzten Sure geregelt sei, derjenigen mit dem Titel
"Die Reue" (Sure 9). Nach ihrer Auffasung wären durch diese, eben
deshalb, weil sie die letzte sei, alle in vorhergehenden Suren enthaltenen
Bestimmungen abrogiert (widerrufen) worden. Besagte Sure stellt zwei
Prinzipien auf, wovon das eine die Götzendiener betrifft, d.h. diejenigen,
die kein heiliges Buch der Offenbarung besitzen. Auf sie bezüglich heißt es
in der Sure "Die Reue" im Vers 5: "Sind aber die heiligen Monate
verflossen, so erschlagt die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packt sie
und belagert sie und lauert ihnen überall auf. Wenn sie sich jedoch
bekehren und das Gebet verrichten und die Armensteuer zahlen, so laßt sie
ihres Weges ziehen! Gott ist verzeihend und barmherzig."
Bezüglich der Inhaber der geoffenbarten Schriften, der Juden und der
Christen, heißt es hingegen in dieser Sure im Vers 29: "Kämpft wider jene
von denen, welchen die Schrift gegeben ward, die nicht an Gott glauben
und an den Jüngsten Tag, und die nicht verbieten, was Gott und sein
Gesandter verboten haben, und nicht bekennen das Bekenntnis der
Wahrheit, bis sie demütig die Kopfsteuer zahlen." Das bedeutet, daß für die
Götzendiener zwei Möglichkeiten zur Wahl stehen, entweder die
Bekehrung zum Islam oder der Tod, wogegen die Inhaber der Schrift
zwischen drei Möglichkeiten wählen können: der Bekehrung zum Islam,
der Kopfsteuer oder dem Schwert.
Nach Ansicht von Mahmud gehören diese Bestimmungen zur ersten
Botschaft des Islam. Dagegen gelten gemäß der zweiten Botschaft, die für
unsere Zeit bestimmt ist, folgende Verse:
Der Vers 29 aus der Sure "Die Höhle" (Sure 18): "Und sprich: Die
Wahrheit ist von eurem Herrn, und wer will, der glaube, und wer will, der
glaube nicht."
Der Vers 99 aus der Sure "Jonas" (Sure 10): "Und wenn dein Herr gewollt
hätte, so würden alle auf der Erde insgesamt gläubig werden. Willst du
etwa die Leute zwingen, gläubig zu werden?"
Der Vers 34 aus der Sure "Die Anbetung" (Sure 41): "Und nicht gleich ist
das Gute und das Böse. Wehre das Böse ab mit dem Besseren, und siehe,
der, zwischen dem und dir Feindschaft war, wird dir sein wie ein herzlicher
Freund."
Der Vers 126 der Sure "Die Bienen" (Sure 16): "Lade ein zum Weg des
Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung und streite mit ihnen in bester
Weise. Siehe, dein Herr weiß am besten, wer von seinem Wege abgeirrt ist,
und er kennet am besten die Rechtgeleiteten."
Was nun die Probleme der Wirtschaft anbelangt, so ist die Textstelle, die
das Maximum dessen festlegt, was vom Geld eines Muslims einbehalten
werden darf, und deren wörtliche Befolgung die Fundamentalisten fordern,
nach Ansicht Mahmuds mit den Pflichten und Erfordernissen eines
modernen Staates nicht zu vereinbaren, ja es sei zu bezweifeln, ob der
Staat überhaupt das Recht hat, den einzelnen Muslim dazu zu zwingen,
dieses Geld zu bezahlen, denn im islamischen Verständnis handelt es sich
hier um eine religiöse Pflicht, nämlich um die Armenabgabe (Zakat).
Folgendermaßen lautet die betreffende Bestimmung des Koran: "Von ihren
Gütern nimm Almosen, mit welchen du sie reinigest und sühnest. Und bete
über sie!" (Sure 9 "Die Reue", Vers 103). Aufgrund der Aussprüche des
Propheten ist dann die Höhe dieses Almosens zur "Reinigung" des Besitzes
von der Sünde der Begehrlichkeit, die "Zakat", festgelegt worden, und
zwar stimmten die meisten überlieferten Aussprüche darin überein, daß die
Abgabe etwa 2,5% des Vermögens betragen solle, das man ein Jahr lang in
Besitz gehabt hat. Eine solche Regelung ist angemessen für eine Zeit, wo
das Vieh, das Saatgut und die Bodenschätze den Hauptanteil der
vorhandenen Vermögen ausmachten.
Die Ironie der Geschichte wollte es, daß es den Fundamentalisten 1984
gelang, den sudane-sischen Staatschef Numeiri davon zu überzeugen, daß
er alle Arten der modernen Steuern, die 65% des Staatseinkommens
ausmachten, abschaffen und durch die Armensteuer ersetzen müsse. Und in
Null Komma Nichts war die Staatskasse leer, sodaß nicht einmal mehr die
Beamtengehälter ausgezahlt werden konnten. Das geschah in einem
Entwicklungsland und in einem Staat, der verantwortlich war für die
Besoldung der bewaffneten Streitkräfte, der Beamten, des
Staatssicherheitsdienstes und für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur.
Mahmud Mohammed Taha hatte schon in den fünfziger Jahren auf dieses
Problem hingewiesen und dazu erklärt, daß der Vers, der die Bestimmung
über die Armensteuer (Zakat) enthält, zur ersten Botschaft des Islam
gehöre, d.h. eine Zeit betrifft, in der der Staat seine Ausgaben durch
Kriegsbeute, Grundsteuer und Kopfsteuer bestreiten konnte.
Dagegen lautet der Vers der zweiten Botschaft, den es in der heutigen Zeit
zu befolgen gilt: "Sie werden dich fragen, was man spenden soll. Sprich:
Den Überschuß." (Sure 2 "Die Kuh", Vers 219). Mit dem Überschuß ist all
das gemeint, was über die Grundbedürfnisse des Menschen hinausgeht.
Auf diesen Text stützte sich Mahmud, als er sagte, daß die zweite
Botschaft des Islam hinsichtlich der Wirtschaftsordnung eine sozialistische
Botschaft sei.
Eines der wichtigsten Probleme, das Mahmud aufgriff, war das der Frau
und die Rolle, die ihr in der Gesellschaft von den Fundamentalisten
zugewiesen wird, indem sie behaupten, die diesbezüglichen Textstellen
seien für alle Ewigkeit gültig und insofern zu jeder Zeit und an jedem Ort
anzuwenden. Hier ein paar Beispiele für solche Bestimmungen.
Ausgangspunkt der Fundamentalisten ist der Ausspruch des Propheten:
"Den Frauen mangelt es an Verstand und Religion." Deshalb gilt: "Die
Männer stehen über den Frauen aufgrund dessen, was Gott den einen vor
den anderen gewährt hat, und weil sie mit ihrem Geld für diese sorgen. "
(Sure 4 "Die Weiber", Vers 34). Ein weiteres Zeugnis über die Frau findet
sich im von Ibn Masud überlieferten Ausspruch des Propheten: "Die Frau
ist voller Schwäche, und wenn sie aus dem Haus geht, macht sich der
Teufel an sie heran. Sie ist der Gnade Gottes am nächsten, wenn sie im
Innersten des Hauses verweilt."
Deshalb ist für die Fundamentalisten das Haus der Ort, an den die Frau
hingehört, und so hat sie kein Recht auf Arbeit außer Hauses und kein
Recht überhaupt, die Wohnung zu verlassen. "Und sitzet still in euren
Häusern und putzt euch nicht heraus wie in den früheren Zeiten der
Unwissenheit." (Sure 33 "Die Verbündeten", Vers 33). Der Frau ist auch
auferlegt, einen Schleier oder ein verhüllendes Tuch zu tragen: "Du, o
Prophet, sprich zu deinen Frauen, zu deinen Töchtern und den Weibern der
Gläubigen, sie sollen senken auf sich ein Teil von ihren Überwürfen. So
ist's geschickter, daß man sie erkenne, doch nicht kränke." (Sure 33 "Die
Verbündten", Vers 59).
Die Frau gilt aufgrund der betreffenden Koranverse im Verständnis der
Fundamentalisten soviel als ein halber Mann, beim Heiraten soviel als ein
Viertel von ihm, da der Mann das Recht hat, vier Frauen zu heiraten,
wogegen sie gesteinigt wird, wenn sie sich mit mehr als einem Mann
einläßt. Bei der Scheidung gilt sie soviel als ein Drittel eines Mannes, denn
er kann sie verstoßen und sie sich dann wieder holen, sie nochmals
verstoßen und nochmals wieder holen, und das ganz nach eigenem
Gutdünken. Schließlich und letztlich kann er sie dann noch ein drittes Mal
verstoßen. Als Zeugin gilt sie soviel als ein halber Mann im
Personenstandsrecht, aber in Mordsachen und anderen Delikten, die mit
den Hadd-Strafen belegt werden - Diebstahl und Ehebruch - ist es ihr ganz
verwehrt, als Zeugin aufzutreten.
So hat sie denn auch kein Recht, über andere zu bestimmen und
entsprechend kein Recht, ein politisches oder richterliches Amt auszuüben.
Das heißt, der Mann, insofern er als der Frau überlegen gilt, hat das Recht,
diese zu züchtigen: "Und diejenigen, deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet,
verbannt sie in ihre Schlafstätten und schlagt sie. Und wenn sie euch dann
gehorchen, verfolgt sie nicht weiter." (Sure 4 "Die Weiber", Vers 34).
Mahmud überprüfte diese und andere Bestimmungen bezüglich der Frau
und kam zu dem Schluß, daß sie alle der ersten Botschaft zugehören. Der
zweiten Botschaft nach ist die Frau in jeder Hinsicht dem Mann gegenüber
gleichberechtigt, und dieses Urteil gründet sich auf zwei ursprüngliche
Textstellen des Koran. Die erste lautet: "Sie haben gleiche Rechte
entsprechend ihren Pflichten, wie es sich geziemt." (Sure 2 "Die Kuh",
Vers 228). Mahmud zufolge ist der Rest des Verses entsprechend zu
ändern, um den veränderten Beziehungen zwischen Mann und Frau im
Sinne der Gleichberechtigung gerecht zu werden.
Bei einer zweiten Gruppe von Textstellen geht es nach Meinung von
Mahmud um die Gleichheit aller Menschen überhaupt, ungeachtet des
Geschlechts oder des Glaubens oder der Religion. Dagegen halten im
Sinne der ersten Botschaft die Dogmatiker daran fest, daß im Islam die
Menschen ungleich zu behandeln seien, und zwar ausgehend von ihrer
gesellschaftlichen Stellung als Freie oder Sklaven. In ihrer Sicht ist der
Sklave, ob Mann oder Frau, dem Freien nicht gleichwertig, vielmehr ist er
eine Sache und ein Handelsartikel. Der Freie hat das Recht, soviel
Sklavinnen zu besitzen, wie er will, und kraft seines Besitzverhältnisses ist
ihm erlaubt, mit einer Sklavin Geschlechtsverkehr zu haben, wann er will,
ohne die Pflicht, sie zu heiraten. "Und so ihr fürchtet, nicht Gerechtigkeit
gegen die Waisen zu üben, so nehmt euch zu Weibern, was euch gutdünkt,
zwei, drei oder vier. Und so ihr fürchtet, nicht allen gerecht werden zu
können, so nehmt euch nur eine oder was eure Rechte besitzt." (Sure 4
"Die Weiber", Vers 3). Indem die Sklaven als Besitz betrachtet wurden,
konnten sie auch als Sühnegeld eingesetzt werden, wenn es darum ging,
bestimmte gesellschaftliche Zwecke zu erreichen: "Wer einen Gläubigen
tötet unvorsätzlich, des Sühne sei Befreiung eines gläubigen Sklaven."
(Sure 4 "Die Weiber", Vers 94).
Zusammenfassend kann man sagen, daß die erste Botschaft des Islam, wie
Mahmud feststellte, dem Menschen erlaubt, seine Mitmenschen zu
versklaven, sei es in Folge eines Überfalls oder einer Eroberung - im
Rahmen des Jihad - oder durch den Kauf auf dem Sklavenmarkt. Die
gefährlichste Diskriminierung, die die Fundamentalisten betreiben, wobei
sie sie zu einer Sache des Glaubens machen, ist die Diskriminierung der
Nicht-Muslime. Nicht nur ist der Nicht-Muslim dem Muslim nicht gleich,
ein Muslim darf einen Nicht-Muslim demzufolge auch nicht zum
Vorgesetzten haben, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Die
Grundlage für diese Bestimmung findet sich, wie wir gesehen haben, im
Auftrag an die Muslime: "Und bekämpft sie, damit die Zwietracht aufhört
und nur noch Gott verehrt wird." (Sure 2 "Die Kuh", Vers 193). Und sogar,
wenn die Ungläubigen Väter und Brüder sind: "O ihr, die ihr glaubt, nehmt
nicht eure Väter noch eure Brüder zu Verbündeten, wenn sie den
Unglauben dem Glauben vorziehen." (Sure 9 "Die Reue", Vers 23).
Natürlich gehört hierher auch die folgende Stelle: "O ihr, die ihr glaubt,
nehmt nicht die Juden und Christen zu Verbündteten. Sie sind
untereinander Verbündete. Und wer sich mit ihnen verbündet, wird zu
einem der ihren." (Sure 5 "Der Tisch", Vers 51). Gestützt auf diesen Vers
hat Omar Bin Al-Chattab (der zweite Khalif) die Behandlung der
Schriftbesitzer (Juden und Christen) festgelegt, und seine Bestimmungen
werden von den Dogmatikern als heiliger Text behandelt. Es genügt, einige
Stellen des Textes anzuführen:
"Man soll mit den Schutzbefohlenen (Juden und Christen) an ihren
Versammlungsorten nicht sprechen, sei es in ihren Kirchen oder
Synagogen oder Klöstern, ... und was davon zerstört wurde, soll nicht
wiederaufgebaut werden. Und in ihren Kirchen sollen sie ihre Glocken nur
leise läuten, und sie sollen darüber kein Kreuz anbringen. Und sie sollen
sich bei ihren Festen nicht versammeln wie es die Muslime tun. Sie sollen
für ihre Religion keine Mission treiben und zum Beitritt auffordern. Sie
sollen in der Nachbarschaft von Muslimen keine Schweine mästen und
keinen Alkohol verkaufen. Sie sollen sich nicht kleiden wie die Muslime,
sich nicht gebärden wie diese und nicht wie sie sprechen. Sie sollen die
Muslime in ihren Versammlungen achten, und sie sollen einen Muslim auf
Reisen drei Tage lang beherbergen. Sie sollen zusammen mit einem
Muslim kein Geschäft betreiben, es sei denn, der Muslim hat dabei die
Geschäftsführung inne." (Ibn Al Qajim Djuseh: "Das Buch über die
Schutzbefohlenen").
Mahmud untersuchte diese Bestimmungen und stellte fest, daß sie alle zur
ersten Botschaft des Islam gehörten. Er erklärte, daß die zweite Botschaft
die völlige Gleichbehandlung der Menschen fordere und stützte sich dabei
auf eine Reihe von Textstellen, worunter die wichtigste lautet:
"O ihr Menschen! Siehe, wir haben euch als Mann und Frau erschaffen und
zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Siehe,
derjenige unter euch gilt bei Gott am meisten, der der Frömmste ist." (Sure
49 "Die Gemächer", Vers 13).
Mahmud zufolge hebt dieser Vers die Diskriminierung zwischen den
Menschen auf, da er nicht (wie die Verse der ersten Botschaft) speziell an
die Gläubigen oder die Muslime gerichtet ist, sondern an "die Menschen"
ganz allgemein. Der Vers hebt ausdrücklich insbesondere die
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts - Mann und Frau - auf, und
aufgrund der ethnischen Herkunft - Völker und Stämme -, desgleichen hebt
er aber ebenfalls die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder der
Religionszugehörigkeit auf. In diesem Zusammenhang läßt sich auch der
Ausspruch des Propheten anführen: "Alle Menschen sind gleich wie die
Zinken eines Kamms".
Aus all dem Gesagten geht klar hervor, daß Mahmud die von den
Dogmatikern entwickelte Theorie der Abrogation ablehnte. Mahmud
sagte, daß die Verse der zweiten Botschaft, die von den Dogmatikern für
abrogiert erklärt worden sind, in Wahrheit die göttliche Weisheit enthalten,
die für die Menschheit eine fortschrittliche, auf Toleranz begründete
Ordnung vorzeichnet, welche, wenn die Zeit dafür reif ist, von der
Menschheit verwirklicht werden wird.
Aber Mahmud blieb dem Prinzip verhaftet, vom Wortlaut des heiligen
Textes auszugehen und ihn in seiner sprachlichen Bedeutung nach der
Logik der Fundamentalisten zu behandeln, womit er sich der Logik bzw.
der Denkmethode verschloß, die dem koranischen Denken eigentümlich,
aber nicht in seiner rein sprachlichen Form zu finden ist. Das hat bei ihm
zu gefährlichen Verwirrungen geführt, so daß es ihm beispielsweise nicht
gelungen ist, die Theorie der Abrogation zu überwinden, welche aus dem
koranischen Vers abgeleitet wird: "Wenn wir einen Vers aufheben oder in
Vergessenheit bringen, so ersetzen wir ihn durch einen besseren oder
einen, der ihm gleich ist." (Sure 2 "Die Kuh", Vers 106). So blieb es
Mahmud beispielsweise bis zuletzt, bis hin zu seinem Märtyrertod, versagt,
auf dem Weg der frommen Versenkung eine koranische Textstelle zu
finden, die er denjenigen Koranversen hätte entgegensetzen können, in
welchen solche Strafen für Kriminaldelikte festgelegt worden sind, wie sie
in der heutigen Zeit nicht mehr akzeptabel sind, vielmehr von den
internationalen Menschenrechtsabkommen, allen voran der
Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, sogar entschieden verurteilt
werden.
Die Rede ist von den sogenannten Hadd-Strafen, d.h. Strafen wie dem
Auspeitschen, dem Abschneiden der rechten Hand oder der kreuzweisen
Amputation (Abschneiden der rechten Hand und des linken Fußes), der
Steinigung und der Kreuzigung. Mahmud verabscheute alle diese Strafen
und fühlte sich gedrängt, zu erklären, daß man solange nicht daran denken
könne, solche Strafen anzuwenden, wie nicht eine islamische Gesellschaft
auf der Grundlage und nach den Bestimmungen der zweiten Botschaft des
Islam entstanden sei. Wenn man das jetzt schon täte, sei das eine Schande
für den Islam und säe Zwietracht unter den Menschen.
Abschließend läßt sich sagen, daß Mahmud ein islamischer Denker war,
der ganz aus seiner Zeit, aus der Mitte des XX.Jahrhunderts heraus lebte,
und der seine ganzen Kräfte daran setzte, den Islam als Religion zu
verkünden, die sich auf der Höhe der Zeit befindet und deren Zeichen und
Prinzipien Ausdruck gibt. An erster Stelle stand für ihn die
Gleichberechtigung aller Menschen und die Verurteilung der Kriege als
Mittel der Austragung von Differenzen. An deren Stelle sollte die
Duldsamkeit gegenüber dem Anderen treten und der Dialog mit ihm im
Geist der Toleranz und des guten Willens. Eine Religion, die die
Menschheit nicht an ihrer Entwicklung hindert oder daran, sich für ein
wirtschaftliches oder politisches System zu entscheiden, das geeignet ist,
Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zwischen den Menschen und die
Demokratie zu verwirklichen.
Deshalb trat er mit Entschiedenheit der fundamentalistischen Offensive
entgegen, die der sudanesische Staatschef Numeiri einleitete, als er im
September 1983 im Sudan die Scharia in ihrer fundamentalistischen Form
einführte. Er verbreitete ein mutiges Flugblatt, in dem er die betreffenden
Gesetze kritisierte und sie als eine Verunglimpfung der Scharia und als
eine Schändung des Islam verurteilte und voraussagte, daß sie das
sudanesische Volk in religiöse und ethnische Konflikte treiben, das Feuer
des Bürgerkriegs schüren und dadurch die nationale Einheit des Sudan
zerstören würden. In dieser Flugblattaktion sahen die Fundamentalisten
eine günstige Gelegenheit, sich Mahmuds und der von ihm verbreiteten
Gedanken zu entledigen.
Sie betrieben seine Verhaftung aufgrund einer richterlichen Verfügung, die
juristisch auf äußerst schwachen Füßen stand. Man ging dabei aus von
einem Tatbestand, der im fundamentalistischen Sinne ein
Kapitalverbrechen darstellt und sich auf den Ausspruch des Propheten
gründet: "Wer seinen Glauben wechselt, den tötet." Dabei stützten sie die
Anklage der Abtrünnigkeit auf eine Regel, die ursprünglich eine
sprachliche Regel, aber von den Dogmatikern zu einer Glaubensregel
erhoben worden war, wonach einer, der etwas leugnet, von dem er weiß,
daß es unabdingbar zum Glauben gehört, als ketzerischer Ungläubiger zu
behandeln ist. Wenn also Mahmud die Pflicht zur Anwendung von Gottes
Scharia leugnete, mußte man ihn als vom Islam Abtrünnigen betrachten. Er
wurde zum Tode verurteilt und am 18.Januar 1985 hingerichtet. Und so
starb Mahmud als Blutzeuge jener heiligen Texte, mit deren Hilfe er
versucht hatte, die fundamentalistische Gedankenwelt zu durchbrechen.
(Übersetzung aus dem Arabischen von Peter-Anton von Arnim)
Zur Ergänzung dieses Artikels:
Erklärung von Mahmud Mohammed Taha am 14.Januar 1985 (vier Tage
vor seiner Hinrichtung) zu dem gegen ihn wegen Ketzerei eingeleiteten
Gerichtsverfahren, an dem teilzunehmen er sich weigerte:
"Ich habe zu wiederholten Malen meine Meinung zu den
Septembergesetzen von 1983 erklärt , und zwar, daß sie im Widerspruch
stehen zur Scharia und zum Islam, ja noch schlimmer, daß sie die Scharia
und den Islam verunglimpfen und zum Schreckbild werden lassen,
darüberhinaus, daß sie geschaffen und dazu eingesetzt worden sind, das
Volk zu terrorisieren und es auf dem Weg der Demütigung zum Schweigen
zu bringen, und schließlich, daß sie die Einheit des Landes in Gefahr
bringen. Soweit, was ihren theoretischen Aspekt betrifft.
Was nun ihre Anwendung anlangt, so fehlt den Richtern, die unter diesen
Gesetzen ihre Richterstühle eingenommen haben, die berufliche
Qualifikation, und sie sind moralisch so schwach, daß sie sich dem Einfluß
der Exekutivgewalt nicht zu entziehen vermögen, die sie dazu gebraucht,
die Grundrechte mit Füßen zu treten und den Islam zu verunglimpfen und
das Volk zu demütigen und den freien Gedanken und die Denker zu
verhöhnen.
Aus diesem Grunde bin ich nicht bereit, mit einem Gericht
zusammenzuarbeiten, das die Freiheit unabhängiger Richter verleugnet ,
und das sich dazu hergibt, ein Instrument zu sein zur Demütigung des
Volkes und zur Verhöhnung des freien Gedankens und zur Fesselung der
politischen Opposition."
(Aus dem Arabischen von Peter-Anton von Arnim)
Lebenslauf von Mahmud Mohammed Taha
Peter-Anton von Arnim
Mahmud Mohammed Taha wurde 1909 in der Ortschaft Rufa'a am Ostufer
des Blauen Nils im mittleren Sudan geboren. 1936 schloß er seine
Ausbildung am Gordon Memorial College (dem Institut, aus dem die
Universität Khartoum hervorgegangen ist) als Bewässerungsingenieur ab
und arbeitete fünf Jahre als Angestellter der Eisenbahngesellschaft Sudan
Railways. Am 26.10.1945 gründete er zusammen mit einigen anderen
Intellektuellen die Republikanische Partei. Sie trat ein für einen von
Ägypten unabhängigen, einheitlichen Nationalstaat mit einem
demokratischen, republikanischen Regierungssystem. Wegen
antikolonialistischer Agitation wurde Mahmud von den Briten drei Jahre
lang, von 1946-1948 ins Gefängnis gebracht. Das war die Zeit, in der er
sich intensiv der islamischen Mystik (dem Sufismus) zuwandte und sich
ganz dem Gebet, dem Fasten und der Meditation widmete.
Diese Beschäftigung mit der Mystik setzte er nach seiner Entlassung fort,
indem er sich an seinen Heimatort Rufa'a zurückzog und dort weitere drei
Jahre in selbstgewählter, religiös bestimmter Absonderung lebte. Mit den
in dieser Zeit gewonnenen Einsichten trat er 1951 vor seine
Anhängerschaft und gab der Partei eine neue Ausrichtung als religiöspolitische Erneuerungsbewegung. Mahmud entfaltete in den folgenden
Jahren eine rege literarische Tätigkeit mit Stellungnahmen zu
theologischen Fragen und zur politischen Entwicklung im Sudan.
Insbesondere wandte er sich gegen die Absichten der traditionellen
Parteien, eine an der orthodoxen Scharia orientierte angeblich islamische
Staatsordnung zu schaffen und erklärte, der vorgelegte Verfassungsentwurf
sei weder demokratisch noch islamisch, da er Frauen und Nicht-Muslime
diskriminiere.
1966 und 1967 erschienen seine Hauptschriften, "Der Weg Mohammeds"
und "Die zweite Botschaft des Islam". Ein Jahr danach, im November
1968, wurde er auf Betreiben eines Fundamentalisten von dem Obersten
Scharia-Gerichtshof in Khartoum zum ersten Mal der Apostasie angeklagt
und für schuldig befunden. Er hatte sich geweigert, vor Gericht zu
erscheinen, mit der Begründung, es gebe im geltenden Recht keine
gesetzliche Bestimmung, die Apostasie unter Strafe stelle, überhaupt aber
unterlägen für ihn Glaubensfragen grundsätzlich nicht der Justiz. Das
Urteil hatte zunächst keine unmittelbaren Folgen.
Die Bemühungen der beiden großen traditionalistisch-sektiererischen
Parteien, insbesondere der Umma-Partei unter Führung Sadiq el Mahdis,
im Sudan eine islamische Verfassung einzuführen, die kurz vor dem
Abschluß standen, wurden am 25.Mai 1969 vereitelt durch den Putsch
einer mit linken Nationalisten verbündeten Gruppe nasseristisch
gesonnener Offiziere unter Führung von Oberst Jaafar Mohammed
Numeiri. Vom Parteienverbot des neuen Regimes war auch die Bewegung
Mahmuds betroffen, die sich aber sowieso schon seit längerem nicht mehr
als Partei verstanden hatte. Sie gab sich nunmehr den Namen
"Republikanische Brüder", setzte aber die Agitation für die Gedanken ihres
"Ustadh", ihres "Meisters" Mahmud Mohammed Taha, in aller
Öffentlichkeit fort. Die Republikanischen Brüder unterstützten Numeiri
insoweit, als er die Einführung einer sogenannten islamischen Verfassung
verhindert hatte, den Einfluß der Traditionalisten und Fundamentalisten
zurückdrängte und darum bemüht war, die Einheit des durch einen
Bürgerkrieg zerissenen Landes auf dem Verhandlungsweg
wiederherzustellen.
Diese Haltung einer kritischen Unterstützung mußten sie fast über Nacht
aufgeben, als im September 1983 Numeiri per Präsidialdekret ein eilig von
ihm hörigen Juristen zusammengestoppeltes Strafgesetzbuch, das die im
Koran vorgeschrieben Körperstrafen wie Auspeitschung, Amputation von
Gliedmaßen, Kreuzigung und Steinigung einführte, aber sonst mit dem
Koran nichts zu tun hatte, unter dem Etikett Scharia als Gesetz des Landes
verkündete und sich selbst als Imam den Treueid schwören ließ. Mahmud
Mohammed Taha und die Republikanischen Brüder organisierten den
Widerstand, indem sie die Legitimität der Dekrete bestritten und sie als
verwerflichen Mißbrauch des Islams verurteilten.
Ein Jahr in Isolationshaft ohne Gerichtsverfahren im Kober-Gefängnis von
Khartoum konnte den Widerstandsgeist von Mahmud Mohammed Taha
nicht brechen. Am 19.Dezember 1984 aus dem Gefängnis entlassen,
brandmarkte er erneut auf einer Studentenversammlung und in einem
Flugblatt mit dem Titel "Dieses - oder die Sintflut" die von Numeiri als
Scharia eingeführten Gesetze als Verhöhnung des Islam und Gefahr für die
Einheit des Landes. Kurz darauf, am 5.1.1985 wurde er erneut verhaftet,
und nunmehr wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das
Gesetz über die Staatssicherheit eröffnet. In einem Schnellverfahren, das
von Mahmud und seinen vier mitangeklagten Republikanischen Brüdern
wegen Inkompetenz des Gerichts boykottiert wurde, wurde das Todesurteil
verhängt.
Im Volk herrschte aber bereits eine spürbar so regierungsfeindliche
Stimmung und das Urteil rief eine solche Empörung hervor, daß sich das
Numeiri-Regime gezwungen sah, eine Revisionsverhandlung
anzuberaumen, in der ein ganz neuer Anklagepunkt eingeführt wurde,
nämlich die Anklage wegen Apostasie. Allerdings gab es auch in der neuen
Gesetzgebung noch keinen Paragraphen, der Apostasie unter Strafe gestellt
hätte . Man stützte sich deshalb auf einen Paragraphen aus dem Gesetz
über die Grundlagen der Urteilsfindung, der dem des Strafgesetzbuches des
Dritten Reiches über das gesunde Volksempfinden nachgebildet war:
Danach war es ins freie Ermessen des Richters gestellt, zu bestimmen, was
dem Geist der Scharia widerspricht und entsprechend strafbar ist, und die
ihm angemessen scheinende Strafe festzusetzen.
Mahmud Mohamed Taha wurde, den Wünschen Numeiris folgend, am
15.Januar 1985 zum Tode verurteilt und drei Tage später, am 18.Januar
1985, hingerichtet. Seitdem wird der 18.Januar von der arabischen
Organisation für Menschenrechte als jährlicher Gedenktag begangen.
Lebenslauf von Taha Ibrahim
Peter-Anton von Arnim
Taha Ibrahim Mohammed Abdallah wurde in der Stadt Toker im Ostsudan
geboren.
Taha Ibrahim studierte Jura an der Khartoumer Zweigstelle der Kairoer
Universität. Bereits in seiner Jugend war er politisch aktiv (Widerstand
gegen Kolonialismus, gegen die Militärdiktatur Ibrahim Abbouds),
weswegen er mehrmals inhaftiert wurde (insgesamt verbrachte er 1,5 Jahre
im Gefängnis). Nach der Machtergreifung des Diktators Numeiri war er
unermüdlich als Mitglied der Rechtsanwaltskammer und deren zeitweiliger
Sekretär am Widerstandkampf gegen dessen Regime beteiligt. Dies brachte
ihm wiederum mehrfache Verhaftungen ein (vier Jahre).
Als im Januar 1985 Mahmud Mohammed Taha vor Gericht gebracht und
hingerichtet wurde, ging auch gegen Taha Ibrahim ein Haftbefehl aus
wegen seiner Opposition gegen die von Numeiri im September 1983
verkündeten Scharia-Gesetze (die sogenannten September-Gesetze), und
auch ihm drohte die Todesstrafe. Er konnte sich jedoch durch die Flucht
über die östliche Grenze retten und kehrte erst nach dem Sturz Numeiris,
am 13.4.1985, nach Khartoum zurück.
Er hat mehr als zwanzig größere Werke verfaßt, von denen die meisten
noch nicht gedruckt worden sind, u. a. ein Buch über Numeiris SchariaGesetze (September-Gesetze). Nach dem Sturz Numeiris machten es die
wiederhergestellten rechtsstaatlichen Verhältnisse möglich, daß Taha
Ibrahim - im Namen seines vom Numeiri-Regime hingerichteten Freundes
Mahmud Mohammed Taha und im Auftrag von dessen Tochter Asma einen Prozeß gegen den sudanesischen Staat führte, worin er diesen auf die
Herausgabe der vom Numeiri-Regime beschlagnahmten (bescheidenen)
Besitztümer des Märtyrers und dessen Rehabilitierung verklagte; mit
Erfolg.
Nach dem Militärputsch vom Juni 1989, gelang Taha Ibrahim erneut die
Flucht ins Ausland. Er lebt jetzt im Exil in Kairo und arbeitet zur Zeit u.a.
an einem Buch über die Ursprünge des Fundamentalismus und an einem
über die dem Koran zugrundeliegende Denkmethode.
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