Spuren des Anderen Eine philosophische Antwort auf eine

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Małgorzata Bogaczyk
Spuren des Anderen
Eine philosophische Antwort auf eine politische Frage
Es gibt ein für das menschliche Handeln charakteristisches, dauerndes Bedürfnis,
sich von dem zu unterscheiden, was man nicht ist; ebenso gibt es ein Bedürfnis,
sich selbst und die eigene Identität durch andere Personen bestätigen zu lassen.
Der Mensch betrachtet sich im Anderen und er betrachtet sich in den Anderen.
Das erhaltene Bild erstaunt ihn oder bestätigt seine Erwartungen – in beiden
Fällen sieht er sich mit anderen Augen. Wie immer es auch ausfallen mag, erst
dieses im Horizont der Begegnung geprägte Spiegelbild macht den Menschen für
sich selbst zu einem sinnvollen Thema. In dieser Skizze möchte ich die Kategorie
der Andersheit im Lichte philosophischer Überlegungen erscheinen lassen. Andererseits mag es scheinen, dass die dialogische Reflexion und alles was unter den
Begriff »Philosophie der Begegnung« fällt, sekundär ist gegenüber der anfangs
beschriebenen Situation, gegenüber einer Erfahrung, die ein unveränderliches,
vielleicht ein Grundelement des Zwischenmenschlichen ist.
Was hat hier die Philosophie zu sagen? Vor allem eröffnet sie eine metaphysische Perspektive. Heidegger war der Meinung, die Philosophie ist ihrem Wesen
nach unzeitgemäß.1 Dies bedeutet, dass sie sich stets in einem gewissen Widerklang befindet. Sie bleibt ein Wissen, das weder zeitgemäß ist noch sein muss,
sie ist ein die Menschheitsgeschichte begleitender Prozess. In Heideggers Worten:
»Die Metaphysik ist das Grundgeschehen im Dasein. Sie ist das Dasein selbst.« 2
Möge daher die philosophische Stimme in unserer Diskussion kein unfruchtbares Herumphilosophieren sein, sondern eine echte philosophische Reflexion, die
keinen Widerklang sucht, die theoretisch und unzeitgemäß ist, denn sie spricht
nicht eigentlich über die Dinge, die andere Wissenschaften zu ihren Forschungsgegenständen machen, sondern über das Wesen dieser Dinge.
1 Vgl. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Tübingen 6 1998, S. 6.
2 Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? In: Ders.: Wegmarken. Frankfurt am Main
3
1996, S. 122.
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Małgorzata Bogaczyk
Grundworte
Das Leben vermag eine Begegnung zu sein, eine Wahl des Paares Ich-Du; ein
solches Leben ist nach Martin Buber das wahre Leben. Die Welt hat ein Doppelantlitz, je nachdem ob sie den Charakter des Paares Ich-Du oder Ich-Es trägt.
Das Menschenleben spielt sich zwischen Gegenständen und Menschen ab, es ist
eine Erfahrung der Andersheit: zunächst eine Erfahrung der Körper und Dinge. Buber schreibt jedoch: »Wer Du spricht hat kein Etwas zum Gegenstand. ...
[J]edes Es grenzt an andere Es ... Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas.
Du grenzt nicht. Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in
der Beziehung.«3 Mit der Wahl unserer dia-logischen Haltung beginnt die Wahl
der Welt, die gesetzt ist als Welt außerhalb der experimentellen Dingerkenntnis, als Welt der Beziehung zu dem, was ich nicht bin, aber dennoch in meiner
Welt antreffe: zu dem anderen, das den Ursprung dieser Beziehung darstellt, den
Ursprung möglicher Bindung und Verantwortung. Der Andere wird selbst zu
unserer Gegenwart; diese Gegenwart, gewissermaßen »von Antlitz zu Antlitz«,
unterscheidet sich von der Art, wie ich in der Dingwelt eingerichtet bin. Wir
nehmen ein Ding wahr, erfahren und begehren es (indem wir es berühren, erkennen, benutzen und schließlich vielleicht auch besitzen) – dieser Ablauf führt zur
Besitzergreifung, zur Negierung der Transzendenz. Der Andere hingegen entzieht sich dieser Besitzergreifung. Daher die erste Frage, die Husserl in seiner
Konzeption der Einfühlung stellt: »Wie kommen wir ursprünglich zu fremden
Leibern?«4
Mein Leib ist mir in ursprünglicher Wahrnehmung gegeben; mein erstes Wissen über den Anderen wiederum beruht darauf, dass ich ihn als Körper auffasse.
Der erste Ausdruck des Anderen ist für mich sein Körper: Dieser drückt aus,
dass der Andere mir äußerlich und von mir unabhängig ist. Der Andere ist daher
ein transzendentes äußeres Objekt, das ich zugleich in der äußeren, vorstellenden Wahrnehmung und in der Einfühlung, der inneren Wahrnehmung, erfahre,
wobei letztere mir das mit dem Äußeren verwobene Seelenleben des Anderen
enthüllt.5 Die Auffassung des Anderen als Naturobjekt ist seiner Auffassung als
Person untergeordnet. In letzterer Einstellung hat die Erfahrung des Anderen
3 Martin Buber: Das dialogische Prinzip. Heidelberg 5 1984, S. 8.
4 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus den Nachlass.
Dritter Teil: 1929 – 1935 (= Husserliana, 15). Den Haag 1973, S. 648 (Nr. 37,9).
5 Vgl. etwa Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. 2. Buch (= Husserliana, 4). Den Haag 1952. Zu dieser Problematik äußert sich ausführlich u. a. Marek Drwięga: Husserl o cielesności [Husserl
über Leiblichkeit]. In: Kwartalnik Filozoficzny 29 (2001) Nr. 3. Ferner verweise
ich auf Roman Ingarden: O poznawaniu cudzych stanów psychicznych [Das Erken-
Spuren des Anderen. Eine philosophische Antwort auf eine politische Frage
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»verstehenden« Charakter, sie knüpft zwischen Menschen Beziehungen, die auf
Verständigung beruhen. Wir lesen bei Husserl: »Personen fassen sich nicht nur
komprehensiv auf in der allerdings ersten und grundlegenden Weise, daß der Eine
die zu seiner Umwelt gehörige Leiblichkeit des Anderen und deren geistigen Sinn
als Leib versteht, hierbei Mienenspiel, Gesten, gesprochene Worte als Kundgebung
persönlichen Lebens deutend, sondern auch so, daß sie ›einander bestimmen‹, gemeinsam und nicht nur einzeln, also personal verbunden tätig sind.«6 Jene auf
Verständigung beruhenden »Beziehungen« sind ein Moment der Kommunikation, sind die Begegnung selbst: Gemeinsam stellen wir Fragen, antworten, werten,
entwickeln wir eine gemeinsame, uns verbindende Weltanschauung, erfahren die
Monadengemeinschaft, eine kulturelle oder Seelengemeinschaft. 7
Die Verständigung wirft mich auf mich selbst zurück. Der Andere ist nicht
so anders, als dass er sich nicht als mein Analogon, als Spiegelung meiner selbst
erweisen würde. In der V. Meditation stellt Husserl den Prozess des Übergangs
vom Körper zum Leib als »Paarung« dar, in der Ego und alter ego einer »Sinnesübertragung« unterliegen: Was mir fremd und transzendental ist, ist mir dennoch am nächsten. Der Andere erhält seinen Sinn, es kommt zu einem wechselseitigen »Sich-Wecken«.8 Es war dieses Moment des Sich-Weckens, das Martin
Buber als das wahre Leben bezeichnete, als Beziehung, als Ich-Du-Gespräch. Dieselbe Intuition bringt Emmanuel Lévinas dazu, von dem »Anderen« – wie er ihn
stets nennt – als von demjenigen zu sprechen, der mir von allem in der Welt
Begegnendem am nächsten stehe. Die Wahl des Ich-Du ist ein wesenhafter Akt
des menschlichen Seins; Lévinas aber geht noch weiter, indem er behauptet, erst
in diesem entwickelt sich – durch die Verantwortung für den Anderen – unsere
wirkliche Freiheit. Die bubersche Gegenseitigkeit der Gabe und sein Verständnis
von der Rolle der Rede sind zentral für Lévinas’ Konzeption der Rede und des
Gesprächs. Indem wir »Ich« sagen und die Antwort »Du« erwarten, erwarten wir
eine Beziehung, in welcher die Kategorie der Andersheit nichts als die Kategorie
der Andersheit ist; bereits darin liegt ihre positive Wertung. Sie prägt also nicht
das Bild eines Anderen, der mich mit seinem Blick beherrschen will, das Bild
eines Fremden oder gar ein Feindbild. Das gewissermaßen Zu-eigen-Machen eines Du, das Gespräch und das dialogische Band sind stets nur Episoden. Doch
diese Episoden, diese Begegnungen fügen sich zu einem Ereignis zusammen, das
nen fremder Geisteszustände]. In: ders.: U podstaw teorii poznania [Grundlagen der
Erkenntnistheorie]. Teil 1, Warszawa 1971.
6 Vgl. Husserl, Ideen (wie Anm. 5), S. 192.
7 Vgl. ebenda, S. 196 und Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Hamburg 1992,
S. 135 – 139.
8 Husserl, Cartesianische Meditationen (wie Anm. 7), S. 114 – 116.
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uns in dem Sinn bestärkt, den wir für uns erkannt haben; sie sind, so Buber,
das Symbol der Weltordnung. Mein »Du« hört sogleich auf, meines zu sein, ich
erfahre das Gemeinsame dieser Situation, mein Sinn verweist mich unmittelbar
auf den allgemeinen Sinn, der sich jetzt in der jeweiligen Beziehung konkretisiert
hat. Maurice Merleau-Ponty drückt es so aus, dass unsere private Welt auf diese
Weise zum »Instrument« einer umfassenderen Lebensdimension wird. 9
Das in der Gegenstandssphäre, in der Paarung Ich-Es verbleibende Sein ist mit
sich selbst beschäftigt, in seiner Identität eingesperrt; es nimmt, um mit Lévinas
zu sprechen, Nahrung (nourritures) zu sich, es genießt die Nahrungsmittel des
Lebens, zu denen sowohl Schlaf und Luft als auch Arbeit und eine Idee, sowohl
der Raum als auch eine Landschaft zählen. Diese Sphäre der Nahrung lässt an
das heideggersche Man denken, obwohl eine solche Ähnlichkeit nur scheinbar ist.
Dem Man gemäß wird der Zeugzusammenhang der Welt für das Dasein wichtiger
als die wesenhafte Neigung, den Anderen kennen zu lernen und ihm nahe zu
sein. Heidegger schreibt: »...wie je schon in der nächsten Umwelt die öffentliche
›Umwelt‹ zuhanden und mitbesorgt ist. ... Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart ›der Anderen‹ auf, so zwar, daß die Anderen in
ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche
Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen
und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt.« 10 Dasjenige In-der-Welt-Sein, dessen Wesen darin besteht, sich am Zeugzusammenhang zu
orientieren und das Dasein vom Anderen fernzuhalten, bewirkt, dass ich diesen
im »Bei-der-Arbeit-Sein« auffasse, dass mir jedoch der persönliche Kontext des
gemeinsamen In-der-Welt-Seins verlorengeht.
Gleichfalls geht das verloren, was zwischen uns und dem anderen liegt, was
ebenso sehr trennt wie verbindet: das bubersche »Zwischen«. Unter der metaphorischen Überschrift Metaxy (gr. »zwischen«, »inmitten«) erzählt Simone Weil
von zwei Gefangenen in Nachbarzellen, die sich durch Klopfen gegen die Mauer
verständigen. Diese ist daher sowohl das Trennende als auch das Verbindende. 11
9 »Gewiß, schon die geringste neue Aufmerksamkeit überzeugt mich davon, daß dieser
Andere, der mich vereinnahmt, bloß aus meinem Stoff gemacht ist: wie könnte ich
seine Farben, seinen Schmerz, seine Welt überhaupt als die seinigen erfassen, wenn
nicht aufgrund der Farben, die ich sehe, aufgrund meiner eigenen Schmerzen, aufgrund
der Welt, in der ich lebe? Zumindest hat meine Privatwelt dadurch aufgehört, nur
meine eigene zu sein, und sie ist fortan das Instrument, auf dem ein anderer spielt, die
Dimension eines generalisierten Lebens, das meinem eigenen aufgepfropft ist.« Maurice
Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986, S. 27.
10 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 16 1986, S. 126.
11 Simone Weil: Schwerkraft und Gnade. München 1952, S. 251.
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Die Sphäre des »Zwischen« verweist sowohl auf das Fremde als auch auf das Eigene. Wenn wir mit Husserl annehmen, dass es einen Kern an Gemeinsamem
gibt, setzen wir eine Koexistenz und Abhängigkeit des Fremden und des Eigenen voraus, nicht im Sinne zweier Welten, sondern – so könnte man vielleicht
sagen – zweier Seiten derselben Welt. Unsere Ausgangspunkte können unterschiedlich sein, doch wenn wir an einem beginnen, wissen wir, wie wir zum
anderen gelangen, und umgekehrt. Das Andere ist jedoch nicht assimilierbar, er
ist kein Ding, es entzieht sich der Besitzergreifung, leistet Widerstand, und eben
deswegen fassen wir es als Anderes auf. Weiterhin können wir die von der Philosophie der Begegnung postulierte Kategorie der Andersheit als Kategorie eben der
Andersheit begreifen oder den Fremden als Feind wahrnehmen, die Sphäre des
»Zwischen« mit unserem eigenen Denken besetzen, den Wirkungskreis des Eigenen vergrößern. Mit dieser Sachlage setzen sich Emmanuel Lévinas’ Philosophie
sowie Józef Tischners Ethik der Solidarität auseinander.
Solidarität oder Destruktion des Dialogs?
Warum soll das uns mit dem Anderen verknüpfende Band aus Verantwortung
erwachsen? Die menschliche Freiheit – so Lévinas – stößt an eine Grenze: die
absolute Unmöglichkeit, den Anderen auf ein Objekt zu reduzieren. Dies werde
deutlich in der Beziehung zum Antlitz des Anderen, eine Beziehung, die »ethisch«
sei, denn das Antlitz spreche und appelliere: »Du wirst keinen Mord begehen.« 12
Diese Situation lässt daran denken, wie Buber die Grenze des Hasses bestimmt,
den man einem anderen Wesen gegenüber empfinden kann: Ich vermag ein anderes Wesen in einem bestimmten Kontext, aus einem bestimmten Grunde zu
hassen, ich hasse etwas an ihm, ich verachte etwas, doch: »Wer ein ganzes Wesen
sieht und es ablehnen muß, ist nicht mehr im Reich des Hasses, sondern in dem
der menschhaften Einschränkung des Dusagenkönnens.«13 In der Philosophie der
Begegnung ist der Andere derjenige, der mich hinreißt, sowohl durch seine Hilflosigkeit als auch durch sein Gebot, er setzt sich meiner Antwort (Es oder Du)
aus, doch er ist ebenso mein Lehrer, mein Meister (maı̂tre – wie Lévinas sagt).
Martin Buber nahm im Phänomen der Begegnung ein Moment der gegenseitigen
Gabe an. Bei Lévinas erwächst das uns mit dem Anderen verknüpfende Band aus
12 Über die Epiphanie des Antlitzes vgl. z. B. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität. München 1987, S. 285.
13 Buber, Prinzip (wie Anm. 3), S. 20; vgl. Emmanuel Lévinas: Ethik und Unendlichkeit.
Gespräche mit Philippe Nemo. 3. unver. Neuaufl., Wien 1996, S. 68 (dt. Erstauflage
Graz 1986).
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Verantwortung, unabhängig davon, ob der Andere sie annimmt oder ablehnt. Er
benutzt hier den Begriff der Diakonie. Das griechische Wort diakonı́a bedeutet
Pflichterfüllung, und in diesem Sinne geht die Diakonie dem Dialog voraus, denn
der Andere fordert mich in seiner Hilflosigkeit, in seiner Geradlinigkeit (rectitude)
auf, Verantwortung zu übernehmen.
Man muss gestehen, dass es nicht Lévinas’ Haltung ist, auf welche die Entwicklungsrichtung des philosophischen, ethischen und anthropologischen Denkens im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zuläuft. Für Sartre etwa beginnt
und endet das Nachdenken über dieselbe Thematik mit einer diametral entgegengesetzten These, die in der Philosophiegeschichte wesentlich tiefer verwurzelt
ist. Lévinas’ Gedankengang setzte mit folgender Überlegung ein: Ein anderer
Mensch, dem ich begegne, den ich mit meinem Blick erfasse, der mich anblickt,
wird intuitiv als ein Anderer aufgefasst. Sartre behauptet: Die mir begegnenden
Menschen sind Gegenstände, ihre Gegenständlichkeit verweist mich auf ein »Mitdem-Andern-gepaart-Sein«, darauf also, dass der Andere mich in jedem Augenblick ansieht.14 Sowohl in Lévinas’ als auch in Sartres Auffassung trifft das Sein
auf den Grund seines Außer-sich-Seins, in Lévinas’ Philosophie sucht jenes »erwachende« Sein diesen Grund, bei Sartre ist es ihm ausgeliefert. Mit »Anders als
Sein« (autrement qu’être) bestimmt Lévinas den Grundsatz der »Ernüchterung«,
die im Kern dasselbe bedeutet wie die griechische Diakonie: Pflichterfüllung.
Sie ist mithin die Verwirklichung der Uneigennützigkeit, des dés-intér-esse-ment
(durch diese Schreibweise hebe ich hervor, dass sich das esse außerhalb der Seinsinnerlichkeit verwirklicht, indem es sich auf den Anderen richtet). Lévinas’ Philosophie erwächst aus der Lage der Philosophie nach dem von ihm so genannten
Loch in der Geschichte, nach 1941, nach Auschwitz. Der Tod als solcher erweckt
das Bedürfnis, sich der Verantwortung zu entziehen, besonders in einer von Gewalt geprägten Situation; doch der als gegenwärtig akzeptierte Tod, der konkrete
Tod, das Schicksal des Anderen – so Lévinas – muss uns zur Verantwortung
aufrufen.15
Ein Philosophieren, das Antworten auf die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts sucht, ist das Denken Józef Tischners, dessen Entwicklung als Forscher
unter anderem Husserls Phänomenologie, die Philosophie Heideggers sowie die
Philosophie des Dialogs, darunter Lévinas, umfasste und ihn schließlich zur For-
14 Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 457 –
465; ebenda, S. 481f.: »Auch das erfasse ich durch bloße Ausübung des Cogito: erblickt
werden, heißt sich als unerkanntes Objekt von unerkennbaren Beurteilungen, insbesondere von Wert-Beurteilungen, erfassen. ... In diesem Sinn können wir uns als ›Knechte‹
betrachten, insofern wir Anderen erscheinen.«
15 Lévinas, Totalität (wie Anm. 12), S. 259.
Spuren des Anderen. Eine philosophische Antwort auf eine politische Frage
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mulierung seiner eigenen Konzeption der Philosophie des Dramas und der Ethik
der Solidarität führte. Er schreibt: »Die Ethik der Solidarität will eine Gewissensethik sein. Sie setzt voraus, daß der Mensch ein Wesen ist, das mit einem
Gewissen begabt ist. Das Gewissen stellt einen natürlichen ethischen Impuls
des Menschen dar, der von verschiedenen Systemen weitgehend unabhängig ist.
Wir haben verschiedene Systeme, aber es gibt nur ein Gewissen. Dieses ist ursprünglicher als die Systeme. Das Gewissen stellt, ähnlich wie der Verstand und
der Wille, eine selbständige Realität im Menschen dar.«16 Die Solidarität ist ein
zwischenmenschliches Band aus gegenseitiger solidarischer Hilfe; die auf diese
Weise entstehende Solidaritätsgemeinschaft stellt den Hilfsbedürftigen an erste
Stelle. Wir sind »Wir« »für ihn«, fährt Tischner fort und betont, dass dieses »für
ihn« dem »Wir« vorausgeht und es bedingt.
Der dialogische Charakter der Philosophie entwickelt sich in ihren Hauptströmungen, die gesamte Philosophie des 20. Jahrhunderts musste sich diesem
Veränderungsprozess anpassen. Wenn in der Philosophie des Dialogs etwa die
Kategorie des Gewissens auftaucht (nicht nur dank der Ethik der Solidarität), ist
sie in der Philosophie als solcher ja bereits altbekannt. Alle philosophischen Begriffe sind so etwas wie Analogien: Indem wir ihren Spuren folgen, finden wir in
der Geistesgeschichte stets einen Ort, an dem sie schon vorgekommen sind, einen
Denker, der ihnen bereits nahe war und unser Denken in diese Richtung gelenkt
hat. Wenn es sich dabei um philosophische Begriffe handelt, verwirklichen sie
sich im Logos und überwinden die Kontingenz. Den wirklichen Sinn dieser Begriffe entdecken wir jedoch in einer kontingenten Situation, im Handeln, nicht
in der Idee. Daher schreibt Tischner, dass »Solidarität ... immer eine Solidarität
des Dialogs« ist.17
In unserer Konferenz geht es um die Destruktion des Dialogs. Ich möchte
die Frage nach dieser Destruktion stellen. Geht es bei den Philosophen, die heutzutage über Gesellschaftstheorien, über den Fortschritt, über den Staat, über
die Gerechtigkeit, über Kommunikationstheorien schreiben, bei den Ideenhistorikern und Philosophen, denen die Geschichte des Dialogs als historischer Kategorie präsent ist, die in öffentlichen Debatten Lévinas zitieren und sich auf die
Ethik der Solidarität berufen – geht es bei ihnen wirklich um die Destruktion
des Dialogs? Vielleicht sollte ich die Ausgangsfrage folgendermaßen umformulieren: Destruktion des Dialogs oder »Rückkehr der Erinnerung«? Ich beziehe mich
hier auf einen Gedanken Joachim Trenkners: »Keine Zukunft ist heute, da die
›Rückkehr der Erinnerung‹ zu einem globalen Phänomen wird, so offen wie die
16 Józef Tischner: Ethik der Solidarität. Graz u. a. 1982, S. 16f.
17 Ebenda, S. 22.
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Vergangenheit...«18 Es stellt sich heraus, dass die »Rückkehr der Erinnerung« unsere Gegenwart ist, unser jetzt. Wenn sie im Namen des Gewissens gefordert wird,
ruft sie zuweilen die Panik hervor, einem solle »ein schlechtes Gewissen gemacht
werden«, weckt verständliche, bis zum Widerstand führende Befürchtungen, die
Erinnerung bestehe darin, Vorwürfe und Forderungen zu konkretisieren. Sowohl
die historische Erinnerung wie auch das Vergessen scheinen eine Gefahr darzustellen. Nichtsdestoweniger ist das Wissen der sich vereinigenden Nationen
die Bedingung dafür, dass auf unserem Kontinent überhaupt eine Gemeinschaft
entsteht. Bernhard Waldenfels hat den Nationalismus als »eine Kinderkrankheit
der Völker« bezeichnet.19 Diese Krankheiten muss man durchmachen, bei den
Nationen des modernen Europas sind sie, zivilisatorisch gesehen, nur noch ein
»Relikt« (Waldenfels), doch politisch bleiben sie ein Faktum. So wird etwa der
bekannte Artikel von Jürgen Habermas und Jacques Derrida in ungerechter Weise behandelt. In Polen regten sich bei der Lektüre des Essays Nach dem Krieg: Die
Wiedergeburt Europas20 die übelsten Ressentiments. Man könnte meinen, das metaphorische »Kerneuropa« trage nach Ansicht seiner Kritiker Züge eines Denkens,
das sich früher in den Schlagworten »Drang nach Osten« oder »Lebensraum« ausdrückte. Wovon jedoch die Philosophen träumen,21 ist ein dialogisches Europa:
»Uns allen schwebt das Bild eines friedlichen, kooperativen, gegenüber anderen
Kulturen geöffneten und dialogfähigen Europas vor.«22 Wenn von einem »Europa
der verschiedenen Geschwindigkeiten« die Rede ist, dann wird hier nicht der
hegelsche Gedanke von »Randnationen« wiederbelebt, sondern das Projekt verfolgt, das Gefühl und den Zustand der Marginalität (sic!), bei Bewusstsein des
Ausgangspunktes, aufzuheben.
Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts herrscht Übereinstimmung, dass
die Züge der Fremdheit, wenn sie als wesenhafte Qualitäten des Anderen verstanden werden, zum Aufbau von Feindbildern führen und destruktiv wirken –
nicht nur auf den Dialog zwischen Menschen, Kulturen und Nationen, sondern
auch auf sich selbst. Viele Bücher sind darüber geschrieben worden, dass Akzeptanz und Vertrauen zu den elementaren Grundlagen gesellschaftlichen Wohlstands
und sozialer Ordnung zählen sowie dass sie den kulturellen Fortschritt antreiben.
18 Joachim Trenkner: Naród z przeszłością. Eseje o Niemczech [Ein Volk mit Vergangenheit. Essays über Deutschland]. Poznań 2004, S. 216.
19 Vgl. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Frankfurt am Main 2 1999, S. 161.
20 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.5.2003.
21 Der Essay von Habermas und Derrida erschien in polnischer Übersetzung in der
Tageszeitung Gazeta Wyborcza vom 10.6.2003 unter dem Titel Europa, jaka się śni
filozofom [Das Europa, von dem die Philosophen träumen].
22 Vgl. Habermas und Derrida, Nach dem Krieg (wie Anm. 20).
Spuren des Anderen. Eine philosophische Antwort auf eine politische Frage
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Man propagiert einen ethischen Kapitalismus, Handlungs- und Kommunikationstheorien, die auf universalen Wertesystemen beruhen... Doch es fehlt ein echtes
Nachsinnen über diese Ideen. Die Stimme des Nachsinnens ist die philosophische
Reflexion. Demokratie, Solidarität, Gerechtigkeit, Dialog – all dies waren anfangs
ja Ideen. Auch die Bewegung »Solidarität« war vor allem eine Idee, und die Verwirklichung ihres Programms bedeutete die Chance für eine Gemeinschaft, deren
Wesen eben in dieser seiner Verwirklichung bestand. 23 Für den Philosophen bleiben diese Begriffe vor allem Ideen, und die Kräfte, die sie verwirklichen oder
vernichten, sind sekundär. Daher ist die Rückkehr zu ihnen stets möglich, man
könnte sogar sagen: Sie sind die Gegenwart. Den Ideen selbst fehlt es nicht an
Widerklang – sie eben sind unser Dasein.
Der Destruktion des Dialogs müsste die Destruktion der Spur vorausgehen.
Ist ein solches Verwischen möglich? Es gibt Spuren verschiedener Art: Ich gehe
in ein Zimmer und finde jemandes Spuren, jemand war vor mir da, hat das
Fenster geöffnet, das Buch an eine andere Stelle gelegt. Ich gehe in die Berge, im
Schnee hat jemand bereits tiefe Spuren hinterlassen, ich trete in sie, denn dadurch
wird mein Gehen leichter. Es kommen jedoch auch Spuren vor, denen wir nicht
folgen, auf deren Weg wir uns nicht befinden möchten. Täglich stehen wir vor
mehr oder weniger wichtigen Spuren, und fast immer können wir gleichgültig
bleiben – es gibt Spuren solcher Art. Die Spur jedoch, von der hier die Rede
ist, ist die Spur im Gesicht des Anderen: die einzige Art von Spur, die ich nicht
verwischen kann. Sie ist der Einspruch gegen Sartres Schrei: »Die Hölle sind die
Anderen.«
Die Philosophie des Dialogs befindet sich nicht auf dem Rückzug; sie hat metaphysische Quellen, zu denen sie immer zurückkehren kann. Vielmehr wird sie
Möglichkeiten suchen, ihre Vermittlerrolle wahrzunehmen. Die traurige Bemerkung, wonach es der Philosophie des Dialogs prächtig gehe, nur mit dem Dialog
sehe es schlechter aus, kann sicher einigen Widerspruch hervorrufen. Wenn auch
der Zynismus in vielen Diskursen als Instrument fungiert, ist er dem echten
philosophischen Denken doch fremd. Die Dialogiker hoben hervor, dass die Gegenwart stets eine Gegenwart-gegenüber etwas oder jemandem ist (Ebner, Buber,
Lévinas), dass die Rede sich nur als Gespräch ihrem Wesen nach verwirklicht (Rosenzweig, Lévinas), dass schließlich das Wort sich als Ant-wort auf ein anderes
Wort richtet (was in der deutschen Sprache hervorragend zum Ausdruck kommt).
23 Über die Bewegung »Solidarität« im Kontext der Philosophie des Dialogs hat sich
u. a. Marcin Kula geäußert: Między przeszłością a przyszłością. O pamięci, zapominaniu i przewidywaniu [Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Erinnerung, Vergessen,
Vorhersehen]. In: Filozofia Dialogu. Drogi i formy dialogiczne [Die Philosophie des
Dialogs. Dialogische Wege und Formen]. Hrsg. von Józef Baniak. Poznań 2003.
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Małgorzata Bogaczyk
Möge dieses Bild von der Philosophie der Begegnung für unser Gespräch über
den Dialog und seine Destruktion ein Bezugspunkt bleiben. Zuweilen gelingt es
dem Dichter eine Intuition auszudrücken, die der Philosoph nur zu umkreisen
vermag. Adam Zagajewski schreibt: »Nur in fremder Schönheit liegt Trost, in
fremder Musik und in fremden Gedichten.«24 In fremden Ideen liegt mehr als
Trost, vielleicht gibt es dort guten Rat, eine Lösung, möglicherweise so etwas
wie Offenbarung, wie Wahrheit – ganz sicher aber deren Spur. Daher suchen wir
unaufhörlich den Dialog der Ideen.
Aus dem Polnischen von Sven Sellmer
24 Adam Zagajewski: W cudzym pięknie [In fremder Schönheit]. In: Ders.: Dzikie czereśnie. Wybór wierszy [Wilde Kirschen. Ausgewählte Gedichte]. Kraków 1992.
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