In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 120

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In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 120121
Autor: Alexander v. Pechmann
Rezension
Kurt Hübner
Die Wahrheit des Mythos.
München 1985 (Beck-Verlag), Leinen, 465 S., 48.- DM.
Was vor einem Jahrzehnt noch als nahezu undenkbar schien, daß die Wissenschaftstheorie sich positiv dem Mythos zugewandt hätte, wird seit der
Verunsicherung über ihre eigenen Grundlagen häufiger. Eine der wichtigen
Arbeiten in diesem Rahmen ist das Buch des Kieler Wissenschaftstheoretikers K. Hübner „Die Wahrheit des Mythos“.
Hübner setzt voraus, daß unsere Kultur sich heute nicht mehr auf der
Grundlage jenes Aufklärungsprogramms verstehen läßt, das den Mythos
durch die wissenschaftliche Erkenntnis ablösen wollte, sondern daß ein tiefer und grundsätzlicher „Zwiespalt unserer Kultur“ herrsche. Dieser sei geprägt durch das Neben- und Gegeneinander einer wissenschaftlichen, vorwiegend analytischen, Rationalität einerseits und einer, vor allem künstlerischen, Zuwendung zum All-Einen des Mythischen andererseits. Es hätten
sich zwei konkurrierende Formen von Wahrheitsansprüchen geltend gemacht, die Hübner zum einen mit Descartes, Newton und Einstein, zu m
anderen exemplarisch mit Hölderlin und mit der Wirkungsgeschichte der
griechischen Mythologie identifiziert.
In ihr zeige sich das griechische Denken als diesseitig, als ein Denken, das
noch nicht die klare Unterscheidung zwischen Materie und Geist, zwischen
den rein materiellen Naturgegenständen und ihnen als beseelten und begeisteten numinosen Wesen vollzogen habe, wie später das Christentum und
die neuzeitliche Wissenschaft. Der griechische Mythos schwanke zwischen
der numinosen und der profanen Ebene; im einzelnen Getreidekorn war
unmittelbar und ganz die Göttin Demeter anwesend, die physische Erde
und die göttliche Gaia waren ununterschieden. Die Gegenstände – so Hübner – konnten daher nicht auf Begriffe gebracht werden. „Hier fungiert der
Name eines numinosen Wesens oder Gottes wie ein Begriff“ (113).
Dennoch hatte der Mythos alle Kennzeichen eines rationalen Erklärungsmodells. Er sei keine Ausgeburt wüster Phantasien gewesen, sondern ein in
sich geschlossenes System der Erfahrung, das Mittel zur systematischen Erklärung und Ordnung bereit- und hergestellt habe. So stürmt im Mythos
z.B. der kalte Nordwind Boreas nicht des Luftdruckausgleichs zwischen
Hoch und Tief wegen – wie die Wissenschaft sagt –, sondern weil der Gott
Poseidon tobt; und immer wenn Poseidon tobt, stürmt’s. So bietet also der
Mythos ebenso ein Modell der Deutung und Erklärung empirischer Phänomene an und steht damit mit der Wissenschaft zunächst auf einer Stufe.
Befinden sich für Hübner also Mythos und Wissenschaft zwar als Rationalitätsmodelle auf einer Ebene, so möchte er dennoch zeigen, daß wir heute
keine andere Wahl mehr haben als die zur Wissenschaft. So anregend und
faszinierend uns die Mythen auch oft erscheinen mögen (und auch sollen),
so gäbe es doch keinen Auszug aus der wissenschaftlich-technischen Welt.
Ja, er zeigt von dieser Prämisse aus, daß die Übernahme des Mythischen in
unsere Zeit diesen nur in politisch gefährliche „Pseudo-Mythen“ verwandeln
würde, die an verschüttete Erfahrungsformen anknüpfen, sie jedoch
mißbrauchen. Vor diesen Tendenzen will er warnen, gerade indem er den
Mythos in sein Recht zu setzen versucht.
Das Buch bietet eine Fülle anregender Interpretationen und Deutungen aus
der griechischen Mythologie und aus der Gegenwart des Mythischen in Malerei und Musik, die den Rationalitätsgehalt in ihnen aufdecken wollen. Es
ist ein gelungener Versuch, im Bereich der Wissenschaftstheorie und Philosophie zwischen Wissenschaft und Mythos zu vermitteln, diesen nicht weiterhin auszugrenzen, sondern sich neu anzueignen. Dieser Vermittlungsversuch gelingt Hübner allerdings nur aufgrund der Relativierung der „Wahrheit“, aufgrund seiner Einebnung und Leugnung des Unterschieds zwischen
der objektiven Wahrheit einerseits und bloß intersubjektiven Rationalitätsmodellen andererseits.
Alexander v. Pechmann
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