Diese Materialien sind eine Ergänzung zu euren eigenen Mitschriften und kein Skriptum. Diese Nachlese ist kein Ersatz für eure Mitschriften, sondern lediglich ein Zusatz! Es handelt sich um ein Protokoll mündlicher Rede und ist außerhalb der VO Politische Theorien nicht zitationsfähig. 14. Dezember 2006 und 11. Jänner 2007 (8. und 9. Vorlesungseinheit) Diskurstheorien Allgemeines zum Diskursbegriff Diskurs ist ein seit den 1970er Jahren häufig gebrauchter Terminus, mit dem Sprachmuster benannt werden. Mit dem Begriff wird Verschiedenes ausgedrückt: So etwa auch die Vereinheitlichung der Auseinandersetzungen um ein Themen- und Problemfeld: z.B. Privatisierungsdiskurs, Umweltdiskurs, Flüchtlingsdiskurs usw. Der Begriff Diskurs leitet sich aus dem Lateinischen her: discursus: "das Sich-Ergehen über etwas"). Bis in das 20. Jahrhundert wurde der Begriff aber vor allem für "gelehrte Abhandlungen" gebraucht (z.B. J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit). Im Französischen bedeutet Diskurs (discours) aber auch "Rede". Diese Bedeutung fand auch in der deutschen Sprache ihren Niederschlag: als "(dialogische) Rede", als lebhafte Auseinandersetzung. Thema der Diskurstheorien allgemein: Versuche, die Zusammenhänge von Sprache und Politik, von Wissen und Geltung, von Realität und Deutung, von Diskurs, Macht und Subjektformierung genauer zu erkunden. Übergang vom Paradigma des Bewusstseins (individualistisch) zum Paradigma der Sprache (ein notwendigerweise überindividuelles, gesellschaftliches Phänomen; Bewusstseins-philosophie betrachtete Sprache nur als neutrales, theoretisch unbedeutendes Instrument, um Gedanken zu transportieren) (Post-)strukturalistische Ansätze betonen die (relative) Autonomie, Eigengesetzlichkeit und Materialität von Sprache (vgl. ähnlich auch die Argumentation von Poulantzas und Althusser bezüglich der relativen Autonomie des Staates). Palette der Diskursbegriffe • Thematisches Feld • Diskursethik / "herrschaftsfreier Diskurs" (Habermas) • linguistischer Diskursbegriff (sprachwissenschaftliche Methode) • Diskurstheorie (Foucault, Pêcheux, Laclau/Mouffe) Diskurstheorie und Diskursanalyse können folgendermaßen unterschieden werden: • Diskurstheorie bezieht sich auf die wissenschaftstheoretischen und gesellschaftstheoretischen Grundlagen: Wie wird 'Diskurs' definiert? Welches Verhältnis besteht zwischen Diskursen und gesellschaftlichen Akteuren? Welches Verhältnis zwischen dem Diskursiven und dem Nicht-Diskursiven einer Gesellschaft wird vorausgestzt? Oder wird die These vertreten, dass die gesamte Gesellschaft -1- ausschließlich aus Diskursen besteht (z.B. von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe)? In welcher Weise können Diskurse wissenschaftlich erkannt und analysiert werden? Was wird durch Diskurse 'konstituiert'? Welchen Stellenwert haben Diskurse im Prozess der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstitution? Sind Diskurse gesellschaftlich wirkmächtig (wenn ja: in welcher Weise?) oder sind sie bloße Oberflächenphänomene und Widerspiegelungen der ökonomischen und politischen Verhältnisse? • Diskursanalyse bezieht sich auf die Formen, Methoden, Instrumentarien der konkreten Untersuchung von spezifischen Diskursen, also auf die "forschungspraktische Umsetzung" (Keller 2001a). • Die Diskursethik von Habermas nimmt eine Sonderstellung ein: sie ist explizit normativ ausgerichtet. Diskursethik: Diskurs als öffentliche Debatte unter bestimmten Bedingungen (Handlungsentlastung), in der bestimmte ethische Regeln (es zählt ausschließlich das bessere Argument) gelten sollen. Jürgen Habermas ging es darum, die Geltung liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen theoretisch zu begründen. Sein Diskursbegriff zielt darauf, unter welchen Bedingungen innerhalb eines "Diskurses" (bzw. einer "Deliberation", daher: deliberative Demokratietheorie) ein für alle Diskursteilnehmer akzeptables (legitimes) Ergebnis zeitigen kann ("herrschaftsfreier Diskurs"). Diskurs als Diskussion findet in der politischen Öffentlichkeit statt und bildet ein Instrument der BürgerInnen, um gemeinsam politisch zu handeln. – Diskurs ist in diesem Verständnis der Ort, an dem sich die Geltung politischer Argumente und die Legitimität von Normen und Entscheidungen überprüfen lässt. Moderne sprachwissenschaftliche diskursanalytische Ansätze bestimmen Diskursanalyse als Strukturanalyse von Texteinheiten: • Diskursanalyse als Gesprächsanalyse: Untersucht werden systematische Strukturen tatsächlicher Gespräche oder Kommunikationssituationen. Mit dem Begriff Diskurs wird der Gesamtzusammenhang einer stattfindenden Kommunikation bezeichnet, der in einzelne Sprechhandlungs-Sequenzen zerlegt wird. Diskurse laufen regelhaft ab und bestehen aus einer Anordnung von Sprechhandlungs-Sequenzen. • Kritische Diskursanalyse (Norman Fairclough; Utz Maas; Ruth Wodak, Teun van Dijk; Siegfried und Margaret Jäger): Eine Gesprächsanalyse, die gesellschaftstheoretisch fundiert ist. Untersucht wird, o wie spezifische Inhalte sprachlich realisiert werden o welche Mechanismen dabei benutzt werden o welche Inhalte implizit oder explizit geäußert werden o Zusammenhang mit (anderen) Herrschaftsverhältnissen. -2- gesellschaftlichen Macht- und o 'Diskurs' als eine Form sozialer Praxis, 'diskursive Handlungen' stehen mit Situationen, Institutionen und soziale Strukturen in dialektischer Beziehung. (Fairclough 1992 und 2000) Michel FOUCAULT: poststrukturalistische Diskurstheorie Strukturalismus und Hermeneutik" (Dreyfus/ Rabinow 1994) "jenseits von Der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault (1926–1984) hat wesentlichen Anteil an der Verwendung des Diskursbegriffs in den Sozialwissenschaften. Diskurs ist bei ihm eine Gruppe von Aussagen (z.B. Texte, Begriffe, Konzepte). Diskurse legen Sprachen und Denkweisen fest, die zu einer bestimmten Zeit zur Verfügung stehen. Diskurse bestimmen also, wie man über etwas redet und wie nicht über etwas geredet wird bzw. werden darf/kann. Diskurse sind Filter des Sagbaren und damit auch der Denk- und Handlungsweisen. Methodisch wird dies mittels Dekonstruktion offen gelegt. Die Bedeutung der Diskurse ist eng mit dem Machtbegriff verknüpft: Diskursanalysen setzen immer auch Machtanalysen voraus, weil Macht Diskurse strukturiert und Macht sich über Diskurse legitimiert. Foucaults Texte wurden und werden äußerst unterschiedlich eingeschätzt: er sei Strukturalist, Poststrukturalist; Neokonservativer, Anarchist; bedeutender Historiker, Geschichts- und Subjektverleugner; etc.. Das Normative und Kritische an Foucaults Theorien zu Diskurs, Macht und Gouvernementalität: durch das Aufzeigen der Gewordenheit, der Historizität, des historisch Produziert-worden-Seins der Verknüpfung von Macht, Herrschaft und Wissenschaft wird jede Naturalisierung, jedes unreflektierte Hinnehmen einer 'Tatsache' als selbstverständlich hinterfragt und verunmöglicht, d.h. vor allem: da das jeweils Aktuelle produziert worden ist (durch bestimmte Kräfte, Strategien, Taktiken), muss es (= Ausbeutungsverhältnisse, Herrschaftsverhältnisse und Subjektivierungsweisen) nicht so bleiben, wie es ist, sondern kann verändert werden. Foucaults Theorie wurde bislang in der Politikwissenschaft eher zögerlich rezipiert; einen aktuellen Überblick bieten z.B. Kerchner/Schneider (Hg.) 2006. Foucault argumentierte gegen verschiedene Reduktionismen: Reduktionismus a: ein autonomes Subjekt produziert aufgrund seiner Intentionen und seines Willens bestimmte Diskurse, Theorien, Analysen, Wissenschaften, dann auch Institutionen (Intentionalismus) Reduktionismus b: die ökonomischen (Kräfte-)Verhältnisse produzieren und determinieren bestimmte Diskurse,… (Ökonomismus) Reduktionismus c: anonyme Strukturen produzieren bestimmte Diskurse, Theorien, … (Strukturalismus) Merkmal aller Reduktionismen: sie können keine (relative) Autonomie, keine Eigenlogik, keine (relative) Eigengesetzlichkeit von Diskursen und Institutionen thematisieren. -3- Im Strukturalismus wurde "Struktur" auf der rein synchronen Ebene als die "Menge der die Elemente eines Systems verbindenen Beziehungen" verstanden, wobei weder die geschichtliche Gewordenheit noch die (politischen) Machtverhältnisse und Auseinandersetzungen interessierten, die zu einer bestimmten Struktur geführt hatten. Der Strukturalismus suchte nach allgemeinen, abstrakten, geschichtslosen Strukturen. Die Struktur steht "außerhalb" der konkreten geschichtlichen Praxis. Foucault grenzte sich ab den 1960er Jahren vom Strukturalismus ab: "Ich bin im Unterschied zu jenen, die man als Strukturalisten bezeichnet, nicht so sehr an den formalen Möglichkeiten eines Systems wie der Sprache interessiert..."; vielmehr kann "die Sprache in ihren formalen Eigenschaften nur analysiert werden ..., wenn man ihr konkretes Funktionieren einbezieht" (Foucault, zit.n. Lemke 1997, 44f). Auf Kritik, dass in seinem theoretischen System handelnde Akteure ignoriert würden, antwortete er folgendermaßen: "Ich habe nicht gesagt, dass der Autor nicht existierte (…) und ich bin erstaunt, dass meine Rede zu einem solchen Widersinn geführt haben sollte. (…) es geht darum, (…) zu erkennen, auf welche Weise und nach welchen Regeln das Konzept 'Mensch' funktioniert. Dasselbe habe ich für den Begriff des Autors getan." (Foucault 2001/1969, 1036f) "Statt Diachronie und Synchronie, Geschichte und Struktur schematisch zu trennen, interessiert sich eine struktural operierende und genealogisch 'taktierende' Diskursanalyse für ihr Zusammenspiel." (Kerchner 2006, 20) "Diskursgeschichte" Seine Diskursgeschichte hat ihren Schwerpunkt in der Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die Hauptthese lautete, dass die aus der Epoche der Aufklärung stammende und bis heute wirksame Vorstellung einer emanzipatorischen Evolution des abendländischen Individuums nicht existiert. Stattdessen richtet Foucault seinen Blick auf epistemologische "Revolutionen". Er kommt dabei zu dem Schluss, dass das moderne wissenschaftliche Paradigma, das den Menschen als zentrale erkenntniskonstituierende Instanz etabliert, keineswegs das konsequente und folgerichtige Ergebnis der abendländischen Entwicklung, sondern Ausdruck eines "epistemologischen Bruchs" (Gaston Bachelard) an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sei. Er legte diese Thesen ausführlich dar in: "Geburt der Klinik", "Überwachen und Strafen" und "Die Ordnung der Dinge". Foucault fühlte sich einer "Geschichte der Gegenwart" verpflichtet, die wichtige theoretische Instrumente für aktuelle politische und soziale Auseinandersetzungen bereitzustellen vermag. • Die Idee von "Theorie als Werkzeugkiste" macht nur einen Aspekt seines Praxisbezugs aus; • zudem engagierte er sich auch persönlich in politischen Gruppen und sozialen Bewegungen (Antirassismus, Situation in Gefängnissen, …); -4- • überdies leistete er auch einen wichtigen Beitrag zur Selbstreflexion intellektueller Arbeit, indem er die politische Bedeutung von Produktion, Organisation und Verteilung des Wissens thematisierte (Lemke 1997, 11f.). "Archäologie des Wissens" Foucault hat seine umfassenden diskurshistorischen Studien der 1960er Jahre unter das gemeinsame Label der "Archäologie" gestellt, die historischen Arbeiten theoretisch wie methodisch reflektiert und in der "Archäologie des Wissens" (1969) zu einem methodologischen Programm erweitert. In dieser Programmatik hat Foucault sich deutlich von einer hermeneutisch ausgerichteten Ideengeschichte distanziert. Mit dem Ideen-Begriff allein zu operieren, reichte ihm nicht aus. Stattdessen sollte sich die Aufmerksamkeit auch auf Verfahrensdispositive (Vorgaben) und die hinter dem geschriebenen Wort liegenden Wissenssegmente, Denkmuster und unausgesprochenen, aber assoziierten Wissensfelder richten. (Brieler 1998) Foucault untersucht in der 'Archäologie' nicht die allgemeinen, überhistorischen Konstruktionsgesetze von Diskursen, sondern die konkreten historischen Bedingungen ihres tatsächlichen Auftauchens und ihrer Existenz. Er verfolgte also seit den 1960er Jahren ein Gegenprojekt zur damals vorherrschenden Sicht der Geschichte von Wissenschaften und politischen Ideen, einen "eigenständigen methodischen Ansatz", der sich von traditioneller historischer, philosophischer wie gesellschaftstheoretischer Forschung abhob (Lemke 1997, 38; Brieler 1998). Diskurse sind die Praktiken, "die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben" (Foucault 1969, 74; kursiv im Orig.). Es geht Foucault nicht um die Frage des Vorrangs von Theorien gegenüber Praktiken (oder umgekehrt), sondern Praktiken, Institutionen und Theorien werden auf einer Ebene analysiert, d.h. sie können nicht isoliert voneinander untersucht werden; der Diskurs ist eine Praktik unter Praktiken in einem nicht-hierarchischen Raum. Aussagen, so Foucaults These, beinhalten immer mehr Informationen als das eigentlich Gesagte, da sie in diskursiver Beziehung zu einem Aussagenfeld stehen, das als Tiefenstruktur im Gespräch oder im Text immer mit aktualisiert wird. Eine Aussage zu politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Themen lässt sich nicht isoliert interpretieren, sondern nur im Rahmen der Aufdeckung diskursiver Regeln und Regelmäßigkeiten, die die Aussage in der vorliegenden Form erst möglich machen. Foucault interessiert sich für die "Art, in der sich aus der Vielfalt aller individuellen, spontanen Äußerungen (énonciations) mit der Zeit Aussagen (énoncés) herauskristallisieren, die vor allem innerhalb bestimmter Wissenschaften als wahr akzeptiert werden. Folgt man dem, so ist man der Funktionsweise des Diskurses auf der Spur." (Kerchner 2006, 48f) Statt des Begriffs 'Diskurs' hat Foucault auch den der diskursiven Praxis verwendet. "Die diskursive Praxis ist nicht das Sprechen oder die Konversation zwischen sprachkompetenten -5- und in ihrem Sprechen allein durch die Intentionalität ausgezeichneten Sprechern. Die diskursive Praxis ist die überindividuelle Praxis, die in einem Feld die Begriffe mit Bedeutung füllt, die Objekte bezeichnet, diese damit erst sozial wahrnehmbar macht. (…) Die diskursive Praxis bewirkt auch, dass die Individuen in einem Feld eben dieses Feld selbst, seine Realität und Ordnung als selbstverständlich, naturgegeben und evident, als vorreflexiv erleben." Aus diskurstheoretischer Sicht "ist noch die scheinbar unmittelbarste und sinnlichste Erfahrung bereits durch die diskursive Praxis organisiert" (Diaz-Bone 2006, 72f). Die diskursive Praxis ist also die innere Ordnung des Aussagensystems, das heißt dessen Bildungs- und Reproduktionsprinzip: Innerhalb der diskursiven Praxis wird nicht nur das Verhältnis zu den Gegenständen, sondern werden auch die Sprecherpositionen und die thematischen Strategien festgelegt. Die Realität dieses 'Wissens' ist einem organisierten und kollektiven Unbewussten ähnlicher als einem expliziten Wissensbestand. Die Diskursanalyse versucht, die Selbstevidenz von Wissenseinheiten zu dekonstruieren, um diejenige diskursive Praxis zu analysieren, die diese Selbstevidenz ermöglicht (es gibt für den diskursanalytischen Ansatz keine Evidenz, welche nicht Resultat einer diskursiven Praxis wäre). Der nächste Schritt ist dann rekonstruktiv: es werden im Untersuchungsmaterial sukzessive die diskursiven Regeln herausgearbeitet. In der Gesamtschau ergeben Aussagen, Regeln und Regelmäßigkeiten bestimmte "Diskursformationen", die in ihrer je spezifischen historischen Gestalt für die Modi der Kommunikation und intersubjektiven Verständigung zentral sind. Foucault präsentiert seine "Archäologie" als Form einer "allgemeinen Geschichte", die das historische Material nicht auf eine hermeneutische Tiefendimension bezieht, von der aus es seinen Sinn empfängt. Er versucht es in seiner "Positivität" zu "beschreiben". Er siedelte sein theoretisches Projekt zwischen einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und einer Ideengeschichte an. Er grenzte sich von traditioneller Geschichtsschreibung ab, die zwischen materiellen Praktiken und immateriellen Ideen trennt. Foucault wollte kollektive Einstellungen und Verhaltensweisen sowie ihre Veränderungsbedingungen freilegen. Die relevante Ebene hierfür ist das Wissen einer Gesellschaft, das den Hintergrund für alle "materielle Praktiken" wie für "ideologische Formen" abgibt und beide Pole berücksichtigt. So setzte er sich von einem subjektzentrierten Begriff von Erkenntnis ab. Wissen verweist nicht einfach auf die Beziehung zwischen Erkenntnis-Subjekt und Real-Objekt. Diese Beziehung ist nicht Voraussetzung, sondern Produkt historischer Prozesse: "In einer Gesellschaft verweisen die Wissensformen (les connaissances), die philosophischen Ideen, die Alltagsmeinungen, aber auch die Institutionen, die kommerziellen und polizeilichen Praktiken, die Sitten etc. auf ein bestimmtes Wissen (savoir), das dieser Gesellschaft eigen ist. Dieses Wissen unterscheidet sich fundamental von den Wissensformen, die man in wissenschaftlichen Büchern, philosophischen Theorien, religiösen Rechtfertigungen findet, da es vielmehr dieses Wissen ist, das zu einem gegebenen Zeitpunkt das Auftauchen einer Theorie, einer -6- Meinung, einer Praktik ermöglicht" (Foucault in einem Gespräch, zit.n. Lemke 1997, 41). Nach Foucault benutzen die Diskurse Aussagen, Wörter und Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen: sie benutzen sie, um Ordnung zu stiften, um Grenzen des Sagbaren zu errichten und um Objekte des Wissens hervorzubringen. Diskurse sind die Praktiken, "die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben" (Foucault 1969, 74; kursiv im Orig.). Beispiel: Produktion des Objekts 'Geisteskrankheit' durch den medizinisch-psychiatrischen Diskurs im 19. Jahrhundert. Durch die Analyse von Diskursen können die Machtwirkungen des Gesagten erschlossen werden. Möglichkeitsbedingungen und die Als "Diskurs" gilt demnach "eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören" (Foucault 1969, 156). So spricht Foucault vom "klinischen Diskurs", vom "ökonomischen Diskurs", vom "Diskurs der Naturgeschichte" oder vom "medizinischpsychiatrischen Diskurs" und vom "Sexualitätsdiskurs". Den Zusammenhang der verschiedenen, in einer Epoche existenten Aussagesysteme nannte Foucault "Archiv". Das Archiv ist somit das, was in einer Epoche gesagt werden konnte, das System der Diskurse (Foucault 1969, 187f). Sowohl mit dem Begriff des Diskurses als auch mit dem des Archivs will Foucault auf die (relative) Autonomie bzw. Eigenständigkeit von Konstellationen von Aussagesystemen hinweisen, d.h.: diese Aussagesysteme sind weder auf die Intentionen einzelner Sprecher (bzw. Schreiber) noch auf die Wirkungen ökonomischer und politischer Verhältnisse zu reduzieren. Das Archiv ist "das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen" (Foucault 1969, 188). "Genealogie der Macht" Ende der 1960er Jahre erkannte Foucault – angeregt vor allem durch die Proteste der Studierenden 1968 –, dass er in seinen archäologischen Schriften die Frage nach der Macht zwar angedeutet, aber nicht ausgearbeitet hatte. Er erweitert und verändert sein Forschungsprogramm: "Man muss die Archäologie der Humanwissenschaften auf die Erforschung der Machtmechanismen gründen, die Körper, Gesten und Verhaltensweisen besetzt haben." (Foucault, zit. n. Lemke 1997, 50) Er wendet sich nun verstärkt der Entstehungsgeschichte der gesellschaftlichen Praktiken zu. Etwa 5 Jahre nach der "Archäologie" verfasste Foucault den Text "Der Wille zum Wissen". Hier wird der Diskursbegriff wesentlich unter dem Blickwinkel des Themas der Macht präzisiert: "Die Diskurse sind taktische Elemente oder Blöcke im Feld der Kraftverhältnisse: es kann innerhalb einer Strategie verschiedene und sogar gegensätzliche Diskurse -7- geben: sie können aber auch zwischen entgegengesetzten Strategien zirkulieren, ohne ihre Form zu ändern." (Foucault 1974, 123). Foucault untersuchte jene historischen Diskursformen, die zur Formung bzw. Transformation des modernen Subjekts geführt haben. Die Genealogie analysiert Macht-Wissens-Verhältnisse in ihrer historischen Gewordenheit. Es geht um die "Verknüpfung der Diskurstatsachen mit den Machtverhältnissen" (Foucault). Die 'Genealogie' untersucht die Beziehungen zwischen Macht, Wissen und Körper in der modernen Gesellschaft. Dazu analysiert sie die strategischen Kämpfe um MachtWissenspositionen auf dem Feld des Wissens wie des Sozialen. Die "Genealogie" sollte die diskontinuierliche Abfolge diskursiver Praktiken erklären. In der "Genealogie" stellt Foucault der (archäologischen) Analyse von Diskursen, ihrer immanenten Regelhaftigkeit und Positivität eine Untersuchungsmethode an die Seite, die explizit nach den äußeren Bedingungen, Beschränkungen und Institutionalisierungen von Diskursen fragt. Der Bezugspunkt der Genealogie ist "nicht mehr das große Modell der Sprache und der Zeichen, sondern das des Krieges und der Schlacht. Die Geschichtlichkeit, die uns mitreißt und uns deteminiert, ist eine kriegerische; sie gehört nicht in die Ordnung der Sprache" (Foucault 1977). – Diese Konzeption wird Foucault ab Mitte der 1970er Jahre in seinen Vorlesungen zur "Gouvernementalität" dann noch einmal differenzieren und verändern. Die Genealogie ist die – zur Archäologie – komplementäre (und parallele) Suche nach dem Machtpotential (Wer kann sprechen?, Wer darf sprechen?, Wie entstehen neue Machtverhältnisse im Diskursraum?). Damit erweitert sich die Untersuchung auf die dazugehörigen Machtpraktiken, in deren Strukturen der den jeweiligen Diskursen zugrundeliegende "Wille zur Macht" und "zur Wahrheit" zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht analysiert Foucault Diskurse als Machteffekte. Diskursive Regelmäßigkeiten entstehen aus historisch sich verändernden Machtkonstellationen und Machtspielen. Foucault versteht hier seine Analyse auch als kritische Erweiterung der Marxschen Analyse: "Wenn die ökonomische Ausbeutung die Arbeitskraft vom Produkt trennt, so können wir sagen, dass der Disziplinarzwang eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander verkettet." (Foucault: Die Geburt des Gefängnisses) Wichtige Schriften der Phase der "Genealogie": "Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses" (1975) und "Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen" (1976). Foucault möchte die bestehende Ordnung analysieren und die Mechanismen ihres Funktionierens sichtbar machen, ihr die "Maske der Evidenz" (Eribon 1991, 314) abreißen, hinter der sie sich verbirgt. Diskursanalyse beschreibt und problematisiert die Ordnung der Dinge in ihrer Historizität. Sie beraubt sie damit ihrer naturalisierenden Wirkungen und universellen Wahrheitseffekte (Veyne 2003). Zwei "Leitbegriffe" sind es also, die Foucaults Diskurstheorie konzeptuell fundieren: "Archäologie des Wissens" und "Genealogie der Macht". Beide "Verfahren" schließen sich zur Simultaneität einer diskursiven Praxis zusammen, in der Wissen und Macht "unauflöslich" verschränkt erscheinen. -8- Diskurse verbinden institutionelle Machtpraktiken und Wissensformen. • Der Begriff der "Machtpraktiken" bildet das Geschichtsschreibung ("Genealogie") (Bublitz 2001), • während der "Diskurs" den Grundbegriff der "Archäologie" ausmacht. Grundkonzept von Foucaults Im Fall von Sexualität wird der Diskurs aus unterschiedlichen Motiven und Haltungen heraus aufgeladen und fungiert als Dispositiv, als Vorrichtung oder Brennpunkt, an dem weit über das Thema Sex hinaus Macht ausgehandelt wird. Das Konzept des Diskurses erhält also eine Ausweitung. "Das Dispositiv ist also immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben, immer aber auch an eine Begrenzung oder besser gesagt: an Grenzen des Wissens gebunden, die daraus hervorgehen, es gleichwohl aber auch bedingen. Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden." (Foucault 1978, 123) Machttheorie Die zentralen Begriffe Foucaults (Diskurs, Macht, Disziplin, Wissen, Wahrheit, Gouvernementalität) sind zwar nicht immer präzise, dadurch erschließen sie aber relativ offene Forschungsfelder. Unter dem Blickwinkel von Diskursen können Ideen- und Theoriegeschichte und gesellschaftliche Entwicklungen gleichzeitig in den Blick genommen werden, wobei die Frage der Macht im Vordergrund steht. Diskurse benennen nicht nur, sondern produzieren auch: sie sind produktiv und repressiv gleichzeitig. Foucaults machttheoretischer Ansatz geht vom produktiven Charakter von Machtprozessen, die nicht von einem einheitlichen Zentrum ausgehen, aus. Damit konnte er die Grenzen ideologiekritischer, ökonomistischer und staatszentrierter Erklärungsversuche verdeutlichen. Mit dieser machttheoretischen Wende konnten nun auch Phänomene wie Sexualität, Familie, Schule, Medizin u.a.m. als politische Phänomene behandelt werden (Fraser 1981, 42ff.). – Foucault hat insbesondere die Vorstellung von der Relationalität der Macht(beziehungen) vom griechisch-französischen Politologen Nicos Poulantzas übernommen (ohne seine Werke jedoch zu erwähnen) (vgl. Poulantzas 1975; Marti 1999; Jessop 2005) Zusammenfassung • Unterschiede zwischen sprachwissenschaftlicher und Foucaultscher Diskurstheorie: für Foucault sind die Intentionen der Subjekte (individuelle oder organisierte SprecherInnen) nicht die zentralen Analyseeinheiten seiner Theorie; in sprachwissenschaftliche Diskursanalysen sind hingegen Intentionen sehr wohl der zentrale ausschlaggebende Grund für Äußerungen. • Komplementaritäten: die Foucaultsche Analyse kann die Voraussetzungen analysieren, sprachwissenschaftliche Diskursanalyse die konkreten mündlichen, schriftlichen, bildlichen Äußerungen -9- • "Archäologie" und "Genealogie" sind wissenschaftshistorische und wissenschaftssoziologische Verfahren, mit denen sich Kulturen einschließlich ihrer favorisierten bzw. diskriminierten Wissensformen beschreiben lassen. • Den Ansätzen der "Archäologie" und der "Genealogie" ist gemeinsam, dass beide sowohl einen intentionalen als auch einen ökonomistischen (und strukturalistischen) Reduktionismus zu überwinden versuchen. Sie unterscheiden sich vor allem darin, dass die "Genealogie" Fragen der Macht explizit thematisiert und ausarbeitet. Appendix Begriffe Diskursbegriff Diskurs Diskurstheorie Diskursanalyse Diskursethik Deliberative Demokratietheorie Sprachwissenschaftliche Diskursanalyse Reduktionismus Strukturalismus Poststrukturalismus Struktur Archäologie (des Wissens) Genealogie (der Macht) Macht Diskursgeschichte Archiv - 10 - Literatur In den Vorlesungseinheiten 8 (14. Dezmeber 2006) und 9 (11. Jänner 2007) erwähnte bzw. verwendete Literatur in der Reihenfolge der Nennung: • Norman Fairclough (1992): Language and Power. • Norman Fairclough (2000): New Labour, New Language? London • Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow (1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermenutik. Beltz. • Brigitte Kerchner/ Silke Schneider (Hg.) (2006): Foucault: Diskursanalyse der Politik. Eine Einführung. Wiesbaden. • Rainer Diaz-Bone (2006): Die interpretative Analytik als methodologische Position. In: B. Kerchner/ S. Schneider (Hg.), 68-84. • Rainer Diaz-Bone (2002): Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der bourdieuschen Distinktionstheorie. Opladen. • Siegfried Jäger (1999): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 2. Aufl., Duisburg • Reiner Keller et al. (Hg.) (2001a und b): Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse. 2 Bände. Opladen. • Thomas Lemke (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin-Hamburg • Nancy Fraser (1994): Foucault über die moderne Macht: Empirische Einsichten und normative Unklarheiten. In: dies., Widerspenstige Praktiken, Frankfurt/M., 31-55 • Nicos Poulantzas (1975): Politische Macht und gesellschaftliche Klassen. • Urs Marti (1999): Foucault. Eine Einführung. • Bob Jessop (2005): Macht und Strategie bei Poulantzas und Foucault. Hamburg • Michel Foucault (2001/1969): Was ist ein Autor? In: ders. (2001), Schriften in vier Bänden. Band 1. Frankfurt/Main. 1003-1041 • Michel Foucault (1969): Archäologie des Wissens. Frankfurt/M., 5. Aufl. 1992 • Ulrich Brieler (1998): Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker. Köln • Michel Foucault (1974): Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M., 9. Aufl. 1997 • Hannelore Bublitz (2001): Archäologie und Genealogie. In: Marcus S. Kleiner (Hg.), Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt/M., 27-39 • Michel Foucault (1978): Dispositive der Macht, Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin • Didier Eribon (1991): Michel Foucault – eine Biographie. Frankfurt/M., 2. Aufl. 1993 • Paul Veyne (2003): Michel Foucaults Denken. In: Axel Honneth, Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt/M., 27-51 - 11 -