Eine geistliche Sicht der Welt: „Die russische Idee" „An Russland kann man nur glauben" heißt es in einem berühmten Vierzeiler von Fëdor Tjutčev, ein Dichterwort, das zum festen Bestandteil der Mutmaßungen über die „.russische Seele" geworden ist. Die ostslavische Wesensart verdient mehr als nur irrationale Bewunderung im milden Glanz der Aura vom „Heiligen Russland". Es empfiehlt sich der nüchterne Zugang zum Verständnis einer Kultur- und Geisteswelt, die durch die Analyse nicht an Faszination verliert. Einen Begleiter für dieses intellektuelle und geistliche Abenteuer finden wir in Tomášs Špidlík, der geradezu eine Enzyklopädie des russischen Geistes vorgelegt hat. Vom einschüchternden Umfang sollte sich kein Leser abschrecken lassen. Die Summe einer lebenslangen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Ostkirchen und der dazugehörigen Empathie wurde in ein Kompendium von über 500 reinen Textseiten und gleich 1800 Fußnoten eingebracht. Dennoch bleibt dieses staunenswerte Opus des im 9. Lebensjahrzehnt stehenden Jesuiten angenehm lesbar. Ein Literaturfreund oder sogar ein Politiker auf der Suche nach dem Verständnis Russlands, der philosophisch oder theologisch Interessierte. der die ost-westliche Spaltung zu ergründen sucht, sie finden hier eine zuverlässige und mitreißende Zusammenfassung des literarischen Niederschlags fast bis in unsere Zeit. Die Übersetzung des französischen Originals von 1994 ist bemerkenswert gut, den Redakteuren sind nur wenige Sinn- und Tippfehler entgangen. Mit Berufung auf Vladimir Solov 'ëv bestimmt Špidlík sein Thema- „die russische Idee ist das, was Gott von Ewigkeit her durch diese Nation der ganzen Menschheit als ihren eigenen Anteil an Wahrheit und Fleischwerdung schenken will." Diese Russische Idee hat bereits Nikduj Berdjaev, Vjačeslav Ivanov und dem genannten Solov 'ëv als Buchtitel ihrer religionsphilosophischen Selbstverständigung gedient: Die Konfrontation des seit 988 byzantinisch geprägten Russland mit westlicher Aufklärung und idealistischer Philosophie. Lernbegierig kamen ungezählte Russen zum Studium in den Westen, nicht zuletzt nach Deutschland, machten hier berauschende Erfahrungen und erlitten gleichzeitig die Fremdheit. So gerät die Formulierung russischer Identität im 18. und vor allem im 19. und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert nicht selten polemisch als nachdrückliche Absetzung vom „Westen", Von heute aus gesehen stimmt diese Ausgangslage für eine ost-westliche Begegnung nur noch bedingt. Im Banne Kants und Hegels steht die westliche Kultur gewiss nicht mehr – das ist die eine Seite. Ebenso wenig ist zu unterschlagen, dass die Wucht des russischen Geisteslebens, namentlich die Literatur des 19. Jahrhunderts und ganz besonders Dostoevskij bei uns nachhaltige Spuren hinterlassen haben, gerade bei theologischen Denkern. Es ist eine russische Besonderheit, dass die großen Religionsphilosophen nur selten Priester waren, und eine weitere, dass auch Dichter gleichrangig neben den Denkern stehen, was bei uns gerade noch für Goethe gilt. Mag sich die geistig-philosophische Konfrontation von Ost und West nicht mehr in der Schärfe vergangener Jahrhunderte darstellen, wirkt doch der mächtige Nachhall der russischen Klassiker auch bei heutigen Lesern. Und es bleiben, wenn auch auf subtilen Ebenen, Grundunterschiede in vielen Facetten - um diese geht es in dem verdienstvollen Buch. Was also ist anders in der Sicht des Russen auf den Menschen, seine Welt und auf Gott? Deuten wir eine Antwort mit zwei Zitaten an. Zunächst Nikolaj Berdjaev: „Ich leide, also bin ich, dies ist die richtige Interpretation der Descartes' sehen Formel." Unser Autor Špidlík selbst: .„Die objektive Welt ist schrecklich'', hat bereits Belinskij ausgerufen; aber eigentlich erst bei Florenskij wird die Unterscheidung zwischen der .Philosophie der Sache' und der .Philosophie der Person' fundamental herausgearbeitet. Diese Sicht begründet die Hauptdifferenz zwischen dem Westen und Rußland." Kein Hauch von philorussischer Romantik - Jesuitische Nüchternheit und in Jahrzehnten erworbene Sachkenntnis prägen das Buch; die erkennbare Sympathie gerät nicht in Konflikt mit der Freiheit, übertriebene Kritik am Westen zurückzuweisen. Natürlich ist es unmöglich, die Fülle des Materials, das hier organisch geordnet ist - in Kenntnis der Originalsprachen und gestützt auf riesige Bibliotheksbestände römischer Einrichtungen (wo der Autor als Professor wirkte) -, in wenigen Zeilen zu resümieren. Nennen wir wenigstens einige Themen, die im Westen Interessenten finden: Wer nach Person und Freiheit, Theosis, apophatischer Theologie, Armut, geistlicher Vaterschaft, Kirche und Kultur, Staat und Kirche, Liturgie und Mystik, Ordensleben, Familie, Leiblichkeit und Sexualität... fragt, findet die relevanten Autoren in der Vielfalt ihrer Aussagen. Mit einigen starken Sätzen wollen wir der Nacherzählung des Inhaltsverzeichnisses entgehen. Ganz existenziell wie zumeist heißt es bei Dostoevskij: „wenn mir jemand bewiesen hätte, daß Christus außerhalb der Wahrheit ist, und wenn diese Wahrheit außerhalb von Christus wäre, so hätte ich es ohne Zögern vorgezogen, eher bei Christus zu bleiben als bei der Wahrheit." Auch für Pavel Florenskij ist in der Religion „die Wahrheit eine Person, sich in der Geschichte zeigt, - und nicht ein abstraktes Prinzip; mit anderen Worten: die Wahrheit ist nicht sachlich, sondern personal." ßoris Vyšeslavcev bringt unsere Fragestellung so auf den Punkt: „Unsere Begegnung mit den westlichen Philosophen hat sofort den Unterschied in der Haltung der Seele und des Geistes an den Tag gebracht... Bei ihnen entfaltet sich die Philosophie intellektuell, durch Reflexion und Beobachtung der Fakten, bei uns eher durch Gefühl und Intuition." Die ästhetische Dimension von Liturgie und Ikonenmalerei unterstreicht Pa\'el Evdokimov: „Sakrale Kunst ist ein morphologischer Beweis der Wahrheit." Von Dostoevskij gehört in diesen Zusammenhang der bekannte Satz: „Die Schönheit wird die Welt erlösen.“ Ein schlichtes russisches Sprichwort von religionsphilosophischer Relevanz bringt die Bedeutung der menschlichen Gemeinschaft zum Ausdruck: „Nicht der Bauer allein, sondern das ganze Dorf kommt in den Himmel." Bei Berdjaev klingt ein verwandter Gedanke so: „Wenn man den Sozialismus nicht in seiner doktrinären Bedeutung auffaßt, kann man sagen, daß der Sozialismus tief in der russischen Natur wurzelt." Die noch heute, wenn auch unter gänzlich veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten, reklamierte Einheit von Volk und orthodoxer Religion fasste Vasilj Rozanov so zusammen: „Wer das russische Volk liebt, kann nicht umhin, die Kirche zu lieben. Denn das Volk und dessen Kirche sind eins. Nur bei den Russen bilden diese zwei Elemente ein einziges. Einen besonders schönen Satz hat die altrussische Frömmigkeit geprägt: „das Erbarmen Gottes können wir überall finden." Die kosmischen Dimensionen unserer Heilshoffnung spricht unter anderen Berdjaev aus: „Mein Heil und meine Verwandlung sind nicht nur an jene anderer Menschen gebunden, sondern auch an die der Tiere, der Pflanzen und der Mineralien, an ihre Eingliederung in das Gottesreich, das von meinen schöpferischen Anstrengungen abhängt." Dostoevskij wird gerne eschatologisch, dabei immer sehr anschaulich: „Weil Gotl existiert, bin ich unsterblich, meine Unsterblichkeit ist notwendig einzig aus dem Grund, weil Gott die Flamme der Liebe nicht für immer löschen wollte, die sich in meinem Herzen zu Ihm entzündet hat." Die Ostkirche kennt für den Osterglauben die schönen Bezeichnungen von der „Freude ohne Abend" und der „Fülle des achten Tages, der ohne Ende sein wird." Ein plastisches Beispiel aus dem Bereich der Spiritualität stammt vom Einsiedler Feofan [er wird auch „der Rekluse" oder „Klausner" genannt], eine Anweisung zum Herzensgebet: „Konzentriert eure Aufmerksamkeit auf euer Herz und meditiert nicht euer 'Ich'. sondern den Herrn und tut es mit frommem und reumütigem Geist, das ist alles." Und zu der am allerwenigsten in einer Rezension auszulotenden Problematik der Sophiologie zitieren wir noch einmal Pavel Florenskij: „die sophia ist das Gedächtnis Gottes, in dessen sakralen Tiefen alles ist, was ist, und außerhalb dessen es nur Tod und Wahnsinn gibt". Einer der wenigen jüngeren Gewährsleute unseres Autors ist der im Pariser Exil verstorbene Filmregisseur Tarkovskij. Špidlík schreibt: „Slavophile Russen, wie etwa Andrej Tarkovskij beklagen stets an der westlichen Kultur, ihr sei die geistliche Sicht der Well abhanden gekommen." Man mag sich solche Kritik zu Herzen nehmen, darf aber hinzufügen: Ausgerechnet Tarkovskij ließ sich an sein Sterbebett Evangelienkommentare bringen, nämlich die von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie. Auch darüber lässt sich lange grübeln. Die ausführliche, bereits thematisch bearbeitete Bibliographie von 62 Seiten erfasst noch keineswegs alles, was inzwischen von der zitierten Literatur auch in deutscher Sprache zugänglich ist. Hier sei nur auf Sergej Bulgakovs „Die Orthodoxie", auf „Betrachtungen über die Göttliche Liturgie" von Nikolaj Gogol', auf die Neuherausgabe der „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers" und ganz besonders auf die fortschreitende Übersetzung der Werke von Pavel Florenskij hingewiesen. Dass narodniki im Deutschen mit „Populisten" wiedergegeben wird, überrascht den Leser, der an „Volkstümler" gewohnt ist, ebenso die Anrede „kleiner Vater" für batjuška, wofür sich „Väterchen" eingebürgert hat - es sind wohl Einflüsse aus der französischen Sprachform. Hoffentlich findet Špidlík Nachfolger, die seine Linie aufnehmen und in die Gegenwart des russischen Geisteslebens weiterführen. " Tomás Špidlík: Die russische Idee. Eine andere Sicht des Menschen. Aus dem Französischen übertragen von Petronilla und Richard Cemiis. Würzburg 2002, Der Christliche Osten. 623 S., € 38,CHF 66,- 06.08. 2002 Gerhard Adler