Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen KOMPOSITIONEN FÜR NOSTALGISCHE MUSIKMASCHINEN. DAS CEMBALO IN DER MUSIK DES 20. JAHRHUNDERTS MARTIN ELSTE Was ist das Cembalo? Ist es ein universales Tasteninstrument, ein intimes Zupf- oder ein unbarmherziges Schlaginstrument? Ist es ein unvollkommener Vorläufer des Hammerklaviers oder die perfekte Mechanisierung der Laute? Wenn auch aus instrumentenkundlicher Sicht nicht mehr und nicht weniger als ein Klavier mit Zupfmechanik – die vielfältigen Aspekte des Cembalos so spezifischer Klanglichkeit, die über den instrumentalen Charakter der Zupfmechanik hinausreicht, haben Komponisten im 20. Jahrhundert hervorgehoben. Das Cembalo schafft per se eine Distanz zur Gegenwart des Komponisten, eine Distanz, die nur in seltenen Fällen rezeptionsästhetisch vernachlässigt werden kann. Denn anders als die Instrumente des Sinfonieorchesters, anders als die jahrhundertealte Violine beispielsweise, assoziiert es unter einem historistischen Konzept Altertümlichkeit und damit auch Nostalgie. Das liegt nicht so sehr daran, daß es in seiner Geschichte einen Einbruch, knapp achtzig Jahre lang Stille, im 19. Jahrhundert erlebt hat, sondern vielmehr daran, daß seine beschränkten Möglichkeiten der Klangdifferenzierung der im 19. Jahrhundert sich zuspitzenden Entwicklung der musikalischen Fortschrittskategorien so diametral entgegenstehen. Dadurch war der Rückgriff auf weniger als das musikalisch Machbare immer mit einem ästhetischen Bruch verknüpft. Wenn ein Komponist für ein bestimmtes Instrument schreibt, dann sind mit der Spezifizierung nicht nur die akustischen und gestaltungstechnischen Rahmenformate vorgegeben. Das Instrumentarium trägt immer eine musiksoziale und -historische Konnotation in sich, die die Geschichte der Weltmusiken nicht ungeschehen machen kann. Da gibt es Unterschiede zwischen jenen Instrumenten, die aus einer bestimmten Tradition heraus erklingen, und solchen, deren Gebrauch mit der Tradition bricht, weil sie aus einem historistischen Bewußtsein heraus verwendet werden. Das Cembalo zählt per se zu den letzteren. Nach einer etwa zweihundertjährigen Blüte wurde es im frühen 19. Jahrhundert lediglich noch als Direktionsinstrument für die Opernpraxis ein Martin Elste gesetzt, denn seine so ungemein einfache, nur mit Tastenhebel, Springer, Zunge und Kiel operierende Klangerzeugung erfüllte nicht mehr den so nachdrücklich und universell gesteigerten romantischen Wunsch nach Tondifferenzierung1. Aber die Zeit der Negierung des Cembaloklangs war kurz bemessen. Der sich im 19. Jahrhundert mehr und mehr ausbreitende Historismus sorgte dafür, daß das Instrument zunächst als Vehikel für Altertümliches, für nicht viel mehr als ein musikalisches Kuriosum herhalten mußte. Historische Konzerte waren damals, kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert, Konzerte, bei denen die Musiker vorzugsweise in historischer Tracht auftraten und auf solchen Instrumenten spielten, für die die Zeitgenossen nicht mehr komponierten: Drehleier, Viola da gamba und Cembalo. Daß von diesen drei Instrumenten das Cembalo die bedeutendste Renaissance, sowohl hinsichtlich der Aufführungspraxis Alter Musik als auch hinsichtlich seiner Neukompositionen, erlebt hat, dafür gibt es mindestens zwei Gründe: Zum einen wurde das Cembalo dem Anspruch eines universalen Tasteninstruments gerecht, wenn man den beschränkten Tonumfang von maximal 61 Tonstufen gegenüber den 88 Tönen des modernen Hammerklaviers in Kauf nimmt. Zum anderen offenbart das Cembalo wie kein zweites Instrument die ästhetische Ambivalenz zwischen exotischer Nostalgie und fortschrittlicher Faszination an der Maschine. Der gezupfte Ton an sich ist im Kontext der symphonischen und kammermusikalischen Kultur des 19. Jahrhunderts ein Fremdkörper. Gezupfte Klänge vermittelten Ursprünglichkeit, Einfachheit, und damit gleichzeitig die Flucht in die Vergangenheit. Doch diese nostalgische Komponente des Cembaloklanges ist nur eine Seite. Die andere ist die eines Historismus unter dem Fortschrittsaxiom des mechanischen Zeitalters. Theoretischer Exkurs Bereits an dieser Stelle sollen Begriffe geklärt werden, von denen in meinem Text die Rede sein wird und die ich nicht nur als assoziative Formeln zur Charakterisierung und stilistischen Einordnung verwenden möchte: die Substantive Nostalgie, Historismus und Historizismus, die Adjektive historisch, historistisch und historisierend. Der Begriff der Nostalgie stammt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und bezeichnete ursprünglich den pathologischen Zustand von Heim- 1 Daß die Klangerzeugung beim Cembalo wesentlich einfacher ist als beim Hammerklavier, versteht sich von selbst. Das gilt auch für das Cembalo im Vergleich zu Blas- und Streichinstrumenten; bei jenen ist lediglich die Operationalisierungsebene der Klangerzeugung in die Organik des menschlichen Körpers verlagert. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen weh. Nostalgie als Lebensgefühl kam in der Romantik auf und bezieht sich seither auf die subjektive Haltung, „sich in andere Zeiten zurückzuwünschen und dies dadurch auszudrücken, daß man Accessoires der Vergangenheit wieder schätzen und lieben lernt, mit einem Gefühl unbestimmter Sehnsucht nach ›früher‹“, wobei Geschichte „von den Bedürfnissen der Innerlichkeit mißbraucht“ wird, wie Dieter Baacke moralisch wertend definiert2. Nostalgie war als pathologische Beschreibung eines Geisteszustands immer mit einer melancholischen Resignation, bestenfalls einem melancholischen Schwärmen verbunden. Man braucht trotzdem Nostalgie nicht als „Symptom für eine gewisse intellektuelle, künstlerische und seelische Unreife“3 zu deuten, doch treffen bei ihr immer die Komponenten einer intellektuellen Auseinandersetzung, eines künstlerischen Ausdrucks und einer seelischen Haltung zusammen. Insofern läßt sich die Nostalgie nicht vom Historismus trennen. Der Historismus ist – ganz neutral auf den musikalischen Bereich bezogen – ein „Sammelname für retrospektive Tendenzen in der musikalischen Praxis des 19. und 20. Jahrhunderts“4. Carl Dahlhaus hat in seinem Aufsatz Was ist musikalischer Historismus?5 darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Tradition und Historismus (im Verständnis von Restauration) in dem unterschiedlichen Verhältnis zur Kontinuität besteht. In dem gleichen Sinne sind für Erich Doflein „Werke oder Stile historistisch, bei denen Vergangenes zu neuer Gegenwärtigkeit berufen wird. Die Vergangenheit aber, die mit solchen Werken oder Stilen hervortritt, muß eine Vergangenheit besonderer Art sein: Sie darf keine Tradition repräsentieren, sie wird aber dennoch Vorbild oder Anreger“6. Insofern ist das Cembalo – für den Wissenden zumindest – anders als die Violine und die meisten anderen Instrumente der europäischen 2 D. Baacke, Nostalgie. Zu einem Phänomen ohne Theorie, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden. Neunte, völlig neu bearbeitete Auflage. Bd 17, Mannheim u.a. 1976, S. 449-452, hier S. 449. 3 Ebenda, S. 450. 4 C. Dahlhaus, Historismus, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd 16, Kassel u.a. 1979, Sp. 693-702, hier Sp. 695. 5 C. Dahlhaus, Was ist musikalischer Historismus? In: Zwischen Tradition und Fortschritt. Über das musikalische Geschichtsbewußtsein. Neun Versuche. Hrsg. v. R. Stephan, Mainz 1973, S. 44-52 (= Veröffentlichungen des Instituts für neue Musik und Musikerziehung Darmstadt. Bd 13). Siehe außerdem C. Dahlhaus, Historismus und Tradition, in: Zum 70. Geburtstag von Joseph Müller-Blattau. Im Auftrage des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität des Saarlandes hrsg. v. Chr.-H. Mahling, Kassel u.a. 1966, S. 46-58 (= Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft Bd 1). 6 E. Doflein, Historismus und Historisierung in der Musik, in: Festschrift für Walter Wiora zum 30. Dezember 1966, hrsg. v. L. Finscher u. Chr.-H. Mahling, Kassel u.a. 1967, S. 48-56, hier S. 48 f. Martin Elste Instrumentalmusik, per se ein Instrument des Historismus, der im Einzelfall auch dem pathologischen Zustand der Nostalgie entspringen kann7. Bleiben die Adjektive zu erläutern: „Historisch“ bezeichnet immer ein abgeschlossenes Ereignis. „Historistisch“ bezieht sich auf den Historismus, gleich welcher Ausprägung, und „historisierend“ verweist auf eine spezielle Haltung innerhalb des Historismus, auf ein Programm, darauf nämlich, alte Traditionen zu beleben, um eine Distanz zur Gegenwart zu erzeugen. In diesem Sinne habe ich bisher in meinen Schriften von der „historisierenden Aufführungspraxis“ gesprochen. Wenn ich auf den folgenden Seiten ausgewählte Kompositionen in einen ideengeschichtlichen Zusammenhang bringe, dann werden heterogene Kompositionsgenres berührt, die, oberflächlich betrachtet, wenig gemeinsam haben: Oper, Vokalmusik ebenso wie Kammermusik und Solowerke. Das Jahrhundert Kompositionsgeschichte, um das es hier geht, wird keineswegs umfassend widergespiegelt. Mit der Wahl des Mediums Cembalo beschränke ich mich auf eine genreübergreifende Rezeptionsästhetik, die ästhetische Position des musikalischen Historismus als den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Kompositionen. Die Musik für das Cembalo, und wir werden sehen: für das moderne Cembalo, belegt paradigmatisch die verschiedenen Spielarten des Historismus. In dem Jahrhundert seit 1892, dem mutmaßlichen Jahr der ersten modernen Cembalokomposition, sind knapp fünftausend Kompositionen entstanden, die das Cembalo als Klangmedium einsetzen, darunter allein etwa 1500 Solokompositionen. Angesichts dieser hohen Anzahl scheint die moderne Cembalomusik im Musikleben eine unterrepräsentierte Rolle zu spielen. Immerhin sind ungefähr 700 Schallplattenaufnahmen von rund 600 Kompositionen mit dem Instrument erschienen, viele davon in mehreren Ausgaben, daneben haben die Rundfunkanstalten auch etliche Aufnahmen produziert. Wenigstens diese Kompositionen sind also nicht für den Schreibtisch oder für ein paar Minuten Lebensdauer unter einigen wenigen Zuhörern geschrieben, sondern haben die Chance erhalten – und teilweise auch nutzen können –, eine nachhaltige Wirkung im Musikleben zu haben. 7 Mit dem von Karl R. Popper geprägten und attackierten Begriff des „Historizismus“, jener sozialwissenschaftlichen Vorstellung von analog zu naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten gebildeten historischen Voraussagen, operiere ich hier nicht (siehe K. R. Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965 (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Bd 3). Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen Das Instrument als Vehikel einer verlorenen Identität Wie bei keinem zweiten Instrument ist die Kompositionsgeschichte der modernen Cembalomusik eng mit der Geschichte der Renaissance dieses Instruments verknüpft. Und die Kompositionen reflektieren in geradezu frappanter Weise diese Renaissance, die auf der Pariser Weltausstellung von 1889 paradigmatisch mit drei Instrumenten französischer Klavierbauer einsetzte. Sie führte neben einer verstärkten Wiederbelebung alter Cembalomusik schon bald zu neuen Kompositionen für ein Instrument, das – wie schon ausgeführt – als mechanisierte Laute die Ambivalenz zwischen Nostalgie der Ursprünglichkeit und dem Glauben an einen technischen Fortschritt beispielhaft ausdrückt8. Unter den ausgestellten Cembali von Pleyel, Erard und Tomasini war jenes von Pleyel am wenigsten nach historischem Vorbild konstruiert. Es sollte indessen nicht nur ein halbes Jahrhundert lang die Klangästhetik des Cembalospiels bestimmen, sondern bis in die heutige Zeit hinein, also ein gutes Jahrhundert lang und möglicherweise darüber hinaus Ausgangspunkt für die neue Art werden, für das Cembalo zu komponieren. Das beherrschende Funktionsteil dieses Instruments von Pleyel war die Pedal-Lyra. Diese Pedal-Lyra 8 Dieser Aufsatz ist die Fortsetzung einer Studie zur Renaissance des Cembalos, deren erster Teil als Arbeit über die instrumentenkundlichen Aspekte unter dem Titel Nostalgische Musikmaschinen. Cembali im 20. Jahrhundert, in: Kielklaviere. Cembali, Spinette, Virginale.[...], Berlin 1991, S. 239-277, publiziert worden ist. Weite Stellen des vorliegenden Aufsatzes sind ohne Rückgriff auf die Ressourcen des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz entstanden. Neben der im folgenden erwähnten Sekundärliteratur seien auch genannt: Die maschinenschriftliche Staatsexamensarbeit an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Hamburg 1959, von E. Runge, Das Cembalo im 20. Jahrhundert und das zeitgenössische Schaffen für dieses Instrument; der nicht viel mehr als eine fragmentarische Übersicht bietende Aufsatz von J. Lade, Modern composers and the harpsichord, in: The consort. No.19 (July 1962), S. 128-131, sowie K. A. Thorp, The twentieth-century harpsichord. Approaches to composition and performance practice as evidenced by the contemporary repertoire. D.Mus.A. thesis, University of Illionois at Urbana-Champaign 1981 (Mikrofilm). Zeitgenössische amerikanische Kompositionen werden auch gelegentlich bei L. Palmer, Harpsichord in America. A twentieth-century revival, Bloomington, Indianapolis 1989, im Zusammenhang mit den Cembalist(inn)en, insbesondere Sylvia Marlowe, behandelt. Eine unkommentierte Bibliographie der Kompositionen für das Cembalo und mit Cembalo-Mitwirkung ist F. Bedford & R. Conant, Twentieth-century harpsichord music: A classified catalog, Hackensack, NJ 1974 (= Music indexes and bibliographies. No.8.). In: M. Elste, Cembalo modern. Das Cembalo im 20. Jahrhundert, in: Fono Forum, 1992, H. 11, S. 28-32, behandele ich an Hand im Handel erhältlicher Schallplattenproduktionen das Thema in musikkritischer Weise. Für diese Studie konnte nicht mehr eingesehen werden: F. Bedford, Harpsichord & clavichord music of the twentieth century, Berkeley, CA 1993. Martin Elste war nur äußerlich dem Hammerflügel entliehen. Mit ihrer Hilfe bot sich dem Spieler von Beginn der Cembalorenaissance an ein großer Gestaltungsfreiraum des Registrierens. Von ihrer Funktionsweise her war sie die Weiterentwicklung des Machine Stop der englischen Cembali des späten 18. Jahrhunderts. Bereits die ersten modernen Kompositionen für das neue Alte Instrument betonen den Aspekt der Klangnostalgie auf plakative Weise, ohne dabei den Möglichkeiten und Grenzen des Cembalos gerecht zu werden. Es ist Musik eines ästhetischen Bruchs. Louis Diémer (1843-1919), der französische Pianovirtuose und Begründer der französischen Clavecin-Renaissance, erhielt 1892 von dem Salonkomponisten Francis Thomé (1850-1909) ein ihm gewidmetes dreieinhalbminütiges Rigodon op. 97, das als die erste moderne Cembalokomposition9 gelten darf. Sein Komponist hatte freilich nur wenig Vorstellung von einem cembalospezifischen Klangstil. Das gilt auch für die frühen Cembalokompositionen von Jules Massenet, Ferruccio Busoni, Frederick Delius und Richard Strauss, über die noch zu sprechen sein wird. Thomés Komposition versucht Rokoko-Tändelei zu imitieren, ohne sich an den standardisierten historischen Rigaudon-Rhythmus zu halten. Das Cembalo in der modernen Oper Bezeichnenderweise haben sich Komponisten frühzeitig des Cembalos zur klanglichen Kolorierung einer historischen außermusikalischen Handlung im Rahmen musiktheatralischer Historisierung bedient. So Jules Massenet (18421912), der im ersten Akt seines 1792 spielenden Drame-musical Thérèse, 1905/06 komponiert und 1907 uraufgeführt, das Cembalo in einem wenig mehr als einminütigen „Menuet lent mélancolique“ als ein Instrument der vorrevolutionären Erinnerung, Illusion und Etikette einsetzt und den formalistischen Stil der französischen Clavecinisten als musikalische Reminiszenz an das Ancien régime imitiert10; so Ferruccio Busoni (1866-1924), der in die 9 Paris, Bruxelles: Henry Lemoine & Cie, o.J., Plattennummer: 9598.H.P.690.; die Komposition trägt den Untertitel „Pièce de clavecin“. Vergleiche auch L. Palmer, Revival relicts: The first compositions of the harpsichord revival and the first twentieth-century harpsichord method, in: Early keyboard journal 5, 1986/87, S. 45-52, für weitere Angaben. Igor Kipnis sei an dieser Stelle für eine Kopie der vergriffenen Notenausgabe sowie seiner Schallplatte gedankt. 10 S. 147-152, Ziffer 66, sowie S. 158-160, Ziffer 70 der Partitur von Heugel & Cie 1906 (Plattennummer H.& Cie 23,025): Szene mit Armand de Clerval und Thérèse „Oublier! T’oublier! Veux-tu que j’oublie“. Bei diesem Menuet lent mélancolique (Andante moderato con malinconia), wenn Armand sich der Stunden mit Thérèse erinnert („Verges- Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen Bühnenhandlung seiner Oper Die Brautwahl ausdrücklich das Cembalo integriert, nachdem er 1910 auf einer Amerika-Tour in Boston Arnold Dolmetsch (1858-1940), den schillernden Exponenten des instrumentalen Historismus engerer Prägung, kennenlernt und mit ihm seine Cembalokonstruktionen für die amerikanische Klavierbaufirma Chickering. „Er sieht aus wie ein kleiner Faun, mit einem hübschen Kopf und lebt in der Vergangenheit; und in der Vergangenheit nur im Instrumentenbau. Er baut Claviere, Clavecins und Clavichorde“, schreibt Busoni am 12. April 1910 an seine Frau11. Busoni ist fasziniert und sieht in der im Berliner Biedermeier spielenden Handlung seiner im Particell bereits abgeschlossenen „Musicalisch-fantastischen Komödie“ für das auf der Bühne vorgesehene Tafelklavier, auf dem sich Albertine, die weibliche Hauptrolle, beim Gesang begleiten sollte, als neue Alternative ein Cembalo vor12. Einen historischen Bezug schafft auch das Cembalo in der musikalischen Komödie Mozart (1925) von Reynaldo Hahn (1875-1947). In den Werken dieser Komponisten liefert das Cembalo nicht viel mehr als ein vermeintliches Kolorit einer vergangenen Epoche der Beschaulichkeit, ganz so, wie man etwas später das Wort Spinett verstand. Auch Richard Strauss (1864-1949) entspricht mit seiner 1923 für eine Ballett-Soirée im Redoutensaal der Wiener Hofburg orchestrierten Tanzsuite aus Klavierstücken sen! Dich vergessen... Ich soll der Stunden vergessen, wo meinem Herzen sich deines erschloß? Weißt du noch? Die schattigen Bäume von Versailles [...] hüten treu unser Glück. Weißt du noch... Dem Flüchtigen gab ein schönes junges Mädchen seine Hand auf dem Ball in lauer Sommernacht, tanzte das Menuett mit ihm, die traute Weise, am königlichen Hof das Liebesmenuett in lauer Sommernacht.“), soll das Cembalo („Clavecin au loin à défaut une harpe“) zusammen mit einem Quartett aus Violine, Bratsche, Violoncello und Kontrabaß hinter den Kulissen erklingen. Auf diese Weise erzeugt Massenent zusätzlich mittels der speziellen Plazierung dieser fernen, alten Cembaloklänge eine musikalische Reminiszenz. Leider ist in der Schallplattenaufnahme der Oper unter Gerd Albrecht (Atlantis: ATL 95101) der Cembalopart durch die Harfe ersetzt, die weit weniger die hier mit dem Ancien régime verknüpfte Klangsymbolik des Cembalos vermittelt. Die 1974 veröffentlichte Erstaufnahme der Oper unter Richard Bonynge (Decca: SET 572) sowie die Neuaufnahme unter Lucas Vis (Canal Grande: CG 9220) enthalten dagegen das Menuett in seiner Originalfassung mit Cembalo. 11 F. Busoni, Briefe an seine Frau, hrsg. v. F. Schnapp, Erlenbach-Zürich, Leipzig 1935, S. 208. 12 Vergleiche A. Beaumont, Busoni the composer, London, Boston 1985, S. 124; im autographen Librettoband, Busoni-Nachlaß o.Nr., Staatsbibliothek zu Berlin, Haus I, sowie in einem im Privatbesitz befindlichen Particell heißt noch die Szenenanweisung „Albertine, an einem Tafelclavier, begleitet sich“. In der autographen Partitur, die Busoni für diesen Teil der Oper (2. Akt, 2. Teil) am 31. Juli 1911 angefangen hatte, änderte er seine ursprüngliche Szenenanweisung um in „Albertine, an einem Clavecin (oder Tafelclavier) begleitet sich“. Martin Elste von François Couperin (o.Op. AV.107) genau dieser ästhetischen Haltung. In dieser Suite gibt das Cembalo historisierende Farbtupfer zu den Klängen des dreißigköpfigen Kammerorchesters. Daß bei dem von Strauss verlangten Ambitus bis zum g3 der historische Tonumfang des Cembalos überschritten wird, spielt angesichts der ohnehin nachschöpferischen Orchestrierung keine Rolle. Auch in seinem „Konversationsstück für Musik“ Capriccio op. 85 von 1940/ 41 gehört ein Cembalo zum (Bühnen-)Instrumentarium13 und begleitet Olivier wie auch Flamand in ihrem Sonett „Kein and’res, das mir so im Herzen loht“14 in einer akkordischen Satzweise. Selbst in dieser späten Partitur, zu deren Entstehungszeit das Cembalo bereits ein halbes Jahrhundert lang wieder in Gebrauch gewesen war, verlangt Strauss in der Cembalostimme mehrfach Crescendi und Dim[inuendi]. In seinem auf Capriccio folgenden Divertimento für kleines Orchester nach Klavierstücken von François Couperin op. 86, farbigen Orchestrierungen, ohne die barocke Harmonik anzutasten, setzt Strauss schließlich ein letztes Mal das Cembalo ein. Moderne Musik waren alle diese Werke von Strauss freilich nicht. Das verhält sich schon anders mit Igor Strawinskys 1948/51 für Venedigs La Fenice geschriebenen Rake’s Progress, in dem Secco-Rezitative und ein Duett mit neoklassizistischer Ironie vom Cembalo begleitet werden. Als historisierende Komponente der Musik innerhalb der musikalischen Folie einer modernen Opernkomposition erscheint das Cembalo auch im dritten Akt der revidierten Fassung (1952) von Paul Hindemiths Cardillac15, und zwar als Teil der zusammen mit Querflöte, Oboe, Fagott, Harfe, Violine, Bratsche, Violoncello und Kontrabaß ansonsten historisch neutral besetzten Bühnenmusik, die in historistischem Stil auf Musiken aus Lullys Oper Phaeton basiert. Hindemith wollte ganz bewußt weder eine Stilkopie schaffen, noch Lullys Musik historisch korrekt in seine eigene Oper einbauen. Das Stilprinzip der Adaption spielt hier eine große Rolle, und das Cembalo liefert zusammen mit der die Harmonik und Melodik des Barock imitierenden Schreibweise das Klangkolorit des Generalbasses, der sogar in einzelnen rezitativischen Passagen historisch getreu ausgesetzt ist. Übrigens ist es sonderbar, daß Hindemith das Cembalo aus seinem sonstigen kompositorischen Schaffen verbannt hat, obwohl er in den 20er Jahren den ästheti- 13 Später hat Strauss für das Cembalo eine Suite aus ‚Capriccio‘ mit Konzertschluß (o.Op.AV 138) zusammengestellt, die er Isolde Ahlgrimm gewidmet hat. Das Werk wurde am 6. 11. 1946 im Mozart-Saal des Konzerthauses, Wien, uraufgeführt. 14 In der 4. Szene (Ziffer 60) begleitet über 16 Takte das Cembalo das vom Dichter Olivier rezitierte Sonett, in der 6. Szene (Ziffer 75-81 einschließlich) begleitet das Cembalo über 110 Takte das gesungene Sonett des Musikers Flamand. 15 Mainz: B. Schott’s Söhne; London: Schott & Co. © 1952 (Klavierauszug: Edition Schott 3219). Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen schen Prämissen der Neuen Sachlichkeit aufgeschlossen gegenüberstand und sich in den 30er Jahren in Berlin mit alten Instrumenten auch spielpraktisch auseinandersetzte und sogar zusammen mit der Cembalistin Alice Ehlers musizierte. In den unter den ästhetischen und politischen Prämissen eines sozialistischen Musiktheaters entstandenen Opern und Bühnenmusiken erfüllt das Cembalo einen ganz anderen musikalischen Zweck. Hier ist es ein Instrument, das aus der Ästhetik der Neuen Sachlichkeit heraus mit dem Mittel der Verfremdung Distanz zur Gefühligkeit der maroden Bürgerlichkeit schaffen soll. Und so ist das Cembalo in Werken wie Hanns Eislers (1898-1962) Leben des Galilei (1947), Fritz Geisslers (geb. 1921) Der zerbrochene Krug (1971) und Kurt Schwaens (geb. 1909) Leonce und Lena (1961) integraler Bestandteil des Orchesterapparats. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Paul Dessaus (1894-1979) Die Verurteilung des Lukullus (1951): Der Komponist verwendet in seinem Werk, das nur ‚harte‘ Instrumente einschließlich einer großen Schlagzeuggruppe verlangt (also auf Violinen, Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner verzichtet), zwar kein Cembalo, doch die zwei Klaviere sollen einem „robusteren Cembaloklang“ entsprechend präpariert werden16 – wohl eine aus der Situation der Zeit heraus zu verstehende Behelfsinstruktion. Später sind dergestalt präparierte Hammerklaviere als „Gitarrenklaviere“ bezeichnet worden17, eine etwas unglückliche Bezeichnung, die die emotionale Härte und Fremdartigkeit des Klanges nicht ausdrückt, wohl aber auf eine ‚proletarische‘ Konnotation zielt. Bleibt die Frage, ob es Dessau auf den Cembaloklang an sich oder auf einen robusteren Cembaloklang ankam. Müßte eine ‚authentische‘ Aufführung des Lukullus also statt mit den geforderten Hammerklavieren mit zwei Cembali besetzt sein, wenn man des Komponisten Anweisung als Konzession an die Mangelsituation der Entstehungszeit interpretiert, möglicherweise sogar mit elektroakustischer Verstärkung des Cembaloklanges, wenn man das Adjektiv als wesentliche Komponente von Dessaus Beschreibung betrachtet? Eine Antwort darauf kann man indirekt aus der von Dessau autorisierten Gesamteinspielung unter Herbert Kegel ableiten, in der präparierte Hammerklaviere und keine Cembali gespielt werden18. 16 P. Dessau, Die Verurteilung des Lukullus in 12 Szenen von P. Dessau und B. Brecht, [Klavierauszug] o.O.[Berlin/DDR], o.V.[Henschelverlag Kunst und Gesellschaft], o.J.[1951] gibt unter „Orchesterbesetzung“ an: „[...] 2 Klaviere, deren Hämmer mit Reißnägeln bespickt werden müssen, um einen robusteren Cembaloklang zu erzielen [...]”. 17 So bei F. Hennenberg, Dessau-Brecht. Musikalische Arbeiten, Berlin 1963, S. 363. Nach Hennenberg geht die Präparierung des Hammerklaviers mit Reißzwecken auf einen Einfall Brechts zurück, als er mit Dessau 1946 an der Courage-Musik arbeitete. Seitdem hatte Dessau immer wieder dieses präparierte Klavier verlangt. 18 Berlin Classics: BC 1073-2 (2 CD). Martin Elste Eine Klang-Stellung zwischen Distanziertheit und Skurrilität gilt auch bei einem Werk des Musiktheaters wie der im Konzentrationslager Theresienstadt 1943/44 von Viktor Ullmann (1898-1944) komponierten Legende in vier Bildern Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung op. 49‹B›19. Bei den neueren Werken des Musiktheaters, zum Beispiel bei Wolfgang Rihms zweiter Kammeroper Jakob Lenz20 (1978) bis hin zu Hans Zenders Don Quijote de la Mancha21 (1991) ist das Cembalo jenseits aller nostalgischen Assoziationen, es ist vielmehr ein Bestandteil des nun vorherrschenden Spaltklang-Instrumentariums. Allenfalls im ersten Akt von Karlheinz Stockhausens DIENSTAG aus LICHT kommt dem Cembaloklang eine assoziative Bedeutung zu, wenn der Komponist das Instrument (genauer: den vom Sampler auf einem Synthesizer erzeugten Cembaloklang) zusammen mit Gitarre und Großer Trommel als Ensembleeinheit kontrastierend zu Saxophonen beispielsweise einsetzt. Doch hier soll das Assoziative auf das japanische Instrumentarium verweisen, für das dieser Akt als Der Jahreslauf ursprünglich geschrieben wurde. Eine ganz andere Funktion hat der Cembaloklang in Maurice Ravels Fantaisie lyrique L’Enfant et les Sortiléges22 von 1920/24: Exotik eines ungewohnten Timbres, um die Skurrilität der fantastischen Handlung musikalisch adäquat zu schildern – eine Anwendung, wie wir ihr vierzig Jahre später in der Unterhaltungs- und Filmmusik wieder begegnen werden. Doch in einer Zeit, als nur einige wenige Cembali gebaut und noch weniger im Konzertbetrieb eingesetzt wurden, als mit modernen Alternativkonstruktionen wie dem Cembalochord, Ibachord oder dem Bach-Klavier23 die Instrumentenbauer ihren Ehrgeiz, das historische Cembalo zu vervollkommnen, befriedigen wollten, machte Ravel in seinem fantastischen Märchen von einem Kombinationsinstrument von Hammerflügel und Cembalo, eben dem sogenannten Luthéal Gebrauch, dessen Saiten je nach Bedarf angeschlagen oder gezupft werden. Das dem Belgier Georges Cloetens 1922 patentierte Luthéal hat vier Register, mit denen normaler Hammerklavierklang, Cymbalom-Effekt, Cembaloklang und gedämpfter Flageolett-Klang („Harpe-tiré“) eingestellt werden können24. 19 Die im Autograph benannte Alternative „oder Klavier“ – nach Hans-Günter Klein, Die Kompositionen Viktor Ullmanns. Ein Verzeichnis der erhaltenen Quellen, in: Viktor Ullmann. Materialien, hrsg. v. H.-G. Klein, Hamburg 1992, S. 27 – ist aus den Umständen der in Theresienstadt vorhandenen Ressourcen heraus zu sehen. 20 Wien: Universal Edition (UE 18066). 21 Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1993 (Leihmaterial). 22 Paris: Durand & Cie 1925. 23 Siehe hierzu M. Elste, Nostalgische Musikmaschinen, a. a. O., S. 239-277. 24 In meiner Beschreibung folge ich den nicht ganz eindeutigen Angaben von Theo Olof in dessen Covertext zu der Langspielplatte EMI His Master’s Voice: 1 A 057-26469 Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen In diesem Sinne müssen in Ravels Partitur die eingekreisten Zahlen als Hinweise für die Registerschaltung interpretiert werden25. Der Orgelbauer und Organist Cloetens hatte bereits um 1910 ein sogenanntes Orphéal konstruiert, das als ein Kombinationsinstrument von Hammerflügel, Orgel, Druck- und Saugluftharmonium in der Lage sein sollte, die Klänge der Streich- und Blasinstrumente nachzuahmen26. Daß es Ravel auf den Cembaloklang – so wie er ihn damals kannte – ankam, belegt sein Aufführungshinweis: „A défaut de Luthéal, employer un Piano droit, et mettre une feuille de papier sur les cordes, aux endroits indiqués, pour imiter la sonorité du clavecin“27. So komponierte Ravel für ein Instrument, das hinsichtlich des Klanges auch ein Cembaloersatz ist, aber weder von einem normalen Hammerflügel noch von einem Cembalo adäquat substituiert werden kann, weil Ravel eben auf die wechselnde Tonerzeugung Wert gelegt hat. Das Luthéal ist ein dreiviertel Jahrhundert später seltener als so manche Cembalokonstruktion des 18. Jahrhunderts, eine kongeniale Aufführung, die das spezielle Timbre des Tasteninstruments als kompositorische Kategorie ernst nimmt, ist also so gut wie unmöglich28. Ravel hat es ein zweites Mal als Alternativinstrument zum Klavier verwendet: in seiner Rapsodie de concert Tzigane von 1924, die in drei verschiedenen Fassungen herausgegeben wurde: Violine und Klavier, Violine und Luthéal sowie Violine und Orchester29. Das Cembalo im Jazz und in der Unterhaltungsmusik Versteht man den Jazz als die musikalische Emanzipation des OrganischSinnlichen, ist das Cembalo mit seiner mechanistischen Klangästhetik in der (Ravel, Tzigane u.a.). Ich möchte mich an dieser Stelle für die freundliche Unterstützung von Frits Zwart, Den Haag, bedanken. 25 Zum Beispiel 2 Takte nach Ziffer 7. 26 Nähere Angaben zum Orphéal: W. Maaß, Über den Klavierbau auf der Brüsseler Weltausstellung, in: Zeitschrift für Instrumentenbau 31, 1910/11, Nr. 5 v. 11. 11. 1910, S. 155, sowie 48 (1927/28), Nr. 14 v. 15. 4. 1928, S. 709, wo – ohne daß der Name Luthéal fällt – der Mechanismus dieses Instruments beschrieben wird. 27 Vorwort zur Taschenpartitur, Paris. Durand & Cie 1925 (Pl.Nr.13019). 28 Leider läßt die Schallplattenproduktion des Werkes unter Lorin Maazel (Deutsche Grammophon: 423718-2) Ravels Klangvorstellung unberücksichtigt und verwendet einen normalen Flügel, hingegen scheint Ernest Ansermet in seiner Einspielung (CD-Überspielung auf Decca: 433400-2) wenn auch kein Luthéal, so doch immerhin ein präpariertes Klavier eingesetzt zu haben. 29 Paris: Durand & Cie 1924. Martin Elste Tat eher als skurriler Kontrapunkt der Klangfarbe zu werten. Nichtsdestoweniger ist das Instrument auch gelegentlich im Jazz vertreten. Bereits 1940, lange bevor das Cembalo zum Sound skurriler Unterhaltungsmusik dazugehörte, konnte man Johnny Guarnieri mit Gramercy Five in dem Stück Special Delivery Stomp in einer Schallplattenaufnahme am Cembalo hören30, kurze Zeit später nahm Meade „Lux“ Lewis vier Jazz-Cembalosoli auf31. 1942 spielten Helmut Zacharias und seine Solisten einige Jazzschallplatten für Odeon ein, bei denen Ernesto Romanoni am Cembalo saß32. Der Jazz-Pianist Erroll Garner (192133-1977) hatte sich 1958 mit vier Stücken dem Cembalo zugewandt, mit Don’t look for me, Paris Blues, Côte d’Azur und When Paris cries, und auch John Lewis spielte in Jazzstil gearbeitete Bach-Bearbeitungen auf dem Cembalo. Mitte der 60er Jahre versuchte der Schweizer Jazzmusiker George Gruntz (geb. 1932) eine Synthese aus moderner „Komponistenmusik“34 und Jazz mit seinen Jazz-Etüden über Motive aus Hans Werner Henzes ›Six Absences‹35. Jazzmusik auf dem Cembalo spielten in neuerer Zeit Michael Garrick36, Cal Cobbs (zusammen mit Albert Ayler) und McCoy Tyner37. Der kuriose Fall, daß eine Komposition im Titel die Bezeichnung „for harpsichord“ trägt, aber vom Komponisten explizit als Stück für das Hammerklavier gedacht ist, begegnet uns in Keith Jarretts (geb. 1945) Fughata for harpsichord, einer Komposition, die der Pianist ausschließlich für seine eigene Darstellung auf dem Hammerklavier geschrieben hat. Obwohl Jarrett in jüngerer Zeit auch als Cembalist in Erscheinung getreten ist, versteht er die Spezifizierung „for harpsichord“ als eine Spielanweisung38, etwa in jenem Sinne, wie beispielsweise Friedrich Gulda in den 60er Jahren Bachs Cembalowerke auf dem Hammerflügel interpretiert hat: trocken, mit wenig Legato und minimaler Dynamik. 30 Victor: 26762. 31 Unter anderen School of rhythm und Feeling tomorrow like I feel today auf Blue Note: 20. 32 Siehe H. H. Lange, Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Die Entwicklung von 1910 bis 1960 mit Discographie, Lübbecke 1960, S. 169. 33 Laut The new Grove, ältere Angaben lauten 1923. 34 Unter „Komponistenmusik“ verstehe ich jene Musik, die auf notierten Kompositionen eines Urhebers beruht und im Bewußtsein der Rezipienten als Schöpfung dieses Urhebers verankert ist. 35 Philips: P 48111 L (LP). 36 Album „Black Marigolds“ (1966) auf Argo: 88. 37 Album „Trident“ (1975) auf Milestone: 9063. 38 Stephen Cloud, Jarretts Artist Representative, schreibt in einem Brief vom 10. 2. 1993 an den Verfasser: „The composition was not composed for harpsichord. It is to be played on piano, but the player should ‘think’ harpsichord as he plays the piano.“ Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen In den 60er Jahren gehörten Cembaloklänge zur Klangrequisite vieler Unterhaltungsmusik. Cembalo-Arpeggien vermittelten klangmalerisch-assoziativ Pittoreskes ebenso wie makabre Spannung (in Thrillern nämlich). PittoreskSchrulliges komponierte Ronald Goodwin (1925- nach 197239), wenn er das Cembalo in quasi leitmotivischem Einsatz beim Auftritt der Miss Marple in den Anfang der 60er Jahre produzierten Miss-Marple-Filmen mit Margaret Rutherford einsetzte. Daneben wird das Cembalo als Lieferant eines schieren Klangfarbenreizes in Unterhaltungsmusik von häufig neobarocker Faktur herangezogen. Aktuelle Beispiele hierfür sind die Sätze von Dominique Roggen, zum Beispiel die Doppelfuge über zwei Themen von Lennon/McCartney The girl Michèle und Simelibärg als Fantasie über ein altes Schweizer Volkslied40, einer Orchesterkomposition im Stil der neuenglischen Fantasie, wie sie Ralph Vaughan Williams mit seiner Fantasia on a theme by Thomas Tallis geschrieben hatte. Das Cembalo als Ausdrucksmedium kompositorischer Nostalgie Nicht von ungefähr wurde das Cembalo im Zusammenhang mit neuen Kompositionen zunächst häufig als ausgesprochenes Bühneninstrument eingesetzt, als ein musikalisches Medium zur Illustration einer vergangenen geschichtlichen Epoche. Verlassen wir das musikdramatische Genre, begegnet uns auch in vielen Kompositionen für bzw. mit Cembalo ein direkter historischer innermusikalischer Bezug auf vergangene Zeiten, auf vergangene Werte. Kompositorische Nostalgie ist bis in die neueste Zeit hinein ein Topos vieler Cembalokompositionen geblieben. Einige Beispiele dafür: Heinrich Kaminskis 1931 komponierte Musik für zwei Violinen und Cembalo41 ist die aktualisierte Stilkopie der Triosonate aus dem Geist eines schöpferischen Historismus schlechthin. Ihr Cembalopart könnte ebenso gut von einem modernen Hammerklavier übernommen werden, dann würde die Komposition mit ihrer dichten Cembalosatzstruktur noch mehr als ohnehin schon dem Barockbild der 1930er Jahre entsprechen. Die Gattung der Triosonate wird in einer ebenso seltenen wie exemplarischen Besetzungskonstellation, nämlich Johann Joa- 39 Seine Biographie ist noch in der von mir konsultierten Auflage 1972 des Who’s who in music and musicians’ international directory, London 61972, aber nicht mehr in der 10. Auflage des Nachschlagewerks (International who’s who in music and musicians’ directory, Cambridge 101985). 40 Beide eingespielt auf Claves: CD 50-9218 (CD). 41 Leipzig: Peters. Martin Elste chim Quantz’ Sonate C-Dur für Blockflöte, Querflöte und Cembalo, auch von Hans-Martin Linde (geb. 1939) für sein Trio für Blockflöte, Querflöte und Cembalo von 1960 zum Vorbild für die Struktur des kontrapunktischen Satzes genommen42. Als eine Hommage an Bachs Italienisches Konzert könnte man den langsamen Satz („Slow and expressively“) der Sonata for harpsichord (1982) von Samuel Adler (geb. 1928) verstehen, weil Adler hier einen Zwiegesang zwischen der Melodiestimme auf einem Manual und einer akkordischen Argpeggio-Begleitung auf dem anderen Manual komponiert hat. Der Lautenzug organisiert, mechanisiert die Begleitung hierbei hinsichtlich der Klangfarbe. Nostalgie kehrt auch bei Henri Sauguets (geb. 1901) Suite Royale für Cembalo solo43 von 1962 wieder. Diese für Sylvia Marlowe geschriebene Suite imitiert in freier Weise den Cembalostil des 18. Jahrhunderts, so unter anderem durch Verzierungen im Stil François Couperins. Ein anderes Beispiel gleich verschiedener barocker Kompositionstechniken gibt William Albright (geb. 1944) in seinen Four fancies44. Die vier Sätze der 1979 entstandenen knapp zwölfminütigen Suite rekurrieren, jeder für sich, auf barocke Muster: Excentrique ist im Stil einer französischen Ouvertüre mit Doppelpunktierungen und Ornamenten, Mirror Bagatelle setzt die Kontrastwirkung der beiden Manuale ein, Musette hat die obligatorischen Bordun-Klänge, und Danza ostinata verbindet die Idee vom Basso ostinato mit Boogie Woogie, Antonio Solers rhythmisch-motorische Attacke mit minimalistischen Schemata. Von einer Nostalgie des Klassizismus könnte man bei Robert Oboussiers (1900-1957) drei Arien für Koloratur-Sopran, Oboe und Cembalo (nach Klopstock) sprechen. Es sind quasi moderne Generalbaßlieder, die im Sinne der edlen Einfachheit, der Schlichtheit der Mitte des 18. Jahrhunderts komponiert sind. In „Weine du nicht“ spielt das Cembalo zunächst eine einfache akkordische Begleitung und bringt danach Umspielungen in strophischen Variationen des Liedes. Der Rückgriff auf barocke Kompositionsformen betrifft nicht nur die Suite für das Soloinstrument und das Konzert. Benjamin Britten (1913-1976) hat kurz vor seinem Tod mit Phaedra op. 9345 für Mezzosopran und kleines Orchester mit Streichern, Schlagzeug und Cembalo eine Kantate komponiert, deren barocke Formtypen Rezitativ und Arie auch ein instrumentales Pendant haben: So wird das stilisierte Continuo von einem Violoncello und einem 42 Wergo: WER 6191-2 = 286191-2 (CD). 43 Decca[US]: DL 710108 (LP) und andere Ausgaben. 44 Arkay Records: AR 6112 (CD) u.a. Einspielungen. 45 London: Faber Music 1977. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen Cembalo ausgeführt. Das Ergebnis dieser vom Formtypus einer Händelschen Kantate geprägten Komposition ist ein neobarocker Gestus, der noch durch die Wahl des Textes – einer auszugsweisen Übersetzung von Jean Baptiste Racines Phèdre – unterstützt wird. Im deutschsprachigen Raum griffen einige Komponisten die Ideale der Jugendmusikbewegung auch hinsichtlich des Cembalos auf, so beispielsweise Rudolf Moser (1892–1960) mit seiner Spielmusik für Cembalo op. 79 Nr. 1 (1945) und Rudolf Wagner-Régeny (1903-1969) mit der Spinettmusik (1934)46. Wagner-Régenys siebenminütiger47 Zyklus von sechs kurzen Sätzen48 bezieht sich nur insofern auf das Spinett als einmanualige Sonderform des Cembalos, als die in Berlin entstandenen Stücke – ganz im Unterschied zu den vielen anderen modernen Cembalokompositionen – mit ihrer betonten rhythmischen, melodischen und harmonischen Einfachheit des meist zweistimmigen Satzes kein zweimanualiges Konzertinstrument voraussetzen. Im Gegenteil: Für Wagner-Régeny ist die klare, gleichmäßige Linearität ohne irgendwelche Dynamik das oberste Gebot; sein Zyklus atmet den Geist der Neuen Sachlichkeit, dem jegliche interpretatorische Expression zuwider ist. „Bei der Ausführung auf dem Klavier empfiehlt es sich, das Pedal nicht zu gebrauchen und alle Stücke durchwegs mezzoforte vorzutragen“, lautet der Aufführungshinweis in der Notenedition. Daß das Instrument auch innerhalb der die Motorik aufgreifenden kompositorischen Bach-Rezeption Anwendung fand, liegt nahe. Beispiele dafür sind das zweite der Deux pièces pour clavecin49, 1935 komponiert, von Bohuslav Martinu (1890-1959), dessen im selben Jahr komponiertes neobarockes Concert pour clavecin et petit orchestre, das Spielfiguren der Bachschen Cembalokonzerte aufgreift und harmonisch erweitert, sowie der erste Satz seiner Antoinette Vischer gewidmeten Sonate von 1958. Auch bei Siegfried Borris’ (1906-1987) Partita für Cembalo50 op. 67 Nr. 1 von 195151 bestimmt die Motorik den neobarocken Duktus des Werks. 46 Wien, Leipzig: Universal-Edition 1935 (UE 10665). 47 So die Angabe in den Noten. 48 Mit den Satzbezeichnungen 1. Mäßig langsam, etwas plump, 2. Lebhaft und lustig, 3. Ziemlich schnell, ein wenig leiernd, 4. Getragen und immer gebunden, 5. Schnell und frech, 6. Kanon. Mäßig schnell. 49 Wien: Universal Edition (UE 13431). 50 deutsche harmonia mundi: 1012 DMR (LP) in Set DMR 1010/12 (3 LP). 51 Die Musik in Geschichte und Gegenwart Bd.17, Sp. 968, gibt fälschlicherweise 1961 als Jahr der Komposition an. Martin Elste Rudolf Kelterborns (geb. 1931) Inventionen und Intermezzi52 lassen wegen ihrer Besetzung für zwei Gamben und Cembalo einen neobarocken Bezug vermuten – ganz zu Unrecht. Nur der Anlaß zur Komposition – ein Auftrag des Gambisten August Wenzinger und der Gambistin Hannelore Mueller – bestimmte die Wahl des instrumentalen Mediums. Es gibt keine hörbaren Barockmuster, wenn man von dem Triller absieht. Indessen ist die Sonoritätsebene des Cembalos durch Einzeltöne und Einzelakkorde, denen die Zeit zum Ausschwingen gelassen wird, mit sensiblem Spürsinn für neue Klanglichkeiten aufgrund alter instrumentaler Mittel erfaßt. Es gibt in Kelterborns Komposition jene Akkordattacken auf dem Cembalo, die uns in der Literatur für das moderne Instrument immer wieder begegnen und die im historischen Repertoire für das Instrument völlig fehlen. Auch das Tombeau de Marin Marais (1967) von Pierre Bartholomée (geb. 1937), der am Conservatoire in Brüssel lehrt und zum Kreis um Henri Pousseur zählt, mag aufgrund seines Titels und seiner Besetzung ein nostalgisches Zurückgreifen auf barocke Klangstrukturen vermuten. Dem ist jedoch nicht so. Denn sein Komponist nimmt, abgesehen von Titel und Wahl des Instrumentariums – nämlich Violine, zwei Violen da gamba und Cembalo – keinen direkten klanglichen Bezug auf Vergangenes. Die Komposition zerfällt beim Hören in atonale Klangfetzen mit Sternschnuppen aus Bruchstücken barocker Kantilenen. Das kompositorische Prinzip, das hinter Bartholomées Werk steht, verweist hingegen sehr wohl in den Traditionskontext des Gambenspiels, weil der Komponist sich ausgiebig der Sordatur bedient. Bei Dieter Schnebel (geb. 1930) ist das Cembalo in einer Triobesetzung eine äußere Bindung an den Traditionskontext der barocken Triosonate, und dank dieser Bindung ermöglicht sie einen typisch Schnebelschen Diskurs der Verfremdung in seinen 1965/66 komponierten fünfundzwanzig „Szenischen Variationen für drei Instrumentalisten“ mit dem Antonympaar anschläge – ausschläge als Titel. Der Komponist verlangt vom Cembalisten Klangveränderungen, auch hinsichtlich der Dynamik, die nur mittels elektroakustischer Verstärkung möglich sind53. In der Praxis erfordert Schnebels Komposition also ein Cembalo, das auf seinem Vorsatzbrett oder in unmittelbarer Nähe der Klaviaturen Lautstärkeregler hat, die der Spieler mit der einen Hand bedient, während die andere in die Tasten greift. Ein solches Cembalo hat beispielsweise die Firma Kurt Wittmayer, Wolfratshausen, hergestellt: das Modell 52 53 Jecklin Disco: D 569 (LP). Vergleiche D. Schnebel, Denkbare Musik. Schriften 1952-1972, hrsg. v. H. R. Zeller. Köln 1972, S. 303-306. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen „Bach Elektronik“, von dem ein Exemplar im Berliner MusikinstrumentenMuseum steht54. Neben dem kompositorischen Historismus hat es gerade zu Beginn der Cembalorenaissance Kompositionen gegeben, deren historistischer Bezug nicht viel mehr als die Spezifikation „für Cembalo“ war. Von Thomés Rigodon war schon die Rede. Das betrifft aber auch die wesentlich bekannteren und musikalisch ergiebigeren frühen Cembalokompositionen von Busoni und Delius. Busonis 1915 expressis verbis für das Cembalo geschriebene Sonatina ad usum infantis Madeline M* americanae pro clavicimbalo composita55 scheint – abgesehen von ihrer fünfsätzigen, auf die Suite weisenden Anlage – weder in Nostalgie noch in einer instrumentenspezifischen Klanglichkeit zu schwelgen, mit dem Resultat einer eigentümlichen Zwitterstellung, die sie mit Delius’ Dance for Harpsichord56 teilt. Dieses 1919 für die englische Cembalistin Violet Gordon Woodhouse (1872-1948) komponierte kurze Stück hat sogar Noten, die das Sostenuto-Pedal erfordern57. Diese beiden Kompositionen sind – von Thomés Salonpièce einmal abgesehen – offensichtlich die ersten modernen Solowerke für das Cembalo, denen bald weitere folgen sollten. So schrieb bereits zwei Jahre nach Delius’ unidiomatischer Komposition der Holländer Alexander Voormolen (1895-1980) eine Suite de clavecin58 in vier Sätzen. 54 Musikinstrumenten-Museum, SIMPK, Berlin, Kat.-Nr. 5420, vergleiche auch die Beschreibung in: Kielklaviere. Cembali, Spinette, Virginale. Bestandskatalog [...], Berlin: Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1991, S. 320-324. 55 Kindermann Nr. 268; Leipzig: Breitkopf & Härtel 1916 (EB 4836). Eine ausführliche Analyse der Sonatine gibt L. Sitsky, Busoni and the piano. The works, the writings, and the recordings, New York, NY; Westport, CT; London 1986, S. 76-80. Larry kritisiert die ‚normale‘ Aufführungsweise mit Hammerklavier: „…the work is played on the piano probably to its detriment; the lines are too tenuous, the resonance and sweep too limited, and the expressive range of the thematic materials too restrictive for the modern piano“, gibt aber zu bedenken: „On the other hand, much of the distribution of the material is pianistic in character. It would be an interesting experiment to hear the work performed on a piano and harpsichord in succession.“ (S. 76-77). Vergleiche auch L. Sitsky, The six sonatinas for piano of Ferruccio Busoni, in: Studies in music 2, 1968, S. 66-85. 56 Wien: Universal Edition © 1922 (UE 7037). 57 Eine kuriose Verbindung zur Alten Musik knüpft die Erstveröffentlichung von Delius’ Tanz im ersten Heft der musikwissenschaftlichen Zeitschrift Music and letters (vol.1, no.1 = January 1920, S. [73-75]), wo die Komposition als unkommentierter Appendix zu Violet Gordon Woodhouse, Old keyed instruments and their music (S. 45-51) unter dem Titel Harpsichord piece, composed for Mrs. Gordon Woodhouse, 1919 erscheint. 58 Amsterdam: Alsbach. Schon die Satzbezeichnungen Ouvertüre, Gigue, Sicilienne und Toccatina weisen auf eine historisierende Rezeptionshaltung des Komponisten hin. Martin Elste Neue Konzerte Die Damen der Cembalo-Renaissance – neben Violet Gordon Woodhouse (1872-1948) Alice Ehlers (1887-1981), Eta Harich-Schneider (1897–1986) und vor allem Wanda Landowska (1882-1959), die große Cembalistin der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts –, standen den neuen Klängen ihrer komponierenden Kollegen keineswegs abweisend gegenüber. Wanda Landowska war es, die das erste moderne Cembalokonzert anregte. Als sie 1922 einige Tage bei Manuel de Falla verbrachte, demonstrierte sie ihm die Klangmöglichkeiten ihres zweimanualigen Konzertinstruments von Pleyel. De Falla fing Feuer und beschloß, in seiner nahezu abgeschlossenen Kammeroper El Retablo de Maese Pedro einen Cembalopart einzuarbeiten und obendrein ein eigenständiges Cembalokonzert für die Grande Dame des Clavecins zu komponieren. So sah sich Wanda Landowska als die Anregerin für das erste moderne Cembalokonzert59. Am 25. Juni 1923 spielte sie dann bei der privaten szenischen Uraufführung vom Retablo de Maese Pedro, dirigiert von Vladimir Golschmann, im Pariser Salon der Prinzessin Edmond de Polignac, der das Werk gewidmet ist60. Die zahlreichen dynamischen Abstufungen im Cembalopart vom Retablo (unter anderem die Palette p, pp, mf, ff und fff auskostend) verlangen schnelle und teilweise auch ein dynamisches Kontinuum vortäuschende Registerwechsel mittels Pedal. Ob allerdings notierte Akzente wie > und sffz61 und Anweisungen wie „marcatiss.“62 wie auch die vielen Crescendo- und DecrescendoZeichen63 cembalogerechte Techniken erfordern, muß bezweifelt werden. Selbst die Musikmaschinen mit den Möglichkeiten des Pleyelschen Clavecins 59 Landowska on music. Collected, edited and translated by D. Restout, London 1965, S. 346. J. Pahissa führt hingegen in seiner Biographie Manuel de Falla. His life and works, London 1954, S. 116-117, de Fallas Beschäftigung mit dem Cembalo auf dessen Begegnung mit dem Kunstwissenschaftler Don Ángel Vegue y Goldric zurück, der eine Sammlung alter Tasteninstrumente besaß, die der Komponist kennenlernte, als er sich während einer Osterwoche in Toledo aufhielt. 60 Dieser szenischen Aufführung ging offenbar eine konzertante Aufführung am 23. März 1923 in Sevilla mit dem Orquesta Bética de Cámera in der Sociedad Sevillana de Conciertos voraus, bei der de Falla zum ersten Mal in der Öffentlichkeit dirigierte. Bei dieser Aufführung wird möglicherweise de Falla ein mit Zeitungsschnipseln präpariertes Klavier verwendet haben, um den Klang des Cembalos nachzuahmen (nach J. Pahissa, Manuel de Falla, a.a.O.). Die jüngsten analytischen Studien zum Retablo und zum Cembalokonzert liefert J.-Ch. Hoffelé, Manuel de Falla, [Paris:] Fayard 1992. 61 Taschenpartitur von J. & W. Chester, London, ein Takt vor Ziffer 47. 62 3. Takt nach Ziffer 44. 63 Ziffer 50 ff. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen werden auch dem geschultesten Cembalisten kaum eine penible Realisierung dieser dynamischen Differenzierungen ermöglichen. Gleichwohl hat de Falla auch Elemente einer cembalospezifischen Klangästhetik aufgegriffen, die deutliche Anleihen bei der Spieltechnik der Gitarre macht: Ornamente wie Mordente und Triller64, reich arpeggierte Akkordketten65 und in Sextolen aufgelöste Akkorde66. Die Arbeiten an seinem Cembalokonzert waren immer wieder von de Fallas kränkelndem Gesundheitszustand unterbrochen67. So dauerte es noch weitere drei Jahre, ehe Wanda Landowska ihre Auftragskomposition erhielt. Das Concerto per Clavicembalo (o pianoforte), Flauto, Oboe, Clarinetto, Violino e Violoncello wurde am 26. November 1926 mit Landowska als Solistin, begleitet von Mitgliedern des Pau Casals Orquesta, uraufgeführt. De Falla dirigierte selbst (während die übrigen Stücke des Abends von Casals geleitet wurden). De Falla hatte mit seinem Cembalokonzert eine Komposition geschaffen, die Klangeffekte der Gitarre wie Trillerornamente, ausgiebig arpeggierte sowie in Sextolen aufgelöste Akkorde in die mechanisierte Instrumentalebene des Cembalos verlagerte. Von einem eigenständigen Cembaloidiom kann noch nicht gesprochen werden, selbst die Musikmaschinen im Stile des Pleyelschen Clavecins68 werden auch dem geschultesten Cembalisten kaum eine penible Realisierung der in der Partitur geforderten Differenzierungen ermöglichen. Immerhin: Es ist ein Konzert im barocken Sinne des Konzertierens und bezieht sich mehr auf die englische Consort-Musik als auf das klassische Solokonzert. Barocken Gestus haben die arpeggierten Akkordsäulen in den ersten beiden Sätzen und vor allem die Arpeggien-Kette zu Beginn des zweiten Satzes. De Falla hat in seinem Cembalokonzert auch auf die Stilmittel vom Retablo zurückgegriffen. Aber nicht nur das. In der rhythmischen Struktur steckt gleichzeitig die Motorik wie auch die klare, strenge Differenziertheit der Ma- 64 Zum Beispiel Ziffer 21 der Taschenpartitur von J. & W. Chester, London 1924. 65 Ziffer 62. 66 Ziffer 77. 67 In seinem (fragmentarisch überlieferten?) Briefwechsel mit Wanda Landowska, der nach Jahrzehnten des Verschollenseins seit 1993 im Landowska Center, Lakeville, CT, aufbewahrt wird, vertröstet der Komponist die Cembalistin wegen seiner Schwindelanfälle auf später. Den Hinweis auf diese Schriftstücke und das Aufspüren derselben verdanke ich Dr. Dieter Krickeberg, die Genehmigung zur Einsichtnahme Denise Restout. 68 Unter Clavecin sollen solche Cembaloneukonstruktionen verstanden werden, die konstruktive Merkmale der alten großen französischen (insbesondere das Doppelmanual) und der späten englischen Cembali (insbesondere Lute Stop) miteinander verbinden und nicht bzw. noch nicht die sogenannte Bach-Disposition mit dem charakteristischen 16-FußRegister haben. Martin Elste schine. Ganz typisch für das Konzert sind bereits die ersten Takte mit den Vier-gegen-Drei-Rhythmen, Notenbeispiel 1 die im Laufe des ersten Satzes dann ein nicht exakt ausführbares paralleles dreigestuftes Differenzieren zwischen Melodiestimme (im forte) und zweigestufter Begleitung im piano bzw. mezzoforte erfordern69: Notenbeispiel 2 Die kammermusikalische Besetzung von de Fallas Konzert fand verschiedene Nachahmer, doch zunächst entstand 1927 in Deutschland eine Parallelkomposition, Carl Orffs (1895-1982) später zurückgezogenes Kleines Konzert nach 69 Taschenpartitur von Max Eschig, Paris, Ziffer 10. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen Lautensätzen des 16. Jahrhunderts70, ein Werk aus des Komponisten früher, ganz vom Historismus geprägten Phase. Die Anregung zu dieser Komposition erhielt Orff nach seinen eigenen Erinnerungen71 nicht von de Fallas Werk, sondern von seiner Beschäftigung mit Oscar Chilesottis modernen Übertragungen alter Lautentabulaturen72. In Orffs fünfsätziger, knapp viertelstündiger Suiten-Komposition für Querflöte (auch Piccolo), Oboe, Fagott, Trompete, Posaune, Cembalo und Schlagzeug (vier Pauken, Triangel, Schellentrommel und Xylophon) ist das Cembalo nur eines von mehreren Instrumenten, von denen keines im Sinne instrumentaler Virtuosität brilliert. In dieser freien Bearbeitung der Lautensätze ist das Cembalo sogar ein Fremdkörper, weil es inmitten des ansonsten modernen Instrumentariums nicht nur eine anachronistische, sondern auch eine zum homogenen Bläserklang kontrastierende Klangfarbe einbringt. Diese ästhetische Zwitterposition der Instrumentierung wird am deutlichsten im zweiten, ruhigen Satz für Holzbläser und Triangel, deren Spiel von einer Solokadenz des Cembalos unterbrochen wird. Am gelungensten ist der auf Integration der verschiedenen Instrumente zielende Schlußsatz, ein Rondo, in welchem das Cembalo mit moderat-motorischen Begleitfiguren den Bläserklang ergänzt. Orff hatte das Konzert für das achtpedalige Konzertcembalo von Karl Maendler geschrieben; die anderen Cembali moderner Konstruktion waren den Bläsern gegenüber zu tonschwach. Da jedoch Maendlers Instrumente nicht so verbreitet waren, schrieb Orff eine Neufassung, bei der die Bläser in den Hintergrund traten73. Auf die kammermusikalische Besetzung von de Fallas Konzert rekurrierte zunächst Karl Höller (1907-1987) mit seinem Kammerkonzert in h-Moll für Cembalo und kleines Kammerorchester oder sechs Instrumente op. 19 von 1934, dann Helmut Degen (geb. 1911) mit dem Kleinen Konzert Nr. 6 für Cembalo und sechs Instrumente74 von 1945. Höllers Konzert könnte man im ersten und im letzten Satz für eine Komposition seines prominenten Zeitge- 70 Die Erstfassung erschien 1930 im Druck. 71 C. Orff, Lehrjahre bei den alten Meistern, Tutzing 1975, S. 126 ff. (= Carl Orff und sein Werk. Dokumentation Bd II). Die Uraufführung fand am 11. Dezember 1928 mit Anna Barbara Speckner als Solistin in München statt. 72 O. Chilesotti, Lautenspieler des XVI. Jahrhunderts. (Liutisti del Cinquecento.) Ein Beitrag zur Kenntnis des Ursprungs der modernen Tonkunst), Leipzig o. J. (1891). 73 Von der letzten revidierten Fassung von 1975, die weitgehend der Originalfassung von 1927 folgt und wiederum dem Cembalo eine lautstarke Bläserbesetzung an die Seite stellt, ist eine Aufnahme auf Wergo: WER 6174-2 erschienen. 74 Mainz: B. Schott’s Söhne. Die sechs Instrumente sind Querflöte, Oboe, Horn, Bratsche, Violoncello und Schlagzeug. Martin Elste nossen Hindemith halten. So sehr ähneln die rhythmische Pointierung des Vorandrängens und die Melodik dem Hindemith der späten 20er Jahre. Dagegen hat der langsame Satz eine pastorale Färbung, die an Poulenc erinnert. Die Kammerbesetzung findet sich noch in weiteren Konzerten für Cembalo. Der 1923 geborene Ned Rorem schrieb 1946 sein später zurückgezogenes Concerto for harpsichord and seven instruments und Klaus Huber (geb. 1924) schließlich 1955 ein Concerto per la camerata für sechs Instrumente75. Eine mit de Fallas Konzert identische Besetzung fordert auch Roberto Sierra (geb. 1953) in seinem Concierto nocturnal. 1924, ein Jahr nach de Fallas Retablo und zwei Jahre vor de Fallas Cembalokonzert komponierte der junge Krenek (1900-1991) ganz im klassizistischen Stil neben dem Concerto grosso Nr. 2 op. 25 das dem Musikkollegium Winterthur gewidmete Concertino op. 27 76, dessen Besetzung mit Querflöte, Violine, Cembalo und Streichorchester das 5. Brandenburgische Konzert von Johann Sebastian Bach zum Vorbild hat. An Bachs Konzert orientiert sich hinsichtlich des Passagenwerks der Cembalostimme übrigens auch Frank Martin in seinem Cembalokonzert77. Francis Poulenc (1899-1963) war bei der Uraufführung des Retablo zugegen. „Schreiben Sie mir ein Konzert!“ bat Wanda Landowska den von ihr faszinierten Poulenc. So entstand bereits 1928 das Concert Champêtre, das 1929 unter Pierre Monteux in Paris uraufgeführt wurde. Es zählt zu den am häufigsten aufgeführten modernen Cembalokonzerten78, obwohl Poulenc für das Soloinstrument nicht ausgesprochen idiomatisch komponiert hat. Anders als bei de Fallas Konzert ist das klangreduzierte, hier ärmlich bedrängt wirkende Soloinstrument einem farbigen Orchesterinstrumentarium blockhaft gegenübergestellt. Wie bei de Falla folgen Poulencs dynamische Anweisungen pianistischer Praxis. Das ist anders bei Hugo Distlers Konzert für Cembalo und Streichorchester79 op. 14, das mit dem Komponisten am Cembalo kurz nach der Fertigstellung im Mai 1936 in Hamburg uraufgeführt wurde. Es zeugte für seinen Verleger Karl Vötterle von dem Bekenntnis des Komponisten „zu den 75 Wilhelmshaven: Heinrichshofen. Die sechs Instrumente sind Blockflöte, Querflöte, Oboe, Violine, Violoncello und Cembalo. 76 Wien: Universal Edition. Näheres über die Entstehungsgeschichte des Concertinos in P. Sulzer, Zehn Komponisten um Werner Reinhart. Ein Ausschnitt aus dem Wirkungskreis des Musikkollegiums Winterthur 1920-1950. Erster Band, Winterthur 1979 (= 309. Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur), S. 133-137. 77 Wien: Universal Edition (Klavierauszug: UE 12364). 78 Vergleiche die Aufstellung der Schallplattenaufnahmen in F. Bloch, Francis Poulenc. 1928-1982, Paris 1984 (= Phonographies. ii.), S. 56-59. 79 Partitur: Kassel: Bärenreiter 1936 (BA 1000). Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen Quellen der Volkskraft und zu den Kraftquellen der Musik“, weil der Schlußsatz mit Variationen über das alte Volkslied „Ach du feiner Reiter“ abschließt80. Distler (1908-1942) war als ausgebildeter Kirchenmusiker mit den Cembalo-Neukonstruktionen bestens vertraut. Seine Partitur zeugt von intensiver Auseinandersetzung mit den realisierbaren Klangmöglichkeiten eines zweimanualigen Instruments mit Registerpedalen und 16-Fuß-Register. Distler geht ganz bewußt von der terrassenhaften Dynamik der damaligen Cembali aus und macht Vorschläge zur Registrierung und zur Manualverteilung, zum Beispiel bei den Echowirkungen in der 12. Variation des Schlußsatzes, wo das Echo durch wechselweise Tutti-Registrierung einerseits und Registrierung ohne 16-Fuß andererseits erzeugt wird. Auf Crescendo- und Decrescendo-Zeichen verzichtet Distler wohlweislich mit der praktischen Erfahrung, daß ihre Realisierung am Cembalo nicht mehr als ein bloßer Wunsch, als spieltechnische Imagination sein kann. Sein viel zu selten aufgeführtes Werk ist ein echtes Cembalokonzert, das – im Unterschied zu den Kompositionen von de Falla und Poulenc – auf dem modernen Hammerklavier nicht adäquat gespielt werden kann81. Der Interpret als Auftraggeber Meist bedarf es der Stimulanz eines Interpreten, daß ein Komponist ein Stück für dieses und nicht jenes Instrument schreibt. So ist die Flut an zeitgenössischen Kompositionen für das Violoncello auf die Aktivitäten seines Avantgar- 80 K. Vötterle in Eintausend Bärenreiter-Ausgaben. Musikbücher, -Zeitschriften, -Bilder und Instrumente / Die Reihe Organum. Gesamtverzeichnis 1936, Kassel (1936), S. 5. Zu einer politisch-musikalischen Interpretation von Distlers Variationssatz siehe M. Heinemann, Notenregal [...], in: Musica 46, 1992, H. 3, S. 192-194. Auf die Stellung Distlers in der NS-Zeit im allgemeinen und auf das Cembalokonzert dabei geht auch folgender Artikel ein, der sich kritisch mit den Ausführungen von Oskar Söhngen (u. a. in dessen Musica sacra zwischen gestern und morgen. Entwicklungsstadien und Perspektiven in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, hier im besonderen S. 180) auseinandersetzt: W. Herbst, Kirchenmusik in der Zeit des Nationalsozialismus VI. Die Wiedergeburt der Kirchenmusik und ihr politischer Kontext. Oskar Söhngens Weg und Werk im Spiegel seiner Veröffentlichungen, in: Der Kirchenmusiker 41, 1990, H. 4, S. 121-136, insbesondere S. 134. 81 Genau das Gegenteil behauptete Erich Roeder in seiner Konzertkritik (in: Der Angriff vom 11. Oktober 1937, zitiert nach W. Herbst, Kirchenmusik in der Zeit des Nationalsozialismus, a. a. O., S. 134). Für Roeder war das Cembalokonzert „entartet“, weil sein Komponist das „zarte Hausmusikinstrument Cembalo in widernatürlichster Weise wie einen Flügel“ einsetze – was ein Blick in die Partitur sofort allein hinsichtlich der Registrierungsangaben widerlegt. Martin Elste de-Virtuosen Siegfried Palm zurückzuführen, selbst wenn das Violoncello per se dem erweiterten Materialbegriff in der Neuen Musik entgegen kommt82. Beim Cembalo liegen die Dinge nicht viel anders. Seine Interpreten haben mit ihrer Vorstellung von dem, was moderne Musik für ihr Instrument sein kann, dazu beigetragen, von welchen zeitgenössischen Komponisten man heute Werke für Cembalo hört. In einige wenigen Fällen haben die Interpreten selbst für ihr Instrument komponiert. Wanda Landowskas folkloristische Tanzsätze können in diesem Zusammenhang übergangen werden, nicht jedoch die fünf Konzerte für Cembalo und Orchester, darunter das Concerto moderne (1931) und diverse andere Stücke, die die in Paris wirkende Schweizer Cembalistin Marguerite Roesgen-Champion (1894-1976) für sich und ihr Instrument schrieb. Auch Landowskas Schülerin Alice Ehlers setzte sich für neue Cembalomusik ein. Sie brachte in einem Konzert der Funk-Stunde Berlin in der Sing-Akademie im Kastanienwäldchen Unter den Linden 1931 das Konzert für Cembalo und Orchester op. 76 von Hugo Herrmann (1896-1967) zur Uraufführung. Hermann Scherchen, der bereits 1925 Kreneks Concertino aus der Taufe gehoben hatte, dirigierte das Berliner Funk-Orchester83. Die Satzbezeichnungen des zweisätzigen Werks weisen auf den neobarocken Gestus hin: „Präludium und Fuge“ und „Partita mit Variationen“. Bei den beiden 1938 komponierten Cembalostücken des Amerikaners Robert Guyn McBride (geb. 1911) ist der Initiator Ralph Kirkpatrick in die Titel eingegangen: Harpsipatrick Serenade und Patriharpsick Serenade. Trotz der Vielzahl an Kompositionen haben sich im 20. Jahrhundert nur wenige Cembalisten und Cembalistinnen für moderne Kompositionen stark gemacht. Freilich haben sich auch die Kompositionen für Cembalo geändert. Obwohl in den letzten Jahrzehnten immer noch Cembalokonzerte komponiert worden sind, integrieren die zeitgenössischen Komponisten das Instrument inzwischen bevorzugt in solche kammermusikalischen Besetzungen, die kaum an historische Bezüge wie die von Orff verwendeten Lautensätze anknüpfen, sondern eher auf neuartige Klangkombinationen und -kontraste setzen. Der Schritt zur modernen Cembalomusik ist näher vom Avantgarde-Pianisten aus zu vollziehen als vom konzertierenden Cembalovirtuosen. Nur wenige jener Cembalisten, die sich als Experten für barocke Musik ausgewiesen haben, spielen konsequent auch neue Kompositionen. Letzteres ist die Domäne von Spezialisten eigener Art. Es gibt dafür prominente Einzelfälle: Die amerikanische Cembalistin Sylvia Marlowe (1908-1981) ebenso wie die in Frankreich 82 Vergleiche H. von Loesch, Das Cellokonzert von Beethoven bis Ligeti. Ästhetische und kompositionsgeschichtliche Wandlungen einer musikalischen Gattung, Frankfurt am Main u. a. 1992 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 36. Musikwissenschaft Bd 80). 83 Programmzettel des Konzerts vom 25. September 1931 im Bestand des Staatlichen Instituts für Musikforschung PK, Berlin. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen lebende Polin Elisabeth Chojnacka (geb. 1939). Sylvia Marlowe war eine einsame Ausnahmeerscheinung. Unter anderem bei Nadia Boulanger in Paris zur Pianistin ausgebildet, kam sie durch Wanda Landowska zum Cembalo. Um ihr erstes eigenes Instrument, ein weißes Clavecin von Pleyel, abzuzahlen, trat sie in einem New Yorker Nachtclub im eleganten Rockefeller Center auf, wo sie die Gäste mit Musik von Bach bis Boogie Woogie unterhielt84. Später war sie fest engagierte Cembalistin bei der amerikanischen Fernsehgesellschaft NBC und wurde dadurch überall im Lande außerordentlich populär. Sylvia Marlowe gab etwa vierzig Kompositionen für ihr Instrument in Auftrag, hauptsächlich bei amerikanischen Komponisten eines moderaten Modernismus. Die Sonate für Querflöte, Oboe, Violoncello und Cembalo von Elliott Carter (geb. 1908) war wohl das avancierteste Werk, das für die Marlowe entstand, und hier machte der Komponist sogar Kompromisse hinsichtlich der spieltechnischen Fertigkeiten. Viele dieser Auftragswerke spielte sie auch auf Schallplatten ein, die allerdings nie in den deutschen Vertrieb kamen. In Europa haben sich vier Cembalistinnen besonders nachdrücklich für moderne Kompositionen auf ihrem Instrument eingesetzt. So war die Schweizer Mäzenatin und Cembalistin Antoinette Vischer (1909-1973) die treibende Kraft hinter vielen Solokompositionen für das Cembalo. Die Basler Cembalistin gab seit 1956 ebenfalls rund vierzig Kompositionen für das Cembalo in Auftrag, mehrere davon spielte sie auch auf Schallplatten wie ihrem bekannten Album „Das moderne Cembalo der Antoinette Vischer“85 ein, einer Sammlung von „liebenswürdige[n] Belanglosigkeiten“, wie der Musikkritiker Ulrich Dibelius schrieb86. Was Antoinette Vischer für die moderne Cembalomusik diesseits des Eisernen Vorhangs war, ist Ruth Zechlin jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen. Die 1926 geborene und in Leipzig unter anderem bei Günther Ramin ausgebildete Komponistin und Cembalistin schrieb nicht nur seit 1957 mehrere eigene Werke für ihr Instrument87, sondern gab auch ei- 84 Siehe hierzu auch L. Palmer, Harpsichord in America. A twentieth-century revival, a. a. O., S. 110-117. 85 Wergo: WER 60028 (LP) mit Kompositionen von Luciano Berio, Boris Blacher, Earle Brown, Duke Ellington, Hans Ulrich Engelmann, Rolf Liebermann, Bohuslav Martinu, Martial Solal und Alexander Tcherepnin. Zu den Aktivitäten von Antoinette Vischer siehe Antoinette Vischer. Dokumente zu einem Leben für das Cembalo, zusammengestellt v. U. Troxler, hrsg. v. M. Kutter, Basel 1976. Ihr musikalischer Nachlaß befindet sich jetzt in der Paul Sacher Stiftung Basel, siehe: Sammlungen Paul Sacher, Antoinette Vischer, Margrit Weber. Musikmanuskripte, Winterthur 1988 (= Inventare der Paul Sacher Stiftung. 1). 86 HiFi-Stereophonie 6, 1967, H. 8, S. 562. 87 Eine Übersicht über ihr Œuvre gibt zusammen mit einem Werkverzeichnis I. Allihn, Polyphonie des Schaffens. Über Ruth Zechlin, in: Neuland. Ansätze zur Musik der Gegenwart. Jahrbuch Bd 4, 1983/84, Bergisch Gladbach 1984, S. 141-146. Martin Elste nen Sammelband mit kurzen Solokompositionen verschiedener Komponisten heraus88. Elisabeth Chojnacka ist seit dem Tod von Antoinette Vischer die populärste lebende Cembalistin der Avantgarde89; an altem Repertoire kann man auf Schallplatten von ihr allenfalls polnische Tänze oder Sonaten von Padre Soler hören. In ihrem Repertoire befinden sich Werke von Iannis Xenakis (geb. 1922), Luciano Berio (geb. 1925), György Ligeti (geb. 1923) und vielen anderen prominenten Vertretern der Avantgarde der 60er und 70er Jahre. Komponisten haben speziell für sie geschrieben, insbesondere für sie und Sylvio Gualda, mit dem sie ein Duo in der außergewöhnlichen Besetzung Cembalo und Schlagzeug bildet. So entstanden 1981 für die beiden Musiker Xenakis’ Komboï 90, Anaphores91 von François-Bernard Mâche und die Pièces pour clavecin et percussion92 von Martial Solal (geb. 1927). Diese Kompositionen93 sind, wie es für die Cembalowerke unseres Jahrhunderts typisch ist, für das zweimanualige Instrument geschrieben. Früher spielte Elisabeth Chojnacka auf einem Ammer-Cembalo Modell Bach94. Die Stücke für Cembalo und Schlagzeug hat sie hingegen auf einem Instrument von Anthony Sidey aufgenommen. Beide Instrumente haben zwei Manuale. Die doppelte Klaviatur ist bei den meisten modernen Komponisten die Stimulanz einer von globalen Kontrasten geprägten Spezifik des Cembaloklanges. Das zweimanualige Instrument ermöglicht Klangüberlagerungen, wie sie unter den Tasteninstrumenten nur noch auf der Orgel spielbar sind, es läßt totale rhythmische und melodische Unabhängigkeit der Hände zu. Xenakis macht in seiner Elisabeth Chojnacka gewidmeten Komposition Khoaï, die sie im Mai 1976 in Köln uraufgeführt hat, von diesen Möglichkeiten besonders eindrucksvollen Gebrauch. Für die Cembalistin ist das moderne Cembalo in erster Linie ein Perkussionsinstrument95. Insofern ist die Kombination Cem- 88 per il cembalo. Zeitgenössische Cembalomusik, hrsg. v. R. Zechlin, Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1984 (= dvfm 8060). 89 Siehe auch die Interviews: Warum nicht? Ein Concerto-Gespräch mit Elisabeth Chojnacka. Die Fragen stellte Johannes Jansen. In: Concerto, 1991, Nr. 65 (Juli/August 1991), S. 18-21; Das Cembalo ist ein sperriger Freund. Elisabeth Chojnacka im Gespräch mit Lutz Lesle, in: Neue Zeitschrift für Musik 154, 1993, H. 2, S. 47-50. 90 Paris: Editions Salabert. 91 Paris: Editions Durand. 92 Manuskript. 93 Alle drei sind auf der Schallplatte Erato: NUM 75104 (LP) eingespielt worden. 94 So zum Beispiel auf dem 1970 veröffentlichten Sammelprogramm „Prospective 21° siècle: clavecin 2000“, Philips: 6526009 (LP). 95 Dies betont sie auch in dem ihr gewidmeten Fernsehportrait mit Peter Wapnewski, Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen balo mit Schlagzeug gar nicht so abwegig. In Komboï von Xenakis ist das Cembalo ein Schlaginstrument unter mehreren, nämlich Vibraphon, zwei Wood-blocks, zwei Bongos, drei Pauken, vier Tom-Toms, einer großen Baßtrommel und sieben Tongefäßen. Zwischen Antoinette Vischer und Elisabeth Chojnacka steht in chronologischer ebenso wie in stilistischer Hinsicht die italienische Cembalistin Mariolina De Robertis. Die in Florenz geborene Künstlerin, deren Name in Italien nicht nur in den Zirkeln der Avantgarde bekannt ist, aber außerhalb der Heimat kaum gehandelt wird, hat circa einhundertzwanzig zeitgenössische Kompositionen in ihrem Repertoire, wovon ein Großteil – ausschließlich von italienischen Komponisten – auf ihre Anregung hin entstanden sind. Signora De Robertis hat zwei Neupert-Cembali in ihrer römischen Wohnung nahe der Piazza Navona. Und für diese Instrumente, darunter das Neupert-Modell Händel, sind die Kompositionen auch geschrieben, für das zweimanualige, mit Registerpedalen ausgestattete moderne Cembalo. Seit 1958/59 führt sie zeitgenössische Cembalomusik auf. Was sie von Antoinette Vischer unterscheidet, ist ihre spieltechnische Professionalität. Sie beherrscht so technisch anspruchsvolle Werke wie die Goldberg-Variationen und führt Earl Browns Nine rare bits, die Antoinette Vischer wegen der spieltechnischen Schwierigkeiten mit George Gruntz als Duo-Partner gespielt hat, in solistischer Fassung auf. Was sie hingegen von Elisabeth Chojnacka unterscheidet, ist ihre Präferenz für das Melodische des Cembalos. Für Mariolina De Robertis ist das Cembalo keinesfalls ein aggressiv zu behandelndes Schlaginstrument. Der avancierten stilistischen Haltung von Elisabeth Chojnacka kommt die in Paris lebende Kanadierin Vivienne Spiteri (geb. 1953) am nächsten, die ausschließlich mit zeitgenössischer Cembalomusik konzertiert und rund sechzig Werke in ihrem Repertoire hat: für das Soloinstrument, für Cembalo und Tonband, für Cembalo und Live-Elektronik sowie für Ensemble. Dort, wo Alte Musik aufgeführt wird, schreiben auch Komponisten für das Alte Instrument neue Musik, und zwar zunehmend für den historischen Cembalotyp ohne exzessive Registerschaltungen. So gibt es von niederländischen Komponisten96 besonders viele neue Werke für das Cembalo. In der Bundesrepublik Deutschland hatten die Cembalisten – wen verwundert es – nur flüchtigen Kontakt zu den Neue Musik-Abteilungen der deutschen Rundfunkanstalten, die in den 50er bis 70er Jahren die eigentlichen Mäzene der Avant- produziert vom Südwestfunk Baden-Baden 1988 (Redaktion: Bernhard Pfister, Buch und Regie: Anca-Monica Pandelea). 96 Siehe beispielsweise die Aufstellung mit 119 Kompositionen für Cembalo solo oder Cembalo in kammermusikalischer Besetzung von 55 Komponisten im Catalogue of chamber music. Vol.III. Amsterdam: Donemus 1989, S. 211-219. Martin Elste garde waren. Lediglich achtzehn Kompositionen mit solistischem Cembalo (sei es als Soloinstrument oder als solistisch eingesetztes Ensembleinstrument) entstanden als Auftragskompositionen der ARD-Rundfunkanstalten in den ersten dreißig Jahren Nachkriegsgeschichte97, achtzehn von insgesamt 933 Kompositionen für eine Vielzahl unterschiedlichster Besetzungstypen. Das Verhältnis bedarf sogar noch einer relativierenden Anmerkung, denn ein gutes Viertel dieser achtzehn Kompositionen waren Auftragskompositionen98 für das Kleine Orchester des Südwestfunks Baden-Baden mit seinem Leiter Willi Stech am Cembalo, Kompositionen, die ohnehin eher unterhaltend-unbeschwerten Charakter haben und in denen das Cembalo allenfalls klangmalerische Funktion hat. Ein charakteristisches Beispiel für das Cembalo spezifizierende, jedoch nur begrenzt aus dem Geiste des Instruments heraus geschriebene Kompositionen sind Boris Blachers (1903-1975) Vier Studien für Cembalo. Die ersten drei davon wurden 1967 komponiert, die vierte bereits 1964. Die vierte Studie war ein Auftragswerk für Antoinette Vischer, die sie für ihr Schallplattenalbum „Das moderne Cembalo der Antoinette Vischer“99 eingespielt hat. Das Werk läßt sich rein technisch sowohl auf dem Hammerklavier als auf dem Cembalo spielen. Bis auf eine einzige Lautstärkenbezeichnung (p), die für alle 104 Takte gilt, und ein Akzentzeichen (^) gibt es keinerlei dynamische oder spieltechnische Angaben jenseits der bloßen Noten. Blacher, der hier seinem Kompositionsprinzip der »Variablen Metren« folgt, verwendet als metrisches Grundmaterial lediglich Achtel und Viertel (zwei akkordische Fünfachtelklänge können, da sie eine Achtelbewegung begleiten, hier unberücksichtigt bleiben), die meist einstimmig mit gelegentlichen Akkordklängen verlaufen. Der melodische Ablauf kann in zwei Grundmuster aufgeteilt werden: Skalen einerseits, große Tonsprünge andererseits. Die harmonische Gestaltung kennt nur zwei Akkorde, von denen der erste, e – f – a, die Studie beherrscht. Mit ihm beginnt und endet das Stück. Er ist omnipräsent in seiner Grundform und als alterierter Akkord e – f – as; und er erscheint in verschiedenen Oktaven ebenso wie als Dreiklangsbrechung: als e – f – a als e – f – as 52 mal, 16 mal, gebrochen 2 mal gebrochen 2 mal. Im Zentrum der Komposition, nach 47 Takten, erklingt der zweite Akkord, 97 Nach A. Betz, Auftragskompositionen im Rundfunk. 1946-1975, Frankfurt am Main 1977 (= Bild- und Tonträger-Verzeichnisse. Hrsg. v. Deutschen Rundfunkarchiv. Nr. 7). 98 Ebenda, Nr. 705, 712, 718, 720 und 728. 99 Wergo: WER 60028 (LP). Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen Notenbeispiel 3 der die folgenden acht Takte als quasi improvisatorisch-auskomponierte Umspielung seiner selbst ausfüllt. Nach einer zweitaktigen chromatisch absteigenden Überleitung schließen sich die ersten 47 Takte wieder an, doch diesmal mit der Technik des sowohl melodischen als rhythmischen Krebsganges rückläufig notiert. (Lediglich die Takte 66, 67 und 72 sowie der Einsatz der oben erwähnten akkordischen Fünfachtelklänge weichen geringfügig von einem strikten melodisch-rhythmischen Krebsgang ab100.) Die Registrierung durch Antoinette Vischer gibt dem Stück zweierlei: fernöstliche Assoziation und strukturelle Gliederung. Die Cembalistin interpretiert das vorgegebene Piano als Klangfarbe für die ersten neun Takte, die sie dementsprechend mit Lautenzug registriert, und kehrt sinngemäß zum Lautenzug in den letzten zehn Takten zurück. Da zudem Blachers »Variable Metren« die Gliederungsprinzipien der abendländischen Metrik bewußt negieren, stellt sich eine Klangassoziation wie von Koto-Musik ein. Durch die Registrierung bildet die strukturelle Gliederung einen Bogenbau, der genau in der Mitte sein Zentrum hat: a – B – C – B’ – a’, wobei a und a’ die mit Lautenzug registrierten Abschnitte sind. Ist Blachers Studie eine adäquate Cembalokomposition? Wenn es etwas gibt, das in dieser Studie der Ästhetik des Cembaloklanges entspricht, sind es die punktuellen Linien der großen Intervallsprünge, mit denen der Charakter des Cembalos als ein Zupfinstrument zur Geltung kommt. Auf dem Hammerklavier gespielt, ließe sich eine dynamische Gestaltung kongenialer herausarbeiten, ohne daß es die letztlich nicht aus dem Notentext stimmig herzuleitenden Klangabstufungen zwischen den von der Interpretin willkürlich bestimmten Abschnitten a und B gäbe. Und überhaupt: Lediglich durch Agogik könnte 100 Antoinette Vischer folgt in ihrer Aufnahme nicht konsequent dem gedruckten Notentext, obwohl sie (laut ihrem Brief an Werner Goldschmidt, abgedruckt im Beiheft zur Schallplatte) den Erstdruck als Vorlage hatte: In Takt 62 spielt sie zwei Achtel statt der notierten und logischen Viertel. In Takt 66 verändert sie das letzte Achtel in eine Viertelnote analog zum Paralleltakt 39. Takt 67 spielt sie dagegen wie notiert, obwohl dieser Takt konsequenterweise als Krebsgang von Takt 38 wie folgt lauten müßte: G – a – g1 (statt g1 – a – G). Martin Elste der Cembalist die wechselnden Taktschwerpunkte, das Wesentliche der »Variablen Metren«, akzentuieren, nicht jedoch durch dynamische Differenzierung, die dem Hammerklavier vorbehalten bleibt. Das Cembalo eignet sich nur bedingt für Blachers Stilprinzip. Daß die Komposition trotzdem reizvoll ist, sei nicht verschwiegen. Die Austauschbarkeit von Kiel- und Hammerflügel Wie austauschbar sind Kiel- und Hammerflügel? Verhältnismäßig häufig sehen Komponisten bei ihren für das Cembalo geschriebenen Stücken eine Alternativbesetzung mit Hammerklavier, dem ‚normalen‘ Flügel also, vor. Schon de Fallas Konzert trägt die ausdrückliche Besetzungsvariante „o pianoforte“ auf dem Titelblatt. Seltener ist der umgekehrte Fall, wie er bei Béla Bartóks in den dreißiger Jahren komponierten und 1940 publizierter Sammlung Mikrokosmos auftritt. Im Vorwort schreibt der Komponist, daß sich eine Anzahl von Stücken auch für das Cembalo eignen würde, und er zählt einige davon auf101. Eines von Bartóks Kriterien für die Brauchbarkeit bestand in Oktavparallelen, denn diese lassen sich, wie er kurz erläuternd ausführt, mit den Registerzügen einstellen102. Es gibt Kompositionen, die sich hinsichtlich der Klangbalance mit begleitenden Instrumenten besser mit einem Hammerflügel aufführen lassen. Das gilt beispielsweise für Poulencs Concert champêtre. Namentlich das stark gedämpfte moderne Cembalo à la Neuperts Bach-Modell hat es schwer, sich schon gegen einen mittelgroßen Orchesterapparat durchzusetzen. Als Ausweg haben Komponisten gelegentlich eine elektroakustische Verstärkung vorgesehen, die jedoch ihrerseits nicht ganz unproblematisch ist, weil eine Tonabnahme über Mikrophon leicht Mechanikgeräusche unbeabsichtigt verstärkt. Andererseits gibt es viele Kompositionen, die erst unter den Händen des Cembalisten eine instrumentenspezifische Ausprägung erhalten. Das betrifft auch Klavierkompositionen, die trotzdem und durchaus legitim auf dem Cembalo gespielt werden können. Zum Beispiel hat János Sebestyen zwei Stücke aus Sergej Prokofieffs Zehn Stücken für Klavier op. 12 (Nr. 3 und Nr. 7) und die Nr. 3 aus den Vier Stücken für Klavier op. 32 auf dem Cembalo eingespielt103. Dank der vielfältigen, wechselvollen Regi- 101 Nr. 76, 77, 78, 79, 92, 104b, 117, 118, 123, 145, aber nicht nur diese, denn Bartók schließt seine Aufzählung mit „etc.“ 102 „On this instrument the octaves can be doubled by draws-stops“ (Preface zu Béla Bartók: Mikrokosmos. Progressive piano pieces. Vol. I, London u. a.: Boosey & Hawkes © 1940, S. 5. 103 Qualiton: LPX 1181 (LP). Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen strierungen erhalten diese Stücke ein gefälliges, reizvolles Äußeres, das ihnen gut steht. In gewisser Weise bringt der Interpret bei solchen Werken ein aleatorisches Moment ins Spiel. Das Cembalo als Orchesterinstrument Bei de Falla begegnet uns das Cembalo als Ensembleinstrument und nicht als Solisteninstrument, allenfalls als Primus inter pares. Das gilt für sein Konzert, das gilt in noch stärkerem Maße für El Retablo de Maese Pedro. Igor Strawinsky hatte lange vor The Rake’s Progress schon einmal das Cembalo in Betracht gezogen, aus bisher nicht näher erforschten Gründen jedoch wieder aufgegeben: Seine 1917 erstellte fragmentarische Orchesterfassung der erst 1923 in endgültiger Form vorliegenden Les Noces sah unter anderem auch ein „Clavicembalo“ vor104. Etwa gleichzeitig bearbeitete Ottorino Respighi (1879-1936) alte Lautentabulaturen für Orchester, seine drei Suiten der Antiche danze ed Arie, bei deren ersten beiden Suiten (1917 und 1923) das Cembalo im Sinne eines ausgesetzten Generalbasses mitspielt105. Hier ist das Cembalo – ganz aus dem Verständnis eines aktualisierenden Historismus heraus und wie bei den entsprechenden Suiten von Richard Strauss – Klangkolorit mit Symbolcharakter für vergangene Zeiten inmitten eines ansonsten modernen Instrumentariums106. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Komponisten verstärkt das Cembalo als eine einfach besetzte Orchesterstimme ohne ausgesetzte Generalbaßfunktion einerseits und ohne solistische Attitüde andererseits eingesetzt, und zwar meist dann, wenn sie für ein heterogenes, ein auf Spaltklang hin angelegtes Ensemble komponiert haben. Aber selbst in einem klanglich so dicht komponierten Werk wie György Ligetis Requiem ist das Cembalo als typisches Orchesterinstrument vertreten. Hingegen nimmt das Cembalo eine Zwitterstellung in einem Werk wie Henri Pousseurs Les Ephémérides d’Icare 2 (1970) ein, einer aleatorischen Komposition, bei der der Komponist seinem in einen Hauptsolisten (Klavier), Concertino 104 Diese Fassung befindet sich in Form von Partitur-Fragmenten zum 1. Bild im Besitz der Paul Sacher Stiftung Basel. Vergleiche Strawinsky. Sein Nachlass. Sein Bild, Basel 1984, S. 42, Katalognummer 34. 105 In der zweiten Suite verlangt die Partitur sogar „Clavicembalo a 4 mani“ für die vielen Tonverdoppelungen. 106 Das gilt auch noch für die Bearbeitung für Kammerorchester (von Vladimir Spivakov und Mikhail Milman) von Alfred Schnittkes Suite im alten Stil (1977), bei der das Cembalo in Generalbaßmanier die harmonisch völlig traditionell gesetzten Tanzsätze begleitet. Martin Elste (Querflöte, Harfe und Violoncello) und Concerto grosso (solistische Orchesterinstrumente) aufgeteilten Ensemble weitgehende Freiheit der Improvisation gewährt. An einer Stelle gewährt Pousseur dem Cembalo solistische Profilierung, wenn es auf „Seite“ 26 (von insgesamt 28 „Seiten“, womit soviel wie Variationen oder Durchgänge gemeint sind) mit dem Titel „Mercure au zénith dans le verseau“ die Gelegenheit zu einer Kadenz erhält; freilich keine Auszeichnung bei Pousseur, denn er billigt den übrigen Instrumenten ebenfalls ihre Kadenzen zu. So hat das Cembalo in der orchestralen Avantgarde letztlich seine traditionellen Positionen verloren: Es ist weder das zentrale Continuoinstrument noch ein konzertierendes Soloinstrument. Seine neue Bedeutung liegt damit in der Besonderheit seines Timbres, verglichen mit den traditionellen Instrumentengruppen der Streicher, Holz- und Blechbläser. Und aus diesem Blickwinkel einer Klangalternative reiht sich das Cembalo in die neuen Orchesterinstrumente Gitarre und Schlagzeug ein. Nicht von ungefähr gebraucht Stockhausen den Cembaloklang in dieser Instrumentenkombination in seiner schon erwähnten Oper DIENSTAG aus LICHT. In Kompositionen der letzten zwei Jahrzehnte ist das Cembalo in verstärktem Maße als Orchesterinstrument eingesetzt worden. Das gilt vor allem für Alfred Schnittkes Schaffen. In seinem Concerto grosso Nr. 1 gehört das Cembalo neben den beiden Soloviolinen zur Gruppe des Concertino107, in mehreren anderen Werken wie den beiden Cellokonzerten oder den Sinfonien Nr. 1 und 3 beispielsweise kommt dem Cembalo nur eine untergeordnete Stellung zu. Kompositionen aus einem neuen Geist Erst relativ spät besannen sich Komponisten darauf, die mechanischen Vorteile des Cembalos gegenüber dem Hammerklavier als wesentliches Stilmerkmal in ihre Kompositionen einzubauen. Die Befreiung des Cembalos aus dem musikästhetischen Fesseln seines Traditionskontexts kann man erst für die fünfziger Jahre konstatieren. Befreiung heißt zunächst vielleicht erst einmal: Negation. In diesem Sinne schuf Roman Haubenstock-Ramati (1919-1994) im Auftrag des Südwestfunks 1954/55 sein Recitativo ed Aria als Konzertstück für Cembalo und Orchester, wobei er eben konträr zur historischen Ästhetik das Rezitativ gesanglich und die Aria prosahaft angelegt hat. Und in diesem Sinne sprach der Komponist vom Recitativo lirico und von einer Aria percussiva, 107 In dieser Komposition für zwei Violinen, präpariertem Klavier, Cembalo und Streichern hat das präparierte Hammerklavier nur eine untergeordnete Funktion. Es rahmt in wenigen Takten am Anfang und am Schluß das musikalische Geschehen ein, bei dem das Cembalo die beiden Soloviolinen als drittes Glied im Bunde sekundiert. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen Bezeichnungen, die in der Neufassung von 1978 dann allerdings nicht mehr auftreten. Darin erschöpfte sich freilich noch nicht der neue Geist dieser Cembalomusik. Haubenstock-Ramati, der seine Komposition 1978 als Konzert für Cembalo und Orchester in einer Neufassung vorgelegt hat108, ist wohl der erste Komponist, der konsequent die Klangqualität des Perkussiven mit dem Cembalo assoziiert und dementsprechend das Cembalo als geräuschhaftes, pointillistisches Soloinstrument aus dem Geiste einer Musique concrète in die Musikliteratur einführt109. Neu ist auch, daß die durch häufige Registerwechsel erzeugte Klangvielfalt110 nicht für sich steht, sondern mit dem übrigen Instrumentarium, das einen von zwei bis drei Spielern zu bedienenden Schlagzeugapparat integriert, ein ungewohntes Klangraster bildet. Haubenstock-Ramati hatte zunächst vorgesehen, dem Cembalo kein Orchester gegenüberzustellen, sondern Geräusche im Sinne von Pierre Schaeffers Musique concrète. Doch dieses Vorhaben, das in den Rahmen eines vom Rundfunk erteilten Kompositionsauftrags gut gepaßt hätte, zerschlug sich111. Haubenstock-Ramatis Komposition steht konzeptionell am Anfang einer Reihe von Werken, bei denen das moderne Cembalo als einziges traditionellakustisches Instrument die serielle Determinierbarkeit des Parameters Klangfarbe auf konsequent mechanistische Weise ermöglicht112 – einfach durch Vorherbestimmung der wechselnden Registerkombinationen. Die zweimanualige Klaviatur im Zusammenspiel mit den Registerpedalen liefert einen Ansatzpunkt zu einer weiteren Art der instrumentenspezifischen Komposition. Und jene Komposition, die am ausdrücklichsten von diesem morphologischen Ansatzpunkt her aufgebaut ist, ist Continuum, György Lige- 108 Wien: Universal Edition 1980 (UE 16976). 109 Carl Orff hat in seinem Konzert von 1927 zwar ebenfalls das Cembalo mit dem Schlagzeug kombiniert, doch dominiert bei seiner freien Bearbeitung alter Lautensätze zu sehr die Adaption historischen Materials, als daß man bei dem Konzert von einem neuen Geist sprechen könnte. 110 Haubenstock-Ramati geht von einem zweimanualigen Instrument mit zwei 8-Füßen, einen 4-Fuß, einem 16-Fuß sowie „Harfenzug“ und „Theorbenzug“ (gemeint ist der Lautenzug für 8-Fuß und 16-Fuß) – also im wesentlichen einem Instrument mit der sogenannten „Bach-Disposition“ – aus. 111 Siehe auch H. Schatz, Serielles Cembalokonzert aus dem Morgenland, in: Melos 27, 1960, H. 1, S. 4-7. Die Uraufführung fand dann auch als Ursendung einer Rundfunkproduktion mit Frank Pelleg (Cembalo) und dem Sinfonieorchester des Südwestfunks, Baden-Baden unter der Leitung von Ernest Bour am 24. Januar 1956 statt (Band-Nr. 5600341). 112 Inwieweit Haubenstock-Ramati tatsächlich die Registrierungen seriell erarbeitet hat, ist bisher noch nicht untersucht worden und würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Martin Elste tis erste Komposition für das Solocembalo, um die drei Minuten lang. Continuum ist mehr als das Produkt eines Zeitgeistes, es ist der geniale Glücksfall einer instrumentenidiomatischen Komposition113. Bereits vom ersten Klang an, mit dem Zusammenklang g-b, ist ein Spezifikum des zweimanualigen Instruments als Material und durchgängiges Prinzip der Komposition eingesetzt. Dieser Akkord wird vielfach wiederholt, aber mit alternierender Registrierung. Der erste Klang hat das g im unteren 8-Fuß-Register und das b im oberen 8-Fuß-Register, der nächste Akkord dreht die Position der klangbestimmenden Komponenten um: Nun erklingt das g im oberen und das b im unteren 8-Fuß-Register, und mit solchem stetigen Wechsel geht es im Prestissimo weiter. Dadurch wird das Klanggeschehen aufgelockert, es erhält die Dynamik eines Klangraumes, obwohl es (zunächst) statisch bleibt, keine eigentliche Entwicklung kennt. Ligeti sprach in diesem Zusammenhang von „akustischen Illusionen“, die er hier zum ersten Mal, beeinflußt von der Grafik von Maurits Escher, realisiert hätte114. Die raschen Repetitionsfiguren bilden zweierlei: Clusterklänge und gleichzeitig Motorik. Ligeti wollte das Stück so schnell wie möglich gespielt haben: „Bitte, spielen Sie ›Continuum‹ irrsinnig schnell, noch schneller als möglich, noch schneller als das Schumannsche ›noch schneller‹...“ schrieb er der Widmungsträgerin Antoinette Vischer115. Durch das schnelle Tempo sollte alles ›Maschinelle‹ verschwinden und „ein ganz kontinuierliches Schwirren“ entstehen116. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung konnte ein Kritiker wie Ulrich Dibelius der Komposition „historische[n] Rückbezug (auf Spielmodelle aus dem 18. Jahrhundert)“ einer „ansonsten durchaus moderne[n] Cluster-Komposition“117 attestieren. Wie Dibelius es ausgedrückt hat, ein „Changieren“, das „dem ehrwürdigen Relikt Cembalo zugleich nach vorwärts eine irreale Klanglichkeit nahe der Elektronik“118 eröffnet. „Fiorituren, Arpeggien und dergleichen“119, Kompositionsbausteine des 113 H. Kinzler, Allusion - Illusion? Überlegungen anläßlich ‚Continuum‘, in: György Ligeti. Personalstil – Avantgardismus – Popularität. Hrsg. v. O. Kolleritsch, Wien, Graz 1987 (= Studien zur Wertungsforschung Bd 19), S. 75-105, gibt eine genaue Analyse des Stückes. 114 G. Ligeti, Rhapsodische, unausgewogene Gedanken über Musik, besonders über meine eigenen Kompositionen, in: Neue Zeitschrift für Musik 154, 1993, H. 1, S. 20-29, hier S. 25. 115 Brief Ligetis an Antoinette Vischer vom 15. Februar 1968, siehe Antoinette Vischer, a. a. O., S. 131. 116 Ebenda, S. 131. 117 U. Dibelius in HiFi-Stereophonie 8, 1969, H. 4, S. 269 (Schallplattenrezension). 118 Ebenda. 119 Ebenda. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen 18. Jahrhunderts, die der Kritiker in dem Stück glaubte gehört zu haben, sind mit Ausnahme des Trillers freilich nicht vorhanden. Die Komposition auf Trillerketten zu reduzieren, wie es Hans-Peter Müller120 gemacht hat, ist allerdings eine infame, weil einseitige Deutung, die der Genialität Ligetis in keiner Weise gerecht wird. Die Entstehungsgeschichte von Ligetis Continuum ist gut dokumentiert121. Nachdem sich Antoinette Vischer an Ligeti mit der Bitte um eine Auftragskomposition für ihr Instrument gewandt hatte, antwortete der Komponist im Oktober 1965, er habe die Vorstellung von einem toccataartigen Stück. Knapp zweieinhalb Jahre später, im Januar 1968, lag die Komposition vor. Ligeti „dachte das Stück ganz aus dem Instrument heraus und probierte es dann auch auf einem Neupert-Bach aus“122. Im Gegensatz zu der ursprünglichen ästhetischen Idee von „elastisch-schwankenden“ statt „›motorischen‹“ Bewegungen123 hatte sich Ligeti für eine durchgehende gleichmäßige Bewegung entschlossen, die den „Eindruck einer fast vollkommenen Kontinuität“124 entstehen läßt. Des Komponisten Ideal eines Klangkontinuums125 kommt der historische Bautyp des Cembalos mit seinem ungleich reicheren Resonanzverhalten gegenüber dem modernen Cembalo entschieden mehr entgegen. Deshalb spielen einige Cembalisten diese Komposition auf einem historischen Cembalotyp und negieren kompromißbereit die 16-Fuß-Registrierung, und der Komponist hat höchstpersönlich die Aufführung des Stückes ohne Registerwechsel gebilligt, wenn auch nicht autorisiert126. Vivienne Spiteri, zum Beispiel, beginnt das Stück mit je einem 8-Fuß-Register für jedes Manual und koppelt die beiden Manuale am Ende der Seite 6. Diese Koppelung bleibt bis zum hohen g auf Seite 9 erhalten; an dieser Stelle schaltet ein Assistent das 4-Fuß-Register hinzu. Ohne diese Hilfe freilich läßt sich Ligetis Continuum nur auf einem Instrument mit Pedalregisterschaltung spielen. Continuum ist in vielfältiger Weise plagiert worden – wobei auch schon Ligeti mit seinem Kompositionstitel bewußt oder zufällig auf Continuum for a 120 Hüllentext zu der Schallplatte Nova: 885172 („Ruth Zechlin. Ein Komponistenportrait“), erschienen 1979. 121 Vergleiche hierzu Antoinette Vischer, a. a. O., aus dem ich die folgenden Ausführungen entnommen habe. 122 Vergleiche ebenda, S. 130. 123 Vergleiche ebenda, S. 130. 124 Ebenda. 125 Vergleiche dazu auch O. Nordwall, György Ligeti. Eine Monographie, Mainz 1971, S. 93, und H. Kinzler, Allusion – Illusion? Überlegungen anläßlich ‚Continuum‘, a. a. O., S. 81 und 100. Martin Elste number of instruments127 (1964) von Larry Austin (geb. 1930) Bezug genommen hatte, einer Komposition für Querflöte, Oboe, Fagott, Trompete, Kontrabaß, Cembalo und Schlagzeug. Die Arten des Plagiats reichen von solchen Äußerlichkeiten wie der indirekten Titelübernahme bei François Vercken (geb. 1928) in Form der Negation als Discontinuum (1978) bis zur eklektizistischen Anwendung des kompositorischen Materials. Die aus dem Triller erwachsenen Tonrepetitionen von Ligetis Continuum haben eine eigene kompositorische Rezeptionsgeschichte erfahren, die bis in die jüngste Zeit reicht. Bereits bei der 1971/72 für die Eastman School of Music, Rochester, NY, komponierten Partita von Krzysztof Penderecki (geb. 1933) gibt es jene Aufhebungen metrischer Strukturen und auskomponierte Beschleunigungen von Klang„Bändern“, wie sie Ligeti in Continuum und auch im dritten Satz seines 2. Streichquartetts komponiert hat. Aber dies ist nur eine Seite der stilistisch sehr variabel gehaltenen Komposition Pendereckis, die auch Jazz-Elemente und nicht zuletzt dank des Einsatzes einer E-Gitarre und genereller elektroakustischer Verstärkung der Concertino-Gruppe mit Cembalo, Gitarre, elektrischer Baß-Gitarre, Harfe und Kontrabaß die Klangästhetik des Rockmusik-Zeitalters hinsichtlich der instrumentenunabhängigen Balance-Möglichkeiten aufgreift128. Auch die Toccata Americana (1978)129 von Klaas de Vries (geb. 1944) kann, obwohl sie ursprünglich für Klavier geschrieben ist, den Einfluß von Ligetis erster Cembalokomposition nicht verleugnen. Die Tonrepetitionen, die in der Klavierfassung für die alternierende rechte und linke Hand geschrieben sind und in der Cembaloversion mittels beider Manuale schneller ausgeführt werden können, weisen einerseits in nuce auf die Minimal Music, andererseits auf das Ligetische changierende Klangkontinuum. Solche Tonrepetitionen finden sich modifiziert in Teilen des Jardin secret II (1984/86) der finnischen Komponistin Kaija Saariaho (geb. 1952) wieder, einer Komposition, die in gelungener Weise den ‚live‘ Cembaloklang mit einer Tonbandcollage aus computertransformierten Cembaloklängen und der Stimme der Komponistin zu einer akustischen Einheit verschmelzt: eine eindrucksvolle, bewegende, organische Musik, die nach einem großen ekstatischen Bogenaufbau in Stille ausklingt. Auch in ihrer 1990 geschriebenen Komposition Diagonalen gebraucht Ruth Zechlin (geb. 1926) Ligetis Repetitionsfloskeln: Das sechsminütige Stück hat Passagen jenes sequenzierten mechanischen Figurenwerks, wie wir es aus Continuum bereits kennen, und obendrein endet es mit eben126 Ebenda, S. 92-93. 127 Sacramento, CA: Composer/Performer Edition. 128 Vergleiche hierzu auch W. Schwinger, Penderecki. Begegnungen, Lebensdaten, Werkkommentare, Stuttgart 1979, S. 172-176. 129 Haags Gemeentemuseum: HGM CD 02 (CD). Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen solchen Tonrepetitionen im Diskant. Und die ersten Minuten des vierzehnminütigen Stückes Melboac (1983) der Kanadierin chinesischer Abstammung Hope Lee (geb. 1953) sind ohne Ligetis Continuum undenkbar, weil die für Ligetis Komposition wesentlichen Klang- und Bewegungstypen aufgegriffen und variiert werden. Lange bevor Ruth Zechlin mit ihren Diagonalen auf Ligeti positiven Bezug nahm, reagierte sie mit einer Gegenkomposition auf Continuum. 1973 hatte sie Ligetis Stück in einem Konzert der Komischen Oper Berlin zusammen mit ihrer Komposition Epitaph (1973) aufgeführt und ihr Stück bewußt kontrastierend zu Ligeti komponiert und dem in seiner Einseitigkeit der kompositorischen Mittel faszinierend gestalteten Continuum ein farbiges, aber gleichzeitig uneinheitlich vielseitiges Trauerstück auf einen verstorbenen Menschen, dessen Identität die Komponistin nicht preisgegeben hat, entgegengesetzt. Epitaph bringt Akkordballungen, rezitativische Einschübe und zweistimmige Passagen. Der Bezug zu Bachs Chromatischer Fantasie ist nicht nur unbewußt vorhanden, sondern angestrebt130. Ligeti hat noch zwei weitere Stücke für das Soloinstrument geschrieben: Hungarian Rock für ein zweimanualiges Cembalo, vom äußeren Anlaß her als Auftragskomposition des Westdeutschen Rundfunks, wo es von der Widmungsträgerin Elisabeth Chojnacka uraufgeführt wurde, vom inneren Anlaß her als Diskussionsbeitrag zu einer intellektuell-musikalischen Auseinandersetzung zwischen dem Kompositionslehrer und einem seiner Hamburger Studenten, dem Komponisten Hans Christian von Dadelsen131, und Passacaglia ungherese für ein mitteltönig gestimmtes Instrument. Letztere ist eine der wenigen modernen Cembalokompositionen, die für das einmanualige Instrument gedacht sind. Jede Mechanisierung ist zunächst einmal ein Verlust an den mannigfachen Spielarten des Organischen. Mit der Erfindung der Tastatur war das Problem der Stimmung manifest geworden. Und die egalisierende Mechanisierung der Stimmungssysteme zu der gleichschwebend temperierten Stimmung, wie sie heute beim modernen Klavier angewandt wird, ist ein folgenschwerer Verlust der Mannigfaltigkeit unter der Prämisse höchster Differenzierungskunst hinsichtlich der Anschlagskultur beim Tasteninstrument. Das zweimanualige Cembalo mit seinen mehrfachen Saitenbezügen legt eine Differenzierung der Temperierung nahe, wie sie auf dem Hammerklavier mit seinen im Unisono gestimmten, simultan erklingenden Saiten nicht möglich ist. Wenn ein Komponist also beim Tasteninstrument das chromatische Tonsystem im allgemeinen und das temperierte Tonsystem im speziellen erweitern will, bietet sich 130 Vergleiche den Covertext von H.-P. Müller auf Nova: 885172 (LP). 131 Siehe hierzu und zur folgenden Komposition Ligetis Statement in H. Kinzler, Allusion – Illusion? Überlegungen anläßlich ‚Continuum‘, a. a. O., S. 95. Martin Elste die Skordatur der Saitenbezüge des zweimanualigen Cembalos an. Jeder Saitenbezug läßt sich in einer anderen Stimmung einstimmen, die vom Spieler entweder durch Manualwechsel oder die Registerschaltung per Pedal blitzschnell gewechselt werden kann. Pierre Bartholomée sieht in seinem schon erwähnten Tombeau de Marin Marais die Einteilung der Oktave in 21 gleiche Tonstufen vor, deren Notierung nicht durch Zusatzzeichen der Noten, sondern durch Tabulaturnotation erfolgt. Auch Hans Zender (geb. 1936) hat in seiner 1980 entstandenen Kantate nach Meister Eckehart132 das Verlassen des temperierten Systems auf das Tasteninstrument ausgeweitet. Zenders Musiksprache bleibt trotz dieser Belebung des Tonmaterials akademisch, spröde. Andere Kompositionen, bei denen das dem zweimanualigen Instrument eigene Tonmaterial dank unterschiedlicher Temperierung jedes Saitenbezuges instrumentenidiomatisch ausgenutzt wird, sind Minos’133 von Anneli Arho (geb. 1951), komponiert 1978, Kevin Volans’ Mbira für zwei umgestimmte Cembali und Rasseln134, Jukka Tiensuus Fantango135 von 1984 und Ted Ponjees The female modes136 von 1985. In Ponjees Stück werden einige, aber nicht alle Töne des oberen 8-Fuß-Registers um Vierteltonschritte teils höher und teils tiefer gestimmt. Die Notierung ist dann auch so, daß jedes Manual seine zwei Systeme hat. Antonio Solers ungestüme südländische Sprache greift der Finne Jukku Tiensuu (geb. 1948) auf, der selbst ein virtuoser Cembalist ist. Solers berühmten Fandango hat er als Quelle seiner Inspiration herangezogen und als Fantango – eben als künstlerisch transformierten Tango – in das heutige Jahrhundert versetzt. Es ist ein aggressiver Tanz geworden, bei dem neben rhythmischem Schlagabtausch Mikrointervalle imaginäre schneidige Tanzfiguren wie in einem Zerrspiegel erscheinen. Diese Mikrointervalle in einer Skordatur von nicht mehr als einem Viertelton gegenüber der ‚normalen‘ Stimmung entstehen durch Umstimmung des dem zweiten Manual zugeordneten Saitenbezugs. Der Komponist selbst scheint diesem bestimmenden Moment seines Stückes allerdings keine essentielle Bedeutung zuzumessen; sein Fantango ist „for any keyboard instrument“137 geschrieben. Wenn dem Spieler kein zweites Manual (mit der Möglichkeit der Skordatur) zur Verfügung 132 Wergo: WER 60088 (LP). 133 Finlandia: FACD 367 (CD). 134 Siehe H. Brown, Style in contemporary harpsichord writing, in: Composer.[Zs. des British Music Information Centre] (1982), S. 17-20. 135 Finlandia: FACD 357 (CD). 136 Haags Gemeentemuseum: HGM CD 02 (CD). 137 So die Instrumentenbezeichnung auf dem Titelblatt der vom Finnish Music Information Centre vertriebenen Notenausgabe von 1993. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen steht, soll er die vorgesehene Differenzierung zwischen den Tönen in ‚normaler‘ Stimmung und denen in Skordatur durch andere Mittel der Dynamik, der Artikulation, der Klangfarbe oder einer anderen Charakterisierung erzielen. Daß Tiensuu in Fantango nicht nur den Reiz des Unüblichen auskostet, sondern auch bewußt an die Tradition des Cembalos anknüpft, zeigt er mit seinem Wunsch, man möge doch, wenn möglich, in einer nichttemperierten Stimmung spielen. Auch Georg Katzer (geb. 1935) vermehrt in seinem Konzert für Cembalo und Bläserquintett138 (1977) den Tonvorrat um Vierteltöne, doch beschränkt er diese Erweiterung auf das Bläserquintett – das zweimanualige Cembalo bleibt einheitlich temperiert in Halbtonschritten gestimmt. Die 1983/84 am Pariser IRCAM arbeitende amerikanische Komponistin Barbara Kolb (geb. 1944) erweitert die Klanglichkeit des Tasteninstruments auf ganz andere Weise: Nicht durch Erweiterung des Stimmungs-, sondern des metrischen Systems, wenn sie in ihrer 1971 für Igor Kipnis geschriebenen Toccata139 drei Cembalostimmen miteinander am Mischpult mischt. Ausgehend von der Scarlatti-Sonate in h-Moll K 87 entsteht durch elektroakustische Manipulation des Cembalotimbres zweier Tonbandeinspielungen im Zusammenklang mit einer dritten Cembalostimme eine neue Klanglichkeit des Instruments, die infolge unterschiedlicher Temponahmen der drei Stimmen jede Norm des Metrums negiert. Kolbs Toccata ist trotz des Fußens auf Scarlatti kein Ausdruck irgendeiner Nostalgie; sie durchzieht die pulsierende Maschinenhaftigkeit einer Fabrikhalle mit den verschiedensten Maschinen. Ähnliche Mittel wendet Noah Creshevsky (geb. 1945) in seiner ebenfalls 1971 entstandenen Komposition Circuit140 an. Doch sind es bei ihm keine drei, sondern zwölf sich überschneidende Tonspuren. Circuit ist eine veritable Schallplattenkomposition, sie ist nur als fertig abgemischte Aufnahme vorführbar. Eigentlich hat der Komponist das Werk nicht für ein spezifisches Instrument festgelegt, doch ist die einzige Schallplattenaufnahme141 auf einem Cembalo erfolgt, womit es sich in rezeptionsästhetischer Sicht bei Circuit um eine Cembalokomposition handelt. Im Konzertsaal besteht das klangästhetische Problem der Cembalo-Neukonstruktionen in ihrem schwachen Resonanzverhalten. Der Klang dieser Neukonstruktionen hat wenig sinnliche Körperlichkeit, weil er sich nicht im Raum entfaltet, wie dies bei vielen historischen Instrumenten der Fall ist. Insofern wird jede noch so aggressive, emotionsgeladene Komposition durch 138 Leipzig: Peters. 139 CRI: CD 576 (CD). 140 Manuskript. Für die freundliche Überlassung der Noten und der Schallplatteneinspielung möchte ich dem Komponisten danken. 141 Mit Marianna Rosett auf Opus One: 45 (LP). Martin Elste das Instrument reduziert, fast neutralisiert. Viele Komponisten fordern deshalb eine elektronische Klangverstärkung des Cembalos für ihre Kompositionen, ohne daß mit einer solchen Klangverstärkung auch zusätzliche Klangfarbwerte auskomponiert werden, obwohl dies möglich wäre. Ein Ausweg aus diesem klanglichen Handicap, das im Konzertsaal ein rezeptionsästhetisches Dilemma ist, bieten die Medien der Tonwieder- und weitergabe. Nicht von ungefähr steht auf dem Cover von Elisabeth Chojnackas 1970 veröffentlichtem Schallplattenalbum „Prospective 21° siècle: clavecin 2000“142, daß die Aufnahme bei großer Lautstärke gehört werden solle. Wer das moderne Cembalo im Konzertsaal erlebt und nicht in der künstlichen, überdimensionierten Akustik der Tonträger, die dem Instrument in aller Regel eine Direktheit vermitteln, die es in natura nicht hat, der ist von der Diskretion des Klanges irritiert oder aber beeindruckt. Das moderne Cembalo ist kein Instrument klanglicher Exzesse, es bleibt der Distinguiertheit der zurückgenommenen, kanalisierten Emotion verpflichtet. Insofern traktiert Elisabeth Chojnacka eigentlich das falsche Instrument! Immerhin hat ein Komponist versucht, mit einer hinsichtlich ihrer Besetzung monströsen Komposition die vom Instrument vorgegebenen Schranken zu durchbrechen und ins Gigantische zu erweitern: der in Amerika wirkende Engländer Raymond Quentin Wilding-White (geb. 1922). Seine Komposition WHATZIT No.7 (1971)143 benötigt 60 Cembalisten an 48 Cembali, 24 Assistenten („tape machine operators“) an 288 Stereotonbandgeräten, 48 Mikrophone und 24 Stereoverstärker. Welche Rolle spielt das Cembalo in John Cages & Lejaren Hillers 1967-68 konzipiertem und 1969 uraufgeführtem musikalischen Happening HPSCHD ? Die sieben Cembali, die inmitten einer Batterie von 51 individuellen Tonkanälen, aus denen elektronische Klänge strömen, weitere sieben Lautsprecher speisen, stellen die Verbindung zur musikalischen Geschichte her. Sie sind Medien der Vergangenheit, indem auf ihnen beständig Fetzen von Kompositionen von Mozart bis zur Gegenwart erklingen. Ein Cembalist spielt einundzwanzigmal eine Realisation von Mozarts musikalischem Würfelspiel KV Anh. C30.01. Vier weitere Cembalisten beginnen ebenfalls mit eigenen Realisationen dieser quasi aleatorischen Komposition, weichen aber peu à peu davon ab, indem zwei Cembalisten Passagen aus Sonaten Mozarts aufgreifen und die anderen zwei Klavierwerke von Beethoven, Chopin, Schumann, Gottschalk, Busoni, Cage und Hiller spielen. Ein anderer Solist spielt die Computer-Realisation, die die Basis der 51 Tonbänder ist, und der siebente Solist kann schließlich irgend etwas von Mozart nach eigenem Gusto spielen144. 142 Philips: 6526009 (LP). 143 Manuskript. 144 Siehe auch J. Cage & L. Hiller, HPSCHD, in: Source 2, 1968, Nr. 2, S. 10-19, so- Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen Cages Komposition ist in mehrfacher Hinsicht bei aller intendierten Aleatorik ein höchst komplexes Maschinenwerk. Die kompositorische Referenz auf Mozarts Würfelspiel fügt sich ebenso konsequent in diese Ästhetik ein wie die Tonfolgen, die in serieller Technik mittels Computer ausgewählt auf den 51 Tonbändern vorfabriziert erklingen. Und der Einsatz von Cembali als den einzigen traditionellen Instrumenten weist desgleichen auf MaschinenCharakter hin, auf die völlige Ausschaltung dessen, was wir als Tiefe, Gefühl, Sensibilität und dergleichen in der Musik definieren. Die Macht der Maschine wollen die Komponisten bereits mit dem Kompositionstitel andeuten, obwohl er letztlich nicht mehr als die Limitation der Maschine symbolisiert: HPSCHD ist mit seinen sechs Buchstaben die maximale Benennung auf den damaligen EDV-Systemen für „Harpsichord“. Klangkontrast als Formspezifikum Aufgrund seiner Klangerzeugung, des gezupften Tones, unterscheidet sich das Cembalo von den traditionellen Instrumenten des Orchesters fundamental; es mischt sich weder mit den Streichern noch mit den Bläsern, bildet immer einen Klangkontrast145. In Kompositionen, wo von vornherein ein aus klangheterogenen Instrumenten dennoch ausgewogen zusammengesetztes Ensemble gefordert wird wie z.B. in de Fallas Konzert, bringt das Cembalo eine kontrastierende Farbkomponente ins Spiel, die sich mit den anderen Instrumenten zu einem bunten, lebendigen Ensemble vermischt. Hier liegt der Klangkontrast im changierenden Detail. In Kompositionen, wo sich jedoch das Cembalo als isolierter Einzelkämpfer gegen einen Apparat von Instrumenten mit anderer wie die Beschreibung der Uraufführung von R. Kostelanetz, Environmental abundance, in: John Cage. Edited by R. Kostelanetz, London 1971/1974, S. 173-177 (= Documentary monographs in modern art. o. Bd.-Z.). Auch die neueste Monographie über die Musik von Cage (J. Pritchett, The music of John Cage, Cambridge 1993) geht nur auf das Happening „HPSCHD“ ein und nicht auf seine 1969 veröffentlichte medienspezifische Variante via Schallplatte Nonesuch: H-71224 (LP), die insofern den Hörer aktiv mit einbezieht, indem der Schallplatte ein Computer-Printout beigefügt ist, der genau festlegt, zu welcher Zeit und in welcher Weise der Hörer die Klangregler verändern soll, um sich aktiv in den Prozeß des Klanggeschehens einzuklinken. Der Aspekt der aleatorischen Computerkomposition ist in der Schallplattenversion sogar noch weitergeführt, weil jedem Schallplattenexemplar ein individueller Printout beigegeben war, keine „Schallplattenpartitur“ also der anderen glich – solange, bis die Schallplattenfirma wohl aus Kostengründen den individuellen Printout durch ein gedrucktes Blatt einer der 10000 verschiedenen Versionen ersetzte! 145 Das ist übrigens der Grund, warum sich das Cembalo als Direktionsinstrument im Opernbetrieb bis weit in das 19. Jahrhundert hinein gehalten hat: Das vom Cembalo vorgegebene Metrum war immer gut zu vernehmen. Martin Elste Tonerzeugung behaupten muß, ist es das blockhafte Gegeneinander, das die Komponisten als Formspezifikum eingesetzt haben. Carl Orffs Kleines Konzert geht bereits diesen Weg, wo das Cembalo sich gegen ein ansonsten homogenes Ensemble aus Bläsern und Schlagzeug durchsetzen muß. Das Klangproblem des Cembalos im Zusammenspiel mit Streich- oder Blasinstrumenten besteht darin, daß das Tasteninstrument im direkten Vergleich zu den Streich- und Blasinstrumenten nicht „singen“ kann – sein Einzelton bleibt immer mechanisch hart, läßt sich während seines Erklingens nicht dynamisch gestalten. Mit dieser Unterschiedlichkeit der Klangerzeugung und -qualität, die schon dem langsamen Satz von de Fallas Konzert einen ganz charakteristischen Reiz gibt, haben mehrere Komponisten gespielt. Ned Rorems (geb. 1923) 1964 komponierte Suite Lovers. A Narrative für Cembalo, Oboe, Violoncello und Schlagzeug lebt von just jenen Kontrastwirkungen. Bei Unisono-Klängen steht die Schärfe des Cembalotons in reizvollem Widerspruch zu der „schwimmenden“ Intonation des Vibraphons. Solche Kontraste der Instrumentation verschaffen auch Werken wie der 2. Sinfonie Ricordanze (1969) von Wilhelm Killmayer (geb. 1927) und den „Metamorphosen für zwölf Streicher und Cembalo“ ...durch einen Spiegel... (1977) des Finnen Joonas Kokkonen (geb. 1921) ihren besonderen Reiz. Bei Killmayer bildet das Cembalo mit rasch arpeggierten Akkorden einen Gegenpol zu den Legatolinien der übrigen Instrumente (Streicher, Querflöte, Oboe und Fagott). Kokkonen versucht gar nicht erst, das Cembalo mit den zwölf Streichern in eine Art wechselseitigen Konzertierens treten zu lassen, sondern setzt es überzeugend als Gegenklang (gleich zu Beginn etwa in Form arpeggierter Akkorde vor einem stationären Streicherklang) sowie generalbaßmäßig mit akkordischer Stützfunktion ein. Wenn es auch Stellen mit solistischem Figurenwerk gibt, kann ...durch einen Spiegel... nicht als Cembalokonzert klassizifiert werden. Der Klangkontrast zwischen Instrumenten ist in wesentlich stärkerer, damit aber auch in plakativerer Weise das Formspezifikum bei einem Stück wie der Sicilienne de rêve aus dem L’Album de Lilian, Deuxième série op. 149 146 (1935) von Charles Koechlin, das für Ondes Martenot und Cembalo geschrieben ist, oder dem Konzert für Orgel und Cembalo (1980) der estnischen Komponistin Ester Mägi (geb. 1922). Hier spielt die Orgel Haltetöne und -akkorde, während dem Cembalo filigranes Passagenwerk zufällt. Extreme Heterogenität der Klangerzeugung begegnet uns in Georg Katzers (geb. 1935) während der DDR-Musiktage 1978 von der Bläservereinigung Berlin uraufgeführtem und im Zusammenhang mit Stimmungserweiterungen bereits erwähnten Konzert für Cembalo und Bläserquintett (1977), das der Komponist ursprünglich als Kammermusik für Bläserquintett und Cembalo 146 Paris: Max Eschig 1986 (ME 8575-7). Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen bezeichnet hatte. Im ursprünglichen Titel zeigt sich der kammermusikalische Charakter, wie er bereits bei de Fallas Konzert dominiert. Doch bei Katzer beißen sich die Klangebenen Cembalo und Bläser, sie stehen sich virtuos konzertierend gegenüber. Damit das Cembalo dynamisch nicht unterlegen ist, sieht Katzer die elektroakustische Verstärkung des Instruments vor. In diese Kategorie des Klangkontrastes als Formspezifikum fallen auch jene Kompositionen, die den Cembaloklang mit dem Hammerklavierklang verbinden. Das wohl erste Werk mit dieser Instrumentenkombination ist Bohuslav Martinus Concert pour clavecin et petit orchestre 147 (1935), bei dem das kleine Orchester aus Querflöte, Fagott, Klavier und Streichern zusammengesetzt ist. In Frank Martins Petite symphonie concertante pour harpe, clavecin, piano et 2 orchestres à cordes148 (1945) ist der Kontrast hingegen weitgehend in einen Gestus des gemeinschaftlichen Konzertierens eingebaut. Die bekannteste Komposition, welche den Kontrast zwischen Kiel- und Hammerflügel auskostet, ist Elliott Carters (geb. 1908) Double concerto for harpsichord and piano with two chamber orchestras149 (1961). Das Werk geht auf einen 1956 erteilten Auftrag des Cembalisten Ralph Kirkpatrick zu einem Stück für Klavier und Cembalo150 zurück. Dank der für die Uraufführung zugesagten finanziellen Unterstützung durch den Mäzen Paul Fromm brauchte Carter keine Rücksicht auf die ansonsten begrenzte Probenzeit amerikanischer Orchester zu nehmen und konnte eine Komposition von außerordentlichem aufführungspraktischen Schwierigkeitsgrad schreiben. Die Referenz auf Carl Philipp Emanuel Bachs Doppelkonzert ist nicht von ungefähr, wenn auch nur von oberflächiger Parallelität: Carters Konzert ist eine Auftragskomposition anläßlich des Achten Kongresses der International Musicological Society in New York151. „The harpsichord and piano [...] are each given music idiomatic to their instruments, meant to appeal to the imaginations of their performers and cast them into clearly identifiable, independent roles“ schreibt der Komponist152. Was bedeutet dies in der Praxis? Hier beginnt Carters Konzert, ein hochinteressantes und in seiner Konsequenz singuläres Beispiel für den Ein- 147 Wien: Universal Edition 1958 (UE 12786 LW). 148 Wien: Universal Edition (UE 11773, Taschenpartitur: Philharmonia 385). 149 New York: Associated Music Publishers © 1964. 150 In den biographischen Details folge ich D. Schiff, The music of Elliott Carter, London; New York 1983, S. 205-227, der eine ausführliche formale Analyse liefert. 151 Uraufführung am 6. September 1961 im Grace Rainey Rogers Auditorium, New York City mit Ralph Kirkpatrick (Cembalo), Charles Rosen (Hammerflügel) und Orchestermusikern unter Gustave Meier. 152 Covertext zu der Einspielung auf Nonesuch: H 71314 (LP). Martin Elste fluß eines bestimmten Instrumententyps auf die Komposition zu sein. Denn Carter hat sein Konzert wie schon seine 1952 komponierte Sonate für Querflöte, Oboe, Violoncello und Cembalo153 nicht für Cembalo schlechthin, sondern für ein Challis-Cembalo geschrieben. John Challis (1907-1974) war der erste amerikanische Cembalobauer des 20. Jahrhunderts. Vom Vater, einem Juwelier und Uhrmacher, erwarb dieser seine Begeisterung für mechanische Präzision, eine Begeisterung, die seine professionelle Arbeit entscheidend bestimmen sollte. 1926 ging er nach England, um Cembalobau bei Arnold Dolmetsch zu erlernen. Seit 1930 baute er, inzwischen nach Amerika zurückgekehrt, eigene Instrumente, die sich durch den Mut ihres Konstrukteurs zum Experiment auszeichnen. In Europa weitgehend unbekannt geblieben, war Challis in den 50er und 60er Jahren der wohl meistgefragte amerikanische Cembalobauer154. Das Challis-Cembalo mit zwei Manualen und Registerpedalen war für Carter der Prototyp des Cembalos schlechthin. Im Unterschied zu den üblichen europäischen Cembaloneukonstruktionen ermöglichen die Registerpedale bei dem Challis-Konzertcembalo der 50er Jahre eine dynamische Differenzierung einen jeden Registers in zwei Stufen: „full-position“ (f) und „half-position“ (p). Doch das war nicht der einzige Unterschied. Die Disposition unterscheidet sich insofern von dem üblichen, als sich bei Challis im unteren Manual 4-Fuß, 8-Fuß und 16-Fuß (und Koppel) befinden und das obere Manual nur einen zweiten 8-Fuß regiert. Diese Disposition findet sich sonst wohl nur bei Instrumenten von Gaveau und Maendler155. Darüber hinaus haben beide 8-Fuß-Register einen Lautenzug. Die Klangdifferenzierung jenseits einer cembalistischen Anschlagskultur, lediglich durch Pedalschaltungen bestimmbar, wird zu einem Wesenszug der Carterschen Cembalostimme. So tritt in seinem Doppelkonzert das Paradox ein, daß das Cembalo den Differenzierungsreichtum des Hammerklaviers durch die Mechanisierung des neuen Instrumententyps mit einer Palette unterschiedlichster Klangfarbwerten kompensiert, die Klangästhetik des Hammerklaviers also auf seine eigene neue Mechanisierung adaptiert. Nicht alle Kompositionen, die das zweimanualige Instrument erfordern, benötigen auch die vielfältigen schnellen Registerwechsel. Das gilt besonders auffällig für Werke niederländischer Komponisten. Die in Holland beispielhaft durch einen Interpreten wie Gustav Leonhardt weit entwickelte historisierende Aufführungspraxis hat offensichtlich hier auch auf die zeitgenössischen Komponisten eingewirkt und die Cembaloneukonstruktionen mit ihren Pedal- 153 New York: Associated Music Publishers 1960. 154 Näheres zu Challis und seinen Instrumenten bei M. Elste, Nostalgische Musikmaschinen, a. a. O., S. 239-277, hier S. 267-269. 155 Vergleiche ebenda, S. 251-252. Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen schaltungen negiert. So hat Roderick de Man (geb. 1941) mit seiner enigmatischen Komposition What’s in a name? von 1985 ein Stück für das zweimanualige Cembalo geschrieben, aber bis auf die auch bei jedem historischen zweimanualigen Cembalo mögliche Kopplung des unteren 8-Fuß-Registers zum oberen 8-Fuß-Register keinerlei die besondere Mechanik des modernen Cembalos erfordernden Klangmöglichkeiten angewandt. Das Stück läßt sich also völlig unproblematisch auf einem historischen Instrument spielen. Hinsichtlich ihrer Tonsprache ist de Mans Komposition keineswegs cembaloidiomatisch gearbeitet. Und dennoch trifft sie das Typische des Cembalos insofern, als sie eine mechanistische Qualität hat, die in Richtung Minimal Music weist. Das Stück besteht im wesentlichen aus Taktrepetitionen. Zu Beginn erklingt ein einziger Ton, das es’, am Ende steht ebenfalls ein einziger Ton, das e’. Zwischen diesen beiden Tönen entwickelt sich ein Kosmos vielfältiger Repetitionen. 29 von 33 Takten mit wechselnder rhythmischer Komplexität werden mehrfach gespielt, zwischen einmaliger und fünfzehnmaliger Wiederholung. Läßt sich What’s in a name? auch auf dem Hammerklavier vorstellen, so ist Roderick de Mans Frenzy (1985), vier Monate später abgeschlossen, eine charakteristischere Cembalokomposition. Denn sie erfordert eine Attacke, die der Hammerflügel kaum liefern kann. Louis Andriessen setzt in seiner Overture to Orpheus (1982) idiomatisch die Möglichkeiten des zweimanualigen Cembalos ein, ohne daß er viel kompositorisches Aufheben macht. Andriessen verlangt lediglich die beiden ungekoppelten 8-Fuß-Register, womit seine Komposition ebenfalls auf jedem zweimanualigen Cembalo spielbar ist. Was macht Andriessen mit den zwei Manualen? Weil sich die beiden 8-Fuß-Register klanglich immer nur minimal unterscheiden, versetzt er ihre Klänge asynchron gegeneinander. Erklingt auf dem unteren Register ein c’, so zeitlich versetzt ein klanglich differenziertes c’ auf dem oberen Register. Die ersten Takte geben dieses klangliche Prinzip, dem diese Komposition zugrunde liegt, beispielhaft vor: Notenbeispiel 4 Martin Elste Moderne Cembalomusik auf der Schallplatte Wie wird moderne Cembalomusik verbreitet? Da es sich in der Regel um Auftragskompositionen handelt, konzertiert der auftraggebende Cembalist/die auftraggebende Cembalistin mit den für ihn/sie geschriebenen Werken und erreicht eher eine kleine, lokale Hörergemeinde. Weitere Verbreitung kann nur über Massenmedien erfolgen. Doch nur wenige zeitgenössische Kompositionen werden heute noch im Rahmen einer Editionsreihe publiziert. Sammelbände wie der von Ruth Zechlin156 sind ganz vereinzelte Sonderfälle. Daß das traditionelle Musikpublikationswesen kaum noch eine Rolle spielt, liegt an mehreren Gründen, die hier nur pauschal angeführt werden sollen: die hohen Herstellungskosten (Notensatz), die minimalen Auflagen, zum einen, weil das unautorisierte Fotokopieren dem Interessenten ermöglicht, sich sein Notenexemplar zu einem Bruchteil des Verlagsexemplars selbst herzustellen, zum anderen, weil moderne Komponistenmusik (das heißt die sogenannte E-Musik) sowieso nur ein Randbereich des heutigen Musiklebens ist. Statt dessen haben die Tonträgermedien gerade bei der Verbreitung von zeitgenössischer Musik große Bedeutung erlangt. Das trifft auch auf die Cembalomusik zu. Die erste Schallplatte mit einer „modernen“ Komposition, die den Cembaloklang integriert, ist Arturo Toscaninis Aufnahme des 2. Satzes aus Ottorino Respighis (1879-1936) erster Suite (1917) der Antiche danze ed arie. Sie erschien 1921157. Doch weder diese Aufnahme noch die ersten solistischen modernen Kompositionen, die danach auf Platten 1924 bzw. 1928 herauskommen158, sind echte moderne Musik. Das ist anders bei zwei kurzen Klavierstücken La cage de cristal sowie Le petit âne blanc aus den zehn Histoires (1922) von Jacques Ibert (1890-1962), die 1929 (oder sogar etwas früher) Mme. [Paule] de Lestang auf einer Schallplatte159 eingespielt hatte, auf deren Rückseite – oder besser: Vorderseite – sich François Couperins Rossignol en amour befand. 1931 erschien die erste genuine moderne Cembalokomposition auf Schallplatten: de Fallas Cembalokonzert, in einer Einspielung mit dem Komponisten 156 per il cembalo. Zeitgenössische Cembalomusik. Hrsg. v. R. Zechlin, a. a. O., mit Kompositionen von Reiner Bredemeyer, Edison Denissow, Gerd Domhardt, Hans Werner Henze, Viktor Kalabis, Václav Kucera, Miklós Maros, Gerhard Rosenfeld, Siegfried Thiele, Ruth Zechlin und Udo Zimmermann. 157 Mit dem Orchestra del Teatro alla Scala di Milano, aufgenommen 1920 auf His Master’s Voice: DB 418 (Schellackplatte 30 cm). 158 Zwei Eigenkompositionen von Wanda Landowska im Stil der Bourrée (beide betitelt Bourrée d’Auvergne) auf His Master’s Voice: DA 662 (Schellackplatte 25 cm) und His Master’s Voice: DA 964 (Schellackplatte 25 cm). 159 Disque „Gramophone“: K 5216 (Schellackplatte 25 cm). Kompositionen für nostalgische Musikmaschinen am Cembalo160, seither sind weltweit mindestens 24 Aufnahmen des Konzertes veröffentlicht worden. Damit ist dieses Konzert die am häufigsten kommerziell eingespielte moderne Cembalokomposition. Danach folgen Frank Martins Petite symphonie concertante (15 Aufnahmen) und Francis Poulencs Concert Champêtre (14 Aufnahmen). Diese drei gemäßigten Kompositionen sind auch die einzigen, von denen die marktbeherrschenden großen Labels wie Deutsche Grammophon, EMI, Philips und Teldec Classics immer wieder Neuaufnahmen vorlegen. Im wesentlichen wird das Schallplattenrepertoire für das moderne Cembalo von kleinen Firmen gepflegt. Selbst ein so bekanntes Stück wie Ligetis Continuum ist bisher nur von einer dieser großen Firmen161 veröffentlicht worden, die weiteren sechs Interpretationen sind ausschließlich von kleinen Schallplattenfirmen162 produziert worden. Und trotzdem: Das kurze Stück wurde dank der Schallplatte schnell weltberühmt. Schon wenige Monate nach der Uraufführung durch die Auftraggeberin und Widmungsträgerin Antoinette Vischer (Basel, Oktober 1968) erschien eine Schallplattenaufnahme von ihr auf dem von dem Kunsthistoriker Werner Goldschmidt gegründeten und ausschließlich der Avantgarde-Musik gewidmeten Wergo-Label163. Diese Schallplatteneinspielung als wirkungsvolle PR-Strategie des die Komposition verlegenden Musikverlags B. Schott’s Söhne zu interpretieren, ist wohl nicht ganz abwegig, denn der Musikverlag hatte 1967 Gesellschaftsanteile an der Wergo Schallplatten GmbH erworben. Im Zusammenhang mit Antoinette Vischers Schallplattenaufnahme sprach Ulrich Dibelius denn auch von einem „Schlager“ der modernen Musik, mit der „Qualität des Bestürzenden“164. Wer sich für moderne Cembalomusik interessiert, hätte seit dem Aufkommen der Langspielplatte weltweit etwa 73 Ausgaben von Schallplatten mit mindestens drei zeitgenössischen Kompositionen für das Cembalo erwerben können. Doch das Schallplattenrepertoire erschöpft sich ja nicht in solchen Sammelprogrammen und Recitals165. Vielfach erscheint das Cembalo auch als 160 In der Besetzung: Manuel de Falla (2man. Cembalo von Pleyel), Marcel Moyse (Querflöte), Georges Bonneau (Oboe), Emile Godeau (Klarinette), Marcel Darrieux (Violine), Auguste Cruque (Violoncello), aufgenommen 1930 und erstveröffentlicht in Spanien auf Regal: LFX 92/93 (2 Schellackplatten 30 cm); die jüngste Wiederveröffentlichung ist auf EMI Classics: 7 54836 2 (CD). 161 Philips: 6526009 (LP). 162 BIS, Caprice, col legno, Finlandia und Wergo (2 verschiedene Interpretationen). 163 Wergo: WER 305 (EP) im Rahmen der „Taschendiskothek neuer Musik“; eine neuere Wiederveröffentlichung trägt die Bestellnummer Wergo: WER 60161-50 (CD). 164 U. Dibelius in HiFi-Stereophonie, a. a. O., S. 269. 165 Ich definiere Sammelprogramm (bzw. Sammelplatte) als Tonträger mit mehr als zwei Kompositionen, Recital als Sammelprogramm eines Künstlers oder einer Künstlerformation. Martin Elste Begleitinstrument oder solistisches Orchesterinstrument. Wenn man alle diese Aufnahmen addiert, kommt man auf mehr als 800 kommerziell vermarktete Aufnahmen166, die auf rund 1500 verschiedenen Tonträgerausgaben (Schellackplatten, Langspielplatten, Compact Discs und einigen wenigen MusiCassetten) erschienen sind. Es handelt sich dabei um rund 600 verschiedene Kompositionen, von denen ca. 240 für Cembalo solo geschrieben sind, ca. 160 für eine kammermusikalische Besetzung. Der große Rest – immerhin ein Drittel! – betrifft neben einigen Konzerten hauptsächlich jene Orchester- und Musiktheaterwerke, bei denen ein Cembalo mit mehr oder weniger charakteristischem Duktus mitspielt und die in den letzten Jahren immer mehr geworden sind. Die Schallplatte trägt nicht nur zur Verbreitung der modernen Cembalomusik entscheidend bei. Man kann sogar argumentieren, daß erst sie rezeptionsästhetisch befriedigende Voraussetzungen für die moderne Cembalomusik geschaffen hat. Denn das Grundproblem der modernen Cembalokonstruktionen ist von Anfang an ihr unbefriedigendes Resonanzverhalten gewesen. Um die verschiedenen Dynamik- und Klangfarbwerte, die die Instrumente mit einer aufwendigen Disposition mit beispielsweise zwei 8-Füßen, 4-Fuß und 16-Fuß sowie Lautenzug bieten, sinnvoll und damit hörbar in ein Ensemble aus mehreren Instrumenten zu integrieren, bedarf es einer elektroakustischen Verstärkung. Doch die Verstärkung über Mikrophon, Verstärker und Lautsprecher bringt akustische Probleme mit sich. Nicht nur, daß das Mikrophon Spielgeräusche ebenfalls verstärkt. Die Plazierung der Lautsprecher kann sehr schnell die natürliche Klangortung durcheinanderbringen. Alle diese Probleme lassen sich bei einer Tonaufnahme in den Griff bekommen. Die Balance zwischen Cembalo und den übrigen Instrumenten kann völlig willkürlich reguliert werden, weil die visuelle Rezeptionsebene wegfällt. Elisabeth Chojnacka hat dieses Prinzip bei ihrem ersten Recital für Philips in ein ästhetisches Programm umgemünzt: Auf dem Cover steht: „Die Aufnahme muß bei großer Lautstärke und in der Dunkelheit gehört werden“167 – eine Rezeptionssituation, die in keiner Weise der traditionellen Konzertsaalsituation entspricht, weil sie auf den reinen Klang, den Klang an sich, ohne visuelle Beeinflussung zielt. 166 Unter Aufnahme wird in diesem Zusammenhang die Einheit von Komposition und der akustischen Fixierung einer Klangrealisation dieser einen Komposition verstanden; ein Sammelprogramm mit vier Stücken für das Cembalo umfaßt also vier Aufnahmen. An dieser Stelle können nur pauschale Angaben erfolgen. Eine detaillierte diskographische Arbeit des Verfassers über moderne Cembalomusik befindet sich in Vorbereitung. 167 Philips: 6526009 (LP).