S e xua lität & PA RTN E RSCH AF T S ch w a ng e rsch af t & Fa m i l i e np l a n u ng S e xua lPÄDAG O GI K & AU F K LÄ RU NG Dokumentation des Fachkongress am 26. und 27. Mai 2011 in Wuppertal Treffpunkt: Sexuelle Selbstbestimmung 30 Jahre Sexualpädagogik bei pro familia NRW pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Inhalt 3 Einleitung 46 Freitag 27. Mai 2011 – Programmübersicht 6 Donnerstag 26. Mai 2011 – Programmübersicht 47 7 Begrüßung durch die Geschäftsführung des pro familia Landesverbandes NRW Frau Rita Kühn Vortrag: „Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht“ Frau Sigrid Weiser (Redemanuskript) 57 Workshop 1: Anleitung zum Glücklichsein 59 Workshop 2: „Jungs – Eine Gebrauchsanleitung“ 61 Workshop 3: „Fragt uns doch!“ 64 Workshop 4: Pille, Präser und Co – ein Verhütungsupdate 66 Workshop 5: Vielfalt zeigen – methodische und didaktische Tipps 69 Workshop 6: „Mitten im Leben“ – Arbeit mit ausgewählten Zielgruppen 71 Podiumsdiskussion: Vom Tabu zur Zumutung – Wie geht es weiter? 11 Grußworte durch Herrn Klaus Bösche Abteilungsleiter im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW 15 Vortrag; Herr Prof. Dr. Uwe Sielert 26 Diskussionsforum 1: „Befreite Sexualität – eine Gefahr für den Islam?“ Frau Seyran Ates 28 Diskussionsforum 2: Hausaufgaben in Sexualkunde – Sexuelle Bildung zwischen Institutionalisierung und Emanzipation Herr Dr. Karlheinz Valtl 33 Diskussionsforum 3: „Ist Homophobie wieder salonfähig? Herr Dr. Andreas Hieronymus 35 Diskussionsforum 4: „Mr. Porno und Mrs. Sexting! Ist das die Lebenswelt von Jugendlichen?“ Frau Prof. Dr. Petra Grimm 40 Diskussionsforum 5: „Noch Neugier oder schon Gewalt?“ Herr Bernd Priebe 42 Diskussionsforum 6: „Ist das (R)recht?“ Frau Dr. Julia Zinsmeister pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Treffpunkt sexuelle Selbstbestimmung – 30 Jahre Sexualpädagogik im pro familia Landesverband NRW Beate Martin, Sprecherin des sexualpädagogischen Arbeitskreises 30 Jahre Sexualpädagogik in NRW – Anlass genug ein öffentlich zugängliches Resümee im Austausch mit externen FachkollegInnen in Form eines zweitägigen Kongresses zu ziehen. Die Idee einen Fachkongress zu konzipieren, ist daraus entstanden, dass es eine Vielfalt an spannenden sexualitätsbezogenen Themen gibt und es immer noch an Foren mangelt, bei denen sich Theoretiker und Praktiker an einen „Tisch setzen“, um sich gegenseitig zu befruchten und von einander zu lernen. Der pro familia Landesverband NRW setzt sich seit jeher für einen Austausch und Dialog mit anderen Professionen ein, deshalb sind die Teams in den Beratungsstellen auch interdisziplinär zusammengesetzt. Ein Anliegen des sexualpädagogischen Arbeitskreises in NRW war es auch (immer noch) tabuisierte Themen (z.B. Homophobie, Gewalt unter Jugendlichen) anzusprechen und zur Auseinandersetzung für sexualpädagogisches Handeln anzuregen. Zudem erschien der Zeitpunkt „30 Jahre danach…“ sinnvoll, um eine Bestandsaufnahme von sexualpädagogischem Handeln mit externen Personen zu erstellen, aus der zukünftige innovative Ideen entstehen können sowie die Vielfalt von sexuellen Handlungen zu präsentieren und zu reflektieren. Das Ziel gemeinsam mit anderen Visionen zu entwickeln sowie einen Theorie-Praxis-Transfer zu fördern, um über zukünftige Anforderungen nachzudenken, wurde erreicht. Wie alles begann … Schon in den 1970er Jahren wurde bei pro familia sexualaufklärerisch unter dem Motto „Jedes Kind hat ein Recht erwünscht zu sein“ gearbeitet. Die Schwerpunkte waren hier Jugendliche frühzeitig über Verhütungsmittel zu informieren. Der Bedarf an diesen Informationen, aber auch an vielen weiteren Themen, wuchs stetig, so dass daraufhin das pädagogische Profil der Sexualpädagogik NRW entwickelt wurde. Mit Beginn der 1980er Jahre verankerten immer mehr pro familia Beratungsstellen die sexualpädagogische Arbeit in ihrer Angebotspalette, wenn auch zunächst auf ABM Basis. Insbesondere in der außerschulischen Jugendarbeit, aber auch zunehmend in Schulen, zum Teil mit großen regionalen Unterschieden, wurde dann zum so genannten Tabu-Thema „Sexualität“ mit Schülerinnen und Schülern pädagogisch gearbeitet. Durch das Bekanntwerden von HIV-Infektionen und zunehmenden AIDS-Erkrankungen wurde 1988 das Youthwork-Programm vom Land NRW eingerichtet. Der Landesverband NRW hat die Konzeption des Youthwork- Programmes aktiv mitgestaltet und die Integration des Themas HIV/AIDS als sexuell übertragbare Krankheit in die Sexualpädagogik vorangetrieben. Bis heute besteht dieses Programm in veränderter Form in etlichen Kommunen fort. Präventives Arbeiten gewann an Bedeutung und so gelang es dem Landesverband Stellen für diese Tätigkeit einzurichten. Das Ziel die Arbeitsbedingungen von Honorartätigkeit und Ehrenamt hin zu festen, wenn auch zunächst befristet, Stellen zu verbessern 3 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W und die Erfolge in der praktischen Arbeit, motivierte die pro familia schon sehr früh, den Fachbereich zu professionalisieren. Bereits 1982 gründete sich der sexualpädagogische Arbeitskreis um den Informationsfluss innerhalb der pro familia NRW zu bewahren, die Qualität der Arbeit zu sichern und um sich intern und extern weiter fortzubilden und auszutauschen. Schon damals arbeiteten die PraktikerInnen eng mit Universitäten und anderen Disziplinen zusammen. Es ging vor allem darum ein neues pädagogisches Arbeitsfeld zu erforschen und zu etablieren. Durch stetig wachsende Nachfragen nach den sexualpädagogischen Angeboten ist es dem Landesverband und im Einzelnen den Beratungsstellen vor Ort gelungen, ein qualitativ hochwertiges Angebot bis heute zu etablieren. Durch die Einsichtsfähigkeit der Politik, die letztendlich Gelder zur Verfügung stellten, gelang es in NRW durch ein so genanntes Präventionsprogramm und die teilweise Fortführung der Youthworker - Stellen die sexualpädagogische Arbeit bei pro familia NRW für viele Jahre abzusichern. Heute ist die pro familia Sexualpädagogik ein fester Bestandteil im Rahmen des Schwangerenfamilienhilfegesetzes. Sexualpädagogik 2011 pro familia Sexualpädagogik steht für Qualität, Quantität und Fachlichkeit. Alle drei Merkmale sind gleichsam von Bedeutung, auch wenn diese in der Realität nicht immer einfach umzusetzen sind. Es mangelt nach wie vor an finanziellen und zeitlichen Ressourcen. In 30 Jahren sind die sexualpädagogischen Fachkräfte ihren Idealen treu geblieben, ohne sich gegenüber dem Zeitgeist zu verschließen. Das war nicht immer leicht, aber dem Verband und den MitarbeiterInnen ist es bis heute gelungen, ihre Ideen zu verbreiten und sich auch öffentlich zu heiklen und tabuisierten Themen zu äußern. Inhaltliche und organisatorische Leitung: Almuth Duensing, Gütersloh Beate Martin, Münster Organisationsteam: Pia Heck, Leverkusen Ulla Engel-Horstkötter, Köln-Chorweiler Peter Rütgers, Duisburg Anja Siekmann, Gladbeck Andreas Weitershagen, Bonn 4 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Donnerstag 26. Mai 2011 5 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. 6 Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Programm am Donnerstag 26. Mai 2011 09:30 Uhr Anmeldung & Steh-Cafe 11:00 Uhr Begrüßung Rita Kühn Geschäftsführerin des pro familia Landesverbandes NRW Grußwort Klaus Bösche Abteilungsleiter im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen 11:30 Uhr Vortrag und Diskussion: Was macht die Pädagogik, wenn die Sexualität kommt? 13:00 Uhr Mittagspause mit Imbiss 14:00 Uhr Diskussionsforen Prof. Dr. Uwe Sielert, Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1. „Befreite Sexualität – eine Gefahr für den Islam?“ Frau Seyran Ates, Berlin, Frauenrechtlerin und Anwältin türkisch-kurdischer Herkunft 2. „Hausaufgaben in Sexualkunde“ Dr. Karlheinz Valtl, Wien, Dozent des Instituts für Sexualpädagogik, Universitätsdozent Sexuelle Bildung zwischen Institutionalisierung und Emanzipation 3. „Ist Homophobie wieder salonfähig?“ Dr. Andreas Hieronymus, Hamburg, Wissenschaftsjournalist 4. „Mr. Porno und Mrs. Sexting! Ist das die Lebenswelt von Jugendlichen?“ Prof. Dr. Petra Grimm, München, Ethikbeauftragte der Hochschule der Medien in Stuttgart Empirische Befunde und medienpädagogische Impulse 5. „Noch Neugier oder schon Gewalt?“ Sexuelle Grenzverletzungen unter Jugendlichen – Erfahrungen und Eindrücke aus dem Hamburger Modellprojekt 6. „Ist das (R)recht?“ Sexuelle Rechte in der Praxis der Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe 17:00 Uhr Offene Angebote Ab 18:30 Uhr Festveranstaltung „30 Jahre Sexualpädagogik bei pro familia NRW“ Bernd Priebe, Hamburg, Theologe MA, Sexualpädagoge, Therapeut für sexuell misshandelte Kinder und Jugendliche Prof. Dr. Julia Zinsmeister, Köln, FH für Zivilund Sozialrecht Köln, Direktorin des Instituts für Soziales Recht pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Begrüßung Frau Rita Kühn, Geschäftsführerin des pro familia Landesverbandes NRW e.V. Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Ministerial-Dirigent Klaus Bösche, sehr geehrte Frau Peggi Liebisch, ich begrüße Sie als neue Geschäftsführerin des pro familia Bundesverbandes, sehr geehrte Referentinnen und Referenten, sehr geehrte TeilnehmerInnen, liebes Vorbereitungsteam, liebe UnterstüzerInnen, liebe KollegInnen der pro familia NRW, einen Fachkongress vorzubereiten, der neben fachlicher Expertise auch bei der methodisch/didaktischen Gestaltung auf innovative Elemente setzt und aktuelle Tendenzen aufgreift. hervorheben möchte ich die hervorragende Kooperation mit der Bergischen Universität Wuppertal, Fachbereich Design und Kunst und Gestaltungstechnik. Das Ergebnis ist für alle sichtbar, auf Initiative unserer Mitarbeiterin Frau Anja Siekmann hat sich Herr Ulrich Seiss als wissenschaftlicher Mitarbeiter dazu entschieden, die Ausschreibung zur Gestaltung des Kongresses an seine StudentInnen weiterzugeben und sie zu betreuen. Stellvertretend für die drei Studentinnnen begrüße ich Frau Katharina Brandhoff. Gemeinsam mit Hanna Fröhlingsdorf und Josefine Bley haben Sie mit Ihren guten Ideen das Layout der Plakate und Wegweiser durch den Kongress und die schöne Atmosphäre hier im Raum gestaltet, herzlichen Dank. Ich freue mich, dass ich Sie als TeilnehmerInnen zum Fachkongress „Treffpunkt: Sexuelle Selbstbestimmung – 30 Jahre Sexualpädagogik pro familia NRW“ und als Gäste zu unserer Jubiläumsfest heute Abend begrüßen kann. Herzlichen Dank an den Sexualpädagogischen Arbeitskreis des Landesverbandes, SPAK genannt, die Vorbereitungsgruppe und die aktuellen Sprecherinnen Beate Martin und Almuth Duensing. Mit Ihrem Engagement und Ihrem Fachwissen ist es gelungen Vielen Dank an die UnterstützerInnen und Sponsoren des Fachkongresses und der Festveranstaltung heute Abend. Dazu gehören die Stadtwerke und die Stadtsparkasse der Stadt Wuppertal, die Firma Coripa und natürlich der Landesverband pro familia NRW. Der Fachkongress möchte Informationen anbieten, zur Auseinandersetzung und zur Diskussion einladen und Vernetzung fördern. Wir möchten aber auch mit Ihnen zurückblicken und natürlich feiern. 30 Jahre Sexualpädagogik bei pro familia NRW ist ein stolzer Zeitraum. Seit mehr als 40 Jahren können sich Ratsuchende zwischenzeitlich an 35 Standorten in NRW unabhängig von ihrem Alter oder ihrer Herkunft mit allen Fragen zu Sexualität und Partnerschaft, Schwangerschaft und Familienplanung an die Beratungsfachkräfte der pro familia wenden. Seit 30 Jahren bieten zusätzliche sexualpädagogische Fachkräfte Jugendlichen und jungen Erwachsenen Workshops, Bildungseinheiten und 7 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Beratungen zu allen Fragen rund um Liebe, Sexualität und Verhütung an. Hinzu kommen Fachkräfte, die über Programme zur Aidsprävention gefördert werden, die Youthworker. Der Fachdiskurs mit pro familia hat dazu geführt, dass Aidsprävention in NRW verknüpft wurde mit Konzepten der sexualpädagogischen Arbeit. In diesen dreißig Jahren haben sich die Zielgruppen kontinuierlich erweitert, so werden die Angebote neben den klassischen Arbeitsfeldern zunehmend von Einrichtungen in der Behindertenhilfe und von Menschen mit Beeinträchtigungen in Anspruch genommen. Hinzu kommt, dass sich die Wege der Anfragen und damit wiederum die Themenfelder verändert haben, hier meine ich den ganzen Bereich des Internets und der Email-Beratungen. pro familia leitet das Handeln aus Überzeugungen ab, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt sind. pro familia hat die Vision einer demokratischen Gesellschaft, deren Fundamente Solidarität, Verantwortung und Gleichberechtigung sind. Als Verband treten wir für die sexuellen und reproduktiven Rechte ein. Je nach Schwerpunktsetzung geht es um sexuelle Selbstbestimmung, um die freie Wahl und den Zugang zu Verhütungsmitteln, um die Förderung von Gestaltungsmöglichkeiten in Beziehung, Partnerschaft und Familienplanung. Bezogen auf den sperrigen Begriff reproduktive Rechte geht es insbesondere darum, dass jeder Mensch selbst bestimmen kann, ob und wann ein Kind geboren wird. Dazu mischen wir uns in fachpolitische Diskurse ein, werten wissenschaftliche Erkenntnisse aus und entwickelt Konzepte, die Ratsuchende, Frauen und Männer, junge und alte Menschen bei der Wahrnehmung und ggf. Durchsetzung ihrer Rechte unterstützen. Allein im Jahr 2010 konnten mit den sexualpädagogischen Angeboten von pro familia NRW fast 40.000 Personen erreicht werden. Die Idee einen zweitägigen Fachkongress zu konzipieren, ist entstanden, weil es eine Vielfalt an spannenden Themen gibt und an Foren mangelt, bei denen sich Theoretiker und Praktiker an einen Tisch setzen und sich austauschen. pro familia hat sich schon immer für einen Austausch und Dialog mit anderen Professionen eingesetzt, deshalb sind die Teams in den Beratungsstellen auch interdisziplinär zusammengesetzt. In den Beratungsstellen der pro familia arbeiten SozialberaterInnen, PsychologInnen, Ärztinnen, SexualpädagogInnen und Beratungsstellenassistentinnen interdisziplinär zusammen. Die sexualpädagogischen Arbeitsansätze haben sich kontinuierlich weiter entwickelt und das muss auch so sein. Die Anliegen der Ratsuchenden und die Situationen, in denen wir sie antreffen, verändern sich, neue Erkenntnisse und Entwicklungen eröffnen neue Möglichkeiten der Arbeit, der Unterstützung. pro familia macht sich dafür stark (immer noch) tabuisierte Themen (z.B. Homophobie, Gewalt unter Jugendlichen) auf die Tagesordnung zu setzen und sich aktuellen Themen zu stellen. Wir wollen 8 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Handlungsansätze reflektieren und gemeinsam mit Ihnen neue Ideen, vielleicht sogar Visionen entwickeln. Wir möchten den Theorie- Praxis-Transfer fördern und im kollegialen Austausch mit anderen Disziplinen und KollegInnen über zukünftige Anforderungen nachdenken. Ich bin gespannt auf Ihre Diskussionen hier auf dem Fachkongress. Sie werden sich genau mit diesen Fragen beschäftigen. Wie arbeiten wir heute, welche Entwicklungen stellen wir aktuell fest, in welchem Umfeld findet sexualpädagogische Arbeit heute statt und welche Fragen und Herausforderungen stellen sich an die praktische Arbeit. pro familia orientiert sich an den Rechten der Ratsuchenden. D.h. es geht nicht darum Hilfen zu gewähren, sondern um die Unterstützung bei der Wahrnehmung von Rechten. Dieser Blick, diese Ausrichtung der Arbeit ist von zentraler Bedeutung. Hier knüpfen Methoden und Vorgehensweisen an, die Raum für das Suchen nach eigenen Werten und Orientierungen schaffen, die ermutigen eigene Wege zu gehen, die aber auch dazu befähigen Grenzverletzungen wahrzunehmen und unterschiedliche Erwartungen im gegenseitigen Respekt auszuhandeln. Eine spannende und lohnende Aufgabe, dies in Konzepte einfließen zu lassen und in praktische Arbeitsansätze runter zu brechen. Ich denke, Sie sind die Fachleute, die sich dieser Herausforderung stellen und Einiges haben Sie ja bereits entwickelt. pro familia wird nicht müde mit dem Land, mit den kommunalen Kostenträgern über die Absicherung der Arbeit zu verhandeln. Einig sind sich zwischenzeitlich alle, die Angebote sind in NRW nicht mehr wegzudenken. Die hohe Nachfrage sowohl von Institutionen und Ratsuchenden als auch die Rückmeldungen - insbesondere von jungen Frauen und Männern - sprechen für sich. Das bedeutet auch mit Blick auf die vielen NutzerInnen unserer Angebote, dass Politik und Verwaltung in NRW sich gemeinsam mit uns dafür stark machen sollten, unsere Arbeit abzusichern. Leider befinden wir uns hier in einer nicht so erfreulichen Auseinandersetzung mit dem zuständigen Fachministerium. Das Ausführungsgesetz in NRW wird so interpretiert, dass wir befürchten müssen, dass gut nachgefragte Fachkräfte nicht mehr gefördert werden um dafür bei anderen Verbänden neue Fachkräfte einzustellen. Eine solche Situation hat es bisher bei der Förderung sozialer Dienstleistungen in NRW nach unserer Kenntnis noch nicht gegeben. Wir hoffen über den Dialog mit den Zuständigen eine Reform des Ausführungsgesetzes zur Finanzierung der Schwangerschaftsberatung in NRW (NeuFinSchKG ) auf den Weg bringen zu können, die sich an der Nachfrage und der Sicherung der Qualität der Angebote orientiert. Verdrängen dieser Fragen ist keine Lösung sondern führt wie in anderen Bereichen eher zu Verunsicherung, im schlimmsten Fall zur existenziellen Krise. Deshalb werden wir geeignete Gelegenheiten suchen um die 9 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Verantwortlichen in Politik und Verwaltung für unsere Anliegen zu sensibilisieren, um mit ihnen tragfähige Lösungen zu beraten. Auf unserem Fachkongress heute und morgen steht der fachliche Austausch im Vordergrund. Sie als Fachfrauen und Fachmänner werden Handlungskonzepte besprechen und Verabredungen für Kooperation und Vernetzung treffen. Die Ergebnisse dieses Fachkongresses und damit Ihre Empfehlungen, können von anderen Facheinrichtungen genutzt, Ihre Erfahrungen wiederum über den Fachaustausch mit anderen Fachkräften zur Weiterentwicklung der Angebote führen. Und wir möchten natürlich auch das 30-jährige Jubiläum Sexualpädagogik in NRW feiern. Deshalb lädt der pro familia Landesverband alle KongressteilnehmerInnen zur Festveranstaltung heute Abend ein. Wir freuen uns, dass Sie als KongressteilnehmerInnen und einige weitere Gäste und „alte sexualpädagogische KollegInnen“ an dieser Feier teilnehmen werden. Ich wünsche Ihnen einen Fachkongress mit engagierten Diskussionen, vielen Erkenntnissen und guten Ergebnissen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Rita Kühn Geschäftsführerin pro familia NRW 10 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Grußwort Herr Klaus Bösche, Abteilungsleiter im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW Sehr geehrte Frau Kühn, sehr geehrter Herr Professor Dr. Sielert, sehr geehrte Damen und Herren, zunächst einmal sage ich herzlichen Dank für Ihre Einladung nach Wuppertal zu Ihrem Fachkongress. Leider muss ich die Familienministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau Ministerin Ute Schäfer, entschuldigen. Sie wäre sehr gern zur Eröffnung dieses Kongresses gekommen, muss aber heute Mittag in Essen die Jugend- und Familienministerkonferenz eröffnen. In diesem Jahr ist Nordrhein-Westfalen Vorsitzland und Gastgeber dieser Fachministerkonferenz. Gern hat Frau Ministerin Schäfer jedoch die Schirmfrauschaft über diesen Kongress übernommen und mich ermächtigt, ein Grußwort zur Eröffnung zu sprechen. Meine Damen und Herren, sehen Sie mir nach, dass ich nun Einiges sage, was Sie selbst gut kennen und seit langem wissen. Gelegentlich soll es ja gut tun, wenn man und frau Solches auch von Anderen hören! Pro familia ist mit 36 Beratungsstellen einer der großen Träger der Schwangerschaftsberatung in Nordrhein-Westfalen. Zum gesetzlichen Beratungsauftrag gehören auch Sexualaufklärung und Familienberatung und zwar in Form von Einzelberatungen sowie als sexualpädagogische Gruppenarbeit. Die pro familia-Beratungsstellen sind auf dem Gebiet der Sexualpädagogik besonders profiliert, sie haben bei diesen Veranstaltungen landesweit die größte Reichweite. Und die Tendenz ist steigend: – Im Jahr 2005 sind im „Förderprogrammcontrolling“ des Landes die Gruppenveranstaltungen der einzelnen Verbände zum ersten Mal getrennt erhoben worden. – In diesem Jahr 2005 hat pro familia NRW rund 1.400 sexualpädagogische Gruppenveranstaltungen durchgeführt, – 2009 waren es 2.320, also eine Steigerung um fast zwei Drittel. – Mit diesen Veranstaltungen wurden auch immer mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreicht: 2005 waren es 23.200, diese Zahl stieg auf 30.800 im Jahr 2009, also immerhin um etwa ein Drittel. Mit solch konkreten Zahlen kann ich nur auf einen relativ kurzen Zeitraum von fünf Vergleichsjahren zurückblicken. Sie dagegen haben die kommenden zwei Kongresstage dem Thema „Sexualpädagogik“ in den zurückliegenden 30 Jahren gewidmet. Sie haben dazu Fachleute aus der ganzen Republik – und darüber hinaus – eingeladen, und Sie nähern sich dem Thema ebenso grundsätzlich wie besonders: Es soll um sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht gehen und Sie wollen konkrete didaktische Fragen diskutieren, um nur zwei Aspekte zu bemessen. 11 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Das ist folgerichtig, denn Sexualität ist gleichermaßen ein Menschheitsthema, ein Gesellschaftsthema und zugleich eines der persönlichsten Themen für jede und jeden Einzelnen. – Kaum ein Bereich menschlichen Lebens hat so viele Facetten wie die Sexualität: – Im glücklichsten Fall ist sie Ausdruck von „wahrer“ Liebe, sie ist aber auch eine käufliche Dienstleistung – oder eben eine Ware. – Sie ist verborgen und geheimnisvoll, und begegnet uns doch täglich in aller Öffentlichkeit, zum Beispiel in der Werbung („sex sells“). – Sexualität ist einerseits schambesetzt und wird tabuisiert und andererseits eine Projektionsfläche von „Befreiung“. Wahrscheinlich hat sich im zurückliegenden 20. Jahrhundert der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität so rasant entwickelt wie nie zuvor in der bekannten Geschichte der Menschheit: – Die Erkenntnis, dass Sexualität zum Menschen gehört, dass sie ein menschliches Grundbedürfnis ist und Selbstbestimmung auf diesem Gebiet ein Grundrecht – das sind wichtige Errungenschaften der modernen demokratischen Gesellschaften. – Im Bereich der Sexualität folgte die formal-rechtliche Umsetzung dem Zeitgeist durchweg mit deutlichem Abstand. So ist zum Beispiel in Deutschland die Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar. Auch die Auffassung, dass die sexuelle Orientierung nicht staatlich reglementiert werden sollte, ist noch relativ neu, schließlich wurde die Strafbarkeit „gleichgeschlechtlicher Betätigung“ in der Bundesrepublik erst 1994 formal aufgehoben. Von der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paarbeziehungen mit der Frau-Mann-Beziehung in der Institution „Ehe“ will ich an dieser Stelle lieber gar nicht sprechen. Dieser gesellschaftliche Entwicklungsprozess wird uns wohl noch eine längere Zeit beschäftigen. Meine Damen und Herren, wo steht der einzelne Mensch – vor allem der einzelne junge Mensch – in der gesellschaftlichen Debatte um den Stellenwert von Sexualität? Gibt es zu diesem Thema einen öffentlichen Bildungsauftrag und wer setzt diesen auf welche Weise um? Sicher ist: Sexualität ist ein Lebensthema, das Gegenstand öffentlicher Bildung sein muss und dies auch ist. So erörtert die Kultusministerkonferenz diese Fragen regelmäßig in einer eigenen Arbeitsgruppe, und in den Schulministerien der Länder werden die Inhalte der Lehrpläne entsprechend erarbeitet. Wie Nordrhein-Westfalen dazu aktuell steht, darüber wird morgen Nachmittag in der Podiumsdiskussion Herr Dr. Horst Bickel aus dem Schulministerium Rede und Antwort stehen. Durchgeführt wird der sexualpädagogische Unterricht vielfach von freien Trägern der Schwangerschaftsberatung – wie pro familia. Man ist versucht zu sagen: 12 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Und das ist auch gut so – vor allem in den höheren Schulklassen: Zum Einen gehen Schülerinnen und Schüler mit weniger Befangenheit an das Thema heran, wenn es von „außen“ in den Unterricht hereingetragen wird. Es ist halt einfacher, Fragen zu Körper, Fortpflanzung und Verhütung einer eher unbekannten und unbefangenen Person zu stellen, als dem Fachlehrer oder der Fachlehrerin, der oder die demnächst wieder die schulischen Leistungen in herkömmlichen Fächern bewertet. Zum Anderen ist Sexualpädagogik ein eigener komplexer Fachbereich, für dessen Vermittlung permanente Fortbildung und Weiterentwicklung erforderlich sind. – – – – – Fragen der Methodik und Didaktik, Inhalte und Materialien, besondere Zugänge zu speziellen Zielgruppen, Sensibilität im Umgang verschiedener Kulturen und immer wieder die Reflexion der eigenen Haltung das sind nur einige Aspekte einer zeitgemäßen Sexualpädagogik, die sich kontinuierlich am Stand der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Diskussion orientieren muss. Für pro familia gehört es zum Selbstverständnis, die Beraterinnen und Berater regelmäßig fortzubilden. Die Fortbildungsquote von 98,5 Prozent war 2009 die höchste unter allen Trägern in Nordrhein-Westfalen. – Wobei pro familia hier Spitzenreiter bei einem allgemein sehr hohen Niveau ist: Die Fortbildungsquote liegt bei den meisten Trägern über 90 Prozent. Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu den Aufgaben der Sexualpädagogik gehört es einerseits, Wissen zu vermitteln und andererseits, die eigene Urteilskraft der Jugendlichen zu entwickeln und zu stärken. Die Funktionen des Körpers und die Abläufe bei der Fortpflanzung zu erläutern – das sind die Grundlagen der Sexualpädagogik. Ein zentrales Thema ist nach wie vor das Wissen um Fruchtbarkeit und Verhütungsmethoden. Diese Themen mit Jugendlichen zu bearbeiten, die zum Teil in der „Hoch-Zeit“ der Pubertät sind, und dies zugleich sachlich und seriös, altersgerecht und unverkrampft zu tun – schon das verlangt große pädagogische und fachliche Kompetenz und Erfahrung. Noch anspruchsvoller ist allerdings die Aufgabe, mit den Jugendlichen an Urteilsvermögen und Haltungen zu arbeiten. Anschauungsmaterial zum Thema „Sexualität“ steht jungen Leuten heute – in den unterschiedlichsten Formen und zu jeder Zeit – im Internet und in anderen Medien zur Verfügung. Je nach einschlägiger „Vorbildung“, die die Schülerinnen und Schüler mitbringen, ist es ohne Frage schwierig bis sehr schwierig, 13 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Werte wie Selbstbestimmtheit, Freiwilligkeit, Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit nachhaltig zu vermitteln. Meine Damen und Herren, auch – oder: erst recht? – in einer offenen, demokratischen Gesellschaft steht die Sexualpädagogik also weiterhin vor großen Herausforderungen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, braucht es hohe Professionalität und großes Engagement der Akteurinnen und Akteure. Beides ist für pro familia NRW selbstverständlich - und zwar seit 30 Jahren ungebrochen. Ihr Fachkongress ist eines von vielen guten Beispielen dafür, wie pro familia sich in die Debatte um Sexualpädagogik und sexuelle Selbstbestimmung einbringt. Die Kongressthemen spiegeln die gesellschaftliche Realität und sie zeigen den Entwicklungsbedarf der sexualpädagogischen Theorie und Praxis auf. Das unterstreicht: Pro familia NRW war, ist und bleibt am Puls der Zeit! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine produktive Veranstaltung mit interessanten Begegnungen und wichtigen Impulsen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen ist gespannt auf die Kommunikation und Kooperation mit pro familia in der Zukunft. Es ist heute nicht die Zeit und der Ort, das eine oder andere Thema zu vertiefen, das Frau Kühn in der Begrüßung angesprochen hat. Das werden wir an anderer Stelle tun. Nun bitte ich um Ihr Verständnis, wenn auch ich nicht mehr lange hier bleiben kann und mich gleich ebenfalls auf den Weg nach Essen mache. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Frau Ministerin Ute Schäfer wünscht Ihrem Kongress einen guten Verlauf und die Landesregierung Nordrhein-Westfalen wünscht pro familia NRW im Bereich der Sexualpädagogik auch für die nächsten 30 Jahre viel Erfolg! 14 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Vortrag Herr Prof. Dr. Uwe Sielert, Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Was macht die Pädagogik, wenn die Sexualität kommt? Eine historische Diskursgeschichte in 6 Teilen: Die Mainstream-Pädagogik hat die Sexualität bekämpft (1), partiell befreit (2), an die Sexualpädagogik delegiert (3) und ist im Moment dabei, sich vor ihr zu sichern (4). Immer vermied sie die Auseinandersetzung (5) – wir sollten das ändern (6). Vor ziemlich genau 20 Jahren hielt Ina Maria Philipps auf einer Fachtagung zur Sexualpädagogik (ich meine, hier in Wuppertal) einen Vortrag mit dem Titel „Was macht die Lust, wenn die Pädagogik kommt? Es ging um eine Standortbestimmung der Sexualpädagogik, die sich neu zu definieren versuchte nach sehr wechselhaften Phasen des Umgangs der Gesellschaft und ihrer Pädagogik mit einer mal als Gefahr und mal als Befreiung mystifizierten Sexualität. Ein kurzer Rückblick: 1. Die Pädagogik im Kampf gegen die Sexualität: In den 50er Jahren, in der Adenauerära, wurde die Pädagogik mit allen ihren Konzepten und Institutionen eingesetzt, um Sexualität zu bekämpfen. Nach einer Analyse kritischer Sexualsoziologen hatte dieser Umgang mit Sexualität vor allem die Funktion, sich nicht mit der Hitler-Diktatur auseinander setzen zu müssen und die Aggression schlicht auf die Sexualität zu verschieben: „Sauberkeit schützt vor Nationalsozialismus“. 2. Die Pädagogik und ihr sexueller Befreiungsversuch: Ausgelöst durch ganz viele gesellschaftliche Ursachen begann in den 60er und 70er Jahren ein pädagogischer Befreiungsversuch zur Nutzung sexueller Lebensenergie für die persönliche Lust, Selbstbestimmung und politische Provokation und Emanzipation, angefangen in Wohngemeinschaften über die Kinderläden, Fürsorgeheime, Jugendverbände und reformpädagogischen Internate. Helmut Kentler formulierte für Pro Familia die 10 Thesen einer emanzipativen Sexualpädagogik und arbeitete mit vielen anderen an einer damals revolutionären Materialmappe für die sexualpädagogische Praxis: „betrifft: sexualität“. Sexualität sollte nicht nur als individuelle Glücksquelle freigesetzt werden sondern galt als politischer Hoffungsträger und wurde in Bezug zum Nationalsozialismus mit umgekehrtem Vorzeichen funktionalisiert: Befreite Sexualität als Faschismus- Prävention. Das konnte nicht lange gut gehen und wurde in den 80er Jahren mit der Regierungsübernahme durch die CDU mit einem geistig moralischen Feldzug beantwortet. Äußeres Zeichen: Rücknahme der Materialmappe betrifft: Sexualität. 15 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Aber der erneute Versuch, die Pädagogik für den Kampf gegen die Sexualität einzusetzen, funktionierte nicht so bruchlos, denn – Es gab Pro Familia NRW, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die sexuelle Emanzipation ein nicht mehr auszutreibendes Anliegen war. – Es gab einen nicht ganz so konservativen Jugendminister, Heiner Geißler, der ein eher sozialdemokratisch geführtes Institut der Uni Dortmund damit beauftragte, neue sexualpädagogische Materialien zu erarbeiten – Und es gab eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit des Modellprojekts mit den Sexualpädagogen von Pro Familia und anderen Verbänden sowie eine mehr oder weniger heimliche Allianz mit einigen Akteuren der emanzipativen Phase (Helmut Kentler, Fritz Koch, Gerhard Glück u.a.) politisch geschützt durch Rita Süßmuth als neue Familien- und Jugendministerin. Es ging auf dieser Fachtagung 1993 deshalb um die Frage „Was macht die Lust, wenn die Pädagogik kommt?“, weil sich die gerade sich neu formierende Sexualpädagogik gegen verschiedene Fronten behaupten und ihr Verständnis von Pädagogik erklären musste: – Zum einen gegen eine Pädagogenmehrheit, die – verschreckt von den Experimenten der emanzipativen Aufbruchsphase – wieder zu einer stärkeren Reglementierung sexueller Lebensenergie zurück wollte, – zum anderen aber auch gegen die Einwände der kritischen Sexualwissenschaft, die in der emanzipativen Sexualpädagogik eine Agentur der repressiven Entsublimierung ausmachte. Ich verstand das damals überhaupt nicht, dass ein Hauptvertreter der Kritischen Sexualforschung, Eberhard Schorsch die Mitarbeit an einem Buch über Jugendsexualität von Frank Herrath und mir barsch verweigerte und zugleich darauf hinwies, dass wir niemanden der kritischen Zunft, weder Sigusch noch Schmidt, noch Dannecker oder Reiche mit ins Boot bekämen. Wie wurde argumentiert? Die Pädagogik, und besonders perfide die emanzipative Sexualpädagogik stünde in der Gefahr, aus Unwissenheit um das Wesen der Sexualität ihre befreiende Wirkung zu übertreiben, sie zu entprivatisieren und damit die Lust der Formierung durch Wirtschaft, Politik und Pädagogik auszusetzen. „Subversiv“ – so schrieb der Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch, sei spätestens seit den 1970er Jahren eher die Weigerung an einer solchen Veröffentlichung teilzuhaben 1. Natürlich waren die kritischen Sexualwissenschaftler damals auf dem pädagogischen Auge blind und hatten auch keine Antwort auf die Frage, wie die Menschen ihre Lust zur Selbstbestimmung einsetzen können, ohne das irgendwo lernen zu dürfen. Aber immerhin musste sich die emanzipative Sexualpädagogik mit der Frage auseinandersetzen, 1 Eberhard Schorsch (1989): Kinderliebe, posthum herausgegeben in: Dannecker, M./Schmidt,G./ Sigusch, V. (1993): Perversion, Liebe, Gewalt. 16 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W wie sie denn vermeiden wolle, dass Pädagogik durch die Befreiung der Lust die Menschen einer erneuten Ausbeutung durch die Gesellschaft aussetzt. Ina Maria Philipps antwortete für die Sexualpädagogik natürlich mit dem, was heute noch stärker zum Zentrum der Botschaft von Pro Familia steht, mit dem Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Kinder und Jugendlichen: Es gelte, „Mädchen und Jungen Mut zu machen, ihre eigenen Maßstäbe zu entwickeln, was sie schön, anregend, befriedigend oder lusttötend finden, was sie suchen und was sie vermeiden wollen.“2 Nun gut, das war eine gute konzeptionelle Grundlage für eine sich institutionalisierende und professionalisierende Sexualpädagogik: Pro Familia NRW wurde größer, die Abteilung Sexualaufklärung der BZgA nahm ihre Arbeit auf, das Institut für Sexualpädagogik wurde gegründet, etwas später die Gesellschaft für Sexualpädagogik. In der Erziehungswissenschaft, im Erziehungs- und Bildungssystem allgemein hatte man nun eine eigene Disziplin, ein Spezialsystem, an das alle Fragen der Sexualität delegiert werden konnten. Man vermied das Thema Sexualität und schob es der Sexualpädagogik zu, schön begrenzt auf Kinder und Jugendliche und möglichst als Gefahrenabwehrpädagogik. 3. Pädagogik delegiert statt sich mit Sexualität auseinanderzusetzen Den meisten Professionellen kam das entgegen: Immerhin konnten somit peinliche Gesprächssituationen, unangenehme Selbstoffenbarungen vermieden werden, man ging und geht immer noch Konflikten aus dem Weg und setzt sich vor allem nicht dem Vorwurf aus, sich ins Private der Menschen einzumischen. Institutionen mussten ihr Selbstverständnis und Ansehen nicht in Frage stellen, wenn mal wieder jemand aus den eigenen Reihen grenzüberschreitend aufgefallen war oder sich die ganze Einrichtung selbst dem Befreiungsdiskurs verschrieben hatte (Odenwaldschule) und die Tonangebenden ihr pädosexuelles Tun durch Neutralisierungstechniken verschleiern konnten. Die „toxischen Situationen“ in den Einrichtungen und die Legitimierungsideologien pädagogischer Konzepte blieben unentdeckt und die Erziehungswissenschaft als Disziplin enthielt sich eines unbequemen, weil rational nicht erfassbaren Themas. Auch, wenn wir uns als Vertreterinnen und Vertreter der Sexualpädagogik immer wieder gegen die Eingrenzung unserer Themen auf Körperaufklärung und Gefahrenabwehr wehrten und Aids- und Missbrauchsprävention an eine positive, lustfreundliche Sexualerziehung zu binden versuchten, und obwohl wir die Theoriebildung bis zur Sexuellen Bildung aller Lebensalter vorantrieben: In den größeren Zusammenhängen unserer Institutionen, in denen wir tätig sind und im Erziehungs- und Bildungswesen 2 Philipps, Ina Maria (1993): Was macht die Lust, wenn die Pädagogik kommt? 17 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W allgemein blieb unser Thema und unser Anliegen periphär, gerade mal geduldet, manchmal auch belächelt. Sexualität wurde auf allen Ebenen zur Privatsache erklärt, hatte ihre energetische Schubkraft im offiziellen System verloren. Mit der Attitüde kritischer Liberalität der Nichteinmischung ins Liebesleben der Menschen wurde bis vor kurzem gern auf jene hinabgesehen, die sich mit dem ganz handfesten Unwissen, den psycho-sexuellen Defiziten oder der moralischen Orientierungslosigkeit der Menschen beschäftigen. Ich nehme an, die Sexualpädagoginnen von pro familia wissen, wovon ich rede, oft wurden sie in ihrem eigenen Verband nicht so ganz ernst genommen. Ich selbst fühlte mich in meiner eigenen wissenschaftlichen Community bis vor kurzem noch als Exot, sehr wohl geachtet als Kollege natürlich – man geht ja respektvoll miteinander um – aber mit einem Thema befasst, das dann doch nicht so ganz ernst genommen wird. Ein Vorbehalt, Sexualität für voll zu nehmen, hängt mit der Tendenz jeder Wissenschaft auch der Bildungsinstitutionen zusammen, das Emotionale überhaupt zu meiden. Pädagogik wird auf allen Ebenen für sachlich-vernünftiger ausgegeben, als sie das dem Sinngehalt nach eigentlich sein kann. Als im März 2010 während des Kongresses der DGfE in Mainz das Ausmaß der sexuellen Übergriffe in katholischen Internaten und der Odenwaldschule als Einrichtung der Reformpädagogik bekannt wurde und die 3 Journalisten eine Stellungnahme der Professorenschaft einforderten, reagierte der alte Vorstand der obersten Standesorganisation gespalten: Einige wuschen ihre Hände in Unschuld – nach dem Motto: „Was geht uns das an, wenn die Praxis Mist baut“, die Mehrheit setzte eine abstrakte Stellungnahme durch, welche die ZEIT folgendermaßen beschrieb: „In einem gestelzt formulierten Papier nimmt die Pädagogenvereinigung mit ‚Betroffenheit und Anteilnahme’ zur Verletzung der psychischen und physischen Integrität von Heranwachsenden in pädagogischen Institutionen Stellung“. 3 Das intellektuelle Stottern der offiziellen Pädagogik hielt auch noch während des Öffentlichen Workshops im Februar an, als wir versuchten, uns dem Thema Sexualität, Macht und Pädagogik systematisch zu nähern. Manche Beiträge gingen am Thema vorbei, andere befassten sich ausschließlich mit Gewalt, Sexualität blieb in der Regel außen vor. Ich habe den meisten Erwachsenen in Politik und Wissenschaft diese Geringschätzung des Emotionalen und Sexuellen eigentlich nie ganz abgenommen. Aber wer sich öffentlich damit befasst, wird in der Regel auch persönlich an seinen Äußerungen gemessen und natürlich ist es einfacher, die eigene private Situation völlig außen vor zu lassen oder nur das Vorzeigbare darzustellen. Die Neugier der Medien und deren Benutzer könnten ja das sorgfältig aufgebaute Ansehen vernichten, käme dies oder jenes aus dem Privatleben ans Licht. Die Befürchtung ist ja auch nur Die Zeit. Donnerstag, 18. 3. 2010 Nr. 12, Seite 71-72. PresseDatenbank , Artikelnr.: A4694033 18 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W zu berechtigt, solange mit der Fiktion sittlicher Ehrbarkeit religiöser oder auch reformpädagogischer Erhabenheit geworben wird. Jedenfalls möchte ich nicht in Hartmut von Hentigs Haut stecken, den ich als Reformpädagoge sehr schätze aber nicht verstehen kann, wie er die Machenschaften seines pädokriminellen Lebenspartners Gerold Becker auch nach deren Enthüllung noch so ungeschickt öffentlich vernebeln kann. Angesichts der aktuellen Situation, bei der die Sexualität im Gewand diverser Formen sexueller Gewalt der Pädagogik auf die Pelle rückt, also nicht nur im Privaten grassiert, sondern sich als hässliche Subversion wie Maulwürfe in die mehr oder weniger wohlbestellten Felder des Pädagogischen eingraben, ist in vielen Pädagogikbereichen Panik ausgebrochen (Nichts gegen Maulwürfe, allein ihre Strategie soll hier als Metapher gelten). Welche Haupttendenz ist zu beobachten? 5. Pädagogik sichert sich vor der Sexualität Nun könnte eingewandt werden: „Wieso Sexualität, es geht doch um Gewalt, die sich der Sexualität bemächtigt!“ Nichts anderen meine doch der Begriff der „sexualisierten Gewalt“! Und schon ist die Sexualität wieder dethematisiert wie beim Frühjahrsworkshop der DGfE in Berlin zu beobachten: Über Gewalt redeten viele, über Sexualität nur Kurt Starke und ich. Das mag fürsorglich der Sexualität gegenüber gemeint sein. Aber das geht nicht mit der Vorstellung, Sexualität sei gut und Gewalt sei böse. Auch gewaltige Sexualität hat ihre Berechtigung und lebendige sexuelle Sensation lebt von Grenzüberschreitungen, Spielen der Macht und Ohnmacht, vom Spontanen und Fremden. Und das alles kann auch mal daneben gehen. Die gilt es zu kultivieren aber nicht darum, aus der Sexualität eine liebevoll demokratische Veranstaltung zu machen. Es geht also um Sexualität, mit der sich die Pädagogik momentan auf allen Ebenen auseinanderzusetzen hat und es dominieren ahnungs- und hilflose Versuche meist technischer Problemlösungen: Die Irritation ist aber überall spürbar: – Erzieherinnen, Lehrerinnen, Sozialpädagoginnen der Jugendhilfe sind vorsichtig geworden mit Körperkontakt zu Kindern und Jugendlichen, verstehen unter Professionalität Distanz und meiden Nähe. – Schulen, Internate und Jugendhilfeeinrichtungen exkludieren die Verdächtigen, verstärken die internen Kontrollen und verlassen sich auf Ethik- Codes, auf Personal- und Beschwerdemanagement... – Konzepte der Pädagogik reinigen sich von pädagogischer Liebe und bekämpfen sich untereinander (Reformpädagogik gegen Staatspädagogik, Evangelikale Disziplinmodelle gegen humanistische Pädagogik) – Und die Erziehungswissenschaft als Disziplin kommt ins intellektuelle Stottern, die alten Herren der Zunft empfehlen den Ausbildungsstätten, 19 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W pädophile Lehramtsanwärter herauszufiltern und den anderen, bei erotischen Schwingungen sich halt zusammenzureißen. Nie habe ich so konzentriert ehrliches Bemühen aber gleichzeitig so viel sexualwissenschaftliche und sexualpädagogische Ahnungslosigkeit mitbekommen wie in den letzten Monaten meines Engagements in einigen Unterkommissionen des „Runden Tischs gegen sexuelle Gewalt“, im Beirat des Deutschen Jugendinstituts, auch in der Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und ich nehme an, dass es vielen von Ihnen genau so gegangen ist. Jahrelange sexualpädagogische Arbeit, von uns Sexualpädagoginnen und –pädagogen an der Basis, durch Theoriebildung und Materialsammlungen betrieben scheint an den übrigen der pädagogischen Zunft völlig vorbei gegangen zu sein. Ich habe den Eindruck, es geht nur noch um den Aufbau technischer Sicherungssysteme, um „SecurityPädagogik“, und Sexualpädagogik wird hier und da als weichgespültes SEK, als sexualpädagogisches Einsatzkommando dorthin geschickt, wo mal wieder ein sexueller Übergriff stattgefunden hat. Auf rechtspolitischer Ebene wird am strafrechtlichen Sicherungssystem gestrickt: Viele – von den jüngsten Skandalen in pädagogischen Kontexten aufgeschreckte Eltern, aber auch professionelle Erzieherinnen und sogar einige meiner Kollegen aus der DGfE stellen die momentan geltenden Schutzaltersgrenzen unseres Rechtssystems in Frage. Sie plädieren für die Erwei- terung aller bisher für Kinder (unter 14 Jahren) vorgesehen Schutzrechte auf Jugendliche, so dass die Grenze zwischen sexuellem Erfahrungslernen und sexuellem Missbrauch kaum noch zu ziehen ist und das Rechtsgut völlig diffus wird. Es ist einfach unsinnig zu meinen, man könne Kinder und Jugendlichen eine ungestörte Entwicklung ermöglichen, wenn man bestimmte soziale Sphären von sexuellen Einflüssen freihält. Wenn Jugendliche übergriffig, gewalttätig oder gefährdet sind, können wir auf das zurzeit gültige Zivil- und Jugendrecht und das Eingreifen der Jugendämter vertrauen. Verstoßen Pädagoginnen und Pädagogen gegen berufsethische Standards und beuten Jugendliche aus, kann dieses Verhalten sehr konkret durch Familienrecht, Arbeitsrecht, Beamtenrecht und andere Regelungen erfasst werden. Keinen Sinn hat es, ein strafrechtliches Jugendschutzgut zu formulieren weil damit allen Jugendlichen die notwendig in dieser Lebensphase wachsende sexuelle Selbstbestimmung abgesprochen wird. Eine Erweiterung des Kind-Begriffs auf Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr und eine rein strafrechtliche Perspektive wirken auch nicht präventiv. „Derartige Konstruktionen begünstigen allenfalls eine Infantilisierung der Gesellschaft, verbessern aber nicht den Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts Jugendlicher.“ (Frommel 2011 – unveröffentlichtes Manuskript) Glücklicherweise hat pro familia sich schon des Problems dieser unsinnigen noch immer diskutierten 20 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Strafrechtsänderung angenommen, das ISP hat entsprechend kritische Texte auf seiner homepage veröffentlicht, die GSP leider noch nicht so deutlich. Aber die Stimmen der Sexualpädagogik werden im gesellschaftlichen Diskurs noch kaum zur Kenntnis genommen. Es darf einfach nicht sein, dass die Rechte von Jugendlichen auf sexuelle Selbstbestimmung überwiegend von Kriminologen, Sexualwissenschaftlern und Psychotherapeuten öffentlich wahrnehmbar vertreten werden und kaum hörbar von sexualpädagogischer Seite, obwohl die Kompetenz dazu doch vor allem bei uns liegt. Zuwendung, seelisches und körperliches Trostspenden oder das Verweigern desselben, auch die eigene sinnlich-erotische Ausstrahlung oder das Gegenteil davon. Sexualität ist auch immer deshalb im Spiel, weil der pädagogische Bezug von Gefühlen der Sympathie und Antipathie, von Übertragungen und Gegenübertragungen, von sinnlichen, auch körperlichen Anmutungen beeinflusst wird, manchmal auch von einer ganz spezifischen – in der Regel - uneigennützigen Liebe, die das Leben eines Kindes oder Jugendlichen in Obhut nimmt. Pädagogik hat die Sexualität bisher bekämpft, befreit, delegiert und sich vor ihr gesichert, kaum aber mit ihr auseinandergesetzt. Dabei ist Sexualität nicht ohne Erziehung denkbar und Erziehung können wir nicht ohne Sexualität verstehen. Sexualität überlagert und durchquert in diesem Sinne die beschriebene Machtdifferenz in pädagogischen Verhältnissen vielfältig. Sowohl die Sexualerziehung selbst als auch die emotionale, von Anfang an sinnlich und oft erotisch spürbar gefärbte Wechselseitigkeit der pädagogischen Beziehung sind eng mit dem Geflecht von Machtwirkungen im Erziehungsprozess verwoben. Die von Gefühlen ausgehende Schubkraft trägt pädagogische Beziehungen ebenso wie sie diese zu ändern vermag. Darüber, dass Kinder und Jugendliche auch sexuell erzieherische Begleitung brauchen, besteht breiter Konsens quer durch alle Lager, der Streit beginnt nur bei der inhaltlichen Füllung dieses Anspruchs. Dass Macht und auch Sexualität aber konstitutiv zur Erziehung gehört, scheint für die meisten völlig neu zu sein. Erziehung arbeitet immer mit legitimer, also ganz wichtiger und leider auch oft mit illegitimer Macht, die dann Gewalt heißt. Machtmittel sind auch Anerkennung, Erziehungsmacht ist verführerisch; sie erhöht das Selbstwirksamkeitsgefühl, so dass es nahe liegen kann, mit ihr in problematischer Weise zu handeln, sie problematisch einzusetzen. Besondere Aufmerksamkeit, offen geäußerte Sympathie bis zum instrumentellen Einsatz erotischer Schwingungen können das Verhalten des Gegenübers im gewünschten Sinne beeinflussen. Jede und jeder ist potentiell gefährdet, Macht auf diese Weise zu nutzen, wenn die Situation 5. Vor allem scheut die Pädagogik die Auseinandersetzung 21 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W es erlaubt. Das wissen auch Kinder und Jugendliche, die beim pubertären Experimentieren ihre Grenzen testen und ebenfalls mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, auch Verführungskünsten, aus der Position eines Unterlegenen heraus agieren, um diese zu verändern. Sie versuchen das, bis sie auf klare Grenzen stoßen oder auf Grenzüberschreitungen, die sie vielleicht provoziert, als Minderjährige aber nicht zu verantworten haben. Wenn das alles unreflektiert bleibt, tabuisiert, der Privatheit überantwortet, darf sich keiner wundern, wenn sich in der Gesellschaft, insbesondere aber in unseren Schulen, Heimen, Jugend- und Sportverbänden, natürlich auch in unseren Familien subversiv sexueller Machmissbrauch im Generationenverhältnis aber auch zwischen Kindern und Jugendlichen untereinander entwickeln können und sich diese Schattenseiten der Sexualität – ich sage es noch einmal - wie Maulwürfe in die mehr oder weniger wohlbestellten Felder des Pädagogischen hineingraben. Und gleichzeitig verheißen Erotik und Lust der Körper ein kreatives Chaos, das Lebendigkeit, Lebensfreude, Innovation und Konflikt und Verbundenheit mit sich bringt, ohne die Erziehung zu einer blutleeren Veranstaltung wird. Wir wollen, dass Kinder und Jugendliche durch sexuelle Bildung Glücksmomente der Erregung, des Verliebtseins, der tiefen Verbundenheit, auch der Bewältigung von Trennungsschmerz erleben und damit konstruktiv umgehen lernen. Wie kann es dann sein, dass in unserem Bildungssystem kaum ein seriöser Mensch solche Ergebnisse als Erfolgsnachweis seiner erzieherischen Bemühung für sich zu reklamieren wagt. Warum eigentlich, wo doch jeder weiß, wie wichtig lebenspendend sinnlich-erotische Erfahrungen sich auswirken? Im Namen sexueller Lust ist bisher kaum eine pädagogische Theorie oder Konzeption entstanden, obwohl das die beste Prävention auch gegen sexuelle Gewalt wäre. Eher bringen Versagungen und Verbote die Leute auf die Beine. Die negativen Begleitumstände einer ungebildeten Sexualität – von sexuell übertragbaren Krankheiten über Gang-bang von Jugendlichen bis zu sexueller Gewalt – stacheln das allgemeine Nachdenken eher an als der freudig lustvolle Kern. Die Forderung von Karlheinz Valtl, neben der pädagogischen Förderung intellektueller, musikalischer oder sportlicher Besonderheiten auch die „sexuelle Hochbegabung“ in das zu fördernde Bildungsprogramm aufzunehmen, löst regelmäßig Heiterkeit oder Schenkelklopfen aus. Pädagogik sympathisiert doch immer noch mehr mit der Liebe zur Ordnung als einer kreativen Liebesunordnung. 6. Sexualpädagogik als Entwicklungshilfe für die Pädagogik Was ist zu tun? Welche Aufgaben haben die in Deutschland vielleicht 200 in Wissenschaft, Verwaltung und Praxis tätigen Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen mit Expertenstatus gegenüber den andern 2 Millionen hauptamtlichen Lehrerinnen, 22 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Erzieherinnen, Sozialarbeitern und Erwachsenenbildnern? Sexualpädagogik hat sich professionalisiert, institutionalisiert, zu einem kleinen System mit Expertise entwickelt, wie auch diese Fachtagung deutlich macht. Im Moment ist die gesellschaftliche Situation günstig. Mit einer Top-down-Strategie sollen die bisherigen Erkenntnisse des Runden Tischs zur Intervention und Prävention bei sexueller Gewalt in allen Bereichen der Pädagogik implementiert werden. Es brauchte offenbar des Einbruchs eines sexuell abweichenden Verhaltens in die pädagogische Normalität, um den Dialog gleichsam zu erzwingen. – – – – Die DGfE veranstaltet ihren Fachkongress im Frühjahr zum Thema „Grenzüberschreitungen“ und ist bereit, mit einigen wichtigen Veranstaltungen an der Grenze zwischen Sexualpädagogik und den anderen Disziplinen der Pädagogik den Dialog zu beginnen. Das Jugendministerium hat da 2 Millionen Euro zur Gewaltpräventnion für die Beratung von Jugendhilfeeinrichtungen zur Verfügung gestellt. Das Deutsche Jugendinstitut hat repräsentative Studien zum Vorkommen von sexuellen Übergriffen in Heimen, Internaten, Schulen durchgeführt und auch nach der Existenz sexualpädagogischer Konzepte gefragt. Das BMBF hat für 2,3 Millionen Euro ein Fortbildungsmodell mittels ELearning in Auftrag gegeben, das für alle helfenden und erzieherischen Berufe gedacht ist. Über den Runden Tisch und das BMBF wird ein – – – Initiativkonzept zur (auch) sexualpädagogischen Fortbildung für alle Schulen in die entscheidende Bund- Länder – Steuergruppe für Bildungsplanung eingegeben. Das BMBF hat insgesamt 30 Mio Euro für die Erforschung aller möglichen Themen rund um sexuelle Gewalt in Institutionen und Familien zur Verfügung gestellt, von denen 10 Mio der Pädagogik zugute kommen. Es soll Forschung sein, deren Ergebnisse sehr schnell in die Praxis transferiert werden, zu diesem Zweck sollen vor allem Transfertagungen vom Ministerium finanziert werden. Für Sexuelle Gewalt und Sexualpädagogik werden max. 5 Juniorprofessuren an Hochschulen eingerichtet, die eine nachhaltige Infrastruktur von (auch) sexualpädagogischen Kompetenzzentren anbahnen sollen. In diesem Zusammenhang kommt – so hoffe ich, auch eine enge Zusammenarbeit zwischen der kritischen Sexualwissenschaft und der Pädagogik zustande – zumindest sind Verhandlungen wegen eines Verbundprojekts zur sexualpädagogischen Aus- und Fortbildung aufgenommen worden. Ich weiß, es gibt auch genügend Gegenbeispiele, Stellen- und Budgetkürzungen mit denen sich vor allem die Basisarbeit herumschlagen muss. Aber lasst uns die Chancen wahrnehmen, die in der momentanen Situation liegen. Sexualpädagogik ist gefordert, und es wird ihr ermöglicht, aus der kommunikativen Latenz der letzten Jahre herauszutreten und ihr Wissen, ihre 23 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Erfahrungen der Pädagogik im Allgemeinen zur Verfügung zu stellen. Sie hat mit ihren Erfahrungen rund um die Sexualität als kostbare, aber auf Begleitung angewiesene Qualität menschlichen Lebens einen riesigen Vorsprung vor jeder sinnenneutralen Pädagogik, die diese Quelle menschlicher Lebendigkeit nicht wahrhaben will. Ich danke für Eure/Ihre Aufmerksamkeit! 24 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 1 2 3 4 5 6 7 1) Begrüßung Rita Kühn – Geschäftsführerin pro familia Landesverband NRW 2) Grußwort Klaus Bösche, Abteilungsleiter im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NordrheinWestfalen 4) Prof. Dr. Uwe Sielert – Hauptvortrag „Was macht die Pädagogik, wenn die Sexualität kommt?“ 6) Karl-Heinz Valtl in der Diskussion mit TeilnehmerInnen sowie Bilder vom Tage 25 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 1: „Befreite Sexualität – eine Gefahr für den Islam?“ 26 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 1: „Befreite Sexualität – eine Gefahr für den Islam?“ Frau Seyran Ates, Frauenrechtlerin und Anwältin türkischkurdischer Herkunft, Berlin Die Juristin S. Ates verteidigt unerschrocken eine fortschrittliche Vision des Islam, sie kämpft für Freiheit und Rechte der Frauen und Kinder – für dieses Engagement hat sie bereits neben anderen Auszeichnungen das Bundesverdienstkreuz erhalten. nen Lebenserfahrungen und Informationen zur Lebensund Denkweise muslimischer Menschen. Die TeilnehmerInnen erhielten Antworten auf viele konkrete Fragen, die sich in der Arbeit mit muslimischen Mädchen und Jungen stellen. Aus ihrem Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ (Klappentext): – Wer im Islam frei und selbstbestimmt über seine Sexualität entscheiden will, vorehelichen Sex fordert oder sich offen zu seiner Sexualität bekennt, begibt sich in Lebensgefahr. Gleichzeitig behauptet die islamische Welt, die bessere, die moralischere Religion zu haben. Einige muslimische Fanatiker bekämpfen den vermeintlich dekadenten Westen sogar mit Gewalt. Doch eine Gesellschaft, die freie Selbstbestimmung untersagt, ist in jeder Hinsicht rückschrittlich. Ehrenmord, Zwangsheirat, Kopftuchzwang, sexuelle Selbstbestimmung, Jungfräulichkeit vor der Ehe waren zentrale Themen in der Diskussion mit Frau Ates. Die Bedeutung eben dieser Themen in der praktischen Arbeit als Sexualpädagoge/in wurden diskutiert und beleuchtet. In der Diskussion wurde deutlich, dass muslimische Jugendliche in Deutschland in ihrer sexuellen Selbstbestimmung mit einer Doppelmoral konfrontiert werden. Frau Ates sieht das Aufzeigen dieser Doppelmoral als wichtige Aufgabe der Sexualpädagogik. Seyran Ates plädiert für eine sexuelle Revolution im Islam. Genau wie die Frauen und Männer in den westlichen Ländern, die in den 60er Jahren erfolgreich für ihre sexuelle Selbstbestimmung gekämpft haben, müssen sich Musliminnen und Muslime ihre Rechte erstreiten. Nur so können Freiheit und Menschenwürde in der islamischen Welt wirklich gelebt werden. – Die sexuelle Bildung, die u.a. durch die Sexualpädagogik in den letzten 20 Jahren mit entwickelt wurde, ist für Frau Ates ein unverzichtbarer Teil, der zur sexuellen Revolution beiträgt. Ein selbstbestimmtes Leben in einer Demokratie schließt für sie eine selbstbestimmte Sexualität mit ein. Im Diskussionsforum las Frau Ates Passagen aus ihrem Buch, das 2009 erschienen ist, vor. Sie ergänzte die Texte mit ihrem Wissen über den Koran, ihren eige- Moderation: Inge Thömmes, Bielefeld Protokoll: Ulrike Wehmeier, Gütersloh 27 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 2: Hausaufgaben in Sexualkunde – Sexuelle Bildung zwischen Institutionalisierung und Emanzipation 28 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 2: Hausaufgaben in Sexualkunde – Sexuelle Bildung zwischen Institutionalisierung und Emanzipation Herr Dr. Karlheinz Valtl, Dozent des Instituts für Sexualpädagogik, Universitätsdozent, Wien Teil I TeilnehmerInnen des Diskussionsforums waren überwiegend LehrerInnen sowie (außerschulische) SexualpädagogInnen. Im Plenum herrschte ein wertschätzender, unterstützender Umgang zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen. Hausaufgaben Klasse 9b – 3 Stellungen als Skulptur in Kleingruppen erarbeiten – Flächenberechnung eines Vibrators – Selbstbefriedigung: Leichtes Hinauszögern üben, Teil II – Über`s Wochenende! Sexuelle Bildung in der Schule und ihre Widersprüche/ Ambivalenzen Einstieg: Austausch zu zweit zu folgenden Fragen: – Welche Hausaufgabe würdest Du als LehrerIn zum Thema „Sexualität“ gerne einmal geben? – Was würdest Du keinesfalls in der Schule als Hausaufgabe geben, obwohl Du es pädagogisch sinnvoll findest? – Wovor hättest Du am meisten Angst, wenn Sexualität in der Schule mit Hausaufgaben konkret wird? (aus LehrerInnen- bzw. SchülerInnenPerspektive) Ergebnisse der anschließenden Diskussion im Plenum: Hausaufgaben sind in der Schule Pflicht. Dadurch werden sie einerseits zwar legitimiert, andererseits wäre jedoch insbesondere in Bezug auf Sexualität Freiwilligkeit wünschenswertes Prinzip. Ebenfalls wünschenswert wären je nach Thema differenzierte Hausaufgaben für Mädchen und Jungen. Freiwilligkeit sollte bei sexuellen Themen mit persönlichem Bezug auch beim Vortragen der Hausaufgaben gelten. Eine Möglichkeit, diese in den Unterricht einzubringen, wäre z.B. die Meta-Ebene: „Wie ging es Dir mit den Hausaufgaben?“ Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellte war: “Wie weit darf ich im institutionellen Rahmen von Schule gehen?“ Zum Beispiel „Flirten“ als Hausaufgabe. Wäre das im Hinblick auf bestehende Partnerschaften vertretbar? Hausaufgaben sind in der Regel bei SchülerInnen negativ besetzt. Sie stehen somit im Widerspruch zu Botschaften in der Sexualerziehung. Am Beispiel Sexualberatung zeigt sich aber auch, dass die sogenannte „Hausaufgabenverschreibung“ als Interventionsstrategie indiziert und durchaus sinnvoll sein kann. Hausaufgaben in „Sexualität“ sehen die teilnehmenden LehrerInnen im Widerspruch zur eigenen Rolle bzw. zur Institution. Verunsicherung herrscht hinsichtlich der Frage: „Kann/darf ich das …?“. LehrerInnen agieren immer im Kontext von Benotung. Hingegen haben SexualpädagogInnen als Externe andere Möglichkeiten. Kritisch angemerkt wurde im Zusammen- 29 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W hang mit Unterrichtsinhalten/Hausaufgaben, dass es fragwürdig sei, „Mathe zu versexen“, damit sie für SchülerInnen interessant wird. Sensibler Umgang ist auch im Hinblick auf die Rolle von SchülerInnen gefordert, da diese wesentlich empfindlicher seien. Benannt wurde die mögliche Angst von SchülerInnen, bei Hausaufgaben vergleichbar zu werden sowie die Angst, Intimes in der Klasse preiszugeben. Zusammenfassend: Alle diskutierten Aspekte scheinen konflikthaft. Das Forcieren von Sexualität als Thema im Unterricht würde „zu weit gehen“, das Auslassen von Sexualität im Unterricht würde bedeuten, ein wichtiges Thema zu negieren. Schule ist als „Lebensraum“ zu begreifen, in dem Sorge dafür getragen wird, den SchülerInnen sichere, auch sexuelle, Erfahrungen zu ermöglichen. Aufgrund des engen, kontinuierlichen Kontaktes zwischen SchülerInnen und LehrerInnen ist die situative Sexualerziehung in Schule zu verorten. Sexualerziehung/Aufklärung kann nur in Teilen an externe SexualpädagogInnen delegiert werden. Das Thematisieren von z.B. Pornographie oder Penislängen bei Jungen kann bei SchülerInnen „Druck“ nehmen. Jungen und Mädchen wollen „Realität“ kennenlernen und es sollte Aufgabe von Schule sein, das zu leisten. In jedem Fall müssen die individuellen Grenzen der Lehrkräfte beim Thema „Sexualität“ berücksichtigt werden. Untergräbt erotische Ausstrahlung die Autorität? Geäußerter Wunsch an LehrerInnen: Professionelles, selbstbewusstes „Standing“ in Bezug auf die eigene Sexualität. Teil II Austausch in Kleingruppen und Vorstellen einzelner Aspekte im Plenum zu Spannungsfeldern, die in der vorangegangenen Diskussion deutlich geworden sind mit: Pflicht/Verbindlichkeit vs. Selbstbestimmung/Freiwilligkeit/Lockerheit Intimität vs. Provokation/exponiert sein/sich outen: Gewisses Maß an Outing ist wichtig, um gut zu arbeiten. In verantwortbarem Maße schafft es Vertrauen und Gemeinsamkeit. Wo ziehe ich meine persönlichen Grenzen bei Fragen von SchülerInnen? Was zeige ich von mir? Grundvoraussetzung ist Ehrlichkeit in Bezug auf die eigene Sexualität. LehrerInnen/SexualpädagogInnen haben für SchülerInnen eine Vorbildfunktion. Eine Aufgabe von PädagogInnen ist es, Grenzen von SchülerInnen zu wahren, wenn diese selber das nicht tun. Es gilt, sowohl die eigenen Grenzen, als auch die anderer zu definieren. Es geht um „Befreiung“, nicht um „Entgrenzung“. Standing/Selbstreflexion/professionelles Selbstbewusstsein/Rollenflexibilität vs. entpersönlichtes Funktionieren Keiner will „entmenschlichtes Funktionieren“! In der (sexualpädagogischen) Arbeit gilt es, authentisch zu 30 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W sein, sich nicht zu verbiegen. Pädagogische Professionalität heißt nicht, distanziert zu agieren. Hilfreich sind in jedem Fall Belastbarkeit und ein gutes Zeitmanagement. Auch sollten die eigenen sowie die Bedürfnisse der Gruppe im Blick sein. Konzepte für die eigene Arbeit sind wichtig und unabdingbar, doch sollten diese mit entsprechender Flexibilität gehandhabt werden. „Das Rad nicht immer wieder neu erfinden“ bedeutet auch Entlastung. Selbstreflexivität braucht Kommunikation. Dazu zählt zum einen die Rückversicherung bei Jugendlichen/Zielgruppe, zum anderen der Austausch mit KollegInnen. Austausch über good-practice Beispiele Methoden müssen zur Zielgruppe bzw. zur Gruppenleitung passen. Da Gruppen nicht immer gleich sind, sollten (neue) Methoden mehrfach ausprobiert werden. Ihr Einsatz setzt voraus, dass sich sowohl LehrerInnen als auch SchülerInnen auf die „Spiel-Ebene“ begeben. Beliebte und gut einsetzbare Methoden/Materialien wurden z.B. der Grabbelsack, TABU, Flaschendrehen, „Abigail und Gregor“, Knete, PAOMI-Modelle und Zykluskette benannt. Emotionalität vs. Beschränkung auf kognitive Kernkompetenz von Schule Der Vorteil, den LehrerInnen haben, ist ihr langfristiger Kontakt zu SchülerInnen, was gleichsam für emotionale Inhalte qualifiziert (Förderung der Liebes- und Beziehungsfähigkeit als Lerninhalt und -ziel). In Schule geht es (auch) um die Bildung/Ausbildung sozial- emotionaler Kompetenzen. Sexuelle Bildung findet auf unterschiedlichen Ebenen, fächerübergreifend statt. Die Erlebnistiefe variiert je nach Thema und Gruppenzusammensetzung; dies ist durchaus in Ordnung. Alternativ oder ergänzend könnten andere Settings angeboten werden: Beratung, Online-Beratung etc. Der Zeitmangel im Schulalltag führt oftmals dazu, dass die Vermittlung weiterer Inhalte – über die „harten Fakten“ der Sexualaufklärung hinaus – zu kurz kommt. SchülerInnen brauchen viel mehr, als nur „reden über“. Sie brauchen Möglichkeiten/Raum, sich zu öffnen (Bsp. Jungengruppen). Von außen kommend haben SexualpädagogInnen andere Möglichkeiten, die das schulische Angebot ergänzen. Wichtig sind konkrete Absprachen zur Rollenverteilung zwischen internen und externen PädagogInnen. Ein Thema – nicht nur für LehrerInnen – sind z.B. (sexuelle) Provokationen von bzw. unter Jugendlichen und der Umgang damit. Hier bieten SexualpädagogInnen Fachberatung im konkreten Einzelfall oder Fortbildungen für LehrerInnen an. Abschlussrunde: Was nehmen die TeilnehmerInnen des Diskussionsforums an Impulsen mit? – Bestätigung der eigenen Haltung in Bezug auf den Umgang mit SchülerInnen sowie wertvolle Impulse für die eigene Arbeit. – Deutlich geworden ist, dass es keine „Rezepte“ gibt, und dass es wichtig ist, authentisch zu sein. – Mehr Zeit mit den einzelnen Gruppen ist wünschenswert und wertvoll. 31 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W – – – – – Das eigene Konzept im Hinblick auf „Intimität/ Grenzen“ überprüfen. Z.B. eine Karte für den Einsatz im Unterricht gestalten: „Will nix dazu sagen“ (Intimität wahren). Sich auch einmal in die Rolle von SchülerInnen zu versetzen, ist hilfreich. Mehr Sensibilität für Befindlichkeiten, Verhalten von SchülerInnen. Bereitschaft – nach anfänglicher Abwehr – „Hausaufgaben in Sexualkunde“ zu geben. Statt „Hausaufgaben geben“, den SchülerInnen „Experimente“ vorschlagen. Das „Setting Schule“ genauer anschauen und die Kommunikation mit LehrerInnen verbessern. Vorurteile gegen LehrerInnen abbauen, sensibler werden für Anliegen von Schulen. „Alle ziehen am gleichen Strang“. In Kooperation mit Schule offensiveres Thematisieren einzelner Aspekte. Einerseits Ideen/Anregungen für LehrerInnenfortbildung, andererseits Einblicke in die Arbeit von SexualpädagogInnen. Fazit: Für die Arbeit in Schulen braucht es Mut & Sensibilität!!! Moderation: Walter Oreschkowitsch, Aachen/Düren Protokoll: Pia Heck, Leverkusen 32 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 3: „Ist Homophobie wieder salonfähig?“ 33 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 3: „Ist Homophobie wieder salonfähig?“ Herr Dr. Andreas Hieronymus Wissenschaftsjournalist, Hamburg Dr. Andreas Hieronymus stellt die Simon Studie vor. Berliner Jugendliche mit Migrationshintergrund wurden zum Thema Homophobie befragt. Da die Fragen wenig Aussage hätten, teilweise suggestiv gestellt wurden, sehr offen und wenig konkret waren, seien die Ergebnisse von geringer Aussagekraft. Er geht noch einen Schritt weiter und macht durch die Befragung der Teilnehmerrunde deutlich, dass wir laut der Studie genauso homophob wären, wie die Jugendlichen, die befragt wurden. Im Grunde genommen führt er die Studie ad absurdum. Danach entwickelt sich eine interessante Diskussion über tatsächliche Homophobie in unserer Gesellschaft. Die TeilnehmerInnen sehen eine gesellschaftlich oberflächliche Akzeptanz von homosexuell lebenden Menschen, andererseits befürchten sie, dass oftmals sozial adäquat geantwortet wird. Somit vermuten einige TeilnehmerInnen eine latente Homophobie, die schwer greifbar ist, besonders bei Jugendlichen, insbesondere bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Da viele TeilnehmerInnen mit diesen Jugendlichen arbeiten, werden Unsicherheiten mit dem Umgang und teilweise auch Frust über schwulenfeindliche Bemerkungen deutlich. Wie geht man damit um? Das wird kontrovers diskutiert. Ein guter Umgang ist das konkrete Thematisieren von Homosexualität. Oft liegen negative Erfahrungen zugrunde, grundsätzliches Unwissen, Angst selbst schwul zu sein. Durch sexualpädagogische Methoden, wie zum Beispiel folgende Fragen: – „Wie nahe lässt Du jemand deines eigenen Geschlechts auf Dich zukommen?“ – „Kennst Du Schwule oder Lesben, wenn ja, wie findest Du sie?“ – „Wenn Du schwul wärst, wem würdest Du es anvertrauen?“ – „Wenn dein bester Freund dir sagen würde, er sei schwul, was würdest du tun?“ – „Warum glaubst Du, werden heute noch Schwule unterdrückt?“ Es wird deutlich, dass wir durch sexualpädagogisches Arbeiten viel bewirken können, aber ähnlich wie beim Thema Verhütung, werden wir nicht alle Jugendlichen erreichen können. Moderation und Protokoll: Andreas Müller, Oberhausen/ Mettmann 34 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 4: „Mr. Porno und Mrs. Sexting! Ist das die Lebenswelt von Jugendlichen?“ 35 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 4: „Mr. Porno und Mrs. Sexting! Ist das die Lebenswelt von Jugendlichen?“ Frau Prof. Dr. Petra Grimm, Ethikbeauftragte der Hochschule der Medien in Stuttgart, München Ablauf: – Begrüßung, Kennenlernen, Themeneinstieg – Ergebnisse der Studie „Porno im Web 2.0“ (Eingabe durch Prof. Grimm) mit anschließender Diskussion – Kaffeepause – Gespräche in Kleingruppen zu Impulsfragen – Abschlussdiskussion 1. Begrüßung, Kennenlernen, Themeneinstieg Einstieg ins Thema mit folgenden Fragestellungen: – Wer arbeitet wo und mit welcher Zielgruppe? – Inwiefern und wie häufig begegnet mir das Thema Pornographie in der Arbeit? – Sehe ich den Konsum von Pornographie Jugendlicher als problematisch bzw. Besorgnis erregend im Sinne von schädlich an oder eher nicht? Als Input stellt Frau Grimm anhand einer Power-PointPräsentation die Studie „Porno im Web 2.0“ die Bedeutung sexualisierter Web-Inhalte in der Lebenswelt von Jugendlichen 1 vor. Aufbau des Vortrags zu folgenden Punkten: – Zusammenfassung zentraler Ergebnisse – Erläuterungen zum Thema „Sexting“2 – Wirkungen von Pornographie – Anforderungen an die pädagogische Praxis Zum Forschungsdesign: Die Studie basiert auf Auswertungen von nationalen und internationalen Studien zur Nutzung von Internetpornographie, sowie qualitative Befragungen von Jugendlichen und Experten. 2. Ergebnisse der Studie „Porno im Web 2.0“ – Internet-Pornografie gehört mittlerweile zur Lebenswelt von Jugendlichen (insbesondere der Jungen). – Ob Jugendliche Pornografie nutzen oder nicht, steht in keinem Zusammenhang mit dem Bildungshintergrund. – Zum ersten Mal kommen Kinder und Jugendliche meist im Alter zwischen 11 und 12 Jahren mit Pornos Kontakt. Häufig kommen Kinder und Jugendliche auch unabsichtlich mit Pornografie in Berührung (z. B. durch Pop-ups). Ab 13 Jahren werden am ehesten gezielt Pornos konsumiert. – Entscheidende Faktoren, ob Jugendliche Pornografie nutzen, sind: Alter; aktuelle sexuelle Beziehung; Haltung zu Pornographie – Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Nutzung von Pornografie zeigen sich in folgenden Punkten: Sexualisierte Inhalte werden von Jungen anders als von Mädchen wahrgenommen und bewertet. Mädchen kommen zwar mit pornografischen Inhalten in Berührung und erleben dies auch als alltägliche Interneterfahrung, lehnen diese Inhalte aber ab und finden sie „ekelig“ bzw. absto- 1 Grimm, Petra/Rhein Stefanie/Müller Michael (2010): “Porno im Web 2.0. Die Bedeutung sexualisierter Web-Inhalte in der Lebens welt von Jugendlichen“. Schriftreihe der NLM, Band 25. Berlin: Vistas Verlag. 2 Sexting ist die private Verbreitung erotischen Bildmaterials des eigenen Körpers über Multimedia Messaging Services (MMS) über Mobiltelefone. Das aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum stammende Kofferwort setzt sich aus Sex und texting (engl. etwa: „Kurzmitteilungen verschicken“) zusammen. Wikipedia, Recherche vom 14.10.2011 36 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W – – – – – ßend. Ihre Kenntnis von Pornografie ist geringer als bei den Jungen. Bei Jungen zeigen sich vier Hauptmotive für die Nutzung von Pornografie: Erregung; Wissensgewinn; soziale Integration und Unterhaltung/Spaß (Mittel zur Langeweile). Eine Ausnahme bilden so genannte Extremvideos (z. B. Sodomie-Darstellungen), die lediglich hauptsächlich über Mobil-Telefone verbreitet werden und nur den Zweck einer Mutprobe erfüllen. Selbstproduzierte, intime Videos, die auch unter dem Phänomen „Sexting“ bekannt sind, werden von einigen Jugendlichen zur Selbstdarstellung im Internet publiziert. Dabei geht es auch um Fälle, in denen intime Fotos und Videos ohne Einwilligung des ehemaligen Partners im Internet veröffentlicht worden sind. Als Begründung für das unterschiedliche Nutzungsverhalten führen sowohl Mädchen als auch Jungen das biologistische Geschlechterrollenmodell an: „Jungen haben Triebe und konsumieren daher Pornografie, Mädchen haben diese Triebe nicht und brauchen daher keine Pornografie“. Im Gegensatz zu jüngeren Jugendlichen können ältere Jugendliche meist zwischen einem Porno, als einem medial konstruierten Produkt, und real gelebter Sexualität unterscheiden. Die Nutzungshäufigkeit ist insbesondere bei Jüngeren (auch Kindern) deutlich angestiegen. Eine verlässliche Datenlage zur Wirkung von Pornografie auf Jugendliche liegt bis heute nicht vor, da aus forschungsethischen Gründen Minder- jährigen keine Pornografie vorgelegt werden darf. Aufgrund der Expertenbefragung werden folgende Wirkungspotentiale vermutet: · Realitätskonzeption/ Normalisierungseffekt · Leistungsdruck/ Perfektionsdruck · Körperbild (Intimrasur/ Body-Modification) · Problematische Rollenbilder · Einfluss auf sexuelle Verhaltensweisen · Wertewelt (Hegemonie, Misogynie etc.) · Beeinträchtigung von Individualität · Unsicherheit in Bezug auf bestimmte Sexualpraktiken (Fragen bezüglich Analverkehr). (vgl. Powerpoint-Präsentation) Ziele und pädagogische Handlungsfelder · Thematisierung von ungewollter Konfrontation mit Pornografie · Schutz persönlicher Daten · Differenzierung von Realität (real life) und Pornografie · Raum zum Bewusstwerden der eigenen Wünsche und Grenzen schaffen · Technisches Know-how fördern (Medienkompetenz) · Aufzeigen strafrechtlicher Konsequenzen · Themen enttabuisieren · Handlungsräume und Kommunikationsanlässe · schaffen · Peer-to-Peer-Ansatz verfolgen 37 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 3. Nach dem Vortrag folgte eine Diskussion – u. a. zu folgenden Themen: – Wirkungspotenziale: Gibt es auch eine positive Wirkung? (O-Töne von Jugendlichen dazu: „Porno = besser als Aufklärungsunterricht in der Schule. Außerdem: Keine Wirkung ist gleich eine positive Wirkung (Wirkungslosigkeit als positiver Effekt) – Mögliche Gründe für eine ablehnende Haltung von Mädchen/Frauen bezüglich Pornos (Demütigungen, klassische Abfolge von sexuellen Praktiken, Mangel an Narrativem, Männlicher Point of view, sozial unerwünscht) – Sexualpädagogische Konsequenzen und Handlungsfelder 4. Kleingruppenarbeit Im zweiten Teil des Workshops standen in zwei Blöcken folgende Fragen zur Diskussion: Fragen aus Block 1: – Was ist Pornografie? – Wie ist meine persönliche Haltung zu Pornografie und spielt dabei das eigene Geschlecht eine Rolle? Ergebnisse der Kleingruppenarbeit (Auswahl an Meinungen) – Konsens war, dass Personen, die mit Jugendlichen über Pornografie reden, schon mal selbst sexualisierte Darstellungen gesehen haben sollten. Angemerkt wurde jedoch, dass natürlich keine – – Notwendigkeit bestehe, „alles“ gesehen haben zu müssen – Jugendliche seien Erwachsenen in ihren Medienerfahrungen sowieso immer einen Schritt voraus. Das Geschlecht spielt bei der Haltung weniger eine Rolle, aber die Zeit, in der man aufgewachsen ist. Unterschiedliche Standpunkte gab es zu der Frage, ob eine wertneutrale Haltung bei diesem Thema möglich und wünschenswert ist. „Kann ich wertneutral bleiben, wenn es beispielsweise um Sodomie-Darstellungen geht?“ Mehrheitlich wurde die Meinung vertreten, dass die eigene Haltung nicht wertneutral sein müsse. Werte spielen beim Thema Pornografie eine große Rolle und Jugendliche können sich daran reiben. Werte seien in der Gruppenarbeit mit Jugendlichen diskutabel. Als wichtig wurde auch erachtet, dass strafrechtliche Inhalte deutlich herauszustellen seien. Fragen aus Block 2: – Wenn davon auszugehen ist, dass die große Mehrheit der Jugendlichen regelmäßig mit Pornografie in Kontakt kommt, stellt sich die Frage, wer mit den Jugendlichen zu dem Thema arbeiten soll? Auf welche Art und Weise sollten diese Personen mit Jugendlichen arbeiten? Ergebnisse der Kleingruppenarbeit (Auswahl von Meinungen): Peers – Fachkräfte können Peers zum Thema Pornografie schulen. 38 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W – Auf www.juuuport.de beraten Jugendliche bereits als so genannte „Medienscouts“ andere Jugendliche zu den Themen Internet, Handy und Computerspiele. – (z. B: www.sexwecan.at) einfließen, die das Thema Pornografie aufgreifen. Hingewiesen wurde auch darauf, dass nicht ausschließlich Pornos stereotype Geschlechterrollenbilder produzieren. Auch ein TV-Sender wie z.B. KIKA liefere „hypersexualisierte Medienfiguren“. Klassische Sexualpädagogik – Externe Fachkräfte wie z.B. SexualpädagogInnen bei pro familia werden für wichtig erachtet. Das Thema Pornografie kann auch als Türöffner für andere Themen dienen. – LehrerInnen sollten „gute Körperaufklärung“ und Medienerziehung (auch in Bezug auf stereotype Geschlechterrollen) übernehmen, jedoch weniger die Thematisierung von Pornografie. Moderation: Martin Gnielka, Köln ProtokollantIn: Anja Siekmann, Gladbeck; Marc Zumpe, Bünde Eltern – Sexualaufklärung ist auch Elternsache. Eltern seien weniger „die Ansprechpartner“ für Fragen zu Pornografie, dennoch können diese signalisieren, als Ansprechpartner für ihre Kinder verfügbar zu sein. – Im Zusammenhang mit dem Elternhaus wurde außerdem darüber diskutiert, ob Computer im öffentlichen Raum stehen sollten. Hierzu wurde u.a. folgendes Argument angeführt: „Auch Jungen haben ein Recht auf Selbstbefriedigung in ungestörter Atmosphäre.“ Eine Privatsphäre für Jugendliche wurde also für wichtig erachtet - dabei sei jedoch das Alter entscheidend. Literarurtipps: – Grimm, P. / Müller, M. / Rhein, S. (2010): Porno im Web 2.0. Die Bedeutung sexualisierter Web-Inhalte in der Lebenswelt von Jugendlichen. Berlin: Vistas. (Präsentation s. u. Homepage Grimm) – Grimm. P./ Rhein, S. / Clausen-Muradian, E. (2008): Gewalt im Web 2.0. Berlin: Vistas. (Studie im Netz abrufbar) – Grimm, P. / Rhein, S. (2007): Slapping, Bullying, Snuffing! Berlin: Vistas. – Handreichung zur Handy-Problematik im Netz: http://www.mahsh.de/ Medien – In der sexualpädagogischen Arbeit können Medien Weitere Quellen: http://www.hdm-stuttgart.de/grimm http://www.hdm-stuttgart.de/medienethik/ 39 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 5: „Noch Neugier oder schon Gewalt?“ 40 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 5: „Noch Neugier oder schon Gewalt?“ Herr Bernd Priebe, Theologe MA, Sexualpädagoge, Therapeut für sexuell misshandelte Kinder und Jugendliche Bernd Priebe arbeitet bei Wendepunkt e.V. in Elmshorn. Die gewaltpräventive Einrichtung bietet eine Vielzahl an Maßnahmen und Angeboten, um körperliche, psychische und sexuelle Grenzverletzungen früh zu erkennen, kompetent einzugreifen und für die Zukunft verhindern zu helfen. Im Diskussionsforum stellte er seine Arbeit im Wendepunkt e.V. und das Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige vor. Das Hamburger Modellprojekt versuchte über einen Zeitraum von drei Jahren, sexuell auffällig gewordene Kinder und Jugendliche möglichst frühzeitig angemessen zu versorgen. Im Rahmen einer Begleitevaluation wurde die Wirksamkeit der Maßnahmen überprüft, um das Angebot weiter zu entwickeln. Auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse sowie der Beurteilung durch Fachkräfte wurde entschieden, welche Interventionen für die Minderjährigen zu empfehlen sind. In bestimmten Fällen, bei begründetem Verdacht und Interventionsindikation, wurden tatverdächtige Minderjährige zur Behandlung an den kooperierenden freien Träger Wendepunkt e.V., vermittelt. Die TeilnehmerInnen erhielten Antworten auf viele konkrete Fragen, die sich in der Arbeit mit sexuell auffälligen Kindern und Jugendlichen und Jungen stellen. Der Einfluss von Pornographie, der Zusammenhang und Unterschied zwischen polizeilichen Anzeigen und gerichtlichen Verurteilungen, Jungen mit stark kogni- tiven Einschränkungen und die Sensibilisierung für das Thema an Schulen waren stark diskutierte Themen, bei denen diverse Pole dargestellt wurden. Bernd Priebe wünscht sich zwischen SexualpädagogInnen eine gute Vernetzung bzgl. des Themas. Dazu gehöre auch sich eine Handlungsstrategie mit festen Kriterien zu überlegen, bevor ein Übergriff stattfindet. Moderation: Reinhard Brand, Bielefeld Protokoll: Sven Möhlmann, Detmold/Paderborn 41 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 6: „Ist das (R)recht?“ 42 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Diskussionsforum 6: „Ist das (R)recht?“ Frau Dr. Julia Zinsmeister, FH für Zivil- und Sozialrecht Köln, Direktorin des Instituts für soziales Recht, Köln Das Diskussionsforum beschäftigte sich mit rechtlichen Aspekten in der Arbeit mit Schutzbefohlenen. Im Rahmen der Vorstellungsrunde wurde deutlich, dass die TeilnehmerInnen Fragen aus der Praxis zu den Themen Aufsichtspflicht, aktive und passive Sexualassistenz und sexuelle Selbstbestimmung Jugendlicher versus bestehendes Recht mitgebracht hatten. Frau Dr. Zinsmeister gab eine Erklärung zum Begriffsverständnis der sexuellen Rechte: Sie leiten sich aus dem Grundgesetz, Art 1 und 2 ab. In Artikel 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und es gibt einen Bezug auf die Menschenrechte. Art. 2 beinhaltet das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Damit hat jeder Mensch ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und freie Ausgestaltung seines Sexuallebens. Eingeschränkt werden kann dies in der Arbeit mit Schutzbefohlenen nur, wenn es mit einer Gesundheitsgefährdung einher geht, z.B. wenn man als BetreuerIn ein Missbrauchsrisiko oder eine andere konkrete Gefahrenlage abwenden muss. Wann reden wir vom selbst bestimmten Menschen? Voraussetzung ist, dass er einen Überblick über die Konsequenzen seiner Entscheidungsmöglichkeiten hat. Hierfür ist seine Einsichtsfähigkeit und seine Einwilligungsfähigkeit ausschlaggebend. Diese hängen von der persönlichen Entwicklung und der jeweiligen Situation ab. Um die sexuelle Selbstbestimmung geistig behinderter Menschen einzuschränken, muss die Aufsichtspflicht übertragen sein (dies ist der Fall, wenn vom Gericht die Personensorge übertragen ist). Für die Betreuenden leiten sich Schutzpflichten nur aus dem Heimordnungsgesetz ab, das die Achtung der Selbstbestimmung, aber auch den Schutz vor Gefahren enthält. Moderation: Gerhard Kosthöfer, Bochum Protokoll: Almuth Duensing, Gütersloh 43 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 1 2 3 4 5 6 1+2) Diskussionsforum 1: „Befreite Sexualität – eine Gefahr für den Islam?“ 3+4) Diskussionsforum 2: Hausaufgaben in Sexualkunde – Sexuelle Bildung zwischen Institutionalisierung und Emanzipation 5+6) Diskussionsforum 3: „Ist Homophobie wieder salonfähig?“ 44 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 1 2 3 4 5 6 1+2) Diskussionsforum 4: „Mr. Porno und Mrs. Sexting! Ist das die Lebenswelt von Jugendlichen?“ 3+4) Diskussionsforum 5: „Noch Neugier oder schon Gewalt?“ 5+6) Diskussionsforum 6: „Ist das (R)recht?“ 45 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Programm am Freitag 27. Mai 2011 09:00 Uhr Begrüßung und Tagesvorschau 09:30 Uhr Vortrag Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht Sigrid Weiser, pro familia Bundesverband – Projektentwicklung und Forschung, Frankfurt 10:30 Uhr Kaffeepause 11:00 Uhr Workshops 1. Anleitung zum Glücklichsein Glück – ein zukunftsweisendes Thema für die sexualpädagogische Mädchenarbeit. 2. „Jungs – eine Gebrauchsanleitung“ Sexualfreundliche Begleitung – Handlungskonzepte – Hilfestellungen. 3. Fragt uns doch! Jugendliche geben Auskunft darüber, was sie zum Thema Liebe, Beziehung, Sexualität interessiert und was ihnen weiterhilft. 4. Pille, Präser und Co – ein Verhütungsupdate Aktuelle Übersicht über gängige, weniger bekannte und neue Verhütungsmethoden aus medizinischer und pädagogischer Sicht. Wie informativ und sinnlich soll Verhütungsaufklärung sein? 5. Vielfalt zeigen – methodische und didaktische Tipps An praktischen Beispielen soll die Vielfalt der sexualpädagogischen Gruppenarbeit ausprobiert und reflektiert werden. 6. Mitten im Leben – Arbeit mit ausgewählten Zielgruppen Beeinträchtigung – Benachteiligung – Migration 13:00 Uhr Mittagspause mit Imbiss 13:45 Uhr Podiumsdiskussion Vom Tabu zur Zumutung – wie geht es weiter? Moderation: Frau Ulrike Michels, freie Journalistin und Dokumentarfilmemacherin 15:00 Uhr Kongressausklang mit Kaffee und Kuchen 16:00 Uhr Ende 46 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W „Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht“ Frau Sigrid Weiser, pro familia Bundesverband – Projektentwicklung und Forschung, Frankfurt Frau Sigrid Weiser war kurzfristig für die erkrankte Frau Dr. Claudia Lohrenscheit eingesprungen. Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht – so war der Vortrag von Claudia Lohrenscheid angekündigt. Ich nehme gerne diesen Ball an und erweitere die Fragestellung: Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht – Was folgt daraus für die Arbeit der pro familia? Die Sexualpädagogik des Verbandes ist der Achtung, dem Schutz und der Gewährung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte der Menschen verpflichtet. Das ist Satzungsziel der pro familia. Wir alle im Verband arbeiten an der Konkretisierung der rechtebasierten Sexualpädagogik. Es geht um die Einordnung der Sexualpädagogik in den Menschenrechtsdiskurs der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Ich will Ihnen einen Eindruck vermitteln wie wir gerade an der Aufgabe arbeiten und Möglichkeiten der Annäherung vorstellen – dafür habe ich vier gedankliche Plattformen gebaut. Ich nenne sie: Internationalität, Sexuelle Rechte, IPPF Fachverständnis für Sexuality Education, Menschenrechtsbildung. Claudia Lohrenscheit, die heute eigentlich hier stehen sollte, hat einen wunderbaren Satz in ihrem Vortragsmanuskript geschrieben – er heißt: „Aus menschenrechtlicher Perspektive ist die freie (sexuelle) Selbstbestimmung des Menschen direkt abzuleiten aus der unveräußerlichen Würde des Menschen, als Subjekt freier Selbst- und Mitbestimmung.“ Ich bin kein pathetischer Mensch – eher misstraue ich dem Pathos – besonders dem politischen Pathos. Doch das ist richtig groß – auf was Claudia Lohrencheit hier Bezug nimmt, es ist nämlich die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Am 10. Dezember 1948, kurz nach Ende des 2. Weltkrieges, nach Ende des Holocaust in Europa, unter dem Eindruck der Barbarei, die von der nationalsozialistischen Herrschaft angezettelt worden war, nach Abwurf von Atombomben über den japanischen Großstädten Nagasaki und Hiroshima, nach der Herrschaft des Hasses, der massenhaften Ermordung von Menschen, nach Krieg und Albtraum unter den Menschen erklärten die Vereinten Nationen 1948 In Artikel 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Ein großer, ja großartiger und hoffnungsvoller Moment in der Geschichte der Menschheit. Menschenrechte, was sie sind und was sie beinhalten – das wird ständig weiterentwickelt. Von Menschen, 47 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W ihren Gesellschaften, Institutionen, politischen Führungen von sozialen Bewegungen und NROs (Nichtregierungsorganisationen) – wie der pro familia. Menschenrechte werden konkretisiert, auf die Lebenspraxis von Menschen bezogen, ihre Einhaltung und Umsetzung wird politisch gefordert und erkämpft. Heiner Bielefeldt, Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik in Erlangen-Nürnberg und seit 2010 Sonderberichterstatter des UN Menschenrechtsrats für Religions- und Weltanschauungsfreiheit sagt: „Menschenrechte sind das Ergebnis von konflikthaft verlaufenden gesellschaftlichen Lernprozessen 1“ Sie werden von den Vereinten Nationen in die großen UN-Konventionen aufgenommen, sind zustimmungsfähig bei vielen sehr verschiedenen Ländern und ihren politischen Führungen. Bis dahin ist es ein langer Weg. Die Behindertenrechtskonvention ist die letzte große Menschenrechtskonvention. (Randbemerkung: Sie ist nach meiner Ansicht ein Quantensprung in der Entwicklung der Menschenrechtskonventionen. Es ist besonders das Konzept der „angemessenen Vorkehrungen, das auch für unsere Arbeit so folgenreich sein kann. Ich habe dazu im letzten Jahr in einem Aufsatz im Heft Sexualität und Behinderung in der Reihe Forum Sexualaufklärung der BZgA Überlegungen formuliert. Besonders empfehlenswert sind auch die Arbeiten von Dr. Valentin Aichele, dem Leiter der Monitoring-Stelle für die Behindertenrechtskonvention beim Institut für Menschenrechte. Für unser Arbeitsfeld sind die folgenden UN-Konventionen von zentraler Bedeutung: – 2006 Behindertenrechtskonvention (2009 in Deutschland ratifiziert) – 1989 Kinderrechtskonvention (1992 in Deutschland ratifiziert) – 1979 CEDAW Frauenrechtskonvention (1985 in Deutschland ratifiziert) Eine Konferenz will ich noch erwähnen, die für unsere Arbeit von zentraler Bedeutung ist. 1994 fand die Internationale Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung in Kairo statt. Dort wurden für unsere Arbeit wegweisende Vereinbarungen getroffen. Plattform 1: International – Global Die alte Empfehlung: Think global – act local ist nach wie vor richtig. Wahrscheinlich wichtiger denn je. Die pro familia mit ihrem Bundesverband, für den ich arbeite, arbeitet seit vielen Jahren mit internationaler Einbindung. 1952 wurde die pro familia in Kassel gegründet und im gleichen Jahr war die pro familia Mitbegründerin der International Planned Parenthood Federation (IPPF). Die IPPF hat in Europa 41 und weltweit 170 Mitgliedsorganisationen. 1 Heiner Bielefeldt: Ideengeschichte(n) der Menschenrechte Menschenrechte (2007), in: Janz, Nicole, Risse, Th. (Hrsg.): Menschenrechte – Globale Dimensionen eines universellen Anspruchs, Nomos Verlag, Baden Baden 48 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Die internationale Einbindung war und ist bis heute essentiell für die Programmentwicklung, die politische Arbeit und für unsere Tätigkeiten. Mit der IPPF hat die pro familia den programmatischen und politischen Anschluss an die Menschenrechtsarbeit gesucht und sie mitgestaltet. Sie hat Themen auf die politische Agenda gesetzt. Wir haben uns von der klassischen Familienplanungsorganisation zu einer Organisation für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte entwickelt. Und was heißt das für die Sexualpädagogik? Elke Thoß, die langjährige Geschäftsführerin des Bundesverbandes, formulierte das 1997 so: „Sexualpädagogen und Sexualpädagoginnen haben weltweit einen entscheidenden Anteil, wenn es darum geht, zu einer selbstbestimmten Sexualität zu befähigen. Im Rahmen der globalen Neuorientierung fällt ihnen die zusätzliche Rolle der Verfechter und Verfechterinnen sexueller und reproduktiver Rechte ihrer Klientel zu.“ Ein Beispiel für „think global act local“, das ich hier vorstellen möchte: Jugendschwangerschaften. Der Bundesverband der pro familia hat gemeinsam mit den Beratungsstellen eine große Studie zu Jugendschwangerschaften und Schwangerschaftsabbruch gemacht. Eines der Ergebnisse war: Wir haben sehr niedrige Raten von Jugendschwangerschaften. Schauen wir auf die globale Situation ist ganz klar: Je ärmer die Menschen sind, je ungleicher Gesellschaften ihre Ressourcen verteilen, um so höher der Anteil der jungen Frauen, die früh schwanger werden. Die Bekämpfung von Jugendschwangerschaften steht deshalb bei vielen sozialen Organisationen (auch UNICEF auch PLAN international) ganz oben auf der Agenda. Nun haben wir in Deutschland steigende Raten von Armut in der Bevölkerung, ein in Teilen marodes Bildungssystem und trotzdem keine Erhöhung von Jugendschwangerschaften. Ich finde das sehr interessant. Ich glaube, wir sollten in dem Zusammenhang unsere deutsche Situation würdigen. Sie zeigt: Soziale Bewegungen und Aufklärung tragen unsere Arbeit. Die sozialen Bewegungen der 60er Jahre haben unsere Gesellschaft in Bezug auf die Sexualität von Jugendlichen enorm liberalisiert und vernünftig gemacht. Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz, das hier unbedingt genannt werden soll, entstand aus der Notwendigkeit den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch zu regeln. Es ist ein Kompromiss der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und die Liberalisierung von Sexualität und der aufklärerische Gedanke, den unserer Sexualpädagogik trägt, ist hier eingegangen. Dieses Bundesgesetz ist die Grundlage für die fachliche Arbeit der pro familia und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) – Es ist eine wichtige Grundlage für die intensive Arbeit im Bereich der Sexualpädagogik. Ich glaube, dass dies entscheidend dazu beiträgt, dass Jugendliche ein so gutes Verhütungsverhalten haben, 49 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W wie es in Deutschland der Fall ist. Auch die Kostenübernahme für Verhütungsmittel bis zum Alter von 20 Jahren durch die GKV ist natürlich ganz wichtig. Dabei können wir aber nicht stehenbleiben. Im internationalen Menschenrechtsdiskurs und seinen Institutionen gibt es ein ganz starkes Element, es ist das Diskriminierungsverbot. Unsere Studie hat ergeben, dass es sozial benachteiligte Jugendliche sind, die besonders häufig ungeplant und früh schwanger werden, sie sind besonders häufig an Förder- und Hauptschulen. Es gab bereits Prüfungen des deutschen Schulsystems: Nach Einschätzung des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz Villalobos, diskriminiert das deutsche Schulsystem sozial benachteiligte, ausländische und behinderte Kinder. Ich glaube, dass wir uns auch in der sexualpädagogischen Fachdiskussion mit den Folgen von Diskriminierungen durch das Schulsystem auseinandersetzen sollten. Neben den Berichten von dem eben zitierten Munoz lieferte auch unsere Studie zu Jugendschwangerschaften einige Ansatzpunkte. Der pro familia Bundesverband führt zur Zeit mit Beratungsstellen ein Forschungsprojekt durch, das Angebote für sozial benachteiligte Jugendliche evaluiert, um Empfehlungen für die Angebote für diskriminierte Jugendliche zu formulieren – für Jugendliche, die in der rechtebasierten Sichtweise unserer Arbeit, Rechtinhaber und nicht Fürsorgeempfänger sind. Das ist übrigens ein Projekt der IPPF, das unter anderem von der Europäischen Kommission und der Weltgesundheitsorganisation Europa finanziert wird. Ich freue mich sehr, dass sexualpädagogische Teams der pro familia sich daran beteiligen. Der Landesverband NRW, mit dem wir hierbei zusammenarbeiten (dafür hier auch noch einmal unser Dank), blickt auf eine längere gute sexualpädagogische Tradition zurück, insbesondere die Angebote für diskriminierte Jugendliche weiter zu entwickeln. Im Zuge der Überprüfung von UN-Konventionen gibt es diverse Verfahren. Eins davon sind sogenannte Schattenberichte. Ihr Landesverband hat sich am Schattenbericht des Deutschen Frauenrats zur Umsetzung der Frauenrechtskonvention beteiligt und die Kritik an der Streichung der Kostenerstattung für Verhütungsmittel für Frauen, die Sozialgelder bekommen, gegenüber UN-Gremien vorgetragen. Das ist auch ein Beispiel dafür, wie Ihre Arbeit und unsere Arbeit in die internationale Arbeit von Menschenrechtsinstitutionen eingehen. Plattform 2: IPPF-Erklärung Sexuelle Recht Unsere Diskussionen und die fachlichen Inputs sollten wir anreichern mit dem Studium von Fachpapieren, die Bezug auf den Menschenrechtsdiskurs im Kontext der Sexuellen und Reproduktiven Gesundheit und Rechte nehmen. 50 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Ein zentrales Papier für uns ist die IPPF-Erklärung: Sexuelle Rechte. Sie erschien 2009 in deutscher Übersetzung. In Artikel 8 ist zu lesen: – – – Alle Menschen haben grundsätzlich und gleichberechtigt das Recht auf Bildung und Information sowie auf umfassende Sexualerziehung und -information. Alle Menschen haben das Recht auf Bildung die sie befähigt, sich politisch für sexuelle Gesundheit und Sexualerziehung einzusetzen. Alle Menschen haben das Recht auf Zugang zu Informationen über Sexualität, die von Gemeinschaften, Schulen und Anbietern von Gesundheitsdiensten in verständlicher Sprache angeboten werden sollen. Die Daueraufgabe für uns ist doch, immer wieder zu fragen: Sind diese Rechte in Deutschland umgesetzt? Ich glaube, wir könnten Prüfsteine für die Bewertung der Umsetzung entwickeln. Und auch hier hilft uns der Menschenrechtsdiskurs. Es geht um die zentrale Forderung nach „Zugang“ zu. Wir benutzen diesen Begriff auch sehr häufig mit Recht. Wir finden ihn in der Menschenrechtsdebatte sehr häufig – Zugang zu sauberem Trinkwasser, Zugang zu Sanitäranlagen, zu Schulen, zu medizinischen Dienstleistungen – Zugang zu Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit (Das ist unser Feld in der internationalen Sprache!). Wie ein Zugang zu sein hat, das ist auch näher beschrieben: Angebote zu Sexualaufklärung müssen: – available, – accessible, – acceptable, – affordable auf Deutsch: Angebote zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit (hier: Sexualaufklärung) müssen: – in ausreichender Zahl vorhanden sein, – zugänglich sein (Ort, Zeit) – akzeptierbar (soziale, kulturelle, Gender-Dimension) – bezahlbar sein. Ich finde das sehr hilfreich. Wir kennen noch den alten Begriff der „Niedrigschwelligkeit“. Ich finde diese neuen Anforderungen, zentriert um den Zugang, viel genauer und sie sind weltweit durchgesetzt. Plattform 3: IPPF-Fachverständnis zur Sexuality Education Zentrales Papier für das Fachverständnis zur Sexuality Education der IPPF ist der Framework for Comprehensive Sexuality Education. Wir haben es bisher leider nur in der englischen Fassung – ich will es aber trotzdem empfehlen. Man muss sicher auch nicht alles lesen. Aber was ich heute wichtig finde, vorzustellen ist der frame – der Rahmen für den rechtebasierten Ansatz in der Sexualpädagogik (rights-based approach). Was vermittelt, beinhaltet, respektiert 51 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W und für was engagiert sich Sexualpädagogik. Dies wird von der IPPF in sieben Essentials markiert, die ich hier nur stichwortartig nenne. 1. Gender – der Unterschied zwischen Gender und Geschlecht. Die Wandelbarkeit der Geschlechtsrollen, Stereotype usw. Auch in dem Sinne, dass Jugendliche lernen, Genderrollen zu erkennen und zu problematisieren, dass sie gesellschaftlichen Druck erkennen, dass sie ermutigt werden, eigene Wege zu gehen und sich gesellschaftlich engagieren. 2. Sexualität und reproduktive Gesundheit, Sexualität im Lifecycle im Wandel des Lebens, Verhütungsmittel, Anatomie, Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch, Bedeutung von legalen Zugang zu medizinisch sicher durchgeführtem Schwangerschaftsabbruch, Verantwortung für sich und andere in sexuellen Beziehungen, Vermeidung von STIs (sexuell übertragbaren Erkrankungen), 3. Sexuelle Rechte und sexual citizenship. Förderung des kritischen Denkens und verantwortlichen Handelns und des Verständnisses, wie Gesellschaft und Institutionen funktionieren. Förderung des Engagements für die demokratische Gesellschaft und der Partizipation an der Gestaltung von sexuellem und reproduktiven Well-being. 4. Vergnügen an Sexualität: Positive Haltung zur Sexualität, zur Masturbation, zur verschiedenen sexuellen Orientierungen, Stärkung der freien Entschei- dung ohne Druck – einvernehmlicher Sex, informierte Entscheidungen, usw. 5. Gegen sexuelle Grenzverletzungen. Information über Rechte zum Schutz vor sexuellen Grenzverletzungen, sexueller Gewalt… 6. Diversity – Anerkennung und Befähigung zur Anerkennung von Pluralität 7. Stärkung der Beziehungsfähigkeit, Umgang mit Emotionen, Sensibilisierung für und Umgang mit Druck der Peers, usw. Der framework der IPPF ist ein richtig gutes Papier – davon bin ich überzeugt – er ist angereichert mit Methoden und Inhalten des Menschenrechtsdiskurses und bietet sehr viel Stoff für Fachdiskussionen. Diesem Papier nachgezogen haben mittlerweile die BZgA in Kooperation mit der Weltgesundheitsorganisation (Europa) und dabei herausgekommen ist „Standards für Sexuality Education in Europe“. Es lohnt sich, auch hiermit zu arbeiten. Hieran haben sehr sachkundige Kolleginnen und Kollegen der IPPF mitgearbeitet. Es wird Ende 2011 in deutscher Übersetzung erscheinen. Plattform 4: Menschenrechtsbildung Auch aus dem Menschenrechtsdiskurs, seinen Institutionen und den sozialen Bewegungen kommt die Menschenrechtsbildung. 52 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Menschenrechtsbildung zielt auf die Förderung „jener Menschenrechtskultur, die dazu befähigt, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und einzufordern. Der Empowerment-Ansatz zielt darauf, dass jeder/jede selbstbewusst die Einhaltung der Rechte für sich selbst reklamiert. Gerade im Internationalen Kontext bedeutet dies der Wandel eines vorherrschenden Wohltätigkeits- und Hilfeansatzes zu einem rechtebasierten Ansatz“ 2. Wir glauben, dass die Verschränkung mit der Menschenrechtsbildung eine sinnvolle Ergänzung der sexualpädagogischen Methoden ist. (Aber bitte nicht missverstehen, es ist ein Baustein der Sexualpädagogik und ersetzt nicht andere Methoden.) Wir haben deshalb „Jetzt erst Recht – eine Handreichung für menschenrechtsbasierte Sexualpädagogik“ entwickelt, die drei Praxisbeispiele für die Arbeit mit Gruppen von Jugendlichen enthält. Menschenrechtsbildung und rechtebasierte Sexualpädagogik der IPPF haben sehr viele Gemeinsamkeiten. Drei wesentliche Fragstellungen der Menschenrechtsbildung bezogen auf die sexuellen und reproduktiven Rechte, sind demnach: Die Publikation ist ganz neu vor zwei Wochen erschienen. In der Redaktionsgruppe waren SexualpädagogInnen und eine Kollegin aus der Lehrerausbildung und der Menschenrechtsbildung von Amnesty International. Was hier erarbeitet wurde, soll in den nächsten Monaten mit wissenschaftlichen Methoden auf seine Durchführbarkeit erprobt und ausgewertet werden. Am Ende wollen wir diese Handreichung optimieren und weiterentwickeln. Wir fangen gerade damit an und suchen engagierte Sexpäd-Teams, die sich daran beteiligen. (Ich bin die Ansprechpartnerin für interessierte Teams). 1. Kennen Jugendliche ihre sexuellen und reproduktiven Rechte und die der anderen? (Kognitive Ebene) 2. Vermitteln die Gesellschaft und die Institutionen - wie die Schule – glaubwürdig die Werte der sexuellen und reproduktiven Rechte und der Menschenrechte? (Einstellungsebene) 3. Wird die Fähigkeit sexuelle Rechte zu leben, zu wahren und zu schützen genug geübt, dafür sensibilisiert? (Handlungsebene) Die Menschenrechtsbildung hat im Übrigen im Menschenrechtsdiskurs und auch bei den Regierungen einen ganz hohen Stellenwert: – 2008 verfasste die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution „Internationales Jahr des Menschenrechtslernens“, – 1995-2004 war die Dekade für Menschenrechtsbildung der Vereinten Nationen – Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur 2 pro familia Bundesverband (2011): Jetzt erst Recht. Eine Handreichung für menschenrechtsbasierte Sexualpädagogik mit Jugendlichen, Frankfurt am Main, S. 13 53 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W – Förderung der Menschenrechtserziehung in der Menschenrechtserziehung in der Schule (Beschluss vom 4.12.1980 in der Fassung vom 14.12.2000 Abteilung Menschenrechtsbildung beim Deutschen Institut für Menschenrechtsbildung Die Verbreitung der Menschenrechtsbildung hat hoffentlich gute Perspektiven. Sexualpädagogik hat einen hohen Stellenwert. Wir haben Rückenwind: Der ehemalige UN Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung Vernor Muñoz Villalobos weist im letzten Bericht seiner Amtszeit auf die Wichtigkeit der umfassenden Sexualpädagogik („comprehensive sexual education“, A/65/162) hin. Er beschreibt darin u.a. die Zusammenhänge zwischen Sexualität, Gesundheit und Bildung, und betont die Wichtigkeit von Geschlechtergerechtigkeit und Anti-Diskriminierung. Abschließend fordert Muñoz die Staaten dazu auf, für eine wissenschaftliche, demokratische und pluralistische Sexualpädagogik zu sorgen. 2008 forderte der Europarat, ein Zusammenschluss von 47 europäischen Staaten, die Mitgliedsstaaten auf: Evidenz-basierte angemessene Strategien und Verfahren für die Rechte der SRG einzuführen und die Verbesserung und Verbreitung von unabhängigen Informationen und Aufklärung zu Sexualität und Beziehungen. Vielleicht sollte man die Qualität und Quantität der Sexualaufklärung im Regelbetrieb – also in der Schule – vor dem Hintergrund der rechtebasierten Sexualpädagogik anzuschauen. Die BZgA hat bereits vor Jahren eine wichtige Untersuchung zur Sexualaufklärung in den Schulen, die ja in Zuständigkeit der Bundesländer ist, gemacht und Defizite festgestellt. Vielleicht wäre es an der Zeit, hierzu neue fachliche Initiativen zu prüfen. Bei allem was wir tun, brauchen wir die Verankerung der Sexualpädagogik in Fachlichkeit und Wissenschaft, die den SRGR verpflichtet ist. Ich habe das Projekt zu Jugendschwangerschaften schon erwähnt. Ich will aber ein anderes, extrem wirkungsvolles Forschungsvorhaben der pro familia und seiner Sexualpädagogik würdigen: Sie wissen vielleicht: wir haben die vier-sprachige Internetseite für Jugendliche www.deinkondom.de und die Jugendbroschüre „Mann nehme ein Kondom, das passt“. Wenn wir in der Bundesgeschäftsstelle etwas wissen wollen über Kondome, Kondomgrößen, Penisgrößen, Kondomvermarkter ist ganz klar, wer zu fragen ist: Es sind ganz bestimmte Kollegen aus dem Landesverband NRW. Und ich bin froh, hier mal die Gelegenheit zu haben, diesen Kollegen für ihre Gespräche und Beratungen ganz herzlich zu danken. Diese Expertise ist einzigartig im Verband und in ganz Deutschland. Die Expertise ist deshalb so fundiert, weil die pro familia Sexualpädagogik sich an einer wissenschaftlichen Studie beteiligte, die Penisgrößen ermittelte. Daraus 54 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W konnte die Erkenntnis generiert werden, dass viele Jungs und Männer ein schmaleres Kondom brauchen, als das was gängige Größe ist. Der Landesverband verteilt heute diese Kondom, das gar nicht so einfach zu bekommen ist, über ihre Sexualpädagogik. Ich hoffe und bin eigentlich ganz zuversichtlich, dass wir auch in der Zukunft noch viele Möglichkeiten haben werden, die Grundlagen unsere Arbeit mithilfe von wissenschaftlichen Studien in der Kooperation mit der Praxis zu festigen und unsere Arbeit einzubetten, in eine Kultur der Menschenrechte und der sexuellen und reproduktiven Rechte. Danke sehr. 55 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 56 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Workshops Workshop pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Workshop 1: Anleitung zum Glücklichsein Das Thema Glück ist derzeit überall gegenwärtig; mit Ratgeberliteratur und hilfreichen Symbolen können und sollen wir unserem Glück auf die Sprünge helfen. Das beglückt vor allem die „Glücksindustrie“… Aber was bedeutet Glück heute wirklich? Anknüpfend daran haben wir uns als Pädagoginnen gefragt: Ist „Glück“ vielleicht ein hilfreicher Parameter für sexualpädagogisches Arbeiten? Soll nicht z.B. die Liebe, ein selbstbestimmtes Leben oder Sexualität (also einige Hauptthemen der sexualpädagogischen Arbeit mit Mädchen) glücklich machen? Ohne an Zwangsbeglückung im Sinne der o.g. Glücksindustrie zu denken, scheint der Begriff sowie das Gefühl vom Glück sexualpädagogisch beachtenswert zu sein. Im Workshop näherten wir uns inhaltlich den Fragen: Was bedeutet Glück? Was bedeutet Glück für Mädchen? Und kann sexualpädagogische Mädchenarbeit Mädchen gar ein Stück an ihr Glück heranführen? Über eine sehr erfahrungsbezogene Methodenauswahl ging es im es Workshop auf einer anderen Ebene darum, ein wenig Glücksgefühl – beispielsweise über eine angenehme Atmosphäre, Glücks-Übungen, Körpererfahrung usw. – in eine sexualpädagogische Veranstaltung hereinzubringen und zu prüfen, ob diese kleinen Erfahrungen und Gefühle einen neuen oder anderen Kontext als Ergänzung zu Gesprächen und Diskussionen für die sexualpädagogische Mädchenarbeit erzeugen können. Das Ziel des Workshops war offen angelegt. Es sollte eine Anregung zur Auseinandersetzung mit dem Begriff „Glück“ und ein Probieren von (glücklichmachenden?) Methoden werden. Der Workshop-Ablauf konkret, aber kurz gefasst, sah wie folgt aus: Zum Einstieg gab es über ein bekanntes Warming-Up („Aufstehen“) die Gelegenheit sich an Hand einiger Fragen zum Thema Glück allgemein zu positionieren z.B.: – Gibt es Glückskinder und Pech-Mariechen? – Gibt es ein Recht auf Glück? – Macht Sex glücklich? – Wer fühlt sich glücklich in seiner Arbeit? Anschließend gab ein selbstreflexives Element über eine Vorlese- und Entspannungseinheit, inspiriert durch die Metapher des Patronus-Zaubers (= glückliche Erinnerungen als Schutz gegen Bedrohungen) aus Harry Potter. Nach der Phase gemütlichen Entspannens (inklusive Schokoladen-Imbiss) gab es Austausch zu den Kernfragen: – Kann die Erinnerung an einen glücklichen Moment im Alltag hilfreich sein? – Gibt es daraus resultierend Ideen für einen Praxistransfer in die (sexualpädagogische) Arbeit mit Mädchen? Um den Austausch zu möglichen sexualpädagogischen Bezügen zu differenzieren, gab es anschließend einen kurzen theoretischen Input zu den Aspekten: – Glück und seine Bedeutungsebenen (z.B. schick- 57 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W – – – salhafte Fügung, des eifrigen Schmiedes Lohn, Zufriedenheit oder Glückseligkeit) Glücksdefinitionen in der (philosophischen) Menschheitsgeschichte Ausgesuchte aktuelle Glücks-Indizes von Buthan bis WHO Die Glückskekse, die wir verteilten, hielten die Diskussion lebendig. Die darin versteckten Weisheiten wurden, teils sehr kontrovers, vor dem Hintergrund der Übertragbarkeit auf sexualpädagogische Mädchenarbeit diskutiert. (Hier ein Beispiel einer Glückskeks-Weisheit. Sie lautete: „Halte an deinen Träumen fest“, was im pädagogischen Zusammenhang die Frage aufwarf: Sollte man Träumen/ Glücksvorstellungen der Mädchen in der pädagogischen Arbeit Raum geben, wenn die wahrscheinlich eintretende Realität diesen Wünschen entgegenwirkt?) Zum Ausklang gab es eine kurze Einheit mit Musik und Bewegung; beide Elemente sind Mädchen (ähnlich wie die oben erwähnte Schokolade) als „stimmungsaufhellend“ (z.B. im Bezug auf Liebeskummer) bekannt und können ergänzend zu kommunikativen Ansätzen in Veranstaltungen gut genutzt werden. Das Feedback der TeilnehmerInnen (es waren trotz der mädchenspezifischen Ausrichtung auch zwei männliche Kollegen vertreten) war durchweg positiv. Glück als Metapher, Gefühl oder hilfreiches Wort kann durchaus neue oder ergänzende Zugänge in der sexualpäda- gogischen Arbeit eröffnen, z.B. in Bezug auf die Wünsche oder Zielformulierungen für die Zukunft der Mädchen (Bsp: Was macht euch glücklich?) oder in Bezug auf „Schicksalhaftes“ (Bsp: Die Liebe kann nicht erzwungen werden, manchmal braucht es einen glücklichen Zufall) einerseits und dem Wissen um Selbstwirksamkeit (Bsp: Ich kann meines Glückes Schmied sein) andererseits. Es wurde geschätzt, sich über den „Glücks-Ansatz“ nicht nur mit dem Unglücksgehalt sexualpädagogischer Themen (Liebeskummer, Schönheitsterror, Angst vor Schwangerschaft usw.) zu beschäftigen, sondern den schönen Anteilen evt. größeren Raum zu geben. Auch die Grenzen der pädagogischen Glücks-Idee sind benannt worden („Ewiges Glück ist langweilig“ – Zitat/ Teilnehmerin) und für den sexualpädagogischen Einsatz des „Glücks“ wurde eine deutliche Abgrenzung zur aktuellen gesellschaftlichen Zwangsbeglückung gefordert. Moderation: Astrid Kassette, Witten Gudrun Meyer, Bonn 58 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Workshop 2: „Jungs – Eine Gebrauchsanleitung“ Sexualfreundliche Begleitung – Handlungskonzepte – Hilfestellungen. Was machen Jungen mit ihrer Hardware und wie geht es ihnen damit? Die Idee, einen Workshop für Neugierige auf und Praktiker in der Jungenarbeit anzubieten, wurde vom Jungen-Arbeitskreis des SPAK NRW entwickelt und konzeptionell umgesetzt. Die „harten“ biologischen Fakten des Junge-Seins sollten in Zusammenhang gesetzt werden mit den psychischen Entwicklungen und Herausforderungen in der Pubertät und Jugend. Die Möglichkeiten sexualfreundlicher Begleitung, Handlungskonzepte und praktische Tipps als Hilfestellung für die Arbeit mit Jungen kennzeichneten die Inhalte des Workshops. Dekoriert war der Raum mit Wandzeitungen aus Jungengruppen „Was fällt mir ein, wenn ich das Wort Sexualität höre“ und „Wünsche und Ängste zum ersten Mal“, sowie Fragen von Jungen verschiedener Altersgruppen zu Liebe, Freundschaft, Sexualität. Diese Dekoration sorgte gleich zu Beginn für Nachfragen und kurze Gespräche. Die Teilnehmenden setzten sich aus 10 Männern und drei Frauen zusammen. Neben vielen sexualpädagogischen Fachkräften aus pro familia Beratungsstellen waren auch LehrerInnen und in anderen Institutionen sexualpädagogisch arbeitende TeilnehmerInnen vertreten. Begonnen wurde mit einem Aufstellungs-/ Meinungsspiel, zu dem verschiedene Aussagen vorbereitet waren. Nach alphabetischer Namensreihung und der Abfrage nach überwiegendem Einsatz in der Jungenarbeit sollte Stellung bezogen werden zu dem Statement „Der überwiegende Teil der Geschlechterunterschiede ist biologisch bedingt“. Ähnlich wie bei dem zweiten Statement „Jungen stehen sexuell unter Druck“ ergaben die Positionierungen der TeilnehmerInnen reichlich Anlass zu Diskussionen. Diese eher als Anwärmübung gedachte Methode machte gleich Unterschiede in den Standpunkten und auch Gemeinsamkeiten deutlich. Als Beispiel einer Methode in der sexualpädagogischen Jungenarbeit und zur Initiierung von Diskussionsprozessen zu unterschiedlichen Themen kam der Grabbelsack zum Einsatz. Bestückt mit Gegenständen wie Bierflasche, Kondom, Herz, Taschentüchern, Tuch mit rotem („Blut“) Flecken, Holzpenis, Video, PC Maus, Broschüre zu Homosexualität, Pille etc. wurden in dem Workshop in der Kürze der Zeit nur vier Gegenstände aus dem Grabbelsack gezogen. Deren Bedeutung für Jungensexualität und die entsprechende Thematisierung in Jungengruppen sowie die unterschiedlichen Erfahrungen und Fragen der TeilnehmerInnen bestimmten die Diskussion zu den einzelnen Gegenständen. Dabei stand die Frage nach dem Umgang mit Pornografieerfahrungen von Jungen längere Zeit im Mittelpunkt und zeigte erneut unterschiedliche Herangehensweisen, Erfahrungen und Haltungen. 59 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Als letzte Methode wurde eine Scharade gespielt. Auf vorbereiteten Karten waren zusammengesetzte Begriffe gedruckt, die pantomimisch von zwei TeilnehmerInnen gespielt und von der Gruppe geraten werden sollen. Auch diese Methode wurde von den TeilnehmerInnen gut angenommen und mit viel Spaß und Lebendigkeit umgesetzt. Ähnlich wie in Jungengruppen kamen die TeilnehmerInnen in dem Workshop schnell mit einander ins Gespräch. Die Methoden, die den meisten TeilnehmerInnen bekannt waren, schufen hier die Möglichkeit des lebendigen, kollegialen Austauschs unter Fachleuten. So wurden Erfahrungen ausgetauscht, Anregungen für die Praxis weiter gegeben, Fragen zu Rahmenbedingungen sexualpädagogischer Arbeit geklärt mit einer dem Thema angemessenen heiteren Lebendigkeit und notwendigen Ernsthaftigkeit. Moderation: Reinhard Brand, Bielefeld Peter Rüttgers, Duisburg 60 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Workshop 3: „Fragt uns doch!“ Die Grundidee zu unserem Workshop war zu Beginn der Planung folgende: auf einem Fachkongress zu „30 Jahre Sexualpädagogik“ sollte nicht ausschließlich in Veranstaltungen über sondern mit der Zielgruppe Jugendlicher geredet und gearbeitet werden. So schälte sich die Idee eines Workshops als Ort der Begegnung von Anbietern (sexualpädagogischer Arbeit) auf der einen Seite und Kunden bzw. EndverbraucherInnen auf der anderen Seite heraus. Die „EndverbraucherInnen“ hatten wir schnell gefunden – unsere jugendlichen TeilnehmerInnen, die unser sexualpädagogisches Angebot kennen. Sie kamen alle aus dem 9. Jahrgang einer Bochumer Hauptschule. Die Jugendgruppe wurde von uns für diesen Workshop nicht ausgebildet (im Sinne der peer education) bzw. hatte nichts einstudiert. Gleichwohl hatten wir uns einige Male sowohl in der Schule als auch in der Beratungsstelle getroffen, um einander kennenzulernen, den Sinn dieser Veranstaltung zu transportieren und uns gedanklich einzustimmen. Die Anbieter waren Gerhard Kosthöfer und Jörg Syllwasschy vom Sexualpädagogischen Team aus Bochum; Renate Pawellek war bei der Durchführung des Workshops leider erkrankt, freundlicherweise ist Almuth Duensing aus Gütersloh eingesprungen. Fragt uns doch! – die Idee, Jugendliche durch konkretes Befragen am Gelingen der (sexual-) pädagogischen Arbeit und ihrer Nachhaltigkeit zu beteiligen, ist ja nicht neu. Viele der professionell Tätigen nutzen im eigenen Arbeitsrahmen vielleicht entsprechende Instrumente. Sei es, dass sie Jugendliche bitten, vor Veranstaltungsbeginn Fragen zum Thema Sexualität vorzubereiten (wir hatten solche Fragen mitgebracht), sei es, dass sie zur Überprüfung ihrer Arbeit selbst Fragebögen an Jugendliche herausgeben oder sei es, dass aktuelle Jugendbefragungen aufmerksam verfolgt und studiert werden. Die eigentliche Formel dahinter heißt: Erwachsene fragen Jugendliche, welche Fragen bzw. welchen Bedarf sie denn zum Thema Sexualität/Sexualaufklärung haben – nur auf den ersten Blick ein einfaches Unterfangen. Wenn wir zu Grunde legen, dass Jugendliche die ExpertInnen in eigener Sache sind, besteht unsere Aufgabe darin, Ihnen ein Forum bzw. eine Sprache zu geben, damit sie uns an ihrem Expertentum teilhaben lassen können. Aber der Gedanke der Beteiligung und Mitbestimmung ist für viele Jugendliche neu – nicht nur bezogen auf sexualpädagogische Formen und Inhalte. Ein ernsthafter Beteiligungsprozess muss die unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen bezüglich Mitbestimmung berücksichtigen und ist daher nur zielgruppenspezifisch möglich! Schule und Elternhaus wären ein wichtiges Übungsfeld – sie sind aber nur wenig bereit, Jugendliche mitbestimmen zu lassen, wenn das bedeutet, dass Verfügungsmacht in Teilen abgegeben werden muss (so die Ergebnisse einer Studie zur Mitbestimmung 61 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W der Bertelsmannstiftung). Bei einem ernsthaften Beteiligungsverfahren ändern sich folglich Machtverhältnisse – ein anstrengender Prozess; vor allem, da man zu Beginn nicht weiß, welches Ergebnis am Ende steht – und es gibt keine Erfolgsgarantie. Wer Jugendliche befragen möchte, um die Qualität der eigenen Arbeit zu erhöhen, muss sich darüber im Klaren sein, dass Mitbestimmung und Mitbeteiligung für Jugendliche ein Recht ist und keine Pflicht! Konkrete Durchführung Nach der Begrüßung der TeilnehmerInnen durch die Jugendlichen gab es eine Vorstellungsrunde der Jugendlichen von der Hermann-Gmeiner-Hauptschule (Alter, kultureller Hintergrund, Religion/Sprache), der Erwachsenen (Alter, Tätigkeitsfeld) und der TeamerInnen. Es folgte ein Impulsreferat (Rechtebasierter Ansatz, Mitbestimmung, Workshop-Idee, Konsequenzen für die Sexualpädagogik?). Mit einem Positionierungsspiel begann die inhaltliche Begegnung zu den Fragen: „Was glauben Sie, wo Jugendliche sich am liebsten informieren würden?“ an die Erwachsenen, und „Wie seht Ihr das?“ an die Jugendlichen. Zum vertieften Austausch wurde in einer ersten Runde an einem Frauen- und einem Männertisch gearbeitet, zu Themen aus der Sexualpädagogik, deren Bedingungen und Methoden. Später gab es einen Tischwechsel, bei dem ein gegen- geschlechtlicher Austausch stattfand. In der Abschlußrunde wurde Bemerkenswertes von den Tischen zusammengefasst und wechselseitig Rückmeldungen gegeben. Zu folgenden Themen und Fragen gab es Austausch: (Mädchentisch) Pro familia-SexualpädagogInnen in die Schulen – baut Ängste und Distanz ab – Jugendliche finden dann auch den Weg in die Beratungsstelle Was muss die BeraterIn mitbringen? – Vertrauen, Offenheit – Sie muss sich in die Situation der Jugendlichen hineinversetzen können – Beraterin sollte aktiv sein, Gesprächsanlässe schaffen – Anonymität ist wichtig – Beraterin muss Wissen über andere Kulturen haben Was brauchen Jugendliche, damit Vertrauen entsteht? Warum geht Ihr (Jgdl.) in eine Jugendsprechstunde (viele Erwachsene kannten dieses Angebot wenig oder gar nicht!) (Jungentisch): – Erwachsene sollen direkt in Kontakt mit Jugendlichen kommen, Gesprächsanlässe schaffen, – und die Fragen der Jugendlichen herausbekommen, zulassen und beantworten (nicht nur „zutexten“ mit eigenem Programm). 62 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W – – – – Reibung und Auseinandersetzung, um eigene Position zu finden/klären; Jugendliche dürfen dabei „über das Ziel hinausschießen“. Die männlichen Multiplikatoren wollten „jung bleiben“, aufnahmefähig und sich auf Neues bei Jugendlichen einlassen. Jungen hatten Interesse, auch mit erwachsenen Frauen zu sprechen und zu befragen („wie ist das eigentlich bei Frauen…?) Frauen fanden Aufklärung für Jungen wichtig, im obigen Sinn. Schlussbemerkung In der Rückmelderunde machten die Jugendlichen deutlich, dass dies für sie ein Einstieg in den Austausch mit Erwachsenen war, und konnten sich weitere Gespräche vorstellen. Moderation: Almuth Duensing, Gütersloh Gerhard Kosthöfer u. Jörg Syllwasschy, Bochum 63 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Workshop 4: Pille, Präser und Co – ein Verhütungsupdate Medizin meets Sexualpädagogik Eine wesentliche Aufgabe der Sexualpädagogik ist es, medizinisches Wissen verständlich zu vermitteln, so dass die Verhütung zuverlässig gelingen kann. Da das keine leichte Aufgabe ist, müssen sich sexualpädagogische Fachkräfte im Vorfeld gut überlegen, welche Kenntnisse sie benötigen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Hierbei ist Ziel, das Alter, die Bildung, die Nationalität und den sozialen Hintergrund der jeweiligen Gruppe zu berücksichtigen. Eine stetige Aktualisierung des Wissens zum Thema Verhütungsmittel gehört zur Qualitätssicherung von sexualpädagogischer Arbeit dazu. Wie oft ein solches Wissen über Verhütung aufgefrischt werden sollte und wie viel medizinische Fachinformation eine sexualpädagogische Fachkraft benötigt, ist indes unklar. In den letzten 10 Jahren hat eine große Anzahl neuer Pillen den Markt erobert. Neuartige Verhütungsmethoden mit kontinuierlicher Hormonabgabe, wie z.B. das Implanon® oder der Nuva Ring ® oder neue Spiralen, wie die Verhütungskette Gynefix ® etablierten sich schnell auf dem Markt. In neuester Zeit werden auf Seiten der Hersteller von oralen Kontrazeptiva insbesondere neue Einnahmeschemata von Mikropillen erarbeitet und es gibt Versuche ein „natürliches“ Östrogen in der Pille zu verwenden. Nicht immer sind die angepriesenen Neuheiten wirklich neu, manche altbekannten Pillen werden einfach ohne Pause durchgenommen (Langzeitzyklus) oder kommen einfach mit neuem Namen und 4 Tabletten mehr in der Packung auf den Markt. Hierdurch sollen weitere Vorteile, wie z.B. geringere oder gar keine Blutung, keine Unterbauchbeschwerden in der Zeit der Regelblutung einen zusätzlichen Effekt bieten. Die Kreativität der Pharmaindustrie stellt die Berufsgruppen, die in der Verhütungsberatung tätig sind, hiermit jedoch vor immer neue Herausforderun gen. Konnte man sich noch vor 2 Jahren darauf verlassen, dass die meisten jungen Mädchen eine Mikropille mit 21 gleichen Tabletten und einer Einnahmepause von 7 Tagen einnehmen, so ist das heutzutage lange schon nicht mehr so. Mit der einfachen Frage nach der letzten Regelblutung war es häufig möglich die Sorge eines Mädchens nach einer ungewünschten Schwangerschaft zu mildern. Heute ist dies bei Mädchen, die durch Langzeitzyklen keine Regelblutungen mehr bekommen, nicht mehr möglich.In dem Workshop wurde aus diesem Grund das Basiswissen um den Zyklus und die Wirkweise der Pille noch einmal mit gynäkologisch-fachlichem Wissen unterfüttert. Viele Fragen konnten beantwortet werden: – Ist es schädlich eine Pille im Langzeitzyklus einzunehmen? – Wie entsteht eine Zwischenblutung? – Sind Wirkweise und Nebenwirkungen der Dreimonatsspritze und des Implanon ® gleich? – Was unterscheidet eigentlich die Vielzahl von Pillenpräparaten, welche Zusatznutzen und Risiken 64 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W – – gibt es? Inwiefern ist die Verhütungssicherheit vom Gewicht abhängig? Für welche Zielgruppe sind welche Verhütungsmittel geeignet? Aufbauend auf diese erweiterten Basics wurden die ganz neu auf dem Markt befindlichen Pillen Qlaira ® und YAZ ® vorgestellt. Wobei die Fragen zu dem „neuen Östrogen“ in Qlaira ® und das veränderte Einnahmeschema bei der YAZ ® mit Vor- und Nachteilen besprochen wurden. Die neue Pille danach ellaOne ® enthält einen neuartigen Wirkstoff. Der Wirkmechanismus, Nutzen und Risiken für Jugendliche und die noch offenen Fragen zu dieser Nachverhütung wurden diskutiert. Viele wichtige Fragen konnten erörtert werden, und es war schnell klar, dass es in diesem Bereich oft keine eindeutigen und knappen Antworten gibt. Aber das Verständnis um die Zusammenhänge erleichtert die Souveränität und die Sensibilität für die drängenden Fragen der Mädchen und Jungen. Hier kurzfristig entlasten zu können, Zusammenhänge herzustellen und wenn nötig die Mädchen zu ermuntern den Frauenarzt/ Frauenärztin aufzusuchen, das war das Ziel dieses Workshops. Das Zusammenspiel von medizinischen Kenntnissen und sexualpädagogischer Umsetzung ist ein Qualitätsmerkmal der pro familia NRW und konnte im Workshop mit den Teilnehmern modellhaft umgesetzt werden. Moderation: Angelika Dohr u. Andreas Häner, Münster 65 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Workshop 5: Vielfalt zeigen – methodische und didaktische Tipps An praktischen Beispielen soll die Vielfalt an der sexualpädagogischen Gruppenarbeit ausprobiert und reflektiert werden. Dieser Workshop hatte 22 TeilnehmerInnen, es waren 12 Frauen und 10 Männer. Begonnen wurde mit einem kurzen Input zum Thema: „Umgang mit Methoden in der sexualpädagogischen Gruppenarbeit“. Da es sich bei Sexualität um ein intimes und privates Thema handelt, sollte die Gruppenarbeit mit besonderer Umsicht angeleitet werden. Dabei gilt es, folgende Punkte zu beachten: – Hinweis auf Verschwiegenheit, Regeln und Grenzen. – Behutsamer Einstieg mit Zeit und Ruhe, vertrauensvolles Klima schaffen. – Wortwahl – jede/r PädagogIn sollte für sich rausgefunden haben, welche Wörter im sexualpädagogischen Kontext er mag und verwenden möchte. – Vor jedem Spiel/Methode sollte sich die/der PädagogIn überlegen, ob es für den Gruppenprozess sinnvoll ist mitzuspielen oder „nur“ anzuleiten. – Bei heiklen Themen (z.B. Selbstbefriedigung, Jungfernhäutchen) in kleinen Gruppen arbeiten, – Methoden, Sprache, Wortwahl speziell für die unterschiedlichen Gruppen wählen. – Motivation durch humorvolle und lustige Spiele/ Methoden. Als Beispiel für einen behutsamen Einstieg wählten wir die Vorstellungsübung „Aufstehen – Hinsetzten“. Bei dieser Übung lernen die Beteiligten sich kennen. Die/der WorkshopleiterIn liest die Frage vor und wenn diese für eine/n TN zutrifft steht sie/er auf, mögliche Fragen sind: – Wer ist zwischen 20 und 30 Jahre? – Wer ist zwischen 30 und 40 Jahre? – Wer ist älter? – Wer ist Sozialpädagoge/SozialarbeiterIn? – Wer ist Dipl. Pädagoge/in? – Wer ist LehrerIn? – Wer ist … sonstiges? – Wer ist erfahren im Umgang mit sexualpädagogischen Methoden? – Wer arbeitet mit jungen Erwachsenen? – Wer hatte (selbst) guten Sexualkundeunterricht in der Schule gehabt? – Wer hat schon mal einen (guten) Orgasmus vorgetäuscht? (diese Frage sollte aufzeigen, wie leicht auch bei einer solchen Übung Grenzen berührt und überschritten werden können) – Wer hat als Jugendlicher gerne Bravo gelesen? – Wer kann sich an „Aufklärungsgespräche“ mit seinen Eltern erinnern? – Wer hat schon mal Sex gehabt, ohne an Verhütung /Safer Sex zu denken? – Wer hatte als Kind ein Aufklärungsbuch? – Wer hat mindestens bei einer Frage gelogen? 66 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Viele TN hatten schon Erfahrung mit sexualpädagogischen Methoden, andere hatten noch gar keine Erfahrung. Es gab eine kurze Rückmeldung im Plenum zu dieser Übung. Die TN berichteten, dass sie in kurzer Zeit einen guten Überblick bekommen haben, mit wem sie es in diesem Workshop zu tun haben. Die Übung war informativ, aber auch lustig und belebend. Fragen an das andere Geschlecht Eine bewährte sexualpädagogische Methode sind die anonymen Fragen an das andere Geschlecht. Dabei stellen sich die Geschlechter schriftlich ca. fünf Fragen „was Sie schon immer mal über das andere Geschlecht und Sex wissen wollten“. Die Antworten werden wiederum schriftlich verfasst und anschließend dem anderen Geschlecht vorgestellt. Um diese Methode für den Workshop spannend zu machen, bekamen die Männer- und die Frauengruppe vorbereitete Originalfragen von Jugendlichen zum Thema Sexualität. Folgende Fragen sollten schriftlich beantwortet werden: – Wie befriedigt man ein Mädchen/Jungen am besten? – Welche Stellung ist die Beste? – Wie geht Oralverkehr? Dabei wurde in den Kleingruppen deutlich wie groß die individuellen Unterschiede sind, wenn es darum geht, dass Männer Jungen etwas über weibliche Lust und Frauen Mädchen etwas über männliche Lust erzählen. Wie weit geht jede/r mit den Antworten, wo sind die individuellen Grenzen und wann wird ein Thema zu „heiß“? Anschließend wurden die schriftlich festgehaltenen Ergebnisse der anderen Gruppe im Plenum vorgelesen. Auch hier wurden relativ große Unterschiede zwischen der Männergruppe und der Frauengruppe festgestellt und es wurde deutlich, dass es sehr hilfreich sein kann, wenn Männer und Frauen in der Sexualaufklärung auch über solche intime Themen ins Gespräch kommen. Ampelspiel Diese Methode eignete sich um mit der ganzen Gruppe in Kontakt zu kommen, also auch die ruhigeren Personen anzusprechen und zu aktivieren. Es gibt drei Farben grün gelb und rot wobei jeder TN eine Farbe nach seinem Geschmack wählen kann und dann die entsprechende Aufgabe löst. Rot bedeutet einen Begriff pantomimisch darzustellen (z.B. Eisprung, Morgenlatte..) Gelb bedeutet eine Wissensfrage zu beantworten (z.B. Wie sicher ist die Pille…) Grün bedeutet einen Begriff zeichnerisch darzustellen (z.B. Liebeskummer, Zungenkuss) Pille und Komdom Wir boten ein Forum zum Austausch über den Umgang mit den Standardthemen „Penis & Kondom“ und „Zyklus & Pille“. Hierzu wurden zwei Kleingruppen 67 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W gebildet, die jeweils ein Thema besprochen haben. In der Gruppe „Penis & Kondom“ wurden das pro familia Holzpenisset, das pro familia xs-Kondom sowie das Paomi-Penismodell vorgestellt. In der Gruppe „ Zyklus & Pille“ wurden Zykluskarten, -ketten, -kalender, verschiedene Pillen und die PaomiJungfernhäutchen-, -Scheiden, -Gebärmuttermodelle vorgestellt. Aufschlussreich, interessant und anregend war der Austausch darüber, wie unterschiedlich anhand der Modelle die SexualpädagogInnen die Dinge erklären. Abschlussrunde Der Workshop war ausgelegt, den TeilnehmerInnen eine Auseinandersetzung mit Methoden in relativ kurzer Zeit durch Ausprobieren und Reflektieren zu ermöglichen und dies unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Vorerfahrungen. Die positiven Rückmeldungen zeigten, dass uns dieser Spagat gelungen ist. Moderation: Ulla Engel-Horstkötter, Meinhard Schreiber 68 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Workshop 6: „Mitten im Leben“ Arbeit mit ausgewählten Zielgruppen Benachteiligung – Beeinträchtigung – Migration An diesem Workshop nahmen 20 TeilnehmerInnen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern teil. Neben sexualpädagogischen Fachkräften gab es auch TeilnehmerInnen, die in der freien Jugendarbeit tätig sind. Der Einstieg Die Mitte des Raumes bildeten Fotographien von Menschen in unterschiedlichen Kulturen (Außenkreis), Playmobil-Figuren (eher in der Mitte) sowie Barbie und Ken im Zentrum. Nach der Begrüßung wurden die TeilnehmerInnen dazu aufgefordert, sich etwas aus der Mitte auszusuchen. Dieser Gegenstand sollte sich auf die berufliche Situation der Anwesenden beziehen. Ken wurde z.B. als Sinnbild dafür genommen, wie sich männliche Jugendliche eines Jugendtreffs gerne sehen würden. Eine Teilnehmerin z. B. stellte sich mit einem Elefant (Playmobil) vor, weil sie in ihrem Beruf eine „dicke Haut“ bräuchte. Die Vorstellungsrunde ergab, dass das Thema Arbeit mit Migranten/Innen einen wichtigen Raum einnehmen würde. Gruppe – Zielgruppe – Zuschreibungen Anschließend folgte ein „Experiment“. Die TeilnehmerInnen wurden gebeten, sich unter folgender Fragestellung in kleine Gruppen einzuordnen: Was macht mich aus? Was ist besonders? In welcher Konstellation von Gruppenmitgliedern finde ich mich wieder? Nach einigen Irritationen, die durchaus beabsichtigt waren, entstanden fünf Gruppen. In einer kurzen Auswertung zeigte sich, wie schwer es ist, sich Gruppen zuzuordnen oder auch Gruppen zugeordnet zu werden. Mit Hilfe dieser Übung problematisierten wir die Einordnung von Jugendlichen in bestimmte Kategorien wie Migrationshintergrund, beeinträchtigt, sozial schwach u. ä.. 1 Das Verbindende Bei allen Unterschieden der einzelnen Gruppen (-mitglieder) sind das verbindende Element die sexuellen Rechte. Alle Jugendlichen haben ein Recht auf sexuelle Bildung, auf Beratung, auf freien Zugang zu sexualitätsbezogenen Informationen und so weiter. Mit dieser These eröffneten wir den zweiten Teil des Workshops. Wir konnten sehr gut Bezug nehmen auf den vorherigen Vortrag von Sigrid Weiser über den rechtebasierten Ansatz der pro familia. Es folgte ein kollegialer Austausch in dem die TeilnehmerInnen ihre Erfahrungen schilderten. Hier kamen die Grenzen unserer sexualpädagogischen Arbeit zum Ausdruck. Die nach wie vor schwierige Arbeit mit einem Großteil unserer jugendlichen Migranten/Innen deren Probleme ja bereits hinlänglich untersucht sind, darf uns jedoch nicht den Blick darauf versperren, dass es auch in der muslimischen Gesellschaft viele fortschrittliche Tendenzen gibt. Die Erfahrungen der Teilnehmenden zeigten, dass ihnen viele junge muslimische Frauen und Männer begegnen, die nicht mehr als „MigrantInnen“ etikettiert 1 Aus Zeitgründen konnten wir nur kurz auf das soziologische Konzept der Intersektionalität hinweisen. 69 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W werden möchten. Eine Herausbildung von Netzwerken kann uns in der Arbeit wertvoll unterstützen. Rahmenbedingungen sexualpädagogischer Arbeit Im letzten Teil des Workshops wurde über die methodischen Rahmenbedingungen hinsichtlich unserer Zielgruppen gesprochen: Gruppengröße, Setting, Anschauungsmaterial, Humor, kultursensibles Arbeiten und Sprachgebrauch sind Variablen, die in der Sexualpädagogik je nach Zielgruppe unterschiedlich gestaltet werden sollten. Aus Zeitmangel konnte der geplante Methodenteil nicht mehr stattfinden. Ein Teilnehmer konnte sich jedoch z.B. gut vorstellen, die Übung zu Beginn des Workshops durchzuführen. Der Austausch führte auch dazu, dass einige Teilnehmer/Innen miteinander in beruflichen Kontakt treten werden. Unsere These, dass sexualpädagogische Methoden, die themenbedingt anschaulich und multisinnlich gestaltet sind, grundsätzlich allen Zielgruppen gerecht werden können, wenn wir sie zielgruppen spezifisch modifizieren, war den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht fremd. In dem Workshop ist es uns gelungen Impulse zu setzen, wie Vielfalt in die sexualpädagogische Arbeit integriert werden kann. Moderation: Marlene Lang-Mielke, Duisburg Jürgen Heintzenberg, Krefeld/ Mönchengladbach 70 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Podiumsdiskussion Vom Tabu zur Zumutung – wie geht es weiter? Den Blick zu öffnen, ohne Vergangenes und Gelungenes aus dem Blick zu verlieren, war ein Ziel des zweitägigen Fachkongresses. In einer abschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Fachleute aus verschiedenen Verantwortungsbereichen, wie eine gelungene sexualpädagogische Arbeit in Deutschland, in NRW aussehen könnte. „Welche Ressourcen sind vorhanden und wo muss dringend nachgebessert werden?“ waren Themen, die zum Abschluss des Kongresses unter Berücksichtigung der aktuellen Diskurse und des Theorie-Praxis-Transfers angesprochen wurden. Von einem Tabu in Sachen Aufklärung kann man in Deutschland zum Glück nicht mehr sprechen. Das ist ein Teil der pro familia Vergangenheit, indem es maßgeblich um Pionierarbeit ging. „Damals“ (in den Anfängen vor 30 Jahren) war es bisweilen äußerst schwierig, eine sexualpädagogische Veranstaltung in einem Jugendzentrum oder einer Schule überhaupt als externe Fachperson durchführen zu können. Was bedeutet dann aber Zumutung im Jahr 2011, wo doch heutzutage mannigfaltige Wahlmöglichkeiten offen stehen? Kinder und Jugendliche kommen heutzutage mit einer Flut von sexuellen Informationen und Themen in Berührung. Das kann nicht spurlos an ihnen vorbei gleiten, auch wenn sie deutlich besser mit Medienangeboten umgehen können als die meisten Erwachsenen. Einem Großteil der Heranwachsenden gelingt es die Informationen zu filtern und sich das heraus zu suchen, was sie interessiert und spannend finden. Aber man mutet ihnen zu, dass sie sich mit Themen von Erwachsenensexualität/Sexualität frühzeitig und in vielen Facetten beschäftigen. Sexualpädagogik kann beim Prozess des Sortierens und Einordnens – nicht nur der kognitiven Prozesse, sondern ebenso beim Wirwarr der Gefühle – unterstützen. Gleichfalls dient sie als Korrektiv bei Mythen, Halb- und Falschwissen. Auch sehen die „professionellen Aufklärer“ ihre Aufgabe darin, Kinder und Jugendliche zu begleiten und den Blick weg vom Abstrakten/ Fremden der Erwachsenensexualität auf das eigene Erleben und Wohlbefinden zu lenken. Auch das kann eine Zumutung sein. Sexuelle und reproduktive Rechte bekannt zu machen, ist ein weiteres Anliegen der pro familia Beratungsstellen. Allen Menschen, unabhängig vom Alter, Geschlecht, Kultur, psychosozialen Bedingungen und intellektuellen Möglichkeiten, die Chance einer Teilhabe an sexueller Bildung zu ermöglichen, ist Ziel und Inhalt sexualpädagogischer Arbeit bei pro familia. Auch hier muten wir Kindern und Jugendlichen zu, sich mit ihren Rechten und Pflichten auseinanderzusetzen. Die Podiumsdiskussion, die auch brisante Themen nicht scheute, wurde von allen Beteiligten als gelungener Abschluss des Fachkongresses bewertet. TeilnehmerInnen: Stefanie Amann (BZgA), Herr Horst Bickel (Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, Beate Martin (pro familia Münster) und Reinhard Brand (pro familia Bielfeld) Moderatorin: Frau Ulrike Michels (Journalistin und Filmemacherin) 71 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 1) Rainer Neutzling bei seinem Festvortrag „Die Aufklärer“ 2) Sigrid Weiser, Vortrag „Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht“ 4) WS 1 „Anleitung zum Glücklichsein“ 6+7) WS 2 „Jungs - eine Gebrauchsanleitung“ sowie Bilder vom Tage 1 2 3 4 5 6 7 72 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 1 2 3 4 5 6 7 1) WS 3 „Fragt uns doch“ 3) WS 4 „Pille, Präser .... 5) WS 5 „Vielfalt zeigen ...“ sowie Bilder vom Tage 73 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 1 2 3 4 1+2) WS 6 Mitten im Leben 4+5) Podiumsdiskussion „Vom Tabu zur Zumutung“ 74 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Weitere Kongress-Impressionen 75 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 76 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 77 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W 78 pro fa m i l i a L a nd e s v e r b a nd N R W e . V. Fa c h ko n g r e s s > T r e ff p u n k t: S e x u e ll e S e lb s t b e s t i m m u n g 3 0 J a hr e S e x u a l p ä d a g o g i k P ro Fa m i l i a N R W Impressum Herausgegeben vom pro familia Landesverband NRW e.V. Postfach 13 09 01, D-42036 Wuppertal [email protected] www.profamilia-nrw.de Spendenkonto: 70 240 01 · Bank für Sozialwirtschaft BLZ 370 205 00 Vorstand: Marianne Hürten (Vorsitzende), Rainer Hecker (Stellvertretender Vorsitzender), Julia John, Sina Kaufmann, Renate Marczinowski, Cornelia Schneider, Dr. Eva Waldschütz Redaktion: Holger Erb Gestaltung: Komotzki Design Dokumentation zum Fachkongress „Treffpunkt sexuelle Selbstbestimmung – 30 Jahre Sexualpädagogik im pro familia Landesverband NRW“ pro familia Landesverband NRW e.V. Postfach 13 09 01 42036 Wuppertal Ihre Spende hilft in jeder Beziehung. Spendenkonto 70 240 01 · Bank für Sozialwirtschaft · BLZ 370 205 00 Telefon: 0202 / 245 65-0 Telefax: 0202 / 245 65-30 E-Mail: [email protected] www.profamilia-nrw.de