Islam in Aserbaidschan

Werbung
Islam in Aserbaidschan
Geschichtlicher Abriss
Der Islam wurde in Südaserbaidschan im 13.
Jahrhundert vom mongolischen Chan Gassan
eingeführt.
Schah Ismail war es, der 1501 die Schia in Persien
und auch in Aserbaidschan etablierte.
Die Beziehungen zwischen Aserbaidschan und
Persien sind schon immer sehr angespannt
gewesen, obwohl beide Gebiete dem schiitischen
Islam angehören. Vor dem 18. Jahrhundert
herrschten aserbaidschanische Machthaber in
Persien,
danach
wurden
die
schiitischen
Aserbaidschaner von den persischen Schahs
unterdrückt.
Die Abneigung der Aserbaidschaner gegen den Iran
wurde zur Zeit der iranischen Revolution 1979
wieder
geschürt,
als
der
iranische
Revolutionsführer Ajatollah Chomeini die Tudeh-Partei zerschlug, deren grösste Anhängerschaft
aus dem iranischen Südaserbaidschan kam.
1920 wurde Aserbaidschan von der roten Armee eingenommen und 1922 zusammen mit
Armenien und Georgien in die Sowjetunion eingegliedert.
Während den 70 Jahren sowjetischer Vorherrschaft wurde die Religionsausübung sehr stark
eingeschränkt und die Identifizierung der Aserbaidschaner mit dem Islam wurde weitgehend
abgeschwächt.
Nach der Unabhängigkeit 1991 kamen etliche Religionsgelehrte aus dem Iran, Saudi-Arabien und
der Türkei ins Land. Ihr Ziel war es, bei einem Wiederaufbau eines islamischen Bildungssektors
mitzuhelfen.
Zu Beginn der Unabhängigkeit gab es Befürchtungen über einen Machtkampf zwischen der Türkei
und dem Iran. Denn die Türkei wollte ihr säkulares westlich orientiertes Islamverständnis an die
aserbaidschanischen Einwohner bringen, während der Iran seine fundamentalistische
Islamauffassung verbreiten wollte.
Doch die verschiedenen Führungen Aserbaidschans orientierten sich alle ziemlich entschieden in
Richtung Türkei, die Wahrscheinlichkeit, dass der Iran seinen islamischen Fundamentalismus doch
noch nach Aserbaidschan exportieren konnte, verschwand schnell.
Einen kurzen Aufschwung erlebte der Islam in Aserbaidschan kurz nach der Unabhängigkeit. Die
nationalen Politiker versuchten das Nationalgefühl durch den Islam zu stärken und ihren
Machtanspruch dem Volke gegenüber mit dem Islam zu legitimieren. Auch Ajas Mutalibow, der
von 1991 – 1992 Präsident war, sagte kurz vor seinem Sturz: „Ich bin Moslem, weil ich
Aserbaidschaner bin.“ 1 Interessant ist, dass derselbe Herr auch mal Chef der Kommunistischen
Partei war.
Sein Nachfolger, Albufas Eltschebej, verbannte den Islam wieder aus der Politik und trat für einen
säkularen Staat ein. Während seiner Regierungszeit wurde im Parlament ein Gesetzt angenommen,
das unter anderem die Gründung religiöser politischer Organisationen in Aserbaidschan verbietet.
1
Trutanow, S. 128
Unter Albufas Eltschebej wurde auch Navruz, das heidnische Frühlingsfest der Turkvölker wieder
eingeführt.
Islam in Aserbaidschan heute
90 % der aserbaidschanischen Bevölkerung sind Muslime, davon gehören 65% den Schiiten an und
35% den Sunniten an. Die restlichen Einwohner lassen sich christlichen Minderheiten zuordnen.
Laut einer Studie von Raoul Motika bezeichnen sich von den muslimischen Aserbaidschanern nur
6,3% als aktiv gläubig. Die restlichen 93,7 Prozent sehen sich selber als passive Gläubige.
Dabei handelt es sich um Menschen, die im Alltag praktisch keine religiösen Rituale mehr
einhalten.
Zusammenfassend lässt sich aus dieser Studie herauslesen, dass eine grosse Mehrheit der
muslimischen Aserbaidschaner ihren Alltag säkular gestaltet, während sich nur eine kleine
Minderheit mit einem religiösen Islam identifizieren kann.
Zu diesem Thema möchte ich noch einen gewissen Herrn Ilgar Ibrahmoglu2 zu Wort kommen
lassen:
„Die Anzahl praktizierender Muslime, sowohl Schiiten als auch Sunniten, ist sehr begrenzt – es sind
vielleicht fünf oder sechs Prozent. In Europa habe ich zum Beispiel mehr praktizierende Muslime
3
getroffen als in meinem eigenen Land.“
Ein wichtiges Merkmal des Islam im Aserbaidschan ist also die Ausgrenzung des religiösen Islam
aus der Gesellschaftsordnung, wir können weitgehend von einem säkularisierten Islam sprechen.
Das zweite Hauptmerkmal ist das problemlose Zusammenleben von Schiiten und Sunniten!
Während der Sowjetzeit hat der Islam als „Religion“ stark gelitten. Religiosität und die öffentliche,
institutionalisierte Ausübung des Glaubens wurden unterbunden.
Da es in der Sowjetunion als gefährlich galt, islamisches Wissen an Jugendliche weiterzugeben, ging
viel an formalem islamischem Wissen verloren, und der Islam ist heute in der aserbaidschanischen
Gesellschaft nicht mehr allzu bewusst verankert.
Im Gegensatz dazu hat der Islam in der aserbaidschanischen Bevölkerung als „way of life“ 4
überlebt. Damit ist gemeint, dass in Aserbaidschan viele religiös konnotierte Bräuche wie
Beschneidung, Hochzeit, Beerdigung und Besuch von Heiligengräbern gesellschaftlich durchaus
noch verankert sind.
Und auch wenn während der Sowjetzeit der offizielle und institutionalisierte Islam ausgelöscht
wurde, blieb der aserbaidschanischen Bevölkerung trotzdem eine emotionale Verbundenheit mit
dem Islam erhalten.
Vor der Sowjetbesatzung war in Aserbaidschan eine grosse islamische Wohltätigkeit verbreitet, von
der bei der Unabhängigkeit 1991 praktisch nichts mehr übrig war.
Auch heute noch können sich nur sehr langsam und bruchstückhaft vereinzelte soziale Projekte
etablieren, die oft auch keine lange Überlebensdauer haben. Eine islamische soziale Arbeit in
grossem Stile ist in Aserbaidschan nach wie vor nicht möglich.
Die städtische Jugend wendet sich einer neuen Form des Islams zu
Während auf dem Land, in den aserbaidschanischen Provinzen weitgehend eine sekularisierte Form
des Islam verbreitet ist, bildet sich in Baku wieder eine kleine Minderheit von praktizierenden
Muslimen heraus.
2
Ilgar Ibrahimoglu ist Menschenrechtsaktivist, Herausgeber einer Zeitung und Imam zugleich. Er gilt als
Vertreter eines modernen „westlichen“ Islam.
3
http://www.caucaz.com/home_de/breve_contenu.php?id=262&PHPSESSID=1def15210da7f9611eac5065510ece
96
4
Hunner-Kreisel, S. 78
Es handelt sich dabei hauptsächlich um jüngere Menschen, die sich wieder verstärkt der Religion
zuwenden. Sie haben meist eine bessere Bildung, sind „weltoffen“ und stammen aus einer nicht sehr
traditionellen Familie. Sie bekamen von ihren Eltern keinen stark gelebten Islam mit auf den Weg.
Die Menschen dieser jungen Generation, erlebten in ihrer Kindheit einen noch von der
Unterdrückung der Sowjetzeit geprägten, sehr unautoritären Islam.
Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, leben sie nun einen sehr religiösen Islam, und wenden
sich wieder einer verstärkten Ausübung der Glaubenspraxis zu.
Da diese Gruppe hauptsächlich aus jungen Studierenden besteht, ist Ilgar Ibrahimoglu überzeugt,
dass die Gläubigen im Aserbaidschan zwar nicht unbedingt quantitativ, jedoch qualitativ zulegen.
Zudem meint er dass diese Gruppe „die Vorhut einer religiösen Erneuerung im Aserbaidschan“ 5
bildet.
Bei der aserbaidschanischen Jugend macht sich auf Grund der Globalisierung und hauptsächlich
durch den Zugang zu den westlichen Medien eine gewisse Orientierungslosigkeit bemerkbar. Auf der
Suche nach festem Halt wenden sich viele von den städtischen, gebildeten Jugendlichen einem
neuen islamischen Konzept des „Meta-Islam“ zu.
Dieser Verlauf der Dinge wird stark von türkischen geistlichen beeinflusst und vorangetrieben.
Die islamische-theologische Fakultät der Bakuer Staatsuniversität, die diesen neuen „Meta-Islam“
lehrt, arbeitet stark mit der Türkei zusammen, die meisten theologischen Fächer werden von
türkischen Dozenten gegeben.
Der „Meta-Islam“ wird auch „Islamin ozü“, das heisst „Kern des Islam“, genannt.
Mit „Kern“ sind wohl der Koran und die Hadithe gemeint, auf die sich jeder Gläubige direkt
beziehen soll. Denn diese neue Richtung des Islam fordert dazu auf, nicht den
Koraninterpretationen der verschiedenen Rechtsschulen nachzueifern, sondern sich das Wissen des
Korans ganz persönlich, durch simples Lesen anzueignen.
Der „Meta-Islam“ steht also sozusagen über den verschiedenen Rechtsschulen und unterscheidet
auch nicht zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen.
Die meisten der Studierenden der islamisch-theologischen Fakultät in Baku können sich mit dieser
Art des Islam identifizieren.
Sie empfinden es als etwas „Modernes“, im Sinne von: „etwas, dass sich von den Überbleibseln der
Sowjetunion klar abwendet, und eine neue Richtung einschlägt!“
Die Studierenden schätzen die Objektivität und die Neutralität dieser neuen Art der Religion.
Ein Studierender der islamisch-theologischen Fakultät sagt zur Frage, was er unter Objektivität
verstehe folgendes:
„Es gibt diejenigen, die sagen, dass sie Schiiten sind und dass alle anderen religiösen
Orientierungen falsch sind. Auch ich habe Religion so betrachtet. Aber nachdem ich hierher
gekommen bin, habe ich gesehen, dass es zwischen den religiösen Orientierungen keine
Unterschiede gibt. Es gibt nur ein oder zwei kleine Unterschiede. Deswegen muss man
6
letztendlich objektiv sein “
Zudem sagt vielen Jugendlichen der rationale, aber trotzdem sehr intensive Zugang zum Glauben
zu. Denn der Glaube wird hier durch wissenschaftliche Bildung und aktives Verstehen erlangt.
Dies wird unteranderem begründet mit dem ersten Wort des Koran, welches „ikra“ heisst und so
viel bedeutet wie „lies!“.
Demnach beginnt der Koran weder mit einem Gebot noch mit einem Verbot, sondern mit der
blossen Aufforderung an den Leser: „Lies!“ oder „eigne dir Wissen an!“
5
6
http://www.caucaz.com/home_de/breve_contenu.php?id=262
Hunner-Kreisel, S. 82
Diese Aneignung von Wissen wird von vielen Vertretern des „Meta-Islam“ als den effizientesten
Weg zum glauben angesehen. Manche sind sogar überzeugt, dass bei wissenschaftlicher
Koranlektüre der Glaube ganz automatisch eintritt:
„Der beste Beweis für seine Annahme ist für den Doktoranden seine eigene Frau. Zur Zeit ihrer Verlobung
sei diese dem Christentum zugetan gewesen und habe sich nicht mit der Religion des Islams
auseinandersetzen wollen. Er habe das akzeptiert und ihr „nur“ Bücher zum lesen gegeben. Sie sei dann
von selbst zu ihm gekommen und habe den Wunsch geäussert, beten zu lernen. Seine Begründung für
ihre Konversion lautet:
„Ich habe nichts gesagt: nicht, „wie du willst“, oder so. Sie betete selbst, sie las selbst. Ich habe
mich nicht in ihrer Angelegenheiten eingemischt. „Warum betest du, warum betest du nicht,
warum hast du früher nicht gebetet“, nichts habe ich gesagt. Von alleine, wie ein intelligenter
Mensch, hat sie gesehen, dass der Islam Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit ist, sie hat die
7
Religion angenommen und begonnen, religiös zu sein.“ “
Während gewisse oben genannte Elemente des neuen „Meta-Islam“ auf eine gewisse
innerislamische Toleranz hinweisen, wird andererseits eine klare Haltung vertreten, dass
diejenigen, die die Gebote Gottes befolgen ihren Mitmenschen moralisch überlegen sind. Als
besonders wichtig werden dabei die fünf täglichen Gebete angesehen.
Man geht beim „Meta-Islam“ davon aus, dass die Gesellschaft durch den Islam erneuert werden
könne.
Eine Frau aus Baku bringt dies während einem Gruppeninterview folgendermassen auf den Punkt:
„In Aserbaidschan gibt es so viele Menschen. Wenn sie alle nach den Gesetzen des Islams leben
8
würden, dann könnte das Leben ganz anders aussehen“
Literaturangaben:
• Jugend, Bildung und Globalisierung : sozialwissenschaftliche Reflexionen in internationaler
Perspektive / Christine Hunner-Kreisel, Arne Schäfer, Matthias D. Witte (Hrsg.), München, 2008
• Zwischen Koran und Coca Cola / Igor Trutanow, Berlin, 1994
• Interview mit Ilgra Ibrahimoglu: http://www.caucaz.com/home_de/breve_contenu.php?id=262
• Zwischen Moskau und Islam / Elizabeth Fuller, aus der Zeitschrift: Internationale Politik, Ausgabe Mai
2000, Berlin
7
8
Hunner-Kreisel, S. 85
Hunner-Kreisel, S. 86
Herunterladen