WIE VIEL GESCHLECHTSIDENTITAET BRAUCHT DER MENSCH

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WIE VIEL GESCHLECHTSIDENTITÄT BRAUCHT DER MENSCH?
Beitrag zur Disputation „Meiblich und wännlich – what’s now or ever?“
Jahrestagung der Sektion Analytische Gruppenpsychotherapie im DAGG
Lübeck-Travemünde 11-13 Mai 2007
Ausgangspunkt für diese Überlegungen zur Konstruktion und Dekonstruktion der
Geschlechterdifferenz in der psychoanalytischen Gruppe war eine erste, fast beiläufige
Fragestellung: Was passiert, wenn in einer analytischen Gruppensitzung die
Geschlechterdifferenz in der Sitzordnung spontan inszeniert wird, indem alle Frauen
beisammen den vereinten Männern gegenübersitzen? Ich wollte ein grösseres Augenmerk auf
die vorigen oder darauf folgenden Ereignisse halten und beobachten, ob diese Sitzordnung
eine inhaltliche Wende zu mehr Beschäftigung in der Gruppe mit Fragen der
Geschlechtsidentität markieren könnte.
Nach einem längeren Beobachtungszeitraum gab ich diese Hypothese auf. Diese
Sitzordnung schien keine entsprechende Bearbeitung von geschlechtsspezifischen Themen zu
begleiten, sogar ganz im Gegenteil – solche Themen kamen viel eher im Rahmen einer
durchmischten Sitzordnung zur Sprache. Die unbewusste „Aufstellung“ von getrennten
Geschlechterreihen erschien vielmehr als Abwehrphänomen, besonders zu Zeiten im
Gruppenleben als heftige Aggressionen tobten oder Auflösungsängste vorherrschend waren.
Auch in schwierigen Schwellensituationen, etwa wenn alte Mitglieder die Gruppe verliessen
oder neue hinzukamen, schien die Geschlechtertrennung in der Sitzordnung den Teilnehmern
mehr Stabilität, Sicherheit oder Schutz zu vermitteln. Ich musste an etwas Atavistisches aus
dem Stammesleben der Menschen der Frühzeit denken, das sich auch in den
Geschlechtertrennungen in Bethäusern und Kulthandlungen wieder findet.
Diese Erkenntnis hat mich beunruhigt. Die psychoanalytische Sozialisation – die so
leicht vom neutral wissenschaftlichen zu etwas quasi-religiösem abgleiten kann – prägt das
Bild einer Geschlechtsdifferenzierung im Individuum als progressiven und unerlässlichen
Schritt in der Identitätsentwicklung. Es gehört zu den fundamentalen Positionen der
Psychoanalyse dass ein Durcharbeiten des universalen Ödipus-Komplexes gewisse
grundlegende Grenzziehungen zwischen den Menschen klärt und festigt: alle Menschen
mögen gleichwertig sein, gleich sind sie aber nicht, sondern biologisch wie auch psychisch in
Geschlechtern und Generationen getrennt. Das Erreichen einer relativ stabilen
Geschlechtsidentität um den 5. und 6. Lebensjahr erscheint daher als Reifungsschritt, der
freilich durch die Umwandlungen in der Pubertät eine neuerliche Verunsicherung oder
positive Verstärkung erfahren kann.
In den vorher erwähnten Gruppensitzungen vollzog sich aber die unbewusste
Darstellung der Geschlechterdifferenz in der Sitzordnung als Angstreaktion, sogar als
Fluchttendenz, oder Regression in eine primitive Spaltung zur Abwehr von vermeintlicher
Gefahr. Gehorcht diese Tendenz zur Geschlechterdifferenzierung anderen Kräften und
Strömungen im sozialen Kontext des Gruppenlebens als jenen der frühkindlichen
Entwicklung im Individuums? Ist hier eine Art eingebaute Antinomie im Spannungsverhältnis
der Geschlechter aufzuspüren – was der/die Einzelne zu seiner/ihrer inneren Sicherheit und
Ausdifferenzierung in der psychischen Entwicklung ausreifen und festigen soll, wird in der
Kultur der Gruppe vor allem als regressiver Reflex wirksam, als archaisch-magischer
Schutzmechanismus?
Zwei gegenläufige Tendenzen zeichnen sich in der Auseinandersetzung mit dem
Geschlechtsunterschied ab, im Individuum eine entwicklungspsychologisch progressive Linie
von Trennung im Kontext des Ödipus-Komplexes, und in der Gruppe eine primitive Form
von Spaltung (M.Klein) als Abwehr von verunsichernden Situationen, um Gut/Böse, Wir/Die
Anderen zu unterscheiden.
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Wie reagiert die Psychoanalyse, wie reagiert die Gruppenpsychoanalyse, auf dieses
Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in unserer heutigen westlichen
Kultur, wo Geschlechterdifferenzen verwischt, relativiert, historisch und sozial dekonstruiert,
medizinisch-technisch neu ausgehandelt werden?
Zunächst sind unsere Beobachtungen vor dem Hintergrund von drei wesentlichen
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu sehen:
a) die allgemeine Verwendung von Verhütungsmitteln, und damit die weit reichende
Entkoppelung von Sexualität als Lusterlebnis und als Mittel zur Fortpflanzung
b) medizinisch-technische Entwicklungen in der Fortpflanzung überhaupt, in vitro
Fertilisation, aber auch Geschlechtsumwandlungen, Aussichten auf das Klonen, usw.
c) die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Homo-, Bi- oder Metrosexualität, aber
auch von S&M Praktiken, Swingerclubs und die allgemeine Überflutung mit Pornographie.
Dazu einige kurze Bemerkungen:
ad a) Die „befreite Sexualität“ und die „anti-autoritäte Erziehung“ der 60er Jahre, mit
ihren Verweisen auf Wm. Reich, A.S.Neill et al. wurden gleichzeitig mit der allgemeinen
Verbreitung von Kondomen und sog. „Anti-Baby-Pillen“ propagiert. Frauen, die nunmehr
wesentliche leichter, selbstbestimmter und ohne Risiko ihre Sexualität erproben konnten,
trugen dann wesentlich zum engagierten Feminismus der 70er Jahre bei.
ad b) Die neuen Fortpflanzungstechniken haben zunächst die Rolle der Männer bei der
Vaterschaft stark verändert und in der Folge auch die der Frauen als biologische Mütter. In
einer Gruppe in Israel, zu einer Zeit als die Wirtschaft schon länger eingebrochen war und
sehr viele Männer ihre Arbeit im Tourismus und in der IT-Branche verloren, hatten viele
Frauen in der Gruppe wenig Achtung mehr für sie und schienen ganz gewillt, ohne sie
auszukommen. Als eine Teilnehmerin meinte, sie wolle ein Kind, aber brauche dazu keinen
Mann, sie würde sich von der Samenbank ein Kind machen lassen und es zusammen mit ihrer
Mutter aufziehen, gab es in der Gruppe viel Verständnis und kaum Widerspruch. Und wenn
ich meine analytische Gruppen heute mit denen vor 15 oder 20 Jahren vergleiche, ist jetzt sehr
viel mehr die Rede von Konflikten und Störungen in der Fortpflanzung als damals. Frauen
oder Paare die keine Kinder zeugen können, oder den Fötus während der Schwangerschaft
verlieren, sind heute in den Gruppen viel mehr präsent.
Bions Theorie der 3 „Grundannahmengruppen“ stellt jeder eine spezifische
gesellschaftliche Organisationsform bei: für die „Abhängigkeitsgruppe“ die Kirche, für die
„Kampf-und-Fluchtgruppe“ die Armee, und für die „Paarungsgruppe“ die Aristokratie. Aber
gerade bei letzteren scheint eine starke Wandlung eingetreten zu sein. Es gibt zwar noch die
Aristokratie und ihre Epigonen, die Filmstars, deren Liebes- und Heiratssachen die
Klatschspalten füllen. Aber die Entkoppelung der Paarung von der Fortpflanzung – von in
vitro bis zum möglichen Klonen – bringt diese Grundannahme ins Wanken („Können wir als
Paar überhaupt Kinder kriegen?“, bzw. „Wir können Kinder auch ohne Paarung machen!“).
So scheint heute die entsprechende gesellschaftliche Organisationsform für die
Grundannahme der Paarung eher die medizinisch-technische Wissenschaftsindustrie zu sein.
Wie im übrigen die Pharmaindustrie bereits viele Funktionen der Kirche für die
Grundannahme der Abhängigkeit übernommen hat.
ad c) die Hinterfragung und „Dekonstruktion“ kulturell tradierter Geschlechtsrollen
wird in der sog. 1. Welt mit rasanter Geschwindigkeit betrieben. Dazu kommt noch ein
konservativer „backlash“, nicht nur von traditionellen bzw. fundamentalistischen religiösen
Gemeinschaften, sondern auch, in gemässigter Form, von jungen Menschen in Europa. Sie,
die Nachkommen der sexuellen Befreiung und der anti-autoritären Erziehung, sind mehr mit
ihren Berufsaussichten beschäftigt. Sexualität ist kaum Thema, ausser vielleicht in der
Masturbation, wovon allerdings heute viel mehr die Rede ist als früher. „Partnerschaft“ – ein
eher ökonomisch gefärbter Begriff – bedeutet in der Regel monogame Treue in Verbindung
mit absolutem Gleichgewicht in der Arbeitsteilung und Kinderaufzucht. Das Phänomen
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erscheint mir eher doppelgesichtig, zum einen als emanzipierte und vertrauenswürdige
Entwicklung, zum anderen mit gewissen regressiven Zügen eines „neuen Biedermeier“
versehen.
Diese 3 Faktoren haben m.E. die Gruppenprozesse – speziell auch in den
Übertragungsbeziehungen zur Gruppenleitung – stark beeinflusst. Der Gruppenleiter (ich
bleibe aus subjektiven Gründen bei der männlichen Form) wird in den Phantasien sowohl zum
Repräsentanten einer annehmbaren Geschlechtsidentität wie auch Garant für die generative
Funktion in der Gruppe. Aber diese beiden befinden sich zunehmend in Widerspruch
zueinander. Die generative Funktion stösst nach vorne ins Unbekannte und muss offen
bleiben für die heutigen technischen Erneuerungen und sie mit einbeziehen, die Funktion des
Gruppenleiters als ‚role model’ für eine gelungene Geschlechtsidentität scheint eher einen
rückwärtsgewandten, konservativen Aspekt zu haben, mit dem Wunsch, an irgendeine
Tradition zu knüpfen die Halt geben könnte, wenn die Geschlechtsrollen in der Gesellschaft
nunmehr so diffus und oft auch konfus geworden sind.
Vorhin meinte ich, die psychoanalytische Ausbildung entgehe oft nicht der Gefahr,
ihre Beobachtungen, Hypothesen und Denkmodelle unmerklich in quasi-religiöse Dogmen
umzuwandeln. Diese immanente Neigung, eine psychoanalytische Perspektive mit einem
„Wissen“ zu verwechseln, etwa über die „richtige“ psychosexuelle kindliche Entwicklung,
entspricht einer merklichen Tendenz unter unseren Gruppenteilnehmern: im Gruppenleiter
eine Art Priester einer säkularisierten Religion zu sehen, der für sie die verworrenen
Verhältnisse um die Sex & Gender Diskussionen endlich in eine richtige (sprich, moralische)
Ordnung bringen könnte, welche er für sie auch in seiner persönlichen Haltung vorleben soll.
Dieser Verführung ist oft nicht ganz leicht zu entgehen, aber es bleibt in erster Linie
die Funktion des Leiters seine Gegenübertragungsphantasien und Affekte zu überprüfen,
wenn Transsexualität, künstliche Befruchtung, Kinder von homosexuellen Paaren usw. die
Szene beherrschen. Eine wesentliche Frage bleibt die kritische Offenheit gegenüber der
medizinisch-technischen Fortpflanzungsindustrie – wir sehen immerhin zunehmend Patienten,
die sich deren ‚Segnungen’ widerstandslos bis zur Selbstaufgabe ergeben, wie auch solche,
die sie blind und verbissen verweigern.
Abschliessend stelle ich kommentarlos die Zusammenfassung einer Gruppensitzung
vor, in der sich eine fruchtbare und differenzierte Reflexion zu unserer Thematik entspinnen
konnte:
Die gemischte Gruppe, die sich 1x in der Woche trifft, ist wie meistens ruhig, d.h. viel
zu ruhig und eher stark gehemmt. Mehrere TeilnehmerInnen nehmen anti-depressive
Medikation, die Themen handeln in der Regel von sadistisch kontrollierenden oder chronisch
frustrierenden Müttern und Vätern. An diesem Abend ist die Sitzordnung mit Frauen und
Männern durchmischt. Nach zögerlichem Start beginnt ein Teilnehmer schüchtern und
dennoch beherzt über seine Masturbation zu sprechen, zunächst über seine Gefühle dabei, und
dann, nachdem andere sich mit ihren persönlichen Empfindungen einbringen, über die
Praktiken, die er dabei verwendet. Die Unterhaltung schwankt zwischen heiter und ernst, aber
es ist eine Stimmung, wie wenn das Eis gebrochen wäre. Es entwickelt sich zunehmend ein
Diskurs über die Phantasien über das andere Geschlecht, die während der Masturbation
auftauchen. Aus Einzelstimmen ist nun ein Gruppengespräch geworden. Gegen Ende der
Sitzung sagt ein Mann, er frage sich, wie der männliche Samen für die Frauen schmeckt,
wenn sie Oralverkehr haben? Daraus kommen zum ersten Mal in dieser Sitzung
„geschechtsgetrennte“ Gespräche auf, wo die Frauen miteinander reden und die Männer mit
den Männern. Das Thema der Geschlechterdifferenzierung wird in dieser Gruppensitzung
nicht als Mittel zur Angstabwehr über die Sitzordnung inszeniert, sondern entsteht aus einer
fast kindlichen Neugierde und einem erwachsenen Interesse, dem Solipsismus der letztlich
traurigen masturbatorischen Tätigkeit zu entkommen.
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