Forensik - Kanton St. Gallen

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Datum: 18.12.2016
Ostschweiz am Sonntag
9001 St. Gallen
071/ 272 77 11
www.ostschweiz-am-sonntag.ch
Medienart: Print
Medientyp: Tages- und Wochenpresse
Auflage: 53'814
Erscheinungsweise: wöchentlich
Themen-Nr.: 531.008
Abo-Nr.: 531008
Seite: 15
Fläche: 177'087 mm²
«Das Dunkle gehört zum Menschen»
Psychiatrie Wie blickt man in die Seele von Mördern und Vergewaltigern? Die forensische Psychiaterin Christiane Thomas-Hund
über menschliche Abgründe, die Genauigkeit von Gutachten und den Wunsch der Gesellschaft nach absoluter Sicherheit.
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ARGUS der Presse AG
Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich
Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01
www.argus.ch
Argus Ref.: 63763922
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spektakulären Fällen zu tun. Mit Leuten, in eine Krise gerät. Ein Mann wird zum
Zur Person
die zu schnell oder alkoholisiert Auto
gefahren sind. Oder mit Menschen, die
Seit Anfang Oktober ist Christiane
Einbruchsdiebstähle verübt haben, um
Thomas-Hund Chefärztin Forensik der
ihren Drogenkonsum zu finanzieren.
Beispiel von seiner Frau verlassen und
droht, sich das Leben zu nehmen. Oder
er hatte schon vorher eine psychische
Krankheit, die vielleicht gar nichts mit
Psychiatrischen Klinik in Wil. Die 54-Jähseiner Tat zu tun hat. Ist die Krise so
rige war zuvor in der Psychiatrischen KliWarum muss eine Psychiaterin
stark, dass sie nicht vor Ort ambulant
nik in Münsterlingen tätig, wo sie die zeneinen Einbruch untersuchen?
behandelt werden kann, machen wir hier
trale psychiatrische Gutachtenstelle leiMehr als 90 Prozent dieser Fälle werden in der Psychiatrischen Klinik Wil eine
tete. Christiane Thomas-Hund wohnt seit
vom Staatsanwalt abgearbeitet. Manch- Krisenintervention.
15 Jahren in der Ostschweiz. Die Deut-
sche ist im Ruhrgebiet aufgewachsen
mal ist der Ablauf einer Tat jedoch sehr
seltsam. Am Anfang meiner Karriere
Wie viele Fälle sind das?
Aktuell betreuen wir hier zwei Patienten
und hat an der Heinrich-Heine-Universihatte ich einen Fall, wo ein junger Mann
dieser Art.
tät in Düsseldorf Medizin studiert. (mge)
in ein Juweliergeschäft eingebrochen
war. Er hatte eine Fensterscheibe einIn Wil gab es Pläne für den Aufbau
geschlagen und aus der Auslage nicht einer forensischen Abteilung. Wo
etwa eine 5000 -Franken -Uhr gestohlen,
steht das Projekt?
«Ich spüre den
Druck, dass ich
sorgfältig
arbeiten muss.»
Christiane Thomas-Hund
Chefärztin Forensik
Psychiatrische Klinik Wil
Interview: Michael Genova,
Ursula Ammann
Bilder: Ralph Ribi
sondern einen Deko-Stern aus StanniolWir haben die Idee einer eigenen forenpapier. Und das kam dem untersuchensischen Abteilung geprüft, das Projekt ist
den Staatsanwalt eigenartig vor.
jedoch nicht sehr weit fortgeschritten.
Der Justizvollzug in der Schweiz hat das
Wie ging der Fall aus?
Problem, dass Gerichte stationäre MassDer Einbrecher war einjunger Mann, der
nahmen anordnen, es aber viel zu wenian Schizophrenie litt. Er glaubte, er stehge Behandlungsplätze in Kliniken gibt.
le den Stern von Betlehem. Und er war
In den Gefängnissen gibt es deshalb lanüberzeugt, dass der Stern ihm grössere
ge Wartezeiten, ein Grossteil der schwer
Macht über andere Menschen verleihen
psychisch kranken Straftäter muss
würde. Insofern war die Tat nicht wirkausserkantonal, etwa in Münsterlingen
lich ein Raub, sondern eine vom Wahn
oder Beverin, behandelt werden.
getriebene Straftat.
Seit kurzem sind Sie Chefärztin der
Forensik an der Psychiatrischen
Klinik in Wil. Was ist Ihre Aufgabe?
Wäre es gut, hätte der Kanton
St. Gallen eine forensische Klinik?
Ja. Eine Verbesserung wäre es aber auch
schon, wenn wir für die Patienten, die
Wir erstellen für die Staatsanwaltschaft wir in Krisensituationen behandeln müsGutachten über Straftäter. Schon in mei- sen, die Infrastruktur etwas aufrüsten
ner früheren Stelle an der Psychiatri- könnten. Es gibt zwar auch psychisch
schen Klinik Münsterlingen habe ich kranke Straftäter, die im MassnahmenGutachten erstellt, zum Beispiel auch für
die Suva oder das Versicherungsgericht.
Für die Justizvollzugsbehörden habe ich
zudem beurteilt, ob Straftäter nach mehreren Jahren einer Massnahme aus psychiatrischer Sicht eine verbesserte Rückfallprognose haben.
Christiane Thomas-Hund, als Laie
stellt man sich vor, dass eine forensische Psychiaterin ständig mit geSind psychisch kranke Straftäter
fährlichen Sexualstraftätern zu tun auch hier in Wil untergebracht?
hat. Stimmt das?
Es kann vorkommen, dass ein Insasse
zentrum Bitzi in Mosnang untergebracht
sind. Dort sind sie jedoch teilweise nicht
optimal platziert. Das therapeutische
Angebot richtet sich nicht speziell an
schwer psychisch kranke Straftäter, die
zum Beispiel an Schizophrenie leiden.
Nimmt die Zahl psychisch auffälliger Straftäter zu?
Nein. Das wird zwar immer geschrieben,
aus meiner Sicht lässt sich eine Zunahme
In meinem Alltag habe ich eher mit un- etwa in der offenen Strafanstalt Saxerriet jedoch nicht feststellen. Hier unterschei-
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bestimmter Täter nur einer Risikokatedet sich die Situation von der Wahrneh- Gibt es denn böse Menschen?
mung in der Öffentlichkeit. Zudem müs- Es gibt auch böse Menschen. Die Gren- gorie zugeteilt werden kann. Mit hunsen wir genau unterscheiden: In man- zen sind aber fliessend. Es gibt Böses in dertprozentiger Sicherheit lässt sich
chen Fällen hat die Störung mit dem guten Menschen und es gibt Gutes in menschliches Verhalten einfach nicht
begangenen Delikt zu tun, in manchen bösen Menschen. Bestimmt ist es Ihnen
aber auch gar nicht. So kann es sein, dass auch schon passiert ist, dass Sie etwas
ein schizophrener Täter seine Krankheit getan haben, wofür Sie sich im Nacheinigermassen im Griff hat und einen hinein schämten. Es muss ja nicht gerade
Diebstahl begeht, der überhaupt nichts ein Mord sein. Aber es gibt Situationen,
mit seiner Krankheit zu tun hat.
in denen wir Menschen weh tun, ohne
Welches war Ihr schwierigster Fall?
Das kann ich nicht sagen. Ich versuche
bei jedem Fall, meine neutrale Rolle zu
bewahren. Einen Täter kann ich nicht
objektiv beurteilen, wenn ich die Situation des Opfers zwischendurch nicht zur
Seite schiebe. Ich darf sie aber auch nicht
vergessen. Denn die genaue Art einer Tat
spielt in die Einschätzung der Gefährlichkeit eines Täters mit hinein. Natür-
vorhersagen. Ein Rückfallrisiko von fünf
Prozent bedeutet zudem: Einer von 20
Tätern wird rückfällig, 19 werden nicht
rückfällig. Wenn ich jedoch alle für immer einsperren würde, wären 19 zu Unrecht in Haft. Die Frage lautet deshalb:
dies zu wollen. Schwierig finde ich aller- Was will die Gesellschaft? Wenn wir ab-
dings, wenn es Menschen Vergnügen solute Sicherheit wollen, dürften wir
bereitet, anderen Böses anzutun.
keine endlichen Haftstrafen mehr ausWann werden Menschen gefährlich? sprechen. Letztlich würde das jedoch
Es ist meistens eine Kombination ver- den Rechtsstaat an seine Grenzen brinschiedener Aspekte: eine schwierige gen.
Lebensgeschichte, mangelnde Kompetenz, mit Konflikten gut umzugehen, ein Dennoch fordern Teile der Gesellschlechtes Umfeld, fehlender sozialer schaft hundertprozentigen Schutz
Rückhalt, aber auch unzureichende vor gefährlichen Straftätern.
Orientierung an Normen und Werten. Ich kann den Einzelfall, die Angehörigen
lich gibt es Details in den Akten, die mich Dann kann zusätzlich noch eine psychi- von Opfern gut verstehen. Wenn ich dienicht kalt lassen. Zum Beispiel, wenn ein sche Störung dazukommen. Wenn ich se Forderung jedoch zu Ende denke,
Opfer schwer geschädigt wurde.
zum Beispiel immer Drogen nehme, müssten wir jeden Täter mit einer
wenn es mir schlecht geht, vermindere
Wie sprechen Sie mit einem Mörder ich meine Fähigkeit, mit Bedacht zu reoder einem Sexualstraftäter?
agieren.
Eigentlich genauso wie mit jemandem,
der 15 Einbrüche verübt hat. Für mich Gibt es Täter, welche die Geselllauten die zentralen Fragen: Hat der Tä- schaft für immer wegsperren muss?
ter eine psychische Krankheit? Oder ist Darauf gibt es zwei Antworten. Es gibt
er jemand, der aus kühler Berechnung
gehandelt hat? Ich versuche also zuerst,
eine Person zu erfassen. Es gibt Menschen, die zu Mördern werden und deren Motive ich nachfühlen kann. Damit
will ich solche Taten nicht bagatellisie-
Personen, die weder unterstützt mit Medikamenten noch durch Psychotherapie
schwerwiegenden Straftat dauerhaft einsperren. Als Gesellschaft müssen wir uns
allerdings fragen, ob wir so sein möch-
ten. Als forensische Psychiaterin kann
ich diese Frage nicht beantworten. Ich
kann lediglich sagen: Diese Person finde
ich gefährlicher als jene.
Führt das gesellschaftliche Bedürfnis nach Sicherheit dazu, dass Psychdern können. Für solche Menschen kann
iater das Rückfallrisiko von Straftädie Platzierung in einer unterstützenden
tern zu hoch einschätzen?
ihr Verhalten aus eigener Kraft verän-
Wohnheimstruktur die richtige Lösung
Ich sehe hier eine gewisse Gefahr. Wir
sein. Auf der anderen Seite gibt es Per- Psychiater müssen uns trotzdem bemüren. Aber manchmal merkt man, wie die
Einengung einer Situation jemanden sonen - beispielsweise mit sadistischen hen, uns den Fällen neutral zu nähern.
immer weiter unter Druck gesetzt hat. Phantasien -, die bereits Taten in Zusam- Es gab ja auch eine Initiative, die Behörmenhang mit der Umsetzung dieser denmitglieder für Rückfälle von StrafEs gibt aber auch Situationen, wo mein
Gefühl sehr stark beim Opfer ist. Ich Phantasien begangen haben. Bei solchen tätern haftbar machen wollte. Dies würfrage mich dann: Wie konnte diese Tat Tätern kann es sein, dass die Verwah- de aus meiner Sicht dazu führen, dass es
rung das einzige Mittel sein kann, um die
passieren?
sehr schwierig würde, noch Gutachter zu
Gesellschaft zu schützen.
finden. Wenn es nicht mehr möglich
Warum begehen Menschen manchmal furchtbare Taten?
Das weiss ich nicht.
Ist es möglich, das Rückfallrisiko
von Straftätern vorherzusagen?
Als Psychiaterin kann ich sagen, dass ein
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wäre, zwischen hohen und niedrigen Ri-
siken zu unterscheiden, verkäme das
Erstellen von Gutachten zu einer rein
formalen Übung.
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Spüren Sie den Druck, dass Ihre
Prognosen richtig sein müssen?
Ich spüre den Druck, dass ich sorgfältig
arbeiten muss und nichts ausser Acht
lassen darf. Ein Problem für unsere Arbeit ist zum Beispiel der Datenschutz.
Dieser führt dazu, dass Strafregisterauszüge nach einem gewissen Zeitraum von
mehreren Jahren einfach weg sind. Das
heisst: Weit zurückliegende Straftaten
einer Person sehe ich nicht mehr.
Woher kommt Ihr Interesse an
psychisch kranken Straftätern?
Es war ein Zufall. Am Ende meiner Zeit
als Assistenzärztin war eine Stelle in der
Forensik frei. Später war ich auch in der
Akutpsychiatrie tätig. Besonders interessant an der forensischen Psychiatrie ist
allerdings, dass ich eine Person und ihre
Motivationslage sorgfältig durchdenken
kann. Gewöhnlich hat man als Psychiater
im direkten Kontakt mit dem Patienten
meist viel weniger Zeit.
Fasziniert Sie die dunkle Seite des
Menschen?
Ja, schon.
Warum?
Weil das Dunkle zum Menschsein dazugehört. Ich werde immer ganz misstrauisch, wenn jemand nur gut ist. Ich kann
mir das irgendwie nicht vorstellen. Es
gibt auch Schattierungen.
Christiane ThomasHund (Mitte) mit
Michael Genova,
Reporter der Ostschweiz am Sonntag, und Ursula
Ammann, Redaktorin Wiler Zeitung.
Wo finden Sie Ihren Ausgleich?
Ich lese gerne Krimis, ich finde das ent-
spannend. In Krimis finden Sie immer
einen Täter, und die Guten siegen meist.
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