1 Predigt zum „Stabat Mater“ am 28. Oktober 2012 in der Bethlehemkirche und in der Heilig-Geist-Kirche Dresden anlässlich der bevorstehenden Aufführung von DvoĜáks „Stabat mater“ in der Versöhnungskirche Dresden am 18. November 2012 Prediger: Pfarrer Dr. Hans-Peter Hasse, Ev.-Luth. Kirchgemeinde Dresden-Blasewitz Der Gemeinde lag bei der Predigt ein Handout vor mit dem Text des „Stabat mater“, einem Bild sowie dem Gedicht „Christen und Heiden“ von Dietrich Bonhoeffer (siehe Anlage). Das „Stabat mater“ ist ein lateinisches Gedicht, das von einem unbekannten Dichter im 13. Jahrhundert geschrieben wurde. Sehr wahrscheinlich entstand das Gedicht in einem Kloster. Der Hymnus besingt die Schmerzen der Maria, die unter dem Kreuz steht und das Sterben ihres Sohnes erlebt. Der Dichter betrachtet das Leiden der Maria nicht distanziert, sondern er fordert seine Hörer und Leser dazu auf, das Leiden Jesu und seiner Mutter mitzuleiden. Die Resonanz auf das Gedicht war so groß, dass der Hymnus schon im Mittelalter weite Verbreitung fand und 1521 in die Liturgie des Gottesdienstes aufgenommen wurde. In der katholischen Kirche wird er bis heute im Gottesdienst gesungen, zum Beispiel am 15. September, dem Gedenktag der Schmerzen der Maria. Das „Stabat mater“ wurde oft vertont, unter anderen von Orlando di Lasso, Palestrina, Scarlatti, Vivaldi, Bach, Haydn, Boccherini, Schubert, Rossini, Liszt ... auch Komponisten aus unserer Zeit: Kodály, Penderecki, Arvo Pärt und viele andere. Zu den Komponisten, die das „Stabat mater“ vertonten, gehört auch DvoĜák. Er vollendete das Werk 1877. Dass DvoĜák diesen Hymnus über das Leiden als Text für ein großes Werk wählte, hängt mit schweren Schicksalsschlägen in seiner Familie zusammen. 1875 starb DvoĜáks Tochter Josefa zwei Tage nach ihrer Geburt. Im August 1877 starb die elf Monate alte Tochter Ružena, und einen Monat später – an DvoĜáks 36. Geburtstag – starb der erstgeborene Sohn Otakar im Alter von dreieinhalb Jahren. Wieviel Leid und Schmerz damit über die Familie kam, kann und will man sich nicht vorstellen. In dieser Situation widmet sich DvoĜák dem „Stabat mater“ und damit einem Text, der das Leiden und die Schmerzen zum Thema hat. Es ist unmöglich, in einer Predigt den ganzen Hymnus zu behandeln. Ich beschränke mich deshalb auf ein Motiv, das ich in der ersten und in der siebenten Strophe finde: das „Stehen“ bei dem Kreuz. Das Motiv vom „Stehen“ bei dem Kreuz wird schon durch das erste Wort bezeichnet: „Stabat“/ „Es stand ...“ Stabat Mater dolorosa Juxta crucem lacrimosa, Dum pendebat filius. Cuius animam gementem Contristantem et dolentem Pertransivit gladius. 2 Es stand die Mutter schmerzensreich bei dem Kreuz, tränenreich, als dort hing der Sohn. Ihre Seele, trauervoll, tiefbetrübt und schmerzvoll, durchbohrte ein Schwert. Der Hymnus beginnt mit einem Bild, das uns in vielen Kreuzigungsbildern vor Augen steht. Unter dem Kreuz mit dem sterbenden Jesus steht seine Mutter: Maria. So steht es geschrieben im Johannesevangelium: „Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.“ (Joh 19, 25). Drei Frauen stehen bei dem Kreuz, das sagt dieser Text. Wenn wir in die anderen Evangelien schauen, werden wir uns wundern. Denn Matthäus und Markus berichten, dass die Frauen „aus der Ferne“ zugeschaut haben (Mt 27, 55; Mk 15, 40). Lukas sagt: „Sie standen fernab“. Damit erinnern die Evangelisten an ein Psalmwort, das davon spricht, dass ein Mensch in seiner größten Not von seinen Freunden allein gelassen wird, indem sie sich fernhalten. Psalm 38: „Meine Lieben und meine Freunde scheuen zurück vor meinem Unglück, und meine Nächsten halten sich ferne.“ (Ps 38, 12). Wir kennen das. Da ist einem Menschen ein schweres Leid widerfahren: ein Unglück, schwere Krankheit oder sogar ein Todesfall in der Familie. Da kann es sein, dass bei den nächsten Verwandten oder Freunden eine merkwürdige Scheu entsteht, was sie abhält, hinzugehen oder anzurufen und sich der Situation zu stellen. Genau das drückt das Psalmwort aus: „Meine Lieben und meine Freunde scheuen zurück vor meinem Unglück, und meine Nächsten halten sich ferne.“ Zum Glück gibt es auch das Gegenteil: Dass einer, dem ein Unglück geschehen ist, nicht allein gelassen wird, sondern dass er Hilfe erfährt – sogar auch von Menschen, von denen er es nicht erwartet hätte. Merkwürdig ist es schon, dass drei Evangelien die Situation der Kreuzigung so beschreiben: dass die Frauen fernab von dem Kreuz stehen. Und ganz anders Johannes, der sagt: die Frauen standen bei dem Kreuz. Wenn man danach fragt, wo denn die Frauen bei der Kreuzigung nun wirklich gestanden haben – in der Ferne oder unter dem Kreuz – spricht manches dafür, dass die Jüngerinnen und Jünger Jesu die Kreuzigung wohl eher aus der Ferne erlebten, denn wie sollte es ihnen (gerade den Frauen!) möglich gewesen sein, so dicht an das Kreuz zu gelangen, wo die römischen Soldaten das Sagen hatten? Wo genau die Frauen gestanden haben, werden wir aber aus den Evangelien nicht erfahren. 3 Denn die Evangelien sind keine historische Dokumentation und wollen das auch nicht sein, sondern sie sind Zeugnisse des Glaubens. Tatsächlich kommt es den Evangelisten nicht auf eine Ortsbeschreibung an, ob die Frauen hier oder dort gestanden haben, sondern sie verbinden mit ihrer Erzählung eine Absicht und eine Aussage. Dabei stellt sich heraus: In den Evangelien spiegeln sich unterschiedliche Haltungen wider, wie Menschen zu dem Geschehen der Kreuzigung „stehen“: damals wie heute. Entweder sie stehen fernab und betrachten es aus der Distanz. Oder sie stehen bei dem Leidenden. Genau das erzählt Johannes. Und diese Johanneische Deutung nimmt der unbekannte Dichter des Stabat mater auf. Er will das Leiden Jesu nicht aus der Distanz betrachten, so wie man in einer Gemäldegalerie an einem Kreuzigungsbild vorbeigehen kann: ein flüchtiger Blick, und dann geht man auch schon weiter. Der Dichter nimmt sich das Leiden Jesu zu Herzen, er will den Schmerz selbst empfinden und spüren. Und er will diese Empfindung des Mit-Leidens auch bei seinen Lesern oder Hörern wecken. Strophe 7: Laß mich wahrhaftig mit dir weinen, mit dem Gekreuzigten mitleiden, solange ich leben werde. Unterm Kreuz mit dir zu stehen, dir mich gerne anzuschließen in deinem Weh - das ersehne ich. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie das hören. Mir geht es so, dass ich von mir aus nicht einfach einstimmen kann in diese Worte. Eine solche Sehnsucht, die Schmerzen und das Leiden Jesu selbst spüren zu wollen, ist uns fremd. An dieser Stelle wird uns bewusst, dass der Text über 700 Jahre alt ist. Die Frömmigkeit damals war eine andere als unsere heute. Fest steht allerdings auch, dass der Dichter mit seinem Gedicht damals die Herzen der Menschen errreicht hat. Es gab im Mittelalter eine starke Passionsfrömmigkeit, die darauf abzielte, das Leiden und die Schmerzen Jesu selbst nachzuempfinden. Ein Beispiel aus der Kunst habe ich Ihnen mitgebracht: Ein Holzschnitt von Lucas Cranach, der einen jungen Mann zeigt, der vor einem Kruzifix betet. 4 Abbildung: Lucas Cranach d. Ä.: Georg Spalatin, betend vor dem Kruzifix. 1515. Holzschnitt. Solche Bilder sollten eine Anleitung für den Betrachter sein, sich selbst unter das Kreuz Jesu zu stellen und das Leiden Jesu zu meditieren und zu empfinden. Wir können das heute nicht einfach übernehmen oder nachahmen. Hinzu kommt, dass manche Aussagen im Stabat mater für evangelische Christen schwierig sind: die Selbstverständlichkeit, zu Maria als Gottesmutter zu beten und von ihr Schutz zu erbitten am Tag des Gerichts. Bei allem, was wir an diesem Gedicht als fremd und mittelalterlich erscheint, gibt es trotzdem Aussagen in diesem Gedicht, die Menschen auch heute beeindrucken können. Am meisten beeindruckt hat mich die starke Aufforderung zum Mitleiden, die in diesem Gedicht steckt. Diese Fähigkeit, mit dem Leid eines anderen Menschen Mitleid zu empfinden, ist in unserer Zeit und in unserer modernen Gesellschaft nicht gerade stark entwickelt, um es vorsichtig zu sagen. Propagiert wird sie mit Sicherheit nicht. Stattdessen wird mit großem Aufwand daran gearbeitet, Leiden und Schmerzen auszuschalten, neue Medikamente zu erfinden oder Therapien in Anspruch zu nehmen. Das Mittelalter, das von den vielen medizinischen Möglichkeiten nicht einen Bruchteil zur Verfügung hatte, besaß trotzdem einen großen Schatz: es wusste um die Therapie des Mitleids und des Mitleidens. Dazu brauchte man keine Technik und keine Labore. 5 Es brauchte aber Dichter wie den Dichter des Stabat mater, der mit seinen Worten und mit seiner Kunst in den Menschen etwas auslöst und bewegt. Er lässt die Mutter Jesu bei der Kreuzigung nicht in der Ferne stehen, wie es durchaus biblisch wäre, sondern er lässt sie am Kreuz stehen, wie es Johannes sagt. Sie liegt nicht am Boden, sondern sie steht. So bekommt das erste Wort des Gedichtes eine starke Betonung: „stabat“, sie stand. „Es stand die Mutter schmerzensreich bei dem Kreuz ...“ Stehen heißt auch Bei-stehen. Nicht dabei-stehen, sondern dem Leidenden beistehen. Die Last mittragen und dabei selbst nicht umfallen, sondern stehen. Diese christliche Fähigkeit zum Mitleiden lehrt uns das Stabat mater. Sie ist in diesem Gedicht auf das Leiden Jesu bezogen. Wer aber diese Fähigkeit besitzt, wird auch seinem Nächsten Mitleid zeigen sollen. Das führt das Gedicht zwar nicht aus, das ist aber eine notwendige Folge. Dafür gibt es Beispiele auch aus unserer Zeit. Dietrich Bonhoeffer schrieb 1944 im Gefängnis ein Gedicht, darin lautet eine Zeile: „Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.“ (siehe Anhang, Gedicht: „Christen und Heiden“) Diese Stelle wirkt wie ein Zitat aus dem Stabat mater. „Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.“ Sie stehen aber auch bei dem Nächsten, wenn er an einer Not leidet. Das hat Bonhoeffer nicht gedichtet, er hat es praktiziert. So formulierte er für die Mitgefangenen Gebete, die auf Zetteln durch das Gefängnis wanderten und heute in unserem Gesangbuchs stehen. Liebe Gemeinde, Sie haben es gemerkt: bei meinem Versuch, eine Predigt über das Stabat mater zu halten, bin ich über das erste Wort des Gedichtes nicht hinausgekommen, das Wort: „stabat“, das „Stehen“ bei dem Kreuz, das auf Maria bezogen ist. Sie hat das Leiden ihres Sohnes nicht aus der Ferne beobachtet hat, sondern sie stand bei ihm am Kreuz – mit ihren Schmerzen und mit ihrem Mitleiden. Das ist für mich die Botschaft des ersten Wortes. Am 18. November werden wir in der Versöhnungskirche den ganzen Hymnus hören und dabei erleben, wie ihm DvoĜák durch seine Musik eine eigene Botschaft hinzugefügt hat. Lassen Sie sich dazu herzlich einladen. Anhang: 1. Text des „Stabat Mater“ lat./ deutsch 2. Gedicht von Dietrich Bonhoeffer „Christen und Heiden“ 6