Grundsätze der Klavierlied-Analyse Ein paar gute Tipps für Schülerinnen und Schüler 1. Guter Zweischritt: Erst Text – dann Vertonung GRUNDSÄTZLICH ist es sinnvoll, zuerst schön in Ruhe und gründlich den TEXT zu betrachten; und erst dann zu fragen, wie die MUSIK den Charakter, die Wirkung, die Emotion „ausdrückt“ – oder verändert – oder verwandelt. Wenn gleich das Lied gehört wird, dann ist der Eindruck der Musik SO STARK, dass es kaum noch möglich ist, das Gedicht zu lesen, ohne den Klang des Liedes gleich mitzuhören. Dann ist es aber kaum noch möglich, die Frage zu stellen, inwiefern die Vertonung das Gedicht verwandelt oder verändert. Also, in aller Regel: ERST DEN TEXT; ERST DANN DIE MUSIK. (Aber hier wie meistens gilt: Es kann auch mal Ausnahmen geben.) 2. Das Lied als Ganzes denken – nicht Wort für Wort! Achtung, aufpassen! Der entscheidende Unterschied eines Kunstliedes im 19. Jahrhundert zu einem Madrigal, einer Motette der Renaissance- oder Barock-Zeit ist, dass ein Text nicht wortweise oder abschnittsweise vertont wird, sondern, in der einen oder anderen Form, immer als GANZES. Ganz oft ist es NUR EIN POETISCHER KERNGEDANKE des Textes, der musikalisch geformt wird. (Text Schönberg!) Aufpassen also: Die Suche nach einer Wortfür-Wort-Vertonung oder Satz-für-Satz-Vertonung führt meist in die Irre (obwohl auch in Klavierliedern oft bestimmte einzelne Stellen des Gedichts, Einschnitte, Wendungen, starke Emotionen oder Bilder auffällig ausgeformt werden); mindestens genauso wichtig ist die Frage: Welcher zentrale Gedanke des Gedichts (welche „POETISCHE IDEE“) wird musikalisch gefasst? 3. Ein zentraler Aspekt: Die Strophen-Frage Eine zentrale Frage bei der Kunstlied-Behandlung ist immer: Wie geht der Komponist hier mit der STROPHEN-Frage um? Ist es ein STROPHENLIED? ein VARIIERTES STROPHENLIED? oder ein DURCHKOMPONIERTES LIED? Ein STROPHENLIED wird der Komponist meistens schreiben, wenn er einen volksliedhaften Ton erzielen möchte, wenn es schlicht und einfach klingen soll und, z. B. in Chorliedern, einfach zu singen sein soll. Manchmal aber auch, um Entsprechungen zwischen den Strophen deutlich zu machen. Ein DURCHKOMPONIERTES LIED wird er z. B. schreiben, um eine dramatische Entwicklung zu komponieren; überhaupt, um Wandlungen, Veränderungen hörbar zu machen; oder um, so ähnlich wie in einer Oper, den Charakter „Kunst-Gesang“ hervorzuheben. In einem VARIIERTEN STROPHENLIED wird er versuchen, beides miteinander zu verbinden. 4. Die essentielle Harmonik-Frage Ein zentrales Entwicklungs- und Experimentierfeld in der Musik des 19. Jahrhunderts ist die grenzenlose Welt der HARMONISCHEN Möglichkeiten. Anders als bei einer Motette von Bach oder Schütz oder einem Madrigal von Monteverdi geht in einem Kunstlied des 19. Jahrhunderts kein Weg an der Harmonik vorbei. Die Frage, was Schubert, Mendelssohn, Schumann mit den Akkorden und den Harmonieverbindungen macht, ist für das Kunstlied des 19. Jahrhunderts zentral, essentiell. Diese Frage immer mitdenken (auch wenn sie nicht ausdrücklich in der Aufgabe steht)! „Dur-Moll-Osmose“, „Tonika-Versteckung“, Verschleierung der Tonart, Tonartwechsel, enharmonische Verwechslung (=> Verwandlung!), die Wirkung auffälliger Akkorde (z. B. Schumann: der Non-Akkorde), speziell: Die Welt der Dominante, und unendlich viel mehr. 5. Dopplung oder Verwandlung VORSICHT MIT „UNTERSTÜTZT“! Immer mitdenken, dass VIELLEICHT die Musik den Text „ausdrückt“, „unterstützt“, „besonders betont“, „hervorhebt“ oder „verstärkt“: Also in gewisser Weise VERDOPPELT. D a s s s i e a b e r g a n z o f t a u c h e t w a s g a n z N e u e s , A n d e r e s , E i g e n e s d a r a u s m a c h t . Oft genug ein Gegenteil. Immer mitbedenken, dass der Ausdruck eines Liedes von Schubert keineswegs derselbe sein muss wie der Ausdruck des zugrundeliegenden Textes von Heinrich Heine!! 6. Dialektik des Kunstliedes Beim Kunstlied immer mitdenken – und jeweils fragen, wie es sich in DIESEM LIED äußert – dass das Klavierlied der Schubert-Zeit immer ein Doppeltes ist, immer zugleich „rückwärts“ und „vorwärts“. „Rückwärts“ ist es, weil es die Vorstellung des Volksliedes ausdrückt: die Vorstellung des Einfachen, Schlichten, der „Seele“ des Volkes (So hat Herder die „Stimmen der Völker in Liedern“ gesammelt, in gleicher Weise Achim von Arnim und Clemens Brentano die deutschen Volkslieder in „Des Knaben Wunderhorn“). Oft ist auch die Vorstellung von etwas ganz Altem da, das in der einen oder anderen Weise immer noch da ist: wie der Mythos im Nibelungen-Lied. – Zugleich aber ist das Klavierlied ein kühnes Experimentierfeld, auf dem die Spielmöglichkeiten des Klaviers, das Zusammenspiel von Klavier und Singstimme und die kühnsten harmonischen Experimente erprobt werden. (Ganz auffällig zeigt sich das im Umgang mit dem verminderten Vierklang; diesen Akkord, der in Bachs Werk unzählige Male gewissermaßen als der zentrale Ausdrucksakkord verwendet wird: sowohl der späte Schubert als auch Schumann verwenden ihn in den Heine-Liedern nur ganz selten und dosiert – und wenn doch einmal ausgiebig, wie in Schuberts „Die Stadt“, dann in ganz seltsamer Weise, hier zum Beispiel so, dass der harmonische Zusammenhang völlig verloren geht und die Harmonie „heimatlos“ wird. Oder am Ende von „Die alten bösen Lieder“, wo in zwei verrutschenden verminderten Akkorden auf „und senken ins Meer hinab“ hörbar etwas zu Bruch geht, also zuende geht.) (7. Vorsicht vor Soufflee-Effekt: Vorsicht ist angebracht vor „Kompositions-Erwartungen“. Die funktionieren scheinbar gut, aber danach entsteht kein Impuls, keine Spannung, keine Problemfrage, und die Stunde fällt – wie ein Soufflee – in sich zusammen. Außerdem ist das Verfahren spekulativ (und kostet Zeit für nichts). N i c h t raten, wie es sein könnte, sondern hören, was ist.)