Der Musikalische Kompetenzerwerb des jüngeren Kindes (4

Werbung
Der Musikalische Kompetenzerwerb des jüngeren Kindes (4-8 Jahre)
Eine Tagung der Pädagogischen Hochschule des Kantons St.Gallen
29./30. Oktober 2010 im Hochschulgebäude Mariaberg, Rorschach
R1
Kommunikative Musikalität
Dr. Charlotte Fröhlich
Freitag, 29. Oktober, 14.20 bis 15.00 Uhr
Der Begriff Musikalität setzt sich, ähnlich wie der Begriff Intelligenz, aus einem Konglomerat
von verschiedenen als dazugehörig definierten Fähigkeiten zusammen. Über die
Bestandteile dieses Konglomerats sind sich die Forschenden nicht einig. Historisch gesehen
nannte man Menschen musikalisch, die gut singen konnten und im Hören von Intervallen
einen schnellen Lernerfolg erzielten. Andere Vorstellungen von Musikalität liegen näher bei
kognitiven Eigenschaften, zum Beispiel beim Geschick, Musikstücke auswendig zu lernen
oder das westliche tonale und rhythmische System mit Leichtigkeit zu verstehen und
anzuwenden.
Interpretationsvermögen und differenzierte "lebendige" Wiedergabe eines komponierten
Werkes stehen ohne Zweifel ebenfalls auf der Liste der Fähigkeiten, die sich unter dem
facettenreichen Begriff Musikalität subsumieren. Alle beschriebenen Talente konzentrieren
sich auf individuelle Fertigkeiten und Lernprozesse. Es blieb lange außer Acht, dass gerade
eine auditive und temporale Kunst wie die Musik ein inhärentes kommunikatives Motiv in
sich birgt und daher Musikalität möglicherweise auch mit non-verbalen
Kommunikationsformen zu tun hat.
Die eigentliche Chance des Gruppenunterrichts, musikalisches Lernen durch musikalische
Kommunikationsprozesse auszulösen, wird in der Regel ausgeblendet oder höchstens
intuitiv angesteuert. Dieser Mangel macht sich in besonderer Schärfe bei
musikpädagogischen Lernprozessen bemerkbar, bei denen in Gruppen oder Klassen
unterrichtet wird. So verläuft musikalische Schulung oft wie Mathematikunterricht, was
besonders schmerzlich sichtbar ist an den jährlich zu Dutzenden wiederkehrenden
Praktikumsaufgaben, den Kindern die Viertel und Achtel beizubringen. Dabei bleiben die
angeborenen musikalischen Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeiten, die gerade erst
durch eine Gruppe im Rahmen von Improvisationen, Gestaltungen und
Gestaltungsverhandlungen weiter gepflegt werden könnten, auf der Strecke.
Referat Kommunikative Musikalität
Kommunikative Musikalität – eine herausfordernde Wortkombination. Wir sollten uns als
erstes fragen: können Begriffe wie Musikalität und Kommunikation miteinander in
Verbindung gebracht werden? Müssen sie es vielleicht sogar? Sollte man sie getrennt
betrachten oder kann man sie überhaupt voneinander trennen? Was eigentlich hat es mit
der immer wiederkehrenden Behauptung auf sich, Musik sei eine "universelle Sprache"?
Was ist Musikalität?
Musikalität ist ein nicht genau definierter Begriff und wird von verschiedenen Berufsgruppen
unterschiedlich gebraucht. So versuchen empirisch-wissenschaftlich orientierte Leute
Musikalität als das zu sehen, was die sogenannten Musikalitätstests messen. Dazu gehören
beispielsweise die Unterscheidungsfähigkeit für Tonhöhe, die Leistungen des Ton- und
Rhythmusgedächtnisses oder die Fähigkeit, Akkorde zu analysieren bzw. zu bestimmen.
Diese messbaren Größen scheinen aber das Wesen der Musik nicht einfangen zu können.
Leute, die eher in sozialen und pädagogischen Berufen tätig sind, neigen dazu, diejenigen
Menschen und Kinder für musikalisch zu halten, die schlicht Freude an Musik empfinden. In
diesem Zusammenhang ist es nicht so wichtig, ob man Freude belegen, messen oder genau
nach weisen kann – was bedingt möglich wäre, zum Beispiel durch Befragungen oder
differenzierte Beobachtungen von Mimik und Gestik. Es gilt der wohlgemeinte Grundsatz:
"Hauptsache, es macht Spaß". Doch gerade darin besteht die Gefahr, dass man in der
Praxis nachlässig und oberflächlich wird.
Es wird noch eine weitere Auslegung des Begriffs diskutiert: Als Musikalität könnte die
Fähigkeit bezeichnet werden, in Klangereignissen und in Klangverläufen einen Sinn zu
erleben. Dieses Konzept von Musikalität ist eher einer hermeneutisch-wissenschaftlichen
Methode verpflichtet. Es ist ausgesprochen kunst-nah.
Die soeben geschilderten drei Begriffskonzepte haben eines gemeinsam: sie gehen vom
einzelnen Individuum aus und suchen dessen "Musikalität" zu definieren. Doch vereinen sich
seit ca. 15 Jahren Strömungen aus der Anthropologie, der Entwicklungspsychologie und der
Hirnforschung zu einem neuen Verständnis von Musikalität. Sie sehen Musikalität als ein
Kommunikationssystem, ohne das die Spezies Homo Sapiens gar nicht hätte überleben
können. Man nimmt außerdem an, dass dieses Kommunikationssystem die Wurzel aller
menschlichen Interaktionen ist. Noch bevor nämlich Sprache als Bedeutungsträger zwischen
Menschen wirksam werden kann, übertragen Menschen ihre Stimmungen und Bedürfnisse
durch klanglich- (meist natürlich stimmlich-) gestische Zeichen. (TREVARTHEN; 01 – 13). Die
Grundfrage hat sich nun verschoben: es wird nicht mehr gefragt: Warum macht DER
MENSCH Musik? … sondern: Warum machen DIE MENSCHEN Musik MITEINANDER. Aus
evolutionsbiologischer Sicht ist Musikalität eine spezifische Kommunikationsform, die etwas
mit Beziehungs- und Gruppenbildung, mit Gemeinschaftlichkeit zu tun hat. – Sehen wir
allerdings unsere westliche Musik an, so entdecken wir dabei, dass sie als hoch differenzierte
Kunstform weit über diese Eigenschaften hinaus geht. Wir erkennen, dass Rollen wie die des
Solisten, der Dirigentin und des Musikkritikers, wie die der Komponistin und des Korrepetitors
Zeichen dafür sind, dass wir es mit einer musikalischen Hochkultur zu tun haben.
Es ist leicht einzusehen, dass die anthropologische Vorstellung von Musikalität, von
kommunikativer Musikalität uns Klassenlehrpersonen und MusikpädagogInnen die
vielfältigsten Perspektiven für unser Arbeitsfeld aufzeigen kann; Perspektiven, die zwar
künstlerischer Art sind, die aber weit in die Menschenbildung hineinreichen. Es sind auch
Perspektiven, die eine lebenslängliche Motivationsgrundlage für Zeitkünste, das sind Künste,
die mit der Zeit erscheinen und vergehen, schaffen können.
Mit dem Bezug zur Hochkultur wird man behutsam umgehen müssen; wenn wir einem Kind zu
früh nur den Weg in die Hochkultur weisen, so unterlassen wir es, ihm die Vielfältigkeit
zwischenmenschlich-musikalischer Erfahrungen nahezubringen. Wir entziehen ihm den
musikalischen Nährboden. – Wenn wir aber andererseits NUR die Gemeinschaftsbildung mit
Musikunterricht meinen, so vermeiden wir es, Kindern die geistig- seelischen
Differenzierungen und Dimensionen unserer abendländischen Musik aufzuzeigen. Wir werden
Gefahr laufen, in die Sackgasse namens "Hauptsache-es-hat-Spaß-gemacht" zu gelangen.
Spaß darf sein, doch es gibt eine Steigerung von Spaß und die heißt zum Mindesten für den
Musikunterricht: Kunst- und Kulturbezug.
Vitalitätsaffekte und Attunement
Neue Begriffe aus der Säuglingsforschung helfen, die Wirkungsweise von kommunikativer
Musikalität besser zu begreifen. Insbesondere handelt es sich um zwei Begriffe, die der
Säuglingsforscher Daniel STERN entwickeln musste, um spezifische Eigenschaften im
menschlichen und zwischenmenschlichen Gefühlsleben in Worte zu fassen.
Er beschreibt mit der Wortschöpfung "Vitalitätsaffekte" eine "Art des Erlebens" (STERN, 83)
die nicht in statische Begriffe zu fassen ist wie Freude, Liebe, Trauer, Angst usw. Im Prinzip
entdeckte er, dass man nicht nur für Gefühle, sondern auch für die Gefühlsbewegungen einen
Begriff finden muss. Seelische Bewegungen lassen sich nur mit dynamischen Begriffen
beschreiben. Diese müssen nicht zwingend in Verbindung mit den sogenannten kategorialen
Affekten (Freude, usw.) auftreten.
"Wir kennen eine (...) Art des Erlebens, die unmittelbar aus der Begegnung mit
Menschen hervorgehen kann. Diese schwerbestimmbaren Qualitäten lassen sich
besser mit dynamischen, kinetischen Begriffen charakterisieren, Begriffen wie
"aufwallend",
"flüchtig",
"anschwellend",
"abklingend",
"berstend",
usw.
Erlebnisqualitäten dieser Art sind für Säuglinge mit Sicherheit spürbar und täglich, ja
in jedem Augenblick von großer Bedeutung." (STERN, 83)
Diese "Erlebnisqualitäten" nennt Daniel STERN Vitalitätsaffekte. Sie können in Verbindung mit
den kategorialen Affekten (Freude, Liebe, Trauer, Angst, …) auftreten, doch dies ist nicht
zwingend. Nicht nur Freude, auch ein Tatendrang kann flüchtig, abklingend, zunehmend oder
berstend sein. Wir alle kennen einen "berstenden" Übermut, ein "flüchtiges" Erinnern, ein
"zunehmendes Erstaunen", eine "abebbende" Neugierde oder einen uns "wuchtig
überrollenden" Schrecken.
Musikerinnen und Musiker werden schnell entdecken, dass nahezu alle Begriffe, die STERN
in seinen Texten zur Thematik Vitalitätsaffekte verwendet, in der Musik als Vortrags- oder
Interpretationsangaben vorkommen.
Machen wir die Probe aufs Exempel und vergleichen einige Worte aus Daniel STERNS
Kapitel über die Vitalitätsaffekte (STERN; 83ff) mit den Vortragsbezeichnungen im dtv-Atlas
Musik (S. 70-82):
anschwellend, aufwallend,
verblassend
flüchtig,
explosionsartig,
abklingend,
wuchtig hereinbrechend
sich hinziehend
leises Zucken
dahin eilend
munter plätschernd,
mühelos
crescendo
diminuendo
volando, volubile oder svelto
sforzato subito
decrescendo, diluendo
con brio, impetuoso, marziale
calando
vielleicht: mormorando
presto
gioioso, allegramente
leggero, lievo
In der Regel imitieren Erwachsene intuitiv die Vitalitätsaffekte von Säuglingen. Ein munteres
Armschütteln des Kindes wird mit Winken beantwortet, ein glucksendes Lächeln wird mit
Lächeln und ein paar Worten in ähnlicher oder gleicher Tonhöhe beantwortet; Sowieso
werden Lautäußerungen von sehr kleinen Kindern oft in der gleichen Lautstärke und Tonhöhe
echoartig gespiegelt (vgl. TREVARTHEN, 01 - 13). In diesen Handlungen vermutet man einen
evolutionären Sinn. Solche Nachahmungen können einen ersten auditiven und/oder visuellen
Kontakt zwischen Kind und Bezugspersonen herstellen und der Vorbereitung des
intersubjektiven Erlebens dienen.
Knapp zehn Monate nach der Geburt wird die imitationsähnliche Kommunikation um weitere
Dimensionen ergänzt. Affektabstimmung nennt STERN diese neue Kontaktebene: Die
Bezugsperson ahmt noch immer nach und bestärkt das kleine Kind, wechselt dabei aber oft
den Wahrnehmungsmodus. So begleitet sie etwa ein freudiges Hüpfen eines kleinen Kindes
mit hüpfender Melodik in ihrer Sprache oder unterstützt eine Spielbewegung mit perkussiven
Silben (STERN, 200, TREVARTHEN, 01 - 13).
"Sobald der Säugling aber etwa neun Monate alt ist, sieht man, dass die Mutter ihr
imitationsähnliches Verhalten um eine neue Dimension erweitert, (...) die wir als
Affektabstimmung bezeichnen wollen." (STERN, 200)
"Ein neun Monate alter Junge haut auf ein weiches Spielzeug los, zuerst ein bisschen
wütend, allmählich aber mit Vergnügen, voller Spaß und Übermut. Er entwickelt einen
stetigen Rhythmus. Die Mutter fällt in diesen Rhythmus ein und sagt: "kaaaaa- bam,
kaaaaa- bam", so dass bam auf den Schlag fällt und das kaa die vorbereitende
Aufwärtsbewegung und das erwartungsvolle Innehalten des Arms vor dem Schlag
begleitet." (STERN, 200f)
Die musikalisch-kinetischen Qualitäten sind im Prozess der Affektabstimmung komplexer als
bei der Imitation der Vitalitätsaffekte. Trotzdem verstehen Kinder diese Kommunikationsform,
ja, sie fordern sie sogar oft ein. Manche Kinder reagieren mit Verhaltensauffälligkeiten, wenn
sie zu wenig davon erleben. Das alles deutet darauf hin, dass Kinder die Fähigkeit,
musikalisch (d. h. in diesem Zusammenhang klanglich, zeitlich und kinetisch) verlaufende
Kommunikationsprozesse zu verstehen, mit auf die Welt bringen oder in ihren ersten
Lebenstagen ausbilden. – Halten wir fest: schon sehr kleine Kinder haben ein hoch
entwickeltes Wahrnehmungssensorium für die unterschiedlichsten dynamischen Verläufe und
für zeitliche Übereinstimmungen mit einer mitspielenden, kommunizierenden Person – kleine
Kinder sind in diesem Sinne hochmusikalisch.
Derzeit verfügt die Anthropologie über viele Belege, dass die Spezies Mensch nur dank ihrem
Zusammenrotten in Gruppen überleben konnte. Solche Gruppen müssen zur Verfestigung
ihrer Zugehörigkeit auch Gesänge benutzt haben; es ist anzunehmen, dass die heutigen
Gesänge von Fussballfans uns vor Augen führen, wie dies vor Urzeiten funktioniert hat.
Gruppen, die durch solche Gesänge verbunden sind, vermeiden Gewalttätigkeiten
untereinander.
Kompetenzerhalt statt Kompetenzerwerb
Als Klassenlehrpersonen und MusikpädagogInnen müssen wir folglich verstehen, dass Kinder
nicht unbedingt musikalische Kompetenzen zu erwerben haben, sondern dass wir gefordert
sind, vorhandene Kompetenzen zu entwickeln, zu verfeinern und letztlich kognitiv zugänglich
zu machen. Begründen lässt sich dies von zwei Seiten: qualitativ hochstehende
musikpädagogische Erfahrungen verfeinern das Kind einerseits in seinen sozialen und
andererseits in seinen künstlerischen Fähigkeiten. Musikalisches Erleben, das heisst Erleben
in klanglicher, zeitlicher und kinetischer Dimension, bedeutet ja auch zwangsläufig zweierlei:
nämlich sowohl eine vertiefte Hinwendung zu einer Kunst als auch ein Differenzieren von
Ausdrucksfähigkeiten und Kommunikationsweisen.
Anerkennen wir also, dass ein Kind neben Rhythmen und Tönen eine Reihe von andern
musikalischen Charakteristika wahrnehmen kann. Es ist fähig, musikalische Elemente wie
Dauer, Zeitgleichheit, Klangfarbe und dynamische Veränderung sehr differenziert
einzuordnen.
Diese
Erkenntnis
verändert
unser
Unterrichtskonzept:
Isolierte
Unterrichtseinheiten zu "lang-kurz", zu Dynamik oder Klangfarben müssten sehr kritisch
hinterfragt werden, denn sie bieten einem Kind kaum Nahrung für seine natürliche Neugierde
auf alles was klingt und sich bewegt. Allerhöchstens können Kinder dabei neue Begriffe aus
der Welt der Musik lernen. Ein der Nachhaltigkeit verpflichteter Musikunterricht macht die
Vermittlung solche Begriffe nicht zum Unterrichtsthema. Musikalische Begriffe sollten in
Improvisations- und Gestaltungsprozessen hingegen immer wieder einfließen, nämlich wenn
man Lieder, Stücke und Tänze erlernt, begleitet oder gemeinsam ausschmückt.
Musiklernen, basierend auf modernen anthropologischen Erkenntnissen, bedeutet vitale
Gegenwartserfahrung und akustischer, choreografischer, auch mimischer Austausch mit
andern anwesenden Menschen, von frühester Kindheit an. Das heißt aber auch, dass die
dynamischen Verläufe (schneller, langsamer, lauter, leiser, hinziehend, berstend, plötzlich…)
im Musikunterricht zentraler und lebensnaher sind als der einzelne Ton, der einzelne Takt, der
einzelne getanzte Wechselschritt oder der einzelne Notenwert (vgl. SWANWICK 44).
Musiklernen bedeutet ferner nicht nur (aber auch) in den Keyboard-Unterricht zu gehen;
gerade dies aber ist leider oft eine unreflektierte Grundannahme in Forschungen, welche die
Wirkung von Musik belegen oder widerlegen wollen.
Eine anthropologisch fundierte Sichtweise auf Musik hat darum auch Konsequenzen für
Forschungsfragen. Wir werden als Klassenlehrpersonen und MusikpädagogInnen in Zukunft
sehr genau auf den Musikbegriff schauen müssen, der in medizinischen und psychologischen
Forschungen verwendet wird.
Es gibt Untersuchungen, da wird geprüft, ob ein Kind zu einer Verhaltensänderung kommt,
wenn es ein halbes Jahr Keyboardunterricht hatte. Dass dies nicht unbedingt der Fall ist, ist
uns praktizierenden MusikpädagogInnen und Lehrpersonen klar. Wenn jedoch auf dieser
Basis vorschnell gesagt wird, es gäbe keinen Lerntransfer aus der Musik heraus in das
Sozialverhalten, dann ist das, egal wie empirisch und wie breit die entsprechende Forschung
angelegt war, ungenau oder sogar schludrig. In zukünftigen Forschungen muss klar sein, ob
man unter "Musik" Einzelunterricht an einem klanglich reduzierten Instrument (Keyboard)
meint oder ob man qualitativ anspruchsvollen, an musikalischen Erfahrungen reichhaltigen
Gruppenunterricht als Ausgangspunkt für eine gültige Aussage zur Wirksamkeit der Musik
nimmt. – Grundsätzlich ist zurzeit anzunehmen, dass Musik nicht unbedingt einen Transfer in
weit entfernte Gebiete wie Mathematik verursacht. Die Hirnforschung neigt aber heute zur
These, dass ein vielfältiges "Plastizitätstraining" in emotional positiver Umgebung eine
Vielzahl von Möglichkeiten für andere Lernprozesse bietet, an Grunderfahrungen anzudocken
und intensiver einzuwirken.
Nicht auszuschliessen sind immerhin sogenannte "nahe" Transfereffekte, die freilich relativ
banal sind. Sie können sicherlich keine Argumentationsbasis für mehr Musikunterricht
darstellen, sie können auch nicht dazu dienen, Qualitätsmerkmale für einen guten
Musikunterricht zu erstellen: So ist beispielsweise nachgewiesen worden, dass Kinder, die
Klavier lernten, auch eine bessere Feinmotorik beim Bedienen einer Schreibtastatur
aufweisen. Ja, und?
Kompetenzerhalt für das einzelne Kind, für die Gruppe
Werden wir praktischer: Was heißt Kompetenzerhalt in unserem musikpädagogischen Alltag?
Bereits erwähnt habe ich die dringend nötigen und glücklicherweise oft mit hoher Motivation
verbundenen Differenzierungsangebote im Unterricht, wie beispielsweise durch folgende
Aufforderungen:
… "versucht einmal, noch langsamer lauter zu werden"
… "habt Ihr genau darauf geachtet, wann man den Nachhall des Klangstabes nicht mehr
hört?"
…"lasst uns gemeinsam eine Sonne aufgehen lassen, deren Strahlen (gemeint sind die Arme)
ganz genau im gleichen Moment aufgehen!
…"habt ihr gehört, wie schön der letzte Akkord bei unserem Kanon klang? Lasst es uns noch
einmal probieren"
…"lasst uns beim letzten Akkord langsam leiser werden, als würde sich das Lied
davonschleichen"
…"Steinespiele sind zwar schön, aber lasst uns diesmal ein Steinespiel machen, wo nur die
Finger oder gar nur die Zehen zappeln!"
…"schön, dass Ihr alle wieder auf Euren Stühlen sitzt, doch das nächste mal gehen alle mit
acht Schritten an ihren Platz, die einen müssen vielleicht größere, die andern vielleicht
kleinere Schritte nehmen."
Die soeben aufgezählten Differenzierungsangebote können jedes Kind individuell in seiner
Entwicklung unterstützen. Doch der Anspruch auf Kompetenzerhalt kann auch eine spezielle
Dimension für eine ganze Gruppe bilden.
Musikalische Gruppenkompetenzen verfeinern sich durch den gemeinsamen Austausch über
eine improvisierte Klanggestaltung, durch eine besondere Art, eine Kanon zu singen, eine
Choreographie. Kinder haben viele Ideen, wie man etwas originell verändern kann oder
ausbauen kann. Diese Ideen treten dann besonders häufig auf, wenn die Lehrperson durch ihr
modellhaftes Vorleben klar macht, um was es geht. Fragen wie: "Wer hat eine Idee" lassen
eine Gruppe eher verstummen. Beginnt aber die Lehrperson erst einmal, zu erzählen, wie sie
einen Kanon fand, was man an einem Zwischenspiel noch verändern könnte, oder zeigt sie
eine Bewegungsgestaltung, um eine müde Schlange darzustellen, so sind bald auch die
kindlichen Ideen auf dem Tisch (oder im Raum). Nun gilt es, Gruppenverhalten zu entwickeln
und zu erfahren: Welche Idee probiert man aus? Welche Ideen verbindet man? Welche Ideen
gefallen einzelnen Kindern nicht und wie geht man damit um? Welche Ideen sollten noch
verfeinert oder ausgebaut werden. – Die Lehrperson wird in diesem Moment zur Moderatorin
und zur Gesprächsführerin.
In den vergangenen Jahren war oft von "aussermusikalischen Zielen" im Fach Musik die
Rede. Diese Sichtweise scheint mir grundlegend überholt: Musik (und Bewegung) als die
künstlerische Ausprägung menschlicher Kommunikation sind per se Kunstformen, die soziales
Verhalten fordern und fördern. Nur wer Musik als eine Anreihung von Noten, Notenwerten,
Pausenwerten und als ein System von Tonleitern sieht, kann diese Tatsache ausblenden und
von "aussermusikalischen Zielen" sprechen.
Kompetenzerhalt und Unterrichtsplanung
In vielen Schulfächern kann ein klar strukturiertes Unterrichtsangebot dadurch entstehen, dass
man Aufträge formuliert, welche die Kinder auf ihre eigenen Weisen lösen sollen. Für das
Fach Musik ist das bedenklich. Ein Auftrag ist eine Art Problemstellung und die
Auftragsausführung setzt kognitive Prozesse voraus.
Sehen wir Musik als eine differenzierbare und in die Künste leitende Kommunikationsform, so
kann der Unterricht nicht mit einer Problemstellung beginnen; denn eine solche Hinführung
geschieht verbal, nicht musikalisch. Es ist, als würden wir französisch sprechend den
Englischunterricht einleiten. Zudem ist musikalische Kommunikation in ihren Anfängen kein
"Problem" sondern vitaler Austausch. Eine Musikstunde, die das Potenzial zum Gelingen in
sich trägt, beginnt flüssig, prozedural, als eine bewegte oder klingende Szene. In dieser
bewegten Szene spielen Lehrperson und Kinder kommunikativ, mit Klängen, Bewegung,
dynamischen Veränderungen miteinander, wobei die Lehrperson so lange Imitationsmodell
bleibt, bis die Kinder die Regeln eines Spiels kennen und ihre eigenen Ideen spontan
einbringen. Ideen, die aus dem Imitationslernen entspringen, sind in aller Regel zuerst
unbewusst, entziehen sich also der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Kindern nach ihren
Ideen zu "fragen", ist nicht ergiebig, im Gegenteil, es kann blockieren und die primäre
Motivation zur Musik schmälern. Die wache Lehrperson ist hier unersetzbar, die sofort merkt,
wenn in einer Imitationsphase ein scheinbarer Fehler oder eine Abweichung passiert, welche
als gute neue Idee gedeutet, gewürdigt und wiederholt werden kann.
Kompetenzerhalt im Lehrplan
Der Lehrplan des Kantons St. Gallen enthält einige innovative Ideen, nämlich den Fokus auf
die die Verbindung von Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz sowie die explizite Erwähnung
einer notwendigen Zusammenarbeit mit den Musikschulen. Auch wird der Einbezug des
aktuellen Musiklebens und den Umgang mit Musikinstrumenten im normalen schulischen
Alltag gefordert, das heißt, Musikunterricht wird definitiv weiter gesehen als früher, als das
Fach noch Singen hieß.
Bei der kommenden gesamtschweizerischen Lehrplanrevision müssen trotzdem einige
Kompetenzen der Kinder ernster genommen werden. Der hohe Stellenwert dynamischer
Verläufe ist nicht nur im St. Galler Lehrplan kaum berücksichtigt. Es ist auch nicht ersichtlich,
warum Kinder in der Unterstufe nur "im Bereich der Pentatonik und der ganzen Durtonleiter"
singen sollten und Lieder in Moll in die Mittelstufe gehören sollten. Ebensowenig ist es
kindgerecht, in der Unterstufe die großen Notenwerte, die ganzen und halben Noten, die
Viertel- und Achtelnoten (und den entsprechenden Pausenwerte) zu verwenden. Niemand
wird stichhaltig begründen können, warum Sechszehntel sowie punktierte Rhythmen eine
Angelegenheit der Mittelstufe, schließlich Triolen eine Angelegenheit der Oberstufe sein sollte.
Beim rhythmischen Lernen geht es darum, durch
verschiedenartige
Echospiele
die
kindliche
Kompetenz für Dauern und Zeitlängen, welche
gerade sehr früh zum Spracherwerb vorhanden
und wach ist, auch in der Musik zu nutzen.
Sprechen und Spielen von komplexen Rhythmen
können bereits in der Unterstufe gepflegt und
Abb. 1 Komplexer Rhythmus mit binären und
verfeinert werden, allmählich kann dazu das
ternären Strukturen
Notenbild gezeigt werden. Auf diese Weise lernen
Kinder das rhythmische Lesen und im Verlauf von drei bis vier Jahren auch das Schreiben
ähnlich wie bei einem Leseunterricht nach der Ganzheitsmethode, in kommunikativen
Echospielen.
Einen Rhythmus mit ternären und binären Unterteilungen (vgl. Abb. 1) kann ein
Kindergartenkind nachsprechen und mit etwas Übung auf kleinem Schlagwerk nachspielen,
jedoch noch lange nicht vom Blatt lesen. Das Blattlesen andererseits kann auch nicht dadurch
schneller erreicht werden, dass Kinder nur Viertel, Achtel und Halbe lernen. Man muss die
Notenwerte immer wieder in komplexer Kombination gehört und gespielt haben. Das Lesen
sollte allmählich immer genauer behandelt werden, so dass Mittelstufenkinder rhythmische
Einheiten nach einmaligem Hören lesen können und Oberstufenschülerinnen und –schüler
rhythmische Einheiten ohne vorheriges Hören lesen können.
Zu erwähnen wäre noch, dass schon kleinen Kindern natürlich auch ganze ternäre Einheiten
präsentiert werden müssten, dass also auch Echospiele mit 12/8 Takten oder zwei
aufeinanderfolgenden 6/8 Takten immer wieder vorkommen sollten. Das schließt auch den
fließenden Wechsel von zwei 6/8 Takten zu einem 4/4 Takt ein.
Abb. 2 Ternäre Strukturen (dreiteilige Rhythmen
oder Takte): hier zwei 6/8 Takte
Die Anzeichen mehren sich, dass musikalisch
überstrukturierter Unterricht nicht nachhaltig sein
kann. Praktikumsaufträge, wie den Kindern die
Viertel und Achtel beizubringen und dies in
überprüfbare Lehrziele zu verpacken sind so
gesehen weder künstlerisch noch für Kinder
attraktiv und mit Sicherheit nicht nachhaltig.
Musik musikalisch unterrichten – Musik musikalisch bewerten:
Prozesse statt Notenwerte – Ausdruck und Miteinander statt Vorsingen und
Schreibübungen!
Die hier zur Diskussion gebrachten Vorschläge sind nicht neu. Schon vor gut 10 Jahren
erschien in England eine Schrift des damals führenden Musikers, Forschers und
Musikpädagogen Keith SWANWICK unter dem Titel: "Teaching Music Musically".
Er benennt drei grundlegende Prinzipien auf denen Musikunterricht, der seinem Namen
Rechnung trägt, basieren muss:
Care for music as discourse –
1
Musik (und Bewegung) zu einer Mitteilung und einem Erfahrungswert machen
Care for the musical discourse of students –
1
Sich über Musik (und Bewegung) austauschen
Fluency first and last –
Flüssige Verläufe als oberstes Prinzip, nämlich zum Unterrichtsbeginn und zum
1
Unterrichtsende: die kleinste musikalische (und tänzerische) Einheit ist daher die
Phrase oder die Geste, nicht der einzelne Ton, Notenwert oder Takt (oder
1
Armschwung) . (SWANWICK 43ff)
Um Musik musikalisch und somit nachhaltig zu vermitteln, sollen junge Menschen auch über
musikalische Qualitätskriterien verfügen. Was ist vielfältig, was ist eintönig, was ist originell
und was ist schon dutzendfach kopiert …? Solche Kriterien sollten greifbar werden und
schließlich in der Oberstufe auch diskutierfähig werden.
Es bleibt offen, ob dem Musikunterricht zurzeit ein guter Dienst getan wird, wenn man wieder
Noten (gemeint sind jetzt Schulnoten) einführen will wie in andern Fächern. Wahrscheinlich ist
das Gegenteil der Fall. Selbst wenn wohlmeinende Pädagogen oder Politiker unserem Fach
auf diesem Weg zu mehr Gewicht zu verhelfen meinen – vermutlich wird der Musik hier eher
ein Bärendienst erwiesen.
Doch dürfen wir nicht die Augen schließen: Derzeit sind Lehrkräfte in den Primarschulen
daran, sich zu überlegen, wie sie Kinder in Musik bewerten können.
Also gilt es hier besonders sorgsam, besonders "musikalisch" zu denken. SWANWICK schlug
ein Wertschätzungs- und Bewertungssystem vor, bei dem es vor allem um die Breite des
Ausdrucks und um den Differenzierungsgrad von freien musikalischen Äußerungen geht. Wir
1
Ergänzungen in runden Klammern von Ch. F.
können es benutzen, um von der freien kindlichen Klangneugierde zu sehr differenzierten
Interpretationsformen einen direkten Bogen zu schlagen.
Wenn es denn für ein so persönlichkeitsbezogenes und künstlerisches Fach wirklich nicht zu
umgehen sein sollte, scheint es angemessen, auch für den neuen schweizerischen Lehrplan
ein Bewertungssystem anzudenken, das solchen Dimensionen gerecht wird. Eingebettet in
zeitgemäße Bewertungskriterien muss das Wissen sein, dass Kinder bei den entsprechenden
Handlungen tatsächlich schon in der Lage sind, ihre Leistungen zu steuern und zu
verbessern. Dies ist beispielsweise beim "richtig singen" nicht der Fall; daher kann eine
Bewertung in "Vorsingen" für etliche Kinder (die vielleicht später PolitikerInnen oder
SchulleiterInnen werden) einem musikalischen Todesurteil gleichkommen.
Selbstverständlich muss vor einer Bewertung, wie sie in dem folgenden Vorschlag gezeigt
wird, ein Trimester oder ein Semester lang ein Unterricht stattfinden, welcher die Kinder in
diesen Dingen förderte und sensibilisierte. Erste Unterrichtsvorschläge und Ergänzungen zu
diesem Bewertungssystem können auf der Website: www.imElement.net eingesehen werden.
Die Kurzform von wünschenswerten, kommunikationsbezogenen
musikalischen Fertigkeiten könnte so aussehen:
und
bewertbaren
Level 1 (Unterstufe Klasse 1):
erkennt und exploriert Klangereignisse, spielt z. B. frei mit Tempi, Lautstärken,
Klangfarben und Unterschieden in Ton und Klangfarbe
Level 2 (Unterstufe Klasse 2):
kann verschiedene Klang und Stimmfarben unterscheiden, z. B. Instrumententypen,
einstimmige od. mehrstimmige Klänge, auch Klangfarben.
Level 3 (Unterstufe Klasse 3):
Tauscht sich in Ausdrucksformen aus, oder kann in Worten ausdrücken, was die Musik
sagen will … (vgl. SWANWICK, 81)
Schlussbetrachtung
Musikalische Prozesse sind Kommunikationsprozesse und gerade darum ist das Fach Musik,
wenn es musikalisch behandelt wird, eines der beziehungsreichsten und der beziehungsnährendsten Fächer im schulischen Unterricht. Ein gemeinsames Erlebnis im klanglichen oder
tänzerischen Fluss, gemeinsam entdeckte Ausdrucksqualitäten und gemeinsames Spiel mit
dynamischen Klangfiguren sind früheste Gewaltprävention, aber genauso auch frühe
Hinführung zu den musikalischen Ausdrucksformen verschiedener Kulturen. Solche Prozesse
verlaufen allerdings nicht stufenweise "aufbauend" im methodisch-didaktischen Sinne. Sie
verlaufen ähnlich wie Entwicklungsprozesse, sind individuell oder gruppenindividuell, können
unterschiedliche Akzentuierungen, unterschiedliche Bezüge und unterschiedliche
Entwicklungstempi haben.
Eine Lehrperson wird oft erkennen, dass sie bei der einen Kindergruppe eine ausgesprochen
improvisationsfreudige Meute vor sich hat, bei der andern eine Singgruppe, die Herzen
erweichen kann und wieder bei einer andern eine Tanzgruppe mit Freude an rhythmischperkussiven Gestaltungen. Darauf gilt es einzugehen, auch im Sinne eines kommunikativen
Geschehens. Was spricht denn dagegen, dass eine Lehrerin mit diesen Gruppen
unterschiedliche Wege geht? Ein transparenter, in sich gut vernetzter Unterricht garantiert
eines sicher: Dass alle kommunikativen Wege zur Musik führen können.
Literatur:
Dartsch, Michael; Meyer, Claudia; Stiller, Barbara (2010): Musizieren in der Schule. Modelle und Perspektiven der
Elementaren Musikpädagogik. Regensburg: ConBrio
Dtv-Atlas Musik. Musikgeschichte von den Anfängen bis zur Renaissance. (200521). München, Kassel: DTV /
Bärenreiter (S. 70-82)
Fröhlich, Charlotte (2010): Intrinsische Motivation und Unterrichtsplanung. In: Dartsch, Michael; Meyer, Claudia,
Stiller, Barbara (2010): Musizieren in der Schule. Modelle und Perspektiven der Elementaren Musikpädagogik.
Regensburg: ConBrio (S. 41 –62)
Stern, Daniel N. (19933): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta.
Swanwick, Keith (20012): Teaching music musically. Transferred to digital printing. London: Routledge.
Trevarthen, Colwyn and Malloch Stephen (Hrsg.) (2009): Communicative musicality. Exploring the basis of human
companionship. Oxford: Oxford University Press.
Herunterladen