Musik und Suggestion: Eine humanethologische Annäherung

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Musik und Suggestion: Eine humanethologische Annäherung
Christian Lehmann
Zusammenfassung:
Charles Darwin zählte die Musik zu den geheimnisvollten Fähigkeiten, mit denen der Mensch
ausgestattet sei – und vermutete zugleich, dass unsere frühmenschlichen Vorfahren einander
an Stelle der Sprache mit Melodien und Rhythmen bezauberten. Nur eine romantische
Vorstellung? Tatsächlich haben in jüngster Zeit Anthropologen und Psychologen plausible
Hypothesen zur Evolution menschlicher Musikalität entwickelt: Vieles spricht dafür, dass das
musikalische Ausdrucks- und Wahrnehmungsvermögen des Menschen nicht nur ein schöner
Nebeneffekt seiner Sprachfähigkeit ist, sondern eine evolutionäre Anpassung mit spezifischen
Funktionszusammenhängen. Diese Zusammenhänge könnten der Schlüssel zu einem tieferen
Verständnis der suggestiven Kraft der Musik und der starken emotionalen Reaktionen auf
musikalische Reize sein.
Schlüsselwörter: Emotion; Evolution des Menschen; Humanethologie; Musikpsychologie
Music and suggestion. An ethological approach
Abstract:
Charles Darwin ranked human music „among the most mysterious“ with which man is
endowed, and assumed that our early human ancestors „endeavoured to charm each other with
musical notes and rhythm.“ A romantic idea? Actually, during the last two decades modern
evolutionary anthropologists have proposed some plausible hypotheses on the evolution of
human musical behaviour: Musical communication is likely to be not only a beautiful sideeffect of our language faculty, but an evolutionary adaptation of its own with specific social
functions. This context could be the clue to a deeper understanding of the suggestive power
of music and the strong emotional response caused by musical stimuli.
Keywords: strong emotional response; human evolution; human ethology; music psychology
Música y sugestión: Una aproximación desde la etología humana
Resumen: Para Charles Darwin, la música pertenecía a las capacidades más misteriosas de las que
dispone el ser humano –y, al mismo tiempo, sospechó que nuestros tempranos antepasados humanos
encontaban unos a otros a través de melodías y ritmos en vez de a través del lenguaje. ¿Se trata solo de
una imagen romántica? En efecto, en los últimos años antropólogos y psicólogos han desarrollado
hipótesis plausibles respecto de la evolución de la musicalidad humana: mucho habla a favor de que la
capacidad de expresión y percepción musical no es un efecto secundario bonito de su capacidad
lingüística, sino una adaptación evolucionaria vinculada con contextos funcionales específicos. Tales
contextos podrían representar la clave para una comprensión más profunda de la fuerza sugestiva de la
música y de las intensas reacciones emocionales respecto de los estímulos musicales.
Palabras clave: emoción; evolución del ser humano; etología humana; psicología de la música
Die „Macht der Musik“ ist ein Topos, der in der Vorstellung der Menschen aller Zeiten einen
festen Platz hat.
Davon zeugt die griechische Mythologie mit dem Motiv des Orpheus und der Geschichte von
den Sirenen, die den Odysseus und seine Männer mit ihrem Gesang hypnotisieren. Motivisch
nah verwandt ist die deutsche Ballade von der schönen Loreley, die mit ihrem Singen die
Rheinschiffer um den nautischen Verstand bringt. Auch die Volkssage vom Rattenfänger von
Hameln oder der märchenhafte Stoff der Zauberflöte spiegeln die Vorstellung von der bald
bezaubernden, bald verhängnisvollen Macht der Töne wider.
In der antiken Welt berichtet Platon von der Wirkung musikalischer Modi auf den Charakter,
warnt vor bestimmten Tonarten und lobt andere als besonders geeignet für den Krieger.1
Ähnliche Vorstellungen sind aus orientalischen Kulturen bekannt.
Der romantische Dichter Novalis wiederum spricht von dem „Lied“, das „in allen Dingen“
schläft, „und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“2
Bereits im Vokabular der Sprache spiegelt sich die Assoziation des Zaubers mit dem Gesang:
die Worte incantare oder enchanter leiten das Verzaubern vom Singen ab. Die Geschichten
von den Sirenen und der Loreley scheint also nicht von ungefähr zu kommen.
Im Folgenden möchte ich der Frage nach der Natur dieses „Zaubers“ aus einer
naturwissenschaftlichen, genauer gesagt, evolutions- und verhaltensbiologischen Perspektive
nachgehen. Was könnte phylogenetisch hinter unserer Vorstellung von der Macht der Töne
stecken? – Wie kommt es, dass unser Gehirn so empfänglich ist für diese Art akustischer
Reize, die doch, wie es scheint, weit über die zum Leben notwendige Verständigung
hinausgehen?
Charles Darwin zählte die Musik zu den geheimnisvollsten Fähigkeiten, mit denen der
Mensch begabt sei, da sie in allen Kulturen vorhanden, ihr Vorteil für das Überleben und die
Fortpflanzung jedoch nicht offenkundig sei.
“As neither the enjoyment nor the capacity of producing musical notes are faculties of the
least direct use to man in reference to his ordinary habits of life, they must be ranked among
the most mysterious with which he is endowed“ schrieb der Naturforscher 1871.
Darwin schlägt jedoch selbst eine Erklärung des Phänomens Musik aus der
Stammesgeschichte vor:
„It appears probable that the progenitors of man, either the males or females or both sexes,
endeavoured to charm each other with musical notes and rhythm.“
Darwins Wortwahl „to charm each other“ deutet wiederum auf die Beobachtung und
Erfahrung einer suggestiven Wirkung hin.
In den letzten Jahren ist die Frage nach der biologischen Dimension der menschlichen
Musikalität und des musikalischen Verhaltens in den wissenschaftlichen Diskurs
zurückgekehrt. Verschiedene Disziplinen haben dazu beigetragen. Die neuropsychologische
Forschung konnte mit modernen bildgebenden Verfahren z.B. zeigen, dass unser Gehirn auf
eine unerwartete musikalische Wendung – also etwa auf einen nach unserer musikalischen
Erfahrung falschen Ton oder Akkord – ganz ähnlich reagiert wie auf ein unsinniges Wort am
Ende eines Satzes. Ein Musikstück kann ebenso wie ein Begriff unsere Wahrnehmung
bahnen, ein semantisches „Priming“ bewirken.3
1
Platon, Politeia
v. Eichendorff 1838.
3
Koelsch et al. 2004
2
Neurophysiologische Studien zeigen, dass es keine genaue lokale Abgrenzung zwischen
„Sprachzentren“ und „Musikzentren“ im Gehirn gibt – der Cortex zeichnet sich durch große
Plastizität aus.
Andererseits ist seit langem bekannt, dass Sprachfähigkeit und musikalische Kompetenz
unabhängig voneinander gestört sein können.
Menschen, die etwa nach einem Schlaganfall an einer Broca-Aphasie leiden, können meist
noch singen. Die Steuerung des Singens, auch mit Worten, ist also anders lokalisiert als die
Sprech-Koordination. Dies kann man sich therapeutisch zunutze machen und die Sprache
über das Singen wiedergewinnen, indem andere Areale die Aufgaben des Broca-Zentrums
nach und nach übernehmen. Dies ist erst vor kurzem durch die Arbeitsgruppe von Gottfried
Schlaug in Harvard neurowissenschaftlich bestätigt worden.4
Umgekehrt können musikalische Fähigkeiten unabhängig von der Sprachfähigkeit gestört
sein. Schätzungsweise etwa 3% der westlichen Bevölkerung sind von einer genetisch
bedingten sogenannten Amusie betroffen. Diese Menschen können Melodien weder
nachsingen noch erkennen, da ihnen das relative Gehör, also der Sinn für
Tonhöhenunterschiede fehlt. Ihr Sprachvermögen ist jedoch nicht beeinträchtigt.5
Unsere Musikalität ist also offenbar mehr als nur ein Nebeneffekt der Sprachfähigkeit, und sie
erfordert eine spezifische biologische Ausstattung. Daher stellt sich für Evolutionsbiologen
die Frage: Warum, aufgrund welcher „Lebensnotwendigkeiten“ könnte sich dieses zweite,
doch sehr komplexe akustische Kommunikationssystem in unserer Stammesgeschichte
herausgebildet haben?
Verschiedene Hypothesen über spezifische adaptive Funktionen menschlicher Musikalität
sind vorgelegt worden, die deren Ursprung vor allem in der Mutter-Kind-Interaktion, in der
Gruppenbindung und in der Partnerwahl sehen. Sie kontrastieren mit Steven Pinkers
berüchtigtem Diktum, Musik sei für die menschliche Natur lediglich „auditory cheesecake“,
ein vergnügliches Nebenprodukt der Sprachfähigkeit ohne essentielle Bedeutung.6
Doch sowohl die kulturübergreifende Existenz musikalischer Formen als auch die psychophysischen Wirkungen musikalischer Reize und unsere Empfänglichkeit für Musik bereits in
frühester Kindheit sind Indizien für starke phylogenetische Wurzeln der menschlichen
Musikalität. Drei Ansätze in diesem Zusammenhang möchte ich im Folgenden vorstellen –
und wir werden sehen, dass sie alle im weiteren Sinne mit „Suggestion“ zu tun haben.
Sexuelle Selektion: Das akustische Pfauenrad
Der US-amerikanische Psychologe Geoffrey Miller griff vor einigen Jahren Darwins
Hypothese auf, die die stammesgeschichtliche Entstehung menschlichen Musik in Analogie
zum Vogelgesang erklärt: mit dem Prozess der sexuellen Selektion durch Partnerwahl.7
Miller argumentiert: Kunst und Kreativität gehen, vereinfacht gesagt, auf das Balzverhalten
zurück. Wer künstlerische und musikalische Fähigkeiten zeigt, wirkt dadurch attraktiv auf das
andere Geschlecht. Diese Fähigkeiten erhöhen also die Fortpflanzungschancen: Musikalische
Männer haben (bzw. hatten in der Frühgeschichte des Menschen) mehr Nachkommen als
unmusikalische, und so setzen sich die entsprechenden erblichen Merkmale in der Spezies
durch. Die attraktive Wirkung der Musikalität könnte nach Millers Modell mit
unterschiedlichen Mechanismen erklärt werden:
4
Schlaug et al. 2008
Peretz et al. 2002
6
Pinker 1996
7
Miller 2000
5
a) als Fitness-Indikator: Musikalität und Darbietung beweisen nicht nur Intelligenz,
Kreativität und Einfühlungsvermögen, sondern erfordern auch eine Reihe von physischen
Qualitäten und motorischen Fähigkeiten. Die musikalische Ausdrucksfähigkeit lässt also auf
gute Vaterqualitäten schließen und ist ein Anzeichen für gute Gene, die den potentiellen
Nachkommen Überlebens- und Fortpflanzungsvorteile verschaffen.
b) als ästhetisches Display: Musikalische Reize könnten auf einen fruchtbaren Boden
bestimmter sensorischer Präferenzen – etwa für ein metrisches Tempo oder für
Klangeigenschaften – fallen, die sich in einem anderen adaptiven Zusammenhang entwickelt
haben. Denkbar ist auch, dass die musikalische Ausdrucksfähigkeit des Menschen sozusagen
als extreme Merkmalsausprägung, die weit über das für die Verständigung nötige Maß
hinausgeht, gleichsam als evolutionärer Selbstläufer entstanden ist. Evolutionsbiologen
sprechen hier vom Runaway-Prozess8: Am Anfang steht eine Partnerwahl-Präferenz für ein
bestimmtes Merkmal mit Seltenheitswert; durch positive Rückkopplung prägt sich das
Merkmal immer stärker aus, auch wenn es unnütz oder sogar eher hinderlich geworden ist.
Prominentestes Beispiel im Tierreich sind die überlangen Schwanzfedern mancher
Paradiesvogel-Arten.
Ebenso setzt also, so Millers Ansatz, der Homo musicus spezifisch evolvierte
Verhaltenssignale ein, um die potentielle Partnerin von seinen Qualitäten zu überzeugen –
bzw.ihr diese zu suggerieren. Dabei reicht die Bandbreite der möglichen
evolutionspsychologischen Begründung, warum man Klavier spielen können müsste, um
Glück bei den Frauen zu haben, vom „glaubwürdigen Signal“, das eine verlässliche
Information über die Qualitäten des Senders mitteilt, bis zum „schönen Schein“, der die Sinne
betört, aber nicht zwangsläufig auf innere Werte schließen lässt.
Millers Theorie von der Entstehung menschlicher Musikalität durch sexuelle Selektion weist
eine entscheidende Schwäche auf. Ein sexuell selektiertes Merkmal ist immer
geschlechtsspezifisch. Entsprechend dem Grundsatz der female choice, der Damenwahl,
müssten Männer also deutlich musikalischer sein als Frauen.
Das trifft offenkundig nicht zu. Daher kann dieses Erklärungsmodell das Phänomen der
menschlichen Musikalität nur teilweise begründen. Musikalisches Verhalten hat
höchstwahrscheinlich mehrere unterschiedliche evolutionäre Wurzeln – die jedoch sämtlich
einen zentralen Aspekt gemeinsam haben: den der emotionalen Bindung.
Infant directed speech
Erwachsene, insbesondere Mütter, die mit Babys sprechen, fallen dabei in einen
charakteristischen Sprachmodus. Allein am Tonfall könnte ein Zuhörer, der die Sprecherin
und ihr Gegenüber nicht sieht, sofort erkennen, ob sie mit einem Erwachsenen oder mit einem
Baby spricht: Die Sprachmelodie ist übersteigert, bewegt sich also viel stärker auf und ab als
die „normale“ Alltagssprache, und die mittlere Stimmlage ist deutlich erhöht. Dieser typische
Singsang wird als „Ammensprache“, Motherese oder infant-directed speech bezeichnet. Es
handelt sich dabei um eine Universalie des menschlichen Verhaltens: Die Motherese ist in
allen Kulturkreisen der Erde zu beobachten, unabhängig vom Tonfall der Landessprache. Die
Verhaltensforschung weiß heute, dass diese Sprechweise nicht etwa eine alberne
Angewohnheit der Erwachsenen ist, sondern eine Anpassung an die Wahrnehmung des
Kindes – und für das sichere Attachment und die psychische Entwicklung von erheblicher
Bedeutung.
8
Fisher 1930
Die amerikanische Anthropologin Dean Falk vermutet in der Motherese eine evolutionäre
Verhaltensanpassung aus der Frühgeschichte unserer Gattung. Falks Erklärungsmodell ist als
Putting-the-baby-down-Hypothese9 bekannt geworden. Die Neugeborenen unserer Urahnen
klammerten sich an das Fell der Mutter. Im Laufe der Hominisation wurde dies jedoch immer
schwieriger – weil der „nackte Affe“ (wie der britische Verhaltensbiologe Desmond Morris
unsere Art charmant bezeichnet hat) kaum noch Fell trägt, dafür aber ein immer größeres
Gehirn bekommen hat. Der zunehmende Schädelumfang machte eine immer frühere Geburt
notwendig. Daher sind menschliche Neugeborene im Vergleich zu Affenbabys hilflose
Frühchen, die sich nicht selbst festhalten können. Die Menschenmutter muss ihr Baby halten,
wenn sie es am Körper trägt. Das kann sie aber nicht pausenlos tun, denn der einfallsreiche
Homo erectus verfolgt neue Strategien der Nahrungssuche und beherrscht das Feuer. Die
Mutter legt das Baby also zeitweise ab. Was geschieht? Der Körperkontakt wird
unterbrochen, das Kind schreit, es kommt zu einer Stress-Situation für Mutter und Baby. Das
„Kontinuum“ (wie es Jean Liedloff10 bezeichnet hat) der sicheren Bildung muss auf andere
Weise aufrechterhalten werden: durch die Stimme. Sie überbrückt die zeitlichen Lücken des
Kontinuums und suggeriert dem Kind auch über eine gewisse räumliche Distanz hinweg
Nähe und Sicherheit.
Auch heutige Babys reagieren auf die vertraute Stimme der Mutter – und sie sprechen
erstaunlicherweise stärker auf Gesang und auf die Prosodie der Motherese an als auf den
Tonfall der Alltagssprache. Mutter und Kind teilen einen "prälinguistischen" Code, in dem
musikalische Elemente wie Tonhöhe, Sprachmelodie, Rhythmus und Klangfarbe
bedeutungstragend sind. Lange vor dem Spracherwerb versteht das Baby den emotionalen
Gehalt der prosodischen Elemente, die die Mutter – mehr oder weniger unbewusst –
übertreibt und so ihrem Kind Beruhigung, Geborgenheit, Trost oder Bestätigung vermittelt.
Nicht nur das: Klinische Studien haben gezeigt, dass frühgeborene Babys, denen regelmäßig
vorgesungen wird, schneller an Gewicht zunehmen.
Nach Ansicht einiger Wissenschaftler wie z.B. Ellen Dissanayake und Mechthild Papousek
liegt in der Mutter-Kind-Interaktion der Ursprung unserer Musikalität und unserer
emotionalen Beziehung zur Musik. Eine musikalisch ausgeformte Weiterentwicklung der
Ammensprache ist übrigens das Wiegenlied, eine Gattung, die in allen Teilen der Welt
bekannt ist und auch in der Kunstmusik immer wieder verarbeitet worden ist, von der
Kammermusik bis in die Oper und dieSymphonik. Der Gestus des Wiegenliedes ist ein
Archetyp musikalischen Ausdrucks, den wir intuitiv als Signal von Nähe und Geborgenheit
verstehen.
Musikbeispiel: Arie der Zerlina „Batti batti, bel Masetto“ aus der Oper Don Giovanni
von W. A. Mozart
http://www.youtube.com/watch?v=9AE6aO1VrTo
Erläuterung zum Musikbeispiel: Mozarts Zerlina beschwichtigt ihren eifersüchtigen
Bräutigam Masetto mit einer Arie, deren melodische und rhythmische Gestalt an ein
Wiegenlied erinnert. Diese musikalische Umsetzung entspricht der ethologischen
Theorie der Übertragung des Brutpflegeverhaltens auf die Zuwendung zum Partner.
Doch auch hier – wie im Fall der sexuellen Werbung – ist die Botschaft der Musik nur in
geringem Maße referentiell, d.h.: Tonfolgen, Klangfarben und Rhythmen teilen nicht – wie
die Worte der Sprache – pragmatisch eine konkrete außermusikalische Information mit,
sondern sie haben eine affektive Bedeutung. Sie rufen Assoziationen hervor, die mit ihrem
ursprünglichen funktionalen Verhaltenskontext zu tun haben, aber auch stark vom
persönlichen Erfahrungshintergrund abhängen.
9
Falk 2004
Liedloff 1980
10
Gänsehaut
In den letzten Jahren wurde in verschiedenen Studien eine starker emotionale und physische
Reaktion auf Musik untersucht: Das Phänomen der Gänsehaut, des Schauers, der einem bei
bestimmten Musikstücken über den Rücken läuft.
Der Psychologe Jaak Panksepp nennt als Gänsehaut-Auslöser insbesondere Lieder, die von
unerwiderter Liebe und Sehnsucht handeln, aber auch Musik, in der sich patriotischer Stolz
und das Gedenken an gefallene Krieger ausdrückt11. Studien zeigen, dass nicht jeder Mensch
bei der gleichen Musik eine Gänsehaut bekommt; dennoch gibt es musikalische Reize, die
besonders häufig den gewissen Schauer verursachen. Traurige Stücke rufen öfter eine
Gänsehaut hervor als fröhliche, und die Reaktion tritt eher bei einem Musikstück ein, zu dem
man bereits eine Beziehung hat, als bei einem Stück, das man zum ersten Mal hört.
Eine Forschergruppe um Eckart Altenmüller an der Musikhochschule Hannover führte eine
Versuchsreihe unter Laborbedingungen durch. Jeder der 38 Versuchspersonen hörte die
gleichen Musikstücke. Nur 21 Probanden bekamen überhaupt bei irgendeinem der Stücke
eine Gänsehaut. Unter diesen 21 gab es Musiker und Nichtmusiker, ebenso unter den 17
Personen, denen gar kein Schauer über den Rücken lief.12
Die Reaktion hat also wenig mit musikalischer Erfahrung zu tun. Ihre Ausprägung hängt
vielmehr von Persönlichkeitseigenschaften ab, wie psychologische Tests ergaben. „Sensation
seeking“-Persönlichkeiten sind keine Gänsehaut-Typen. Der Gänsehaut-Typ empfindet
bereits subtile Reize intensiv.
Doch wie kommt es überhaupt zu dieser Hautreaktion?
An den Wurzeln unserer Körperhaare setzen winzige Muskeln an, der Haarbalgmuskeln.
Wenn sich diese Muskeln kontrahieren, richten sich die Haare auf und erzeugen kleine
Höcker auf der Hautoberfläche. Als Reaktion auf Kälte ist dieser Mechanismus ein leicht
erklärbares Überbleibsel aus der Zeit unserer Vorfahren, die noch ein dichtes Fell trugen.
Wenn es sich sträubt, isoliert es die Haut besser gegen Wärmeverlust.
Hier vermuten Panksepp und Bernatzky auch den evolutionären Hintergrund der durch
akustische Reize hervorgerufenen Gänsehaut. Sie meinen, dass z. B. der hohe Ton einer Geige
oder einer Flöte phylogenetisch verwurzelte Emotionen auslöst, weil er akustisch den
„Trennungsrufen“ junger Tiere ähnelt, die den Sichtkontakt mit der Mutter verloren haben.
Einsamkeit und Verlorenheit empfinden wir ähnlich wie Kälte, und unsere Säugetiernatur
sträubt dann das Fell, damit uns wärmer wird.13
Gegen diese Hypothese spricht wohl, dass wir diejenigen musikalischen Reize, die eine
Gänsehaut verursachen, als angenehm empfinden. Auch die Gehirnaktivität während der
Musikschauer wurde mit bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht. Dabei zeigt sich ein
Muster, das typisch ist für Euphorie und andere angenehme Gefühle. Ich vermute daher einen
etwas anders gelagerten phylogenetischen Hintergrund des Schauers, den Menschen bei
bestimmten musikalischen Reizen erleben. Die Wärmeregulierung ist nicht der einzige
biologische Grund des Haaresträubens. Es gibt eine weitere Funktion, ein Signal nach außen:
Wenn Tiere sich verteidigen oder angriffslustig drohen, dann machen sie sich größer. Dieser
Effekt kann optisch erreicht werden, indem das Tier sein Fell sträubt und so die Silhouette
seines Körpers vergrößert: Ein Bluff, wenn man so will. Die Redewendung „Mir stellen sich
die Nackenhaare auf“ verrät: Auch bei uns Menschen sträubt sich noch der Rest des Fells,
wenn wir angriffslustig oder verteidigungsbereit sind. Irenäus Eibl-Eibesfeldt weist in diesem
11
Panksepp & Bernatzky 2002
Grewe et al. 2007
13
Panksepp & Bernatzky 2002
12
Zusammenhang auf den „Schauer der Ergriffenheit“ hin, den Menschen erleben, wenn ihre
kollektive Verteidigungsbereitschaft bei feierlichen Gruppenereignissen angesprochen wird,
zum Beispiel beim Singen eines bestimmten Liedes, mit dem sich das Kollektiv identifiziert.14
Freilich würden wir die meisten typischen „Gänsehaut-Stellen“ in Musikstücken, die wir
kennen, nicht auf Anhieb mit Kampflust oder kollektiver Verteidigungsbereitschaft in
Verbindung bringen. Doch wenn wir die musikalischen Momente unter die Lupe nehmen, die
bei Probanden diesen Schauer hervorrufen, dann fällt etwas Interessantes auf: Es sind oft
starke dynamische und besetzungsmäßige Veränderungen: ein anschwellendes Crescendo, ein
plötzlicher Choreinsatz oder der Kontrast zwischen einem einzelnen Soloinstrument und dem
Tuttiklang des Orchesters. Das heißt: Die Musik stellt eine Spannung zwischen dem
Individuum und der Gruppe dar. Der Einzelgänger wird mit der Gruppe konfrontiert oder
schützend von ihr aufgenommen – oder von ihr verlassen: Die Komposition führt uns also das
Bild – man könnte auch sagen, die Illusion – einer existentiellen Situation vor Ohren, auf die
wir unbewusst reagieren. Eine berühmten „Gänsehaut-Stelle“, bei der dieser Zusammenhang
auf der Hand liegt, ist ein kurzer Einwurf des Chores in der Matthäus-Passion von J.S.Bach.
Pontius Pilatus stellt das Volk (das der Chor darstellt) vor die Wahl, entweder Barrabas oder
Jesus freizulassen. Da schreit der Chor in einem dissonanten, markerschütternden Akkord nur:
„Barrabam!“, konfrontiert also den Hörer mit geballter Aggression. Es ist nicht abwegig zu
vermuten, dass der tiefgläubige Protestant Bach die Hörer der Passion hier emotional in
Verteidigungsbereitschaft bringen wollte – und das ist ihm gelungen.
Musikbeispiel:
http://www.youtube.com/watch?v=Q0sr-qmH-To
Doch auch eine viel abstraktere, nonverbale Botschaft kann Erschütterung hervorrufen.
Musikbeispiel: W.A. Mozart, Klavierkonzert Nr. 23 A-dur KV 488, 2. Satz
http://www.youtube.com/watch?v=vne1E6VH23s
Erläuterung zum Musikbeispiel: Nach seiner melancholischen Einleitung wird das
Soloinstrument Klavier (das Individuum) vom akustisch sehr weit aufgefächerten
Orchesterklang (einer großen Gemeinschaft) aufgenommen. Der Orchestereinsatz gilt
als typische „Gänsehaut-Stelle“.
Zum Ende noch einige grundsätzliche Überlegungen, die uns dann zu einer abschließenden
Szene führen werden, die ebenfalls unter dem Motto „Musik und Suggestion“ betrachtet
werden kann.
Knopf im Ohr
Vielleicht ist es aufgefallen, dass ich in den vorangegangenen Betrachtungen etwas forsch
zwei Ebenen vermischt habe: Einmal die musikalische Mitteilung von Mensch zu Mensch in
einem spezifischen Verhaltenszusammenhang, z.B. die Mutter, die zu ihrem Kind singt. Die
musikalische Form ist hier ein besonderer, ein ritualisierter Modus des Sagens, der eine
bestimmte kommunikative Funktion erfüllt. Die zweite Ebene ist die der Musik als „Kunst“,
die keinen Zweck außerhalb ihrer selbst verfolgt: ein Produkt, das hergestellt wird, damit man
es anhört. L’art pour l’art. Die Musikwissenschaftler sprechen auch von „autonomer“ im
Gegensatz zu „funktionaler“ Musik.
14
Eibl-Eibesfeldt 1986
Trotz dieses grundsätzlichen Unterschieds müssen wir uns im Klaren sein: Jedes musikalische
Produkt eines menschlichen Geistes besteht aus Material, aus Ausdrucksbausteinen, die auf
funktionale Verhaltenszusammenhänge zurückgehen, die den Menschen in seiner
Stammesgeschichte zum Homo musicus geformt haben. Das heißt: Eine Klaviersonate, eine
Symphonie, eine Filmmusik bilden nicht nur durch Tonmalerei außermusikalische Sujets ab;
sie „zitieren“ auch immer wieder Grundformen des musikalischen Ausdrucks – Zuwendung,
Selbstpräsentation, Gruppensynchronisation – und diese Elemente sprechen unsere
angeborenen Wahrnehmungsmuster an. Das heißt aber: Wir reagieren auf eine Situation, in
der wir uns nicht wirklich befinden, sondern die mittelbar dargestellt und abgebildet wird. Wir
stehen nicht inmitten einer Volksmenge, die gerade skandiert, dass der Barrabas freigelassen
werden soll; als Hörer einer Matthäus-Passion-CD empfinden wir aber in diesem Moment so
und bekommen vielleicht sogar eine Gänsehaut.
Das ist die typische Situation des Menschen, der Kunst rezipiert: der ein Bild betrachtet oder
einen Roman liest. Musik bildet jedoch Situationen meist nicht eindeutig ab; sie simuliert auf
einer symbolischen, unbewussten Ebene. Sehr konkret wird diese emotionale Illusion jedoch
dann, wenn ein Hörer die starken Reize einer lauten, rhythmischen, perkussiven Musik
empfängt. Sein Körper und seine Psyche reagieren so darauf, als wäre er am Geschehen
beteiligt, als wäre er selbst ein Teil der Gruppe, die diese Musik macht: In einer „archaischen“
Umwelt (in der unser Wahrnehmungssystem geformt wurde!) kann ein Mensch eine solche
Reizintensität nur dann erleben, wenn dicht um ihn herum getrommelt und laut gesungen wird
und er selbst möglicherweise auch trommelt oder laut singt. – Unser moderner Hörer sitzt
aber ruhig in einer S-Bahn, er interagiert nicht mit einer Gruppe, er ist im Gegenteil durch
Ohrstöpsel abgeschottet von seiner realen Umgebung. Durch die Musik, die aus allernächster
Nähe an sein Ohr dringt, taucht er emotional in ein scheinbares Gemeinschaftserleben ein – in
Wirklichkeit schafft er gerade durch sein Verhalten Einsamkeit.
Möglicherweise ist das Massenphänomen „Knopf im Ohr“ vor diesem Hintergrund besser zu
verstehen. Je unmittelbarer die Beschallung und je stärker der Puls der Perkussion, desto tiefer
taucht der einsame Hörer in ein virtuelles Gruppen-Synchronisations-Erleben ein.
Von der Loreley zum iPod: Wenn unsere Musikalität eine spezifische evolutionäre
Verhaltensanpassung ist – und dafür spricht einiges – dann ist es auch wahrscheinlich, dass
die ursprünglichen Funktionszusammenhänge des musikalischen Verhaltens und der
musikalischen „Sprache“ in unserem musikalischen Erleben mehr oder weniger bewusst auch
heute präsent sind und unterschwellig verstanden werden. Aus der Perspektive einer
evolutionären Musikpsychologie ist es daher kein Mysterium, dass Töne, Rhythmen und
Klangfarben eine suggestive Wirkung auf unsere Stimmung und unser Verhalten ausüben und
dass der Topos des „Zaubers der Musik“ tief in unserer Vorstellungswelt verankert ist.
Ein weiterführender Gedanke im Hinblick auf die therapeutische Praxis:
Es wäre zu überlegen, inwieweit die anthropologischen Funktions- und
Verhaltenszusammenhänge musikalischer Ausdrucks- und Mitteilungsformen auch für die
musiktherapeutische Praxis noch differenzierter nutzbar gemacht werden können. Musik ist
nicht gleich Musik. Verschiedene Grundkategorien des musikalischen Ausdrucks
repräsentieren sehr unterschiedliche, teils auch geschlechtsspezifische Verhaltenssituationen:
Geborgenheit, Beruhigung, Bewegungsanreiz, kollektive Kampfbereitschaft,
Selbstdarstellung, Kommunikation mit dem Transzendenten. Alle diese Situationen und
Affekte können musikalisch angesprochen oder auch „suggeriert“ werden.
Literatur
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