Stefan Weidner Das Heilige und die Konflikte Das vergangene Jahr

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Stefan Weidner
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as Heilige und die Konflikte
Das vergangene Jahr war wieder reich an Konflikten zwischen westlicher und islamischer Welt.
Auffällig war dabei, daß es sich dabei nicht nur um die bekannten, seit 2001 neu eröffneten
militärischen Schauplätze handelte (Afghanistan, Irak, Israel-Palästina/Libanon), sondern daß
zunehmend kulturell grundierte Konflikte die Diskussionen bestimmen. Die Beispiele sind schnell
aufgezählt: Der Streit um die Mohammed-Karikaturen, um den Film von Theo van Gogh, um die
Rede des Papstes; der nach wie vor bestehende Kopftuchstreit in vielen europäischen Ländern,
die Diskussion über die Rolle und die Integration von Migranten aus der islamischen Welt.
Es fällt leider schwer, der düsteren Prognose von Huntington nicht recht zu geben. Wir befinden
uns in einem „Clash of Civilisations“ oder in einem „Kampf der Kulturen“, wie der deutsche Titel
des Buches von Huntington lautet. In diesem Meinungskampf bestehen die unterschiedlichsten
Positionen, auch innerhalb der einzelnen Lager selbst. Viele Menschen im Westen wollen es
muslimischen Frauen völlig frei stellen, wie und bei welcher Gelegenheit sie sich verschleiern;
andererseits gibt es viele säkularisierte Muslime, die gegen das Kopftuch argumentieren. Es gibt
Muslime, die wie etwa Prof. Mohammed Kalisch, der an der Uni Münster die Islamlehrerausbildung
leitet, für die völlige Pressefreiheit in Religionssachen plädieren, und andererseits wollen bei uns
viele die Presse vehement zur Verantwortung rufen.
So unübersichtlich die Situation (oder martialisch ausgedrückt, der „Frontverlauf“ in diesem
Kulturkampf) auf den ersten Blick scheint, der kulturelle Kern der Auseinandersetzungen läßt
sich genau bestimmen, wenn man zu den Vorfällen nur ein wenig Abstand einnimmt. Dies sei
hier in aller Kürze versucht.
Ein Schlüssel, mit dem wir zur Wurzel der kulturellen Konflikte gelangen oder anders gesagt, mit
dem wir den Code entziffern können, in welchem politische, ökonomische und soziale Konflikte
kulturell codiert werden, wäre das Heilige - das unterschiedliche Verständnis dessen, was den
widerstreitenden Kulturen als heilig gilt.
Für den Islam ist dieses Heilige konkret faßbar und leicht zu benennen. Es ist die Person des
Propheten Mohammed, wie die islamische Tradition ihn sich vorstellt, und es ist der Koran.
Mohammed und der Koran sind die Quellen des Heiligen im Islam. Was auch immer von
gläubigen Muslimen (und oft auch säkularisierten) als heilig erachtet wird, kann und muß auf
Mohammed oder den Koran zurückgeführt werden, sei es eine bestimmte Idee von der Welt, eine
religiöse Vorstellung oder das Verständnis von Recht und Unrecht. Daß Heiligkeit im Islam auf
diese beiden Quellen zurückzuführen ist, gilt sogar für die volkstümliche Mystik, wenn etwa ein
Heiliger wie z.B. in Marokko als Sharif gilt, also als ein Nachkomme des Propheten. Und es gilt
auch, wenngleich mit Hilfe des Umwegs über den Prophetenschwiegersohn und Ali (und dessen
Sohn Hussain) für die Schiiten. Die Partei Alis (Schiat Ali) bezieht im Glauben der Schiiten ihre
Heiligkeit aus der größeren verwandtschaftlichen und geistigen Nähe zum Propheten.
Was im Westen heutzutage als heilig verstanden wird, ist schwerer zu fassen. Zyniker oder
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radikale Kulturkritiker könnten womöglich die Behauptung aufstellen, im Westen gäbe es gar
nichts Heiliges mehr. Auch viele Muslime scheinen zu glauben, daß dem Westen nichts wirklich
heilig ist. Interessanterweise ist es gerade der Konflikt mit dem Islam, der das bislang weitgehend
verborgene Heilige im Westen sichtbar macht. Es bedürfte einer geistesgeschichtlichen Studie,
um die heutige Gestalt und die geschichtlichen Wandlungen des Heiligen im Westen genau
zu bestimmen. Für unsere Zwecke reicht folgende recht einfache, aber doch wohl schlüssige
Definition.
Das Heilige im Westen heute ist das Individuum, der individuelle Mensch, zunächst ganz
konkret begriffen als Körper und in all seiner Körperlichkeit, ferner in seinem Denken und
seinen Vorstellungen, was immer diese seien – natürlich auch, wenn sie nicht westlich, zum
Beispiel islamisch sind. Nebenbei sei darauf hingewiesen, daß dies, was uns heute im Westen
so selbstverständlich scheint, lange Zeit äußerst umkämpft war. Noch im nationalsozialistischen
Deutschland war der Körper und das Individuum keineswegs geheiligt, und wenn ich dies sage,
spiele ich nicht nur auf die die Verfolgung von Juden und Regimegegnern an, sondern meine
auch die Leichtfertigkeit, mit der für vermeintlich höhere Kriegsziele sogar „gute Deutsche“ (im
Sinne des damaligen Regimes) millionenfach in den sicheren Tod geschickt wurden.
Der individuelle Mensch in seiner körperlichen Gestalt und mit seinem Bewußtsein, seinem
Denken, seinen Meinungen wäre also nach unserer Definition heute im Westen das Heilige.
Daher nimmt es kein Wunder, daß sich an der Frage des Schleiers der Kampf der Kulturen
besonders entzündet. Der Schleier verhüllt die individuelle Gestalt, zumal wenn es sich um
einen Schleier handelt, der einen Großteil des Gesichts (das Erkennungsmerkmal einer Person)
verhüllt. In Italien wird daher ein Gesetz diskutiert, daß den Schleier, der das ganze Gesicht
verhüllt, verbietet.
Auch der andere Reibungspunkt, die Meinungsfreiheit in religiösen Dingen, erklärt sich nun
leicht: Im Westen ist jede individuelle Meinung legitim, so absurd sie sein mag, selbst wenn sie
von den anderen Menschen nicht geteilt wird. Eine solche Meinung darf auch geäußert werden,
solange diese Meinungsäußerung nicht darauf abzielt, anderen Schaden zuzufügen. Daher kann
jeder über den Propheten nicht nur denken, sondern auch sagen, was er will.
Wir stellen fest: Durch die bloße Tatsache, daß im Westen das Individuum mit seinem Körper
und seinem Denken als heilig gilt, ist der Streit mit dem Islam vorprogrammiert. Das Heilige im
Islam wird immer dann verletzt, wenn das Heilige im Westen besonders vehement hervortritt
– und das Heilige im Westen wird immer dann verletzt, wenn das Heilige im Islam vehement
hervortritt. Da Westen und Islam heute immer mehr Berührungspunkte haben versteht es sich,
daß auch die gegenseitigen Verletzungen zunehmen.
Auch wenn aufgrund dieser Annahmen verständlich wird, warum wir uns gegenseitig verletzen,
sei Frage gestellt, ob diese Verletzungen unausweichlich sind oder ob es nicht vielleicht Wege
gibt, sie zu reduzieren. Nehmen wir das Beispiel des Schleiers, um einige Lösungsmöglichkeiten
aufzuzeigen, Lösungsmöglichkeiten, die in der Öffentlichkeit auch diskutiert werden. Ein Schleier,
der nur die Haare bedeckt, kann auch im Westen kaum als Verletzung des Individuums begriffen
werden – im Gegenteil, es gehört mit zur Freiheit des Individuums, einen solchen Schleier
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tragen zu können. Tatsächlich können muslimische Frauen im Westen überall ungehindert den
Schleier tragen, mit einigen wenigen Ausnahmen, wie etwa in den französischen Schulen oder
in manchen Bundesländern in Deutschland Lehrerinnen. Leider sind es gerade diese Ausnahmen
die das islamische Heilige unnötig verletzen. Im Sinne der Entschärfung des Kulturkampfes
scheint es daher vernünftig, daß diese Ausnahmen rückgängig gemacht werden.
Von islamischer Seite ergibt sich hingegen Spielraum in der Frage, wie heilig der Schleier wirklich
ist und wie streng er getragen werden muß. Zum einen ist umstritten, was der Koran und der
Prophet zum Schleier sagen, ob wirklich ein Kopfschleier gemeint ist oder nur ein Tuch, das die
Schultern bedeckt. Selbst wenn sich die islamische Tradition mehrheitlich für den Kopfschleier
entschieden hat, ist ein Schleier, der das ganze Gesicht bedeckt – und damit das westliche Gefühl
für etwas Heiliges verletzt – meiner Ansicht nach eine übertriebene Auslegung dessen, was im
Islam als heilig gilt. Nichts Heiliges im Islam, keine prophetische oder koranische Vorschrift wird
verletzt, wenn eine Frau ihr Gesicht zeigt.
In der Frage des Schleiers wäre eine gegenseitige Verletzung also nicht nötig. Tatsächlich ergeben
sich die heftigsten Konflikt auch nur dort, westliches und islamisches Verständnis des Heiligen
sich überschneiden, etwa bei Mädchen aus muslimischen Familien, die im Westen aufwachsen.
Legen sie den Schleier ab, verletzen sie das islamische Heilige. Legen sie ihn nicht ab, besteht der
Verdacht, daß ihre Familie sie zwingt, den Schleier zu tragen, so daß also das westliche Heilige,
nämlich die individuelle Freiheit, verletzt wird. Dies ist ein Dilemma, für das es keine definitive
Lösung gibt. Es gäbe jedoch einen Weg, dem Problem in positivem Sinne auszuweichen, und
dieser bestünde darin, die jeweilige Realität, also das, was ein solches Mädchen tatsächlich tut,
einfach zu akzeptieren, gleich ob sie den Schleier ablegt oder nicht. Dies würde bedeuten, daß
beide Seiten das ihnen jeweils Heilige dem anderen nicht aufdrängen wollen; das ist schwierig,
aber es sollte versucht werden. Wenn beide sich daran halten, kann es gelingen.
Abschließend sei zumindest in einem weiteren großen Feld der Auseinandersetzung eine
Lösungsmöglichkeit angedeutet, und zwar in der Frage der Meinungsfreiheit. Auch hier spielt sich
der Konflikt vorwiegend dort ab, wo eine Schnittmenge von westlichem und islamischen Publikum
besteht. Durch den wachsenden Umfang der Migration einerseits, durch die transnationalen
Medien andererseits wächst diese Schnittmenge stetig und damit auch die Gefahr der Konflikte.
Noch vor fünfzehn Jahren (vor Internet und Satellitenfernsehen) wäre es wohl unmöglich
gewesen, daß eine dänische Provinzzeitung einen Sturm der Entrüstung in der islamischen Welt
auslöst. Das gleiche gilt für die Rede eines Papstes im Hörsaal einer bayerischen Universität.
In dem Problem steckt zugleich die Lösung verborgen. Anders als früher ist eben heute töricht
(wie im Fall des Papstes) oder eine böswillige Provokation (wie im Fall der dänischen Zeitung)
so zu tun und so zu sprechen, als gäbe es die neuen Medien und das viel größere, gemischt
kulturelle Publikum nicht. Um unnötige Verletzungen beim anderen zu vermeiden, müssen wir
uns der Kontexte bewußt sein, in denen wir sprechen.
Wenn ich zum Beispiel eine negative Meinung vom Propheten hätte, so wäre es meiner Ansicht
nach mein gutes Recht, diese Meinung zu äußern, auch öffentlich, zum Beispiel in dieser Zeitung.
Ich bin mir auch sicher, daß es darüber zu keinem Massenaufstand kommen würde. Ganz anders
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wäre es aber, wenn ich, wie nämlich der Papst, in einer offiziellen Funktion wäre, zum Beispiel
der Leiter eines Goethe-Instituts in der islamischen Welt. In einem solchen Fall wäre es eine
unsinnige Provokation, wenn ich meine persönliche Meinung öffentlich äußern würde. Und auch
die dänische Zeitung zielte ja bekanntlich auf eine Provokation ab, weswegen es gleich zu einer
ganzen Serie von Karikaturen kam. Beachten wir die Kontexte, in denen wir unserem eigenen
Heiligen gerecht zu werden versuchen, werden wir die grobe und unnötige Verletzung des
anderen vermeiden können.
Es ist klar, daß die hier skizzierten Lösungsmöglichkeiten solange Theorie sind, wie nichtkulturelle
Interessen die Konflikte weiter schüren und sie kulturell codieren. Für diejenigen jedoch, die einen
klaren Kopf bewahren und in der Lage sind, kulturelle von politischen Konflikten zu unterscheiden,
dürfte es wohltuend sein, zu wissen, daß der Kampf der Kulturen kein unabänderliches Schicksal
ist.
© Stefan Weidner 2006
[email protected]
Stefan Weidner, geb. 1967, lebt als Autor in Köln. Im Herbst 2006 ist von ihm erschienen: „Fes.
Sieben Umkreisungen“ Erzählung. Mit 21 Fotografien des Autors (Ammann, Zürich) sowie das
Jugendsachbuch: „Allah heißt Gott. Eine Reise durch den Islam“ (Fischer Schatzinsel).
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