Der Kirchenchor: singende Gemeinde von Johannes Rau erschienen in: „Der Weg“, 1954/20 Ein Besuch bei Barmen-Gemarke der Kantorei Wo Christen zur Ehre Gottes singen und spielen, da ist Gottesdienst. Wo aber die Musik um ihrer selbst willen, wegen der „Aesthetik an sich“ getrieben wird, da sieht der Meister Johann Sebastian Bach „keine eigentliche Musik, sondern ein teuflisches Geplärr und Geleier“! Wer könnte sagen, wann das erste Bild gemalt, das erste Lied gesungen, der erste Vers gesprochen worden ist? Aber wir wissen, daß Gott gelobt und gerühmt wird mit Liedern und Instrumenten, solange es Lieder und Instrumente gibt. Solange es „Kirche“ gibt, gibt es „Kirchenmusik“, solange das Volk Gottes zusammen ist, singt und musiziert es. Davon reden die Psalmen und die alttestamentlichen Bücher, dazu ruft Paulus die Gemeinden in Ephesos und Kolossä. Martin Luther weiß uns sogar zu sagen: „Die edle Musika ist nach Gottes Wort der höchste Schatz auf Erden!“ Er geht hart um mit den Kunstverächtern, die das gesungene und musizierte Lob Gottes über sich ergehen lassen wie taube Leute: „Wer es nicht für ein unaussprechliches Wunderwerk des Herrn hält, - der muss wahrlich ein grober Klotz sein, der nicht wert ist, daß er solche liebliche Musik höre.“ Denken wir also zum Sonntag „Kantate – Singet!“ daran, daß wir mit Luthers Worten grobe Klötze und „rechte Ochsen“ sind, wenn wir diese Gabe verschmähen. Beginnen wir wieder zu singen, nehmen wir unser Singen im Gottesdienst wieder als Gebet und als Verkündigung! Einordnung in den Gottesdienst Wir haben zu diesem Sonntag Kantate einen unserer rheinischen Kirchenchöre besucht, mit seinem Leiter gesprochen über die mannigfachen Aufgaben dieses Chores, aus der Arbeit der letzten Jahre gehört und wollen unseren Lesern davon berichten. Dieser Chor ist in manchen Dingen beispielhaft; aber die wenigsten Chöre können sein wie er – sie sollten auch gar nicht in allen Dingen sein wie er: „Es sind mancherlei Gaben!“ Wir meinen die Kantorei Barmen-Gemarke, die nun seit 1946 unter ihrem Leiter, dem Kirchenmusikdirektor Helmut Kahlhöfer, singt und musiziert. Jawohl – ein reformierter Chor; es liegt im Wesen der reformierten Theologie, dass hier das „Kultische“ und „Musische“ viel weniger als bei den lutherischen und unierten Gemeinden zur Geltung kommt. Ein Chor also, der sich dem reformierten Gottesdienst in seiner besonderen Gestaltung anzupassen und einzuordnen hat. Das ist sein erstes Merkmal. Immer wieder hat besonders die geistliche Musik den Menschen zum Lob Gottes gebracht; oft hat sie ihm etwas von den Quellen gezeigt, aus denen die Christen seit zweitausend Jahren leben. Das sagt uns der Philosoph Immanuel Kant: „Ich glaube durch meine Philosophie mit allem im klaren zu sein – wenn ich aber einen evangelischen Choral höre, so gibt mir das einen Frieden, den mir meine Philosophie nicht gibt.“ Ungezählte Stimmen bezeugen die Macht der geistlichen Musik, des Singens in den Gottesdiensten und Passionen. Aber auch das andere müssen wir uns sagen lassen: daß hier immer wieder Kräfte frei werden, die den Menschen ganz beanspruchen können. Goethe sagt einmal, niemand sei imstande, sich von der Wirkung der Musik selbst Rechenschaft zu geben, denn „in der Musik ist im höchsten Grade etwas Dämonisches“. Seite 1 als Gemeindeglieder gestellt, als Konzertbesucher, wenn wir in den Bänken der Immanuelskirche Kantaten und Passionen, mehrstimmige Chorsätze und Instrumentalmusik hörten. Das zweite ist dies: Die Kantorei gehört zu den besten kirchenmusikalischen Vereinigungen unserer rheinischen Kirche. Sie kann singen, und das hat sich herumgesprochen. So kann’s geschehen, dass die Kantorei in einem Jahr bei mehr als vierzig Anlässen singt, daß ihre Kirchenmusiken in der Barmer Immanuelskirche zumeist recht gut besucht sind und daß bei Passionen und Oratorien eine Aufführung oft nicht ausreicht. Ja, auch Instrumentalmusik – Helmut Kahlhöfer selbst, Organist der Gemeinde, ist zumeist auf der Orgelbank zu finden, wenn er nicht den „Stab“ zu führen hat. Er hat in den letzten Jahren Prof. Michael Schneider, Prof. Helmut Walcha und zahlreiche andere gute Instrumental- und Gesangssolisten nach Wuppertal geholt, kleine Kammerorchester zusammengestellt, in denen zumeist junge Menschen musizieren, Konzerte veranstaltet, in denen beste Kräfte mit dem Chor Kirchenmusik gestalteten. Ja, auch Instrumentalmusik! Ironische Leute sagen, die Zugehörigkeit zur Kantorei sei „mindestens ein Hauptberuf“. Da wird viel verlangt. Und dennoch sind die 55 Sänger und Sängerinnen bei der regelmäßigen strengen Probe am Donnerstagabend da. Sie unterziehen sich außerdem mancher Sonderprobe, sind per Eisenbahn und per Omnibus unterwegs, sie singen unmittelbar zur Gemeinde oder stehen vor dem Mikrophon des NWDR, zu dem sich die Kantorei in gute Beziehungen gesungen hat, in dessen Programm sie schon oft zu hören war. Aber wie steht es um die besondere Aufgabe eines Kirchen-, eines Gemeindechores? Wird hier wirklich Gottes Wort oder nur irgendeine barocke Passion gesungen, in der das wahre Heilsgeschehen durch den Schleier unserer Aesthetik verbrämt und konzertreif gemacht wird? Sind diese 55 Sänger nicht zum Teil musikbegeisterte Leute, die sich nur zufällig in einem Kirchenchor zusammengefunden haben? Nicht jeder Kirchenchor gestaltet eigene Konzerte, nicht jeder sollte es tun. Wahrscheinlich gehört dazu weit mehr Können, als es – leider – in den meisten unserer Kirchenchöre bis heute vorhanden ist. Die Kantorei weiß, daß ihr mit der geistlichen Musik eine ganz besondere Aufgabe gestellt ist. Guter Wille ist eine schöne Sache; aber wo es um Lob und Verkündigung geht, sollte man über die Anstrengung des Willens hinaus die gültige, sachgemäße Ausdrucksform finden, die zur geistlichen Musik gehört. In unserem Gespräch hat Helmut Kahlhöfer diese Frage zu beantworten versucht, soweit sie uns nach eigenen Erfahrungen nicht schon klar war: „Ich kann nicht sagen, daß alle Kantorei-Glieder nur um der Verkündigung willen singen. Sicherlich ist ihnen die Musik, das musische Erlebnis wichtig; aber eben nicht nur dies: das Ziel ist, daß wir als Kantorei und als einzelne in der Gemeinde stehen, nicht bloß äußerlich (unser eigener Dienst lässt andere Aufgaben leider meist nicht zu), sondern mit ganzem Herzen. Natürlich sind wir dabei immer auf dem Wege.“ Ein guter, reformierter Kirchenchor also, der oft in Konzerten singt und 55 geschulte Glieder hat (das sind keine ausgebildeten Sänger, sondern Menschen, die gern singen und singen können, weil sie an sich arbeiten und an sich arbeiten lassen) – ist das alles? Welche Unterschiede bestehen dann überhaupt zwischen diesem Chor und einem weltlichen Singekreis? Ist es nur die Stoffauswahl? Wie so oft geschah es den Hörern in der Kirche und am Rundfunkgerät, beim Gottesdienst und im Konzert, daß ihnen dieser Schleier der Aesthetik, die stete Gefahr aller Künste, zerrissen wurde: in den strahlenden Klängen des festlichen Weihnachtsoratori- Wir haben Helmut Kahlhöfer diese Frage sehr offen gestellt. Wir haben sie uns selbst Seite 2 ums, in der Schütz’schen Vertonung des 116. Psalmes oder in einer der „modernen“ Motetten Hugo Distlers, der selbst einmal die „klar umrissene Aufgabe“ der Musik im Gottesdienst die „verherrlichende Deutung des Gotteswortes“ nannte! Wie manchmal mag es geschehen sein, daß hier das gesungene Wort Mahnung und Ruf der Predigt unterstrich, bekräftigte – vielleicht ohne das Zutun der Sänger! Die Musik, die geistliche Musik hat für die Leute von der Kantorei nicht den Anstrich eines Feiertag-Vergnügens und schöner Wochenendbeschäftigung „höheren Grades“, sie ist ihnen Lebenselement. Das kann man spüren. Und manches einzelne Gespräch hat uns gezeigt, wie sehr auch – nein, wie sehr zuerst das Bibelwort die Grundlage dieses Singens ist. „Man kann da einfach auf die Dauer nicht singen, ohne irgendwann von diesem Wort in die Gemeinde gezogen zu werden“, sagte eine Sängerin auf unsere Frage. Wesentlich ist auch der Barmer Kantorei vor allem das Kirchenlied, der Choral, die Aufgabe des Chores im Gottesdienst. Von hier aus, von diesem schlichten Dienst her müssen sich alle anderen Aufgaben ergeben, hier müssen sie sich „rechtfertigen“ können. Wenn es eben geht, singt die Kantorei in jedem zweiten Hauptgottesdienst in der Immanuelskirche. Diese Linie dürfte in Zukunft noch stärker sichtbar werden. Ein Musikausschuss der Gemeinde betreut die Kantorei, berät und empfiehlt und versucht zu helfen. Als wir davon sprechen, ist die Frage nach den Statuten fällig. Aber die Kantorei hat keine Statuten, keinen Vorstand und keine Sitzungen mit Protokollführern und Ehrenmitgliedern. Es geht auch so. Als wir vom Geld und Verlust und den nächsten Notenkäufen sprechen, hören wir aber vom „Freundeskreis“, der nun bald einmal wieder in Aktion treten soll und muß. Er bildete sich aus Gliedern der Gemeinde und der Umgebung, die durch Spenden die Arbeit der Kantorei immer wieder stützen und tragen. Wie finanziert der Chor all seine großen Aufgaben, die Reisen und die Noten? Aus den Erträgen der Konzerte, die allerdings meist gering sind und aus den Übertragungen des Rundfunks. Die Kantorei ist finanziell nahezu unabhängig von der Gemeinde – aber in ihrem Auftrag weiß sie sich fest gebunden. Ihre Heimat ist die Gemeinde – eine schwache und menschliche Heimat wie jede. Wer Glied der Kantorei werden möchte, wird „geprüft“. Und schon laufen die schönsten Gerüchte um: Daß man „vom Blatt singen“ und beste theoretische Kenntnisse aufweisen müsse, dass die Stimme nicht weit hinter Caruso und der Schwedischen Nachtigall zurückstehen dürfe… Nun, wer dort singen möchte, muss ein wenig singen können und sollte musikalische Begabung haben. Alles übrige ist ein Teil des Kantorei-Nymbus, der sich immer bildet (leider auch bei Sängern), wo man oft in der Zeitung steht. So ist die Kantorei kein „Star unter den Kirchenchören“, auch wenn sie der bekannteste im Rheinland sein dürfte. Helmut Kahlhöfer mag die Selbsteinschätzung und das Eigenlob nicht, er nimmt auch fremdes Lob nicht „unbesehen“ an – jeder Erfolg soll zu neuen Aufgaben und zu neuen Verpflichtungen reif machen. Da hört man ein Flötenkonzert – nur langsam geht die Hörergemeinde den Ausgängen zu. Und während sich die Kirche allmählich leert, erklingen Flöten und Geigen und Cembalo (die Kantorei hat sich ein eigenes „zusammengesungen“) noch einmal. Das ist nicht programmgemäß und nicht vorbereitet – für die Hörer aber, die sich noch einmal in die Bänke setzen, ist es der schönste Teil eines reichen und reifen Abends. Nur wenige haben sich je „freiwillig“ aus dieser Schar herausgelöst. Die Stimmen sind stark genug geworden, ausgewogen und ausgeglichen, geschult und geübt. Seit kurzem besteht ein Jugendsingekreis. Vielleicht wird von da ein Teil des Nachwuchses kommen? Seite 3 Gemarke – nur etwa die Hälfte der Sängerinnen und Sänger sind Gemarker, die anderen kamen aus den Nachbargemeinden allmählich dazu, und niemand kann sie unterscheiden und trennen. Bemühen um werkgetreues und sinnvolles Singen wird nicht „die ganze Seele in das Werk gelegt“, sondern versucht, dem Werk in seiner geistigen Grundhaltung zu entsprechen. Hier gilt es: was meint der Komponist? Was will dieses oder jenes Werk mit seiner besonderen Anlage? Aller Dilettantismus muß hier aufhören: wo es um Gottes Wort geht, da wird es denn auch in musikalischer Beziehung ernst. Da ist die gute Wiedergabe Vorbedingung. Aus der gemeinsamen Arbeit vieler Jahre ist eine Freundschaft erwachsen, die schöne Früchte trägt: man tut dies oder jenes zusammen, man musiziert hin und her in den Häusern gemeinsam -; aber man hat keinen „Geselligkeitsausschuß“ und weder ein Sommer- noch ein Jahres- oder ein Stiftungsfest, keine Tombola und nichts dergleichen. Wie gesagt: selbst der demokratische Vorstand fehlt. Das hat sich herumgesprochen. Die Kantorei ist nicht mehr unbekannt. Vielleicht kann sie uns am Sonntag Kantate dazu aufrufen, auch unser Singen wieder ernster zu nehmen? Auch in unserem Kirchenchor immer mehr nach oben zu streben? Nicht nach den grösseren Aufgaben, sondern nach der besseren, gültigeren und damit auch sachgemäßeren Form zu suchen? – Damit soll die Kantorei Barmen-Gemarke auch heute nicht zum „Starchor“ gemacht werden. Da geschehen Fehler, da kann etwas verunglücken, und der Erfolg ist nicht immer gleich. Sollen wir diesen Erfolg aber überhaupt suchen? Sollen wir ihn und uns so wichtig nehmen? Oder sollen wir loben, singen – in unserer Schwachheit, aber auch nach unserem Können, mit echter Demut, aber um das Wort bemüht, um das Wort, das immer und allein der Mittelpunkt unseres Singens sein sollte und sein muß? Vielleicht gibt uns der Sonntag Kantate diese Frage wieder auf. Dann hören wir Johann Ahle richtig: Werktreue ist Vorbedingung Bleibt eine Frage bis zum Schluß: wie singt die Kantorei? Es mag ja schließlich manches andere unwichtig und zweitrangig sein, diese Frage ist es sicherlich nicht. – Die Leute sagen „wunderschön“, und die Kritiker schreiben von „makelloser Phrasierung, ein Chor, der zu den besten unserer Stadt gehört“, „ein Musiker von Format“, wenn sie von Helmut Kahlhöfer reden (er ist selbst Wuppertaler und nach einem gründlichen Studium und der Tätigkeit an anderen Orten nach Wuppertal zurückgekommen). Wie singt die Kantorei? Das verschwommene Schwelgen in Tönen, das manche Leute „inneres Mitgehen“ nen„Sonderlich lernet auch singen und klingen, nen, ist hier unbekannt. Hier wird das Wort dass ihr dem Herrn Lobopfer könnt bringen, so geformt, daß man es verstehen kann. Es daß ihr ihn dankbarlich könnet erhöh’n, wird zuchtvoll gesungen. Ein solches Singen wenn er viel Gutes auch lasset gescheh’n.“ lässt keine Solisten aufkommen, die besonders befähigt sind. Es erfordert exaktes Hinhören, genaues und demütiges Dabeisein. Im ___________________________________________________________________________ Über seinen Aufsatz von 1954 schreibt Johannes Rau 1996 als Ministerpräsident von NordrheinWestfalen in seinem Grußwort zur Festschrift „50 Jahre Kantorei Barmen-Gemarke“: (…) In jungen Jahren, als mich noch kein Beruf und kein Amt aufzufressen drohten, habe ich als „Zeitungsmann“ geschrieben: (…) Und daß ich für den (damals noch großformatigen) „Weg“ einmal eine ganze Seite über die Kantorei schreiben durfte, das war für mich selber doch so etwas wie ein publizistischer Ritterschlag. Ich ging auch hin, wenn nichts zu schreiben war. (…) Seite 4