Camille Saint-Saëns (1835 - 1921): Messe op. 4. "Camille Saint-Saëns ist eine der erstaunlichsten Musikerpersönlichkeiten, die ich kenne. Ein Musiker, der mit allen Waffen gerüstet ist, der sein Handwerk beherrscht wie kein anderer; er kennt die grossen Meister auswendig; er hat eine aussergewöhnliche Anpassungsfähigkeit und könnte ohne weiteres ein Werk im Stil Rossinis, im Stil Verdis, im Stil Schumanns, im Stil Wagners komponieren; er kennt sie alle bis ins kleinste, und das ist vielleicht der sicherste Weg, um keinen von ihnen zu imitieren." Dies sagt sein Zeitgenosse und französischer Komponisten-Kollege Charles Gounod über den Komponisten der Messe, die der Cäcilienverein Affoltern am Albis am Ostersonntagmorgen im feierlichen Hochamt singt. Camille Saint-Saëns war, wie früher Wolfgang Amadeus Mozart, ein Wunderkind. Er schrieb seine erste Komposition, einen Galopp für Klavier, im Alter von vier Jahren. Die Messe op. 4 für Solisten, Chor, Orgel und Orchester komponierte er mit 21 Jahren, als er Organist an der Église Saint-Merri im Marais war und bereits mit zwei Sinfonien grosse Erfolge gefeiert hatte. 1857, also mit 22 Jahren, wurde Camille Saint-Saëns an die bedeutenste und sehr lukrative Organistenstelle der Église de la Madeleine von Paris berufen. Er war Organist mit Leib und Seele und liebte es sehr, auf dem Instrument zu improvisieren. Deshalb erstaunt es nicht, dass von der Messe op 4 auch eine Fassung ohne Orchester, dafür mit zwei Orgeln, einer konzertierenden grossen und einer begleitenden kleinen, existiert. Der deutsche Komponist Franz Liszt war sehr begeistert von dieser kirchenmusikalischen Komposition. Er nannte sie viele Jahre später "ein grossartiges, herrliches Meisterwerk, das einer wunderbaren gothischen Kathedrale gleicht, in der Johann Sebastian Bach seine Kapelle haben könnte". Eigenartigerweise ist das "Kyrie eleison", der erste Satz der Messe, mit Abstand der längste, obschon er am wenigsten Text enthält. Diese Bitte um Erbarmen ist bewusst im traditionell imitierenden Stil des erfolgreichsten Renaissance-Komponisten Giovanni Perluigi da Palestrina (1525-1594) gehalten. Auch die Kontrapunkttechnik Johann Sebastian Bachs lässt sich darin erkennen. Zwischen den vom Chor gesungenen Abschnitten spielt die Orgel immer wieder längere Solopartien. Die übrigen Sätze der Messe sind eher kurz und versprühen den stimmungsvollen, warmen Charme der französischen Romantik mit charakteristischer "Melodienseligkeit". Der junge Camille Saint-Saëns komponierte einige sehr erfolgreiche kirchenmusikalische Werke (z.B. "Ode à Sainte-Cécile", "Oratorio de Noël"). Mit 43 Jahren feierte er triumphalen Erfolg mit seinem Requiem. Erstaunlicherweise schuf er nachher während dreissig Jahren kein einziges geistliches Werk mehr. Erst im Alter von 73 Jahren vertonte er wieder einen Psalm. Dazwischen widmete er sich Bühnenwerken, wie Balletten und Opern (z.B. Samson et Dalila), sowie grossen Instrumentalwerken, wie der zoologischen Fantasie "Carnaval des Animaux", deren "Schwan" heute häufig in Wunschkonzerten auftaucht, oder der monumentalen Symphonie für Orgel und Orchester, deren signifikantes Maestoso die Reggaeadaption "If I Had Words" 1978 in die Charts führte. Camille Saint-Saëns war ein sehr einflussreicher Pianist, Organist, Komponist, Musikwissenschaftler, Musikpädagoge Frankreichs. Er gründete zusammen mit César Franck die "Société Nationale de Musique“ und wurde in die Akademie der schönen Künste gewählt. Er starb 1921 während einer Reise in Algier und wurde im Pariser Friedhof Montparnasse beigesetzt. Alois Heer