077907-6 Buddhismus und Komparative Theologie_7 Stand 09.10

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Klaus von Stosch, Hermann-Josef Röllicke, Daniel Rumel (Hg.)
Buddhismus und Komparative Theologie
BEITRÄGE ZUR KOMPARATIVEN THEOLOGIE
HRSG. VON
KLAUS VON STOSCH
BD. 17
Klaus von Stosch, Hermann-Josef Röllicke,
Daniel Rumel (Hg.)
Buddhismus und
Komparative Theologie
FERDINAND SCHÖNINGH
Umschlagabbildung:
Statue des Buddha Amida im Shin-buddhistischen Ekō-Tempel (Düsseldorf)
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© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany.
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-77907-6
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG ..............................................................................................
7
I. Möglichkeiten und Grenzen Komparativer Theologie
HERMANN-JOSEF RÖLLICKE
Die Unvergleichbarkeit der prajñāpāramitā –
eine Lektüre des „Acintya“-Kapitels des Aṣṭasāhasrikā-prajñāpāramitāsūtra (Chin.: Daoxing jing) . ........................................................................ 13
KLAUS VON STOSCH
Wie komparativ ist eigentlich die Komparative Theologie? –
eine Response auf Hermann-Josef Röllicke................................................. 39
II. Zugänge Komparativer Theologie zum Buddhismus
JAMES L. FREDERICKS
Dem Politischen entsagen –
vom Gottesstaat und die Aśokāvadāna ……. .............................................. 57
CATHERINE CORNILLE
Demut und Wahrheit in der Perspektive buddhistisch-christlicher
Komparativer Theologie ............................................................................. 91
JOSEPH S. O’LEARY
Nicht-Dualität im Vimalakīrtinirdeśa ......................................................... 105
BERNHARD NITSCHE
Personale Elemente und göttliche Transzendenz im Mahāyāna
Buddhismus –
eine christliche Exegese oder Eisegese? ..................................................... 135
6
INHALTSVERZEICHNIS
DANIEL RUMEL
Response zum Beitrag von Bernhard Nitsche:
„Personale Elemente und göttliche Transzendenz im Mahāyāna
Buddhismus – eine christliche Exegese oder Eisegese?“ ........................... 159
III. Buddhologische und philologische Zugänge im
Gespräch mit der Komparativen Theologie
MARC NOTTELMANN-FEIL
Berge, Buddhaländer und Familientragödien –
welchen Sitz im Leben hat das Sūtra des Unermesslichen Lebens
(Chin.: Foshuo Wuliangshou jing, Jap.: Bussetsu muryōjukyō)? ................ 169
JÖRG PLASSEN
Einige Überlegungen zum Wandel der Konzeption des Übungsweges
und deren Auswirkungen auf die spirituelle Praxis im frühen ChanBuddhismus ................................................................................................ 185
ANNE WEBER
Erkennen im Modus der Performanz?
Ein komparativer Gesprächsversuch .......................................................... 203
Autorenverzeichnis ..................................................................................... 221
Verwendete Literatur in Auswahl ............................................................... 225
Personenregister .......................................................................................... 229
Einleitung
Obwohl Buddhismus und Christentum sich in ihren langen Geschichten seit
dem zweiten Jahrhundert vom Mittelmeerraum bis nach Indien und China
immer wieder vielfältig begegnet sind, haben die Gelehrsamkeiten und die
Gesprächskulturen, die sie beide entfalteten, bis heute noch kaum fruchtbare
Berührung miteinander erfahren. Ein Hindernis dabei sind nicht zuletzt die
enorm komplexen sprachlichen und übersetzerischen Anforderungen, die sich
beiderseits dem Gegenüber stellen, und die in diesen Sprachen niedergelegten
kanonischen Schriften, Exegesen und Vokabulare. Auch auf das Ganze des
Buddhismus allein gesehen sind diese Barrieren so hoch, dass nur wenige
etwa tibetische Buddhisten verstehen, was japanischer Buddhismus, nur wenige ceylonesische, was chinesischer Buddhismus ist, usw., sodass es geraten
ist, von einer Vielfalt von „Buddhologien“ zu sprechen – eine Ausdrucksweise, die auf eine eigene Bezeichnung in der buddhistischen Welt selbst zurückgeht. Wegen der konfessionellen Heterogenität innerhalb des Christentums, aber auch wegen seiner unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen ist
es auch im Blick auf das Christentum nicht möglich, von einer einheitlichen
Gesprächslage auszugehen. Von daher ist eine Begegnung von Buddhismus
und Christentum immer auf eine Vielfalt von Sprachgestalten beider Religionsfamilien verwiesen. Dass beide Religionen keine abgeschlossenen definiten Entitäten, kulturellen Bestände oder fixen Besitztümer bilden, öffnet
ihnen zugleich die Möglichkeit der wechselseitigen Auseinandersetzung, des
Lernens, der In-Frage-Stellung von bisher für unumstößlich Gehaltenem, der
Aufnahme von Neuem, Unvorhergesehenem, Überraschendem, von Veränderungen und gegenseitigen Vertiefungen, nicht zuletzt die Möglichkeit der
Korrektur und Lösung der zeitgeschichtlichen Nöte und Leiden in der gegenwärtigen Welt.
Während etwas Derartiges wie eine „komparative Buddhologie“ wohl bisher in der Weltgeschichte noch nicht aufgetreten ist, entwickelt sich in jüngerer Zeit in den U.S.A. und derzeit auch in Europa die neue Forschungsrichtung der „Komparativen Theologie“.1 Hierbei hat sich im englischsprachigen
Bereich insbesondere das Gespräch mit Buddhisten als besonders fruchtbar
und herausfordernd erwiesen und zu einer ganzen Reihe von Publikationen
geführt. Trotzdem wird man mit Blick auf die ungeheure Vielfältigkeit christlicher und buddhistischer Gelehrsamkeit nur von ersten Gehversuchen auf
diesem Feld sprechen dürfen. Insbesondere ist fraglich, ob hier ein komparativer Ansatz hilfreich sein kann, da die ihm zugrunde liegende Scheidung des
1
Vgl. als Überblick über das Themenfeld der Komparativen Theologie KLAUS VON STOSCH,
Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn u.a. 2012
(Beiträge zur Komparativen Theologie; 6). Zur Komparativen Theologie in Europa vgl.
neuerdings FRANCIS X. CLOONEY/JOHN BERTHRONG (ed.), European Perspectives on the
New Comparative Theology, Basel 2014.
8
EINLEITUNG
Eigenen vom Anderen bereits fragwürdig ist und einer eigenen ausführlichen
Reflexion bedürfte, die im Rahmen dieses Bandes nicht geleistet werden kann.
In der christlichen Theologie wird der Buddhismus von einigen heute als
inspirierender komplementärer Zugang zur „Wirklichkeit“ angesehen, von anderen als denkbar größter Gegensatz zum Christentum und seinen Basisintuitionen. Beide Positionen führen tendenziell dazu, den Buddhismus zu exotisieren und sich gegenüber seinen Anfragen und leitenden Fragestellungen zu
immunisieren. Will man diese Immunisierung und die Überzeugung von der
Inkommensurabilität buddhistischer Redegestalten von solchen des Christentums überwinden, besteht die Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen und die
bis in die Begriffsbildung spürbare grundlegende Verschiedenheit beider Religionen zu trivialisieren. Wie kann aber von christlicher Seite her eine Weise
des Studiums und der Auseinandersetzung eingeübt werden, in denen solcherlei Hemmnisse und Mängel überwunden werden können? Ohne hier eine einheitliche Antwort geben zu können, will der vorliegende Tagungsband exemplarische Denkwege zur Beantwortung dieser Frage vorstellen.
Umgekehrt haben buddhistische Gelehrte aus unterschiedlichen Ländern
mehrfach bewiesen, dass sie als Studierende christlicher Theologien und der
abendländischen Philosophie nicht nur unter solchen Hemmnissen wenig oder
nicht gelitten haben, sondern sich durch dieses Studium in die glückliche Lage
versetzt sahen, in der Sprache der Philosophie und der Theologie dem in ihr
sprechenden Denken den Buddhismus nahe zu bringen, in einigen Fällen auch
die Nöte der gegenwärtigen Welt und die Chance zu ihrer Überwindung in
dieser Weise „transkulturell“ zu formulieren. Dies umgekehrt scheint christlicher Theologie in buddhistischen Umgebungen noch kaum in einem ähnlichen Maße gelungen zu sein. Dazu, den Nachholbedarf an christlich-theologischer Bemühung um das Studium des Buddhismus zu fördern, soll dieser
Band ebenfalls dienen.
Der vorliegende Band stellt nicht mehr als einen ersten Sondierungsversuch
dar, um Wege zu einem vertiefenden Gespräch zwischen Theologie und
Buddhologie auszuloten. Er hat kein gemeinsames Bekenntnis zu einem
komparativen Paradigma zur Grundlage und will auch keine programmatische
Begründung komparativen Denkens im Gespräch von theologischen und
buddhologischen Reflexionen leisten. Vielmehr bietet er ein Forum, auf dem
namhafte komparative Theologen exemplarische Gesprächsversuche mit dem
Buddhismus vorführen und umgekehrt Philologen und Buddhologen sich an
ähnlichen Themen abarbeiten, um so die Möglichkeit von miteinander kommunizierenden Denkbewegungen zu erproben. Zugleich ist der Band ein
Zeugnis des Dialogs zwischen amerikanischen und deutschen Traditionen der
Theologie, Philologie und Buddhologie.
Einig sind sich alle hier zu Wort kommenden Denker, wie viel Mühe allein
schon in Übersetzungsleistungen zu investieren ist, wenn man das Gespräch
von Theologie und Buddhologie redlich voranbringen will. Denn bereits auf
der Ebene der Terminologie herrscht weit reichende Unklarheit, so dass frag-
EINLEITUNG
9
lich ist, ob Worte aus der einen religiösen Tradition überhaupt einen Weg in
die andere religiöse Tradition finden können. Wir haben deshalb auch darauf
verzichtet, einen übergreifenden Begriff zu suchen, der die in diesem Band
versammelten Beiträge bündelt und thematisch zusammenführt. Vielmehr
bleibt es bei einem ersten Einblick in die Mühen, Komparative Theologie und
Buddhismus in ein sinnvolles Gespräch miteinander zu bringen, so dass auch
diese sehr weite Überschrift über das ganze Unterfangen gesetzt wird.
Eröffnet wird der Band mit einer Kritik des komparativen Ansatzes durch
Hermann-Josef Röllicke, der in einer Analyse des Aṣṭasāhasrikā Prajñāpāramitā Sūtra die Frage nach der Vergleichbarkeit des Unvergleichlichen stellt.
Die darauf folgende Replik von Klaus von Stosch versucht auf diese Kritik
mit einer Explikation der Methodik heutiger Komparativer Theologie zu antworten und Wege aufzuzeigen, wie diese auch im buddhistisch-christlichen
Kontext den Boden einer fruchtbaren Auseinandersetzung bilden kann.
Nach diesem ersten Zugang zur Thematik durch zwei der Herausgeber
folgen drei Beispiele klassischer Studien Komparativer Theologie im buddhistisch-christlichen Kontext. James Fredericks beschreibt den Zusammenhang von der Entwicklung dogmatischer Strukturen und den leitenden Konzepten von Staatsmacht und Herrschaftlichkeit am Beispiel der augustinischen
Schrift De Civitate Dei und der Aśokāvadāna des Königs Ashoka. Catherine
Cornille bedient sich des Begriffs der Demut, den sie als leitendes Konzept
sowohl im buddhistischen, als auch im christlichen Kontext beschreibt. Hierbei stellt sie die Haltung der Demut als eine notwendige Kerntugend für die
Methodik Komparativer Theologie dar. Joseph O´Leary schließlich diskutiert
in seinem Beitrag einige christliche Vorbehalte gegen das buddhistische Konzept der Nicht-Dualität. Hierbei stellt er dieses am Beispiel des Vimalakīrtinirdeśa zunächst ausführlich dar, um daraufhin die zuvor dargestellten Vorbehalte zu entschärfen.
Nach diesen deutlich komparativ theologisch angelegten Beiträgen folgt ein
ebenfalls christlich-theologischer Beitrag, der das Gespräch mit dem Buddhismus sucht und reflektiert. Bernhard Nitsche sucht dabei nach funktionalen
Ähnlichkeiten zu christlichen Transzendenzkonzepten im buddhistischen Denken. Bei diesem Vorhaben ist für ihn die Frage leitend, ob im buddhistischen
Kontext Formen von personeller Transzendenz zu finden sind. Daniel Rumel
unterzieht den Beitrag Nitsches im Anschluss daran einer kritischen Würdigung und stellt Anfragen aus der Sichtweise der Methodik Komparativer
Theologie.
Im Schlussteil des Bandes folgen noch zwei eher buddhologisch bzw. philologisch orientierte Beiträge, die von einer Replik aus christlich-theologischer
Sicht begleitet werden. Marc Nottelmann-Feil arbeitet in seinem Beitrag die
methodischen Diskrepanzen zwischen der biblischen Exegese und dem Auslegen eines Sūtras heraus. Die Leitfrage hier ist die nach der prinzipiellen
Verstehbarkeit buddhistischer Primärliteratur von christlichen Rezipienten und
die nach den methodischen Basisfähigkeiten für eine solche Verstehbarkeit.
10
EINLEITUNG
Seine Überlegungen versucht er am Beispiel der Auslegung des Sukhāvatīvyūha-Sūtras zu verdeutlichen.
Anschließend untersucht Jörg Plassen die Wandlungen im Verständnis der
spirituellen Praxis im Diskussionskontext der Huayen-Schule und des entstehenden Chan-Buddhismus und die aus ihr folgenden Implikationen des Zeitund Wirklichkeitsverständnisses. Hierbei versucht er eine Brücke zwischen
dem Zeitverständnis der späten Huayen und frühen Chan-Schule und dem
Meister Eckhardts zu bauen.
Anne Weber versucht dieses Gesprächsangebot aufzunehmen, indem sie mit
der Methodik Komparativer Theologie die verschiedenen Argumentationsebenen beschreibt und dabei auf eine Konvergenz performativer Glaubenspraxis hinweist, die eine Basis bieten könnte, die bleibenden propositionalen Verschiedenheiten neu ins Gespräch zu bringen.
Grundlage des vorliegenden Sammelbands ist eine Tagung, die Ende August 2013 im EKŌ-Haus der Japanischen Kultur Düsseldorf stattgefunden hat.
Dem Leiter dieses Hauses, Herrn Prof. Takao Aoyama, danken wir sehr herzlich für die Gastfreundschaft seines Hauses und für seinen großzügigen Beitrag zur Finanzierung der Tagung. Sowohl diese Tagung als auch die Drucklegung des vorliegenden Bandes wurden außerdem durch Beiträge der Universitätsgesellschaft Paderborn und des Erzbistums Paderborn ermöglicht, denen
wir an dieser Stelle ebenfalls herzlich danken. Die Zusammenarbeit des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität
Paderborn (ZeKK) mit dem EKŌ-Haus in Düsseldorf ist getragen von dem
Wunsch, buddhistische Gelehrsamkeit insbesondere in der japanischen Tradition und christliche Theologie, wie sie sich im Westen entwickelt hat, in ein
fruchtbares Gespräch zu bringen, das sowohl in Paderborn als auch in Düsseldorf in Form von Tagungen und gemeinsamen Lehrveranstaltungen organisiert wird. Der vorliegende Band versteht sich als Zeugnis dieses Gesprächs
und soll uns Ansporn sein, es in Zukunft noch intensiver zu pflegen.
Unser Dank gilt neben unseren Geldgebern und den uns tragenden Institutionen auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im ZeKK. Insbesondere denken wir dabei an Lena Steindl, die die redaktionelle Schlussbetreuung des Bandes in verlässlicher Weise übernommen hat. Julia Wolff
danken wir dafür, dass sie in bewährter Tradition die Druckvorlage erstellt hat.
Herrn Dr. Jacobs vom Schöningh-Verlag danken wir schließlich für die wie
immer reibungslose Kooperation.
Bei der Wahl der chinesischen Umschriften (Pinyin oder Wade-Giles)
haben wir die Entscheidung jeweils den Autoren überlassen und nicht für eine
Vereinheitlichung gesorgt.
Düsseldorf/Paderborn im Juli 2015
Klaus von Stosch, Daniel Rumel, Hermann-Josef Röllicke
I. MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN
KOMPARATIVER THEOLOGIE
HERMANN-JOSEF RÖLLICKE
Die Unvergleichbarkeit der prajñāpāramitā
Eine Lektüre des „Acintya“-Kapitels des
Aṣṭasāhasrikā-prajñāpāramitā-sūtra (Chin.: Daoxing jing)
Potest tamen homo, ex huiusmodi creaturis, Deum tripliciter cognoscere, ut Dionysius dicit in libro De Divinis nominibus. Uno (…). Secundo (…). Tertio per
viam negationis. Quia si est causa excedens, nihil eorum quae sunt in creaturis
potest ei competere, sicut etiam neque corpus caeleste proprie dicitur grave vel
leve aut calidum aut frigidum. Et secundum hoc dicimus Deum immobilem et
infinitum et si quid aliud huiusmodi dicitur.1
(Thomas Aquin, Vorlesungen zum Römerbrief)
Dennoch kann der Mensch, aus den so gearteten Geschöpfen, Gott auf dreifache
Weise erkennen, wie Dionysius im Buch Von den göttlichen Namen sagt.2
Erstens (…). Zweitens (…). Drittens auf dem Weg der Negation. Denn wenn er
die herausragende Ursache ist, kann nichts von dem, was in den Geschöpfen ist,
auf ihn zutreffen, wie auch vom Himmelskörper weder im eigentlichen Sinne
gesagt werden kann, er sei schwer oder leicht noch heiß noch kalt. Und
entsprechend diesem nennen wir [mit Aristoteles] Gott unbeweglich und
unendlich und was Anderes von dieser Art gesagt werden mag.3
Für die moderne Physik ist der physikalische Irrtum der Antike und des
Mittelalters heute geklärt: Alle Himmelskörper sind schwer oder leicht und heiß
und kalt, wie jedes Ding.4 Was aber, wenn die „via negationis“ so verstanden
würde, dass alles, was schwer oder leicht und heiß und kalt ist, keineswegs
1
2
3
4
SANCTI THOMAE DE AQUINO Super Epistolam Beati Pauli ad Romanos lectura. In: P.
RAPHAEL CAI, O.P. (Hg.), Super Epistolas S. Pauli Lectura, Taurini 1953, caput 1, lectio 6,
totius [86.171] 22:b.
Caput VII, lectio 4.
HELMUT FAHSEL, Des heiligen Thomas von Aquin Kommentar zum Römerbrief, Freiburg
i.Br. 1927, 48f., übersetzt: „Trotzdem kann der Mensch aus solchen Kreaturen Gott auf
dreifache Weise erkennen, wie Dionysius im Buche von den göttlichen Namen sagt. (…)
Drittens auf dem Wege der Verneinung. Denn wenn er die überragende Ursache ist, so kann
ihm nichts von dem zukommen, was sich in den Kreaturen findet; wie sich auch vom
Himmelskörper weder Schwere noch Leichtigkeit, weder Wärme noch Kälte im eigentlichen
Sinne aussagen läßt, und auf Grund dessen nennen wir Gott unbeweglich und unendlich u.
dgl. m.“
Zum Thema der Materialität und Immaterialität der Himmelskörper im hohen Mittelalter
siehe das instruktive Werk von NOTKER SCHNEIDER, Die Kosmologie des Franciscus De
Marchia. Texte, Quellen und Untersuchungen zur Naturphilosophie des 14. Jahrhunderts,
Leiden 1991 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters; 28), zu Albert dem
Großen und Thomas von Aquin besonders S. 127-133.
14
HERMANN-JOSEF RÖLLICKE
schwer oder leicht und heiß und kalt ist? Was, wenn „causa excedens“ so verstanden würde, dass alle Dinge, die doch jederzeit von einem Anderen verursacht sind, als von Ursächlichkeit frei erkannt würden und gerade dies „causa
excedens“ bedeuten würde: die äußerst „herausragende Ursache“ – das
„Äußerst-Herausragende“ an ihr – wäre die Nichtursächlichkeit des Dings?
Wäre diese Erkenntnis „auf dem Weg der Negation“ Physik? Wäre sie Metaphysik? Theologie?
1. Beschreibung des Textes
1.1 Die Versionen der Aṣṭa
Gelehrte, die sich mit dem Aṣṭasāhasrikā-prajñāpāramitā-sūtra5 beschäftigt
haben, wie zuletzt Tilmann Vetter6, Noritoshi Aramaki7 und Seishi Karashima8, haben aus guten Gründen oft betont, dass die frühesten Versionen
dieses sūtra oder größerer Teile davon kostbare Zeugnisse der ältesten überlebenden Textschicht des prajñāpāramitā-Gedankens, des Gedankens der
„Vollendung [der Buddhaschaft] durch Weisheit“, und seiner Literatur enthalten. Vetter hat überzeugend gezeigt – und dies ist auch gegen manche mainstream-Darstellung des prajñāpāramitā-Schrifttums gerichtet –, dass diese
Lehre ursprünglich der Entstehung der Mahāyāna-Bewegung vorausgeht, dass
die Entstehung des Mahāyāna keinesfalls mit der Entdeckung der prajñāpāramitā-Lehre zusammenfällt, und dass die prajñāpāramitā-Lehre auch
keineswegs die Schallmauer per se für dasjenige ist, worum es im Mahāyāna
geht. Er hat außerdem durch eine akribische Lektüre des Textes klar aufgewiesen, dass prajñāpāramitā weder ursprünglich die Eigentümlichkeit per
se des Bodhisattva-Weges, die Buddhaschaft zu erreichen, noch dass der
Bodhisattva der unvordenkliche Agent für die Beschreitung der prajñāpāramitā sei. In Wirklichkeit sind es śrāvakas, einfache Mönche und Nonnen,
5
6
7
8
Im Folgenden kurz: der „Aṣṭa“.
TILMANN VETTER, Die Lehre des Nāgārjuna in den Mūla–Madhyamaka–Kārikās. In: GERHARD OBERHAMMER (Hg.), Epiphanie des Heils. Zur Heilsgegenwart in indischer und christlicher Religion. Arbeitsdokumentation eines Symposiums, Wien 1982, 87-108; TILMANN
VETTER, On the Origin of Mahāyāna Buddhism and the Subsequent Introduction of
prajñāpāramitā. In: Asiatische Studien 48 (1994) 1241-1281; DERS., Once Again on the
Origin of Mahāyāna Buddhism. In: Wiener Zeitschrift für die Kunde Südasiens 45 (2001) 5990 [revidierte und erweiterte Version einer Vorlesung, „Mahayana historisch“, gehalten in der
Vorlesungsreihe „Buddhismus in Geschichte und Gegenwart“, Universität Hamburg, 31. Mai
2000]; DERS., Arhat und Bodhisattva im Daoxing 道行. In: Hōrin. Vergleichende Studien zur
japanischen Kultur 10 (2003) 47-71.
NORITOSHI ARAMAKI, Apropos of the Three Legends of Buddha’s Dis- and Re-appearance.
In: DERS., A New Approach to the Origin of Mahāyāna Movement on the Basis of Art Historical and Archaeological Evidence. A Preliminary Report on Research, Kyōto 2011, 15-38.
SEISHI KARASHIMA, A Glossary of Lokakṣema’s Translation of the Aṣṭasāhasrikā Prajñāpāramitā, Tōkyō 2010 (Bibliotheca Philologica et Philosophica Buddhica; 11).
DIE UNVERGLEICHBARKEIT DER PRAJÑĀPĀRAMITĀ
15
die in der Aṣṭa den bis dato unbekannten, neuen und ahnungslosen Typus des
Bodhisattva diese ihre neue geistige Errungenschaft lehren.
Der Text ist in einer hohen Komplexität sehr verschiedener Versionen auf
uns gekommen. Der älteste unter denen, die in vollständiger Gestalt überlebt
haben, ist die chinesische Übersetzung von Lokakṣema.9 Ihre Edition im japanischen Taishō-Kanon der 1920er Jahre ist nicht immer verlässlich, wie dies
vielfach durch die Arbeiten von Seishi Karashima unter Beweis gestellt
worden ist. Karashima hat jüngst eine kritische Edition veröffentlicht, die aus
einer Kompilation aller heute erreichbaren Manuskripte, Vorgängereditionen
und des Taishō-Textes hervorgegangen ist.10 Das Kolophon der Taishō-Ausgabe datiert Lokakṣemas Übersetzung auf das Jahr 179 A.D., was durchaus
glaubwürdig sein dürfte.
Dieser Text hat kürzlich eine Parallele in einem fragmentarischen Fund der
Aṣṭa in Gāndhārī gefunden, „discovered supposedly near the Pakistan-Afghanistan border area“11. Die Gāndhārī-Fragmente sind durch einen C14-Test
(Harry Falk, FU Berlin) auf 47-147 A.D. datiert worden.
Die drei chronologisch nächsten Texte sind das Da mingdu jing (30 Kapitel) mit der Übersetzung von Zhiqian (fl. 222-252 A.D.)12 und das fragmentarische Mohe bore chao jing (13 Kap.), angeblich von Dharmapriya in Zusammenarbeit mit Zhu Fonian, die ihre Übertragung im Jahre 382 A.D. abgeschlossen haben sollen.13 In der letzteren Fassung fehlt das „Acintya“-Kapitel.
Eine weitere Übersetzung stammt von Kumāra Jīva (343-413), das Xiaopin
bore boluomi, die sog. „Kleine prajñāpāramitā“ (mit insgesamt 29 Kap.), aus
dem Jahre 408 A.D., die schon die Existenz von Kumāra Jīvas eigener Version
und Übersetzung der „Großen prajñāpāramitā“ voraussetzt.14
Es folgen zwei weitere chinesische Versionen, beide von Xuanzang (602664). Sie sind Seite an Seite als Teil der umfangreichsten der von ihm
übersetzten prajñāpāramitā-Schriften ediert, des Da bore boluomiduo jing
[Großes prajñāpāramitā-sūtra], und zwar als deren „Versammlungen“ Nr. 4
(arrangiert in insgesamt 29 Kap.)15 und 5 (in 24 Kap.)16. Nach Seishi Karashima repräsentiert Versammlung 4 einen jüngeren, Versammlung 5 einen
älteren Text. Ein Vergleich der beiden Versionen des „Acintya“-Kapitels
9
10
11
12
13
14
15
16
T. 224, Bd. 8 (30 Kapitel), 425-478, Kapitel „Buke ji“, „Das Undenkbare“, 450f.
SEISHI KARASHIMA, Dōgyō hannya kyō kōchū [Kritische Edition von Lokakṣema’s Übersetzung der Aṣṭasāhasrikā Prajñāpāramitā], Tōkyō 2011 (Bibliotheca philologica et philosophica
Buddhica; 12).
Ebd., xiii, n. 6.
T. 225, Bd. 8, Kap. 11, „Buke ji“, „Das Undenkbare“, 492.
T. 226, Bd. 8.
T. 227, Bd. 8; das „Acintya“-Kapitel, „Buke siyi“, „Das Undenkbare“, figuriert hier als Kap.
10, 553-555.
T. 220, Bd. 7, 763-865; als Kap. 13 findet sich hierin „Bu siyideng pin“, „Das Kapitel über
das Undenkbare“, 818.
T. 220, Bd. 7, 865-921; als Kap. 10 hier „Bu siyi pin“, „Das Kapitel über das Undenkbare“,
887-890.
16
HERMANN-JOSEF RÖLLICKE
zeigt, dass diejenige der Versammlung 4, also der jüngeren Fassung, auch die
ausgedehntere der beiden Versionen darstellt. Die Erzählkonstruktion des
„Acintya“-Kapitels in der rund 200 Jahre älteren Übersetzung Kumāra Jīvas
weist eine Reihe auffallender Ähnlichkeiten mit Xuanzangs älterer Fassung,
also die seiner Versammlung 5, auf.
Die jüngste chinesische Übertragung ist das Fomu chusheng sanfazang
bore boluomiduo jing von Shihu (?-1017) aus der Song-Zeit.17
So existieren heute noch insgesamt sieben chinesische Versionen der Aṣṭa,
die alle auf jeweils verschiedene, verlorene Sanskritoriginale zurückgehen
müssen. Sie sind eindeutig keine Zeugen zu Gunsten der Idee, es habe einst
einmal nur ein einziges Sanskritoriginal gegeben. Vielmehr stellt diese Schrift
schon in ihren Übersetzungsvorlagen einen sich entwickelnden Text dar, der
bis zur Zeit Xuanzangs immer weiter gewachsen und angereichert worden ist.
Selbst das Original Lokakṣemas ist bereits kein kahler Primärtext mehr, sondern ein intrakommentierter, edierter und wohl auch im Kommentar selbst
noch einmal subkommentierter Text, wie ich sogleich am Beispiel des hier
studierten Kapitels zeigen möchte.
Außerdem gibt es drei rekonstruierte Sanskrit–Versionen, deren jüngste
1960 von Paraśurāma Laksṃaṇa Vaidya herausgegeben wurde.18 Diese Edition ist nichts Anderes als die Revision einer älteren Arbeit von Rajendralala
Mitra (Calcutta, 1887/1888), die zwischenzeitlich schon einmal von Unrai
Wogihara [= Ogiwara] (Tōkyō, 1932) kritisch durchgesehen worden war.
Dabei handelt es sich um eine kollationierte und kompilierte Ausgabe, die auf
der Grundlage später Sanskrit-Manuskripte erstellt wurde. Textkonstruktion
und Architektur dieser Version liegen im Ganzen oft nahe bei den Übersetzungen von Lokakṣema und Zhiqian, während die Abweichungen im einzelnen Wortlaut, in Kürze oder Länge, Vorhandensein oder Fehlen von Passagen und ebenso in der Bedeutung so überwältigend zahlreich sind, dass es nur
zu offenkundig ist, dass besonders Lokakṣemas sanskritischer Referenztext
wenig mit der genannten rekonstruierten neueren Sanskritfassung gemein hat.
Weiterhin existiert eine tibetische Übersetzung: in Bustons Katalog (14.
Jh.) die Nr. 109, entsprechend Nr. 12 im Derge-Kanjur19 und Nr. 734 in der
Peking-Edition.
Karashima hat versucht, alle diese Texte in einer chronologischen Serie zu
klassifizieren. Er betrachtet den Gāndhārī-Text, Lokakṣemas, Zhi Qians and
Zhu Fonians Übersetzungen als „die ältesten Versionen“, die Kumāra JīvaÜbersetzung und Versammlung 5 des Xuanzang-Textes als „die älteren Versionen“ und den rekonstruierten Sanskrit-Text, Shihus Übersetzung, den tibetischen Text und Xuanzangs Versammlung 4 als „die neueren“ oder „die neu17
18
19
T. 228, Bd. 8.
In: Darbhanga: The Mithila Institute of Post-Graduate Studies and Research in Sanskrit,
1960; digitalisiert für den Digitial Sanskrit Buddhist Canon [DSBC], siehe: http://www.
dsbcproject.org; 08.01.2015.
Shes phin, ka 1b1–286a6.
DIE UNVERGLEICHBARKEIT DER PRAJÑĀPĀRAMITĀ
17
esten Versionen“.20 Insbesondere in Anbetracht des „Acintya“-Kapitels habe
ich einige Einwände und Zweifel, ob diese Chronologie der Überprüfung
Stand hält. Aber wie Karashima selbst feststellt: „An overall study of the
history of the development of this text is yet to be carried out.“21
Unter den großen, einflussreichen Kommentaren ist das Aṣṭasāhasrikāprajñāpāramitā-vyākhyā [= Abhisamayālaṃkārāloka] des indischen Mönchsgelehrten Haribhadra (fl. 8. Jh., Chin.: Shi Zixian) der prominenteste.
Es gibt zwei Übersetzungen in europäische Sprachen: eine Teilübersetzung
von Max Walleser (1914)22 und eine vollständige von Edward Conze (1958)23.
Walleser übersetzt allerdings keinen der oben beschriebenen Texte, sondern
konflationiert einen neuen Text zu seinem eigenen Gebrauch je nachdem,
welche Version er von Stelle zu Stelle persönlich für plausibler oder weniger
plausibel hält. Damit bringt er einen fiktiven hybriden Text hervor, der keinerlei Gegenpart in der Geschichte des buddhistischen Schrifttums hat. Conze
übersetzt den rekonstruierten Sanskrittext.
Ohne hier weiter in die historisch-philologischen Probleme der Textüberlieferung einzutreten, beziehe ich mich in dem, was folgt, ausschließlich auf
Karashimas „älteste Version“, die Übersetzung Lokakṣemas, und nehme
dessen Übersetzung des „Acintya“-Kapitels zum Ausgangspunkt. Das tue ich,
weil dies der editorisch unberührteste Textzeuge ist, der auch die älteste heute
noch sichtbare Stufe des prajñāpāramitā-Denkens überhaupt darstellen
dürfte.
1.2 Überblick über das „Acintya“-Kapitel
Das „Acintya“-Kapitel in Lokakṣemas Übersetzung ist unverkennbar in vier
Abschnitte aufgeteilt, die ich theaterhafte „Szenen“ nennen möchte.24 Der Text
besteht nur aus direktem Dialog zwischen Subhuti und dem Buddha – mit
Ausnahme zweier narrativer Finali in rezitativischer Prosa, die das Ende der
Abschnitte 1 und 3 markieren. Das Ende von Abschnitt 4 (zugleich das Ende
des ganzen Kapitels) kommt ohne Intrapolation in szenischer Prosa aus und
macht sehr den Eindruck eines Anhangs.25
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24
25
KARASHIMA, Dōgyō hannya kyō kōchū [Kritische Edition], xiif.
Ebd., xiii.
MAX WALLESER, Prajna Pāramitā: Die Vollkommenheit der Erkenntnis – nach indischen, tibetischen und chinesischen Quellen, Göttingen 1914.
EDWARD CONZE, Astasāhasrikā Prajñāpāramitā: The Perfection of Wisdom in Eight thousand
Slokas, Calcutta 1958 (Bibliotheca Indica; 284).
Zur rituellen „Theatralität“ von Sūtren, zur Szenenarchitektur chinesischer Sūtrenübersetzungen und zur literarischen Technik der „Szenenteiler“ siehe jetzt HERMANN-JOSEF
RÖLLICKE, Sūtra als Bildrelief – Szenenbild und Dichtkunst in den Übersetzungen Kumāra
Jīvas. In: Hōrin. Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 17 (2012) 195-236.
Bezeichnenderweise fehlt Abschnitt 4 in VAIDYAS Sanskrit-Text völlig.
18
HERMANN-JOSEF RÖLLICKE
Der Prosasatz am Ende von Szene 1 lautet:
Als der Buddha diesen Kanon dargesprochen hatte, erlangten 500 bikṣu [Mönche] und 30 bikṣunī [Nonnen] allesamt die Arhatschaft, 60 upāsaka [männliche
Laien] und 30 upāsikā [weibliche Laien] erlangten allesamt srotāpanna [die
„Stromeintauchung“], 30 bodhisattva, ihnen nachfolgend, erlangten allesamt die
Gesetzes-Freude der Ungeborenheit; sie alle erhielten dank der Gunst dieses
Zeitalters die Bestätigung [ihrer zukünftigen Buddhaschaft] (vyākaraṇa).26
Zwei Elemente selbst dieses winzigen Textstücks machen schon deutlich, dass
diese Schrift archaisch sein muss. Erstens: Die bodhisattva werden erst an
dritter Stelle nach den Mönchen und den Laien genannt, und von ihnen wird
gesagt, sie würden lediglich deren Beispiel „nachfolgen“ (dai). Zweitens: Es
ist eine Spezialität von Lokakṣemas chinesischer Übersetzung, das Wort
shoujue für vyākaraṇa zu setzen, das spätere Interpreten gewöhnlich mit
„shouji“ wiedergeben, „die Bestätigung“ bzw. „die Prophezeiung erhalten“.
Der vorliegende Typ von Prosaabschlüssen ist leicht als ein regelmäßiger
Modus zu entziffern, in dem das Ende eines sūtra markiert wird. Dazu kommt,
dass in diesem Fall auch explizit gesagt ist, dass in der Tat am Ende dieser
Textportion „das sūtra“ beendet sei. Aus diesem Grunde kann angenommen
werden, dass die drei Abschnitte, die noch folgen, Zusätze jüngeren Ursprungs
sind, die bereits bei den Editoren des Kapitels in Lokakṣemas SanskritRezension eingefügt waren – daher das Plädoyer für das Argument, der erste
Abschnitt sei der älteste, und er sollte als das „Kern-sūtra“ (oder einfach das
„sūtra“) in der Gesamtedition des Kapitels angesehen werden. Das Kapitel ist
deutlich aus verschiedenen Textbausteinen zusammengenäht. So alt es in
seiner Ganzheit auch sein mag, es ist schon ein „edierter“ Text, der mehrere
Schichten von unterschiedlicher editorischer und kommentarischer Absicht bei
sich trägt.
Szene 2 besteht aus einem weiteren Solodialog zwischen Subhuti und dem
Buddha. Sie tritt als ein zusammenfassender, gewissermaßen doxographischer
Appendix oder als Kolophon zum „Kern-sūtra“ auf. Hier wird gesagt, „sarvajña [Allwissenheit], srotāpanna [Stromeintauchung], anāgāmin [Nichtwiederkehren], Arhatschaft und der Weg des pratyekabuddha [des allein für
sich selbst Erwachten] nehmen allesamt ihren Ausgang von diesem Kanon“;
und „arhat, pratyekabuddha, Buddha und jeder andere dharma gehen allesamt
aus dem Zentrum der prajñāpāramitā hervor, und sie alle werden [erst] durch
diesen Kanon errichtet“. Dies braucht zur Zeit der Abfassung des „Kernsūtra“ noch durchaus nicht der Fall oder noch nicht kontrovers gewesen
zu sein, während dieser neue Text offenkundig seinen polemischen Grund
hat, gerade dies gegen Andere, die es bestritten haben müssen, besonders zu
unterstreichen. Gewisse Anhänger der Idee der Allwissenheit in der Buddhaschaft, der frühen Grade der Erreichung der Buddhaschaft, Verfechter des
26
T. 224, Bd. 8, p. 451a12-15.
DIE UNVERGLEICHBARKEIT DER PRAJÑĀPĀRAMITĀ
19
Gedankens, dass „Arhatschaft“, nicht prajñāpāramitā, die Bezeichnung für
den höchsterwachten Buddha sei sowie pratyekas müssen offensiv Widerstand
dagegen geleistet haben, dass ihre Lehre aus dem Zentrum der prajñāpāramitā
hervorgehen solle. Zugleich tritt dieses Kolophon als Zeuge dafür vor, dass
der „Kernkanon“, wie er hier gegeben ist, der ursprüngliche Muttertext des
prajñāpāramitā-Denkens und seiner Übung sei. Man beachte, dass auch hier
der bodhisattva-Typ der buddhistischen Übung nicht ausdrücklich beim
Namen genannt wird, sondern bestenfalls als in der Formel „und jeder andere
dharma“ mitgedacht sein könnte.
In Szene 3 treten plötzlich, unvermittelt und mit einiger theatralischer
Wirkung „die Himmelssöhne [= Göttersöhne] des liebenden Begehrens und
die Söhne des Brahma-Himmels [= des Gottes Brahma]“ in den Blick. Ohne
sie hätte der vorangehende Dialog zwischen Subhuti und dem Buddha an
irgendeinem Ort unter Menschen oder Göttern spielen können, denn dieses
Kapitel führt keinerlei Ortsnamen an.27 Aber durch die Einfügung dieses
neuen kleinen Textstücks wird klar, dass der Ort dieser Belehrung ein Platz
ist, an dem Subhuti, der Buddha und die Götter der Lust sich gemeinsam versammeln. So hört auch das Ganze des Dialogs Subhutis mit dem Buddha auf,
ein Vier-Augen-Gespräch zwischen diesen beiden allein zu sein, vielmehr
wird er nun als ein rituelles Geschehen, eine mythische Handlung im Angesicht der versammelten Göttersöhne, erkennbar. Von hier an sind wir gehalten
mitzudenken, dass sie schon ab initio aufmerksam dem gesamten Dialog zugehört hatten. Wie die Göttersöhne mit nur einem einzigen Votum für ihre
Frage ausgestattet sind, so auch der Buddha nur mit einem für seine Antwort.
Das rezitativische Prosafinale des Erzählers für diese Szene lautet:
Die Himmelssöhne des liebenden Begehrens und die Söhne des BrahmaHimmels traten alle vor, berührten mit Haupt und Gesicht die Füße des Buddha,
umwandelten ihn drei Mal, zogen sich zurück, entfernten sich und reisten weit
fort; und indem sie heimfuhren jeder hinauf zu seinem Himmel, besangen und
priesen sie den Buddha dafür, solcherlei Verdienst und Nährkraft dargesprochen
zu haben.
Unzweifelhaft ist dies ein zweiter Versuch, den bereits erweiterten Text feierlich und theatralischer als zuvor zu finalisieren. Die Sanskrit-Rezension, die
Versionen, die ihr stemmatisch am Nächsten verwandt sein dürften, und Max
Wallesers und Edward Conzes Übersetzungen schließen das Kapitel auch
in der Tat mit diesem Finale ab.
Aber in Lokakṣemas Fassung sind – als Szene 4 der Gesamtedition des
Kapitels – noch weitere zwei Wendungen des Dialogs zwischen Subhuti und
27
Dies ist schon an sich selbst bemerkenswert, weil die unverzichtbare szenische Introduktion
des Dialogs in diesem Kapitel offenkundig fehlt. Damit ist auch klar, dass der Anfang des
edierten Kapitels nicht der Anfang des ursprünglichen Szenenspiels dieses Dialogs sein kann,
sondern dieses Textsegment, obwohl es vorrangige editorische Gründe dafür gegeben haben
mag, es herauszuschneiden, zugleich die Fortsetzung irgend eines anderen Textstückes ist.
20
HERMANN-JOSEF RÖLLICKE
dem Buddha angefügt. Ich vermute, dass dies auch schon in seinem SanskritOriginal der Fall gewesen sein dürfte und dieser Text nicht seine eigene Erfindung und Zutat ist. Dieser Abschnitt wird mit folgender Frage Subhutis eröffnet:
Angenommen nun, es gebe [auch] bodhisattva, die ihr Vertrauen in die prajñāpāramitā setzen, wo kommen sie her, dass [auch] sie in dieses Zwischen [d.h. in
diese Welt] geboren werden?
Was folgt, sind eine Reaktion auf und ein Urteil über eine neue und epochale
Situation in der Geschichte des Buddhismus zur Zeit der Abfassung dieses
Zusatzes. Offensichtlich hatte der Autor dieses Appendix beobachtet, dass
mehr und mehr Anhänger des „bodhisattva“-Typs, engagierte Zuhörer, die
ebenfalls „Buddha werden“ wollten, die ursprünglich durchaus nicht die
Protagonisten der prajñāpāramitā gewesen waren, sich ihr nun zuwenden
und immer mehr Zutrauen in sie fassen. Wie Szene 2 betont hatte, galten ihr
die Schüler der Lehre von der sarvajña [der Allwissenheit des Buddha],
srotāpanna [Stromeintaucher], anāgāmin [Nicht-mehr-Rückfällige], arhats
und pratyekabuddhas [einsam für sich selbst Erwachte] als die ursprünglichen
Besitzer dieser Kernübung zur Buddhaschaft, Anhänger vielfältiger älterer
Gruppierungen also, die auch längst vor der Zeit des „Mahāyāna“ aufgetreten
waren. Jetzt aber hat eine anfangs noch durchaus misstrauisch beäugte Art
Emporkömmling und Parvenue die Epoche betreten, der bereit steht, die nicht
von ihm erdachte prajñāpāramitā-Lehre sich selbst auf die Fahnen zu schreiben: der bodhisattva. – In diesem Beitrag werde ich auf die wichtige Frage
nach der Rolle und dem Auftreten der bodhisattva nicht näher eingehen, sondern mich demjenigen Textstück zuwenden, das das Kapitel selbst sein
„sūtra“ nennt (also Szene 1).
2. Lektüre des „Kern-sūtra“
2.1 Subhutis Eingangsausruf
In Lokakṣemas ebenso wie in Zhi Qians chinesischen Übersetzungen beginnt
das sūtra mit einem enthusiastischen und hoch exaltierten Ausruf in fünf
Versen, der Subhuti in den Mund gelegt ist. Der erste Vers endet mit dem
Wort „bore boluomi“, einer lauttranskribierten Kurzform von „prajñāpārami[tā]“. In allen vier weiteren Versen wird dieses Wort elliptisch ausgelassen, obwohl man sich vorzustellen haben wird, dass die Zeitakzente für
die entsprechenden Hebungen und Senkungen von „prajñāpārami“ in jedem
Vers rhythmisch weitergezählt werden, also wohl mit drei starken und drei
schwachen Zählzeiten. Damit deklamiert der Ausruf mit rein dichterischen
Mitteln: Was Subhuti hier ausspricht, nämlich das Wort „prajñāpārami“, ist
DIE UNVERGLEICHBARKEIT DER PRAJÑĀPĀRAMITĀ
21
ein unaussprechliches Wort. Er zeigt das an, indem er es in allen Folgeversen
ausschweigt, während seine Zählzeiten still weitertakten.
In allen fünf Versen steht vor „prajñāpārami“ das Wort „jiujing“, „vollständig, vollkommen, letzterfüllend, ganz und gar“, das einige grammatische
Härte mit sich bringt.28 Wörtlich ließe sich Subhutis Ausruf damit so wiedergeben:
Subhuti verehrte den Buddha und sprach:
,Vollkommen überragend
……………………
Vollkommen undenkbar
Vollkommen unermessbar
Vollkommen ohne Vorhandenheit von etwas,
mit dem es zu vergleichen wäre,
Vollkommen ohne Vorhandenheit von Grenzen
28
prajñāpārami,
––∪ ––∪ ––(∪),
––∪ ––∪ ––(∪),
––∪ ––∪ ––(∪),
––∪ ––∪ ––(∪).‘
Karashima vermutet in DERS., Dōgyō hannya kyō kōchū [Kritische Edition], 268, dass der
Gebrauch von „jiujing“ das Ergebnis einer Verwirrung Lokakṣemas von Sanskrit kṛtya
(„Geschäft“) mit koṭi („Ende oder Höhepunkt einer Sache, Spitzenpunkt, Eminenz“) sei. Als
Übersetzung, die manchmal für atyantam gebraucht wird, bedeutet jiujing etwa „äußerst, unübersteiglich, final; durchgehend; extrem, bestes, ideal“, und als Übersetzung für Sanskrit
niṣṭhā „äußerster Kulminationspunkt; das Äußerste, Grenze, Extrem“, einschließlich der
Verwendung der gleichen Semantik in anderen grammatischen Modi. Zu den möglichen
Verstehensweisen gehört auch „vollständig erschöpfen, ankommen (z.B. an der höchsten
Position der Bodhisattvaschaft, oder: vollständiges Erwachen [Sanskrit: nisthā–gamana]),
erreichen, erlangen; meistern; völlig verstehen; wahrhaftig offenbaren (Sanskrit: samāpana)“,
„letztendliches Ziel“ (alle Referenzen hier nach Charles Muller: CHARLES MULLER (Hg.),
Digital Dictionary of Buddhism. In: http://www.buddhism-dict.net/ddb/; 14.01.2015.) – Ich
bezweifle Karashimas Vermutung aus drei Gründen: erstens, weil Zhi Qian Lokakṣemas Verständnis von der Richtigkeit seines Textes kaum aus bloßer Gedankenlosigkeit übernommen
haben dürfte. Stattdessen vermute ich, dass kṛtya in der Tat von beiden in der Bedeutung
„durch und durch, vollständig, ganz, ohne Rest“ verstanden wurde. Die Bedeutung von kṛtya,
„Geschäft, Sache, Unternehmen“, wäre hier bewusst so genommen worden, dass sie „durch
und durch, ganz und gar, wesentlich zu einer gegebenen Sache, einem gegebenen Geschäft
gehörend“ meint, wie in der negativen deutschen Formulierung „das ist in keiner Weise seine
Sache, das ist in keiner Weise sein Geschäft“ (Englisch: „that’s none of his business“), womit
gesagt ist, dass jemand mit einer Sache nicht das Geringste zu tun habe; siehe FRANKLIN
EDGERTON, Buddhist Hybrid Sanskrit Grammar and Dictionary, Bd. II: Dictionary, New
Haven 1953; reprinted Delhi 1993, 190:b. – Darum braucht zweitens Subhutis Ausruf auch
auf Sanskrit nicht zwingend so gelesen zu werden, wie Conze es tat, CONZE, Astasāhasrikā
Prajñāpāramitā, 101: „Certainly as a great enterprise has this perfection of wisdom been set
up, as an unthinkable, incomparable, immeasurable, incalculable enterprise, as an enterprise
which equals the unequalled“, sondern gerade mit der Nuancierung, mit der Lokakṣema und
Zhi Qian ihn offenbar verstanden haben. Aber Conzes Sanskrit-Vorlage war nicht diejenige
der Versionen Lokakṣemas und Zhi Qians, und wir haben keinen Zeugen für das, was Lokakṣema vor sich sah. – Noch aus einem dritten Grund scheint mir Lokakṣemas Lesung nicht
nur kein Vokabelirrtum, sondern wohlbedacht zu sein: Die höchste, alles durchdringende
Erfüllung seiner „Sache“, seines „Geschäfts“, seines „Unternehmens“, die äußerste Weisheit
des Buddha namens „prajñāpārami“, wird gerade durch das Wort jiujing schon selbst paraphrasiert und damit zu einer expliziten Übersetzungsentsprechung des nicht übersetzten, sondern nur lauttranskribierten „pārami[tā]“, „Vollendung, Erfüllung“.
22
HERMANN-JOSEF RÖLLICKE
Zum Vergleich hier der rekonstruierte Sanskrittext Vaidyas:
mahākṛtyena batēyaṁ bhagavan!
prajñāpāramitā pratyupasthitā.
acintya-kṛtyena,
atulya-kṛtyena,
aprameya-kṛtyena,
asaṁkhyeya-kṛtyena,
asamasama-kṛtyena.
Eine Reihe von Textelementen zeigt an, dass dies sicherlich nicht die SanskritFassung war, die Lokakṣema und Zhi Qian vor sich hatten. Eines davon ist,
dass es hier fünf statt nur vier Negationen gibt. Das fünfte Glied, „asamasama-kṛtyena“, bedeutet „das Ungleiche gleich machend“.29 Die chinesische
Übersetzung von atulyakṛtyena sagt wörtlich: „Es gibt nichts, das mit ihm in
dieselbe Klasse gestellt werden könnte“, woher sich die Übersetzung „unvergleichbar“ herleitet.
Der Ausruf ist in zwei Richtungen wirksam: [Was] jenseits aller ratio des
Denkens, jenseits aller Messung von Gewicht, jenseits alles Vergleichens und
jenseits aller Finalität [liegt, das ist] die prajñāpārami. Und: Sucht man danach, was prajñāpārami sei, dann stellt sich heraus, man fasse es oder nicht,
dass sie dasjenige jenseits aller ratio des Denkens, jenseits aller Messung von
Gewicht, jenseits alles Vergleichens und jenseits aller Finalität sei. Liest man
die Verse in diesen reziproken Richtungen, könnte man jedes Menschenwesen
an jedem Ort der Erde und zu jeder Zeit fragen, ob er oder sie wisse, wer oder
was dasjenige jenseits aller ratio des Denkens (in jeder ratio des Denkens),
jenseits aller Messung von Gewicht (beim Messen von Gewichten), jenseits
alles Vergleichens (gerade dann, wenn zwei Dinge verglichen werden) und
jenseits aller Finalität (wenn eine Grenze oder ein Ende erreicht werden) sei.
Was immer derjenige dann wahrheitsgemäß und richtig antworten wird, wäre
zugleich „prajñāpārami“, „die äußerste Vollendung der Weisheit“, die von
der äußersten herausragenden Größe ist. Fragt man einen Juden, einen Christen, einen Muslim, ob er, zumal voll des Enthusiasmus, eben dies Rätselhafte
kenne, wie würde jeder von ihnen antworten, bei welchem Namen würde er es
nennen? Wie immer die Antwort lauten würde, für einen Nachfolger Subhutis
wäre klar, dass diese im Aussprechen unaussprechliche Sache die eine und
einzige „vollkommene Vollendung“ der Geburt und des Todes wäre, für die er
oder sie lebt.
Aber wer ist ein Nachfolger Subhutis? Spielt er nur einen Part im vielstimmigen Konzert der Pluralität? Ist er ein Fremder, der einem anderen Glauben
folgt als dem meinen? Ist er ein weiteres Beispiel in der Diversität der Kulturen und Epochen? Wenn wir von der hier studierten Schrift her urteilen,
müssen wir sagen, dass alle diese Vermutungen oder Erwartungen in die Irre
29
EDGERTON, Buddhist Hybrid Sanskrit Grammar and Dictionary, Bd. II: Dictionary, 83:b, gibt
„without a peer, unequalled, supreme“.
DIE UNVERGLEICHBARKEIT DER PRAJÑĀPĀRAMITĀ
23
führen. Ein Nachfolger Subhutis ist jeder überall zu jeder Zeit, der in der Tat
versteht, was der enthusiastische Ausruf des vierversigen Kapitelkopfstücks
sagt, eingeschlossen jener starke linguistische Brocken, dessen hervorstechendstes Gebrauchsmerkmal, dessen Pragmatik in jeder konventionellen
Sprache darin beruht, dass niemand gut beraten wäre zu meinen, man könne es
denken, messen, vergleichen, definieren; und zusätzlich vom Sanskrittext her:
Es könne als einem Anderen gleich gedacht werden. Wollte jemand sich damit
hervortun, er könne es einer Versammlung verständlich oder es einem Anderen gleichrangig machen, das das Auditorium schon kennt, weil es bei ihm,
auf seiner eigenen Seite, einheimisch ist, es würde damit auf der Stelle zerstört
werden und verloren gehen. Es ist nicht solchen Charakters, hier zu Hause und
fremd dort zu sein.
Spräche ein Jude: „Gerade dies ist Adonai“, was könnte dagegen vorgebracht werden? Spräche ein Christ: „Gerade dies ist der Herr“, spräche ein
Muslim: „Gerade dies ist Allah“, spräche ein Daoist: „Gerade dies [ist] der
Weg“, was könnte dagegen vorgebracht werden? Sie alle, die das unvergleichbare, untrennbare Eine mit verschiedenen Namen nennen – „et si quid
aliud huiusmodi dicitur“, schreibt der späte Thomas von Aquin, wo auch er
der christlichen Theologie Fremdes, nämlich die aristotelische Metaphysik
zitiert –, sind damit schon dabei, jedem Gedanken an „Mein“ und „Dein“ zu
widerstehen, es gerade nicht mit einem Anderen zu vergleichen, es nicht zu
behandeln, als ob es im Austausch mit einem anderen Gut stünde – „nihil
eorum potest ei competere“ –, nicht zu denken, es sei etwas in seinem eigenen
Recht, sondern es zu lassen, wie und was es ist: grenzenlos und unbestimmbar.
Sobald jeder der Genannten dasjenige erkennt und von dem ergriffen wird,
was in Subhutis Ausruf gesagt ist, ist die letzterfüllende Vollendung schon
gegenwärtig. Daher muss dieses äußerste Ende früher sein als alles, dem die
Zahl Zwei oder der Status eines „Zweiten“, „Anderen“ in der Zeitlinie zugewiesen werden kann.
Darum können wir in keiner Weise sagen, „Adonai“, „der Herr“, „Allah“,
„der Weg“ seien dasselbe wie prajñāpāramitā, denn das würde ein „Zweierlei“ aus ihnen machen. Aus dem gleichen Grunde können wir in keiner Weise
sagen, sie seien verschieden. Wir können nur sagen, dass die Negation, von
der im Eröffnungsausruf des Kapitels streng Gebrauch gemacht wird, das
einzige Mittel ist, mit dem gezeigt werden kann, dass es keine Negation gibt
und es eben deswegen (und nur so) die Negation gibt. Wenn man sich so ausdrückt, ist dies ein Versuch, die Struktur jeder einzelnen Übung zu beschreiben, die als prajñāpāramitā ausgeführt wird. Wenn jemand, der als Christ
groß wurde, die prajñāpāramitā-Übung ausführt, wird er dadurch, gemäß
unserem Text, ein Nachfolger Subhutis, sich streng dessen enthaltend, ihre
oder seine christliche Ambition mit derjenigen der buddhistischen prajñāpāramitā zu vergleichen. Das liegt daran, dass es keine derartige Sache wie
die „prajñāpāramitā“ gibt, wie es ebenso auch kein derartiges Etwas wie den
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