Jacqueline Karl Selbstbestimmung und Individualität bei Platon ALBER THESEN A Gegen Hegels philosophiegeschichtliche Auffassung, erst die Bedingungen christlicher Innerlichkeit hätten ein Selbstbewusstsein der Individualität ermöglicht, vertritt die Autorin die These, dass bereits in den Dialogen Platons Selbstbestimmung und Individualität Gegenstand der philosophischen Erörterung sind. Die Interpretationen von Alkibiades I, Apologie, Gorgias, Symposion und Politeia zeigen, dass wesentliche Bestimmungsaspekte beider Begriffe nachzuweisen sind. Zu diesen gehören das Selbst und seine funktionale Einheit im Handlungsvollzug sowie dessen individuelle Identität, das Primat eigener Einsicht und Selbstständigkeit als Ergebnis philosophischer Selbsterkenntnis, menschliches Handeln als selbstbestimmter Vollzug der eigenen Lebensweise und nicht zuletzt ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein eigenständiger Individualität, das von den praktischen Bedingungen des Handelns nicht gelöst werden kann. Allerdings bleibt die Autonomie in moderner Bedeutung außen vor, weil Selbstbestimmung bei Platon durch die unhintergehbare Intentionalität des Handelns auf das Gute eingeschränkt ist. Nach Ansicht der Autorin ist damit für ein angemessenes Verständnis menschlicher Praxis kein Nachteil verbunden, weil der platonische Begriff durch den Bezug auf das Gute auch die existenzielle Dimension des Individuums umfasst. Die abschließende Analyse der Politeia, in deren Zentrum der Begriff der Individualität steht, macht hinreichend deutlich, dass Platon nicht nur dem Philosophen als dem Gerechten, sondern auch den Ungerechten Individualität zuspricht. Jacqueline Karl Selbstbestimmung und Individualität bei Platon Eine Interpretation zu frühen und mittleren Dialogen Die Autorin: Jacqueline Karl, Jahrgang 1966, Studium der Philosophie und Musikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2008 Promotion im Fach Philosophie, seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Akademienvorhaben »Kant’s gesammelte Schriften« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Verlag Karl Alber Freiburg / München Alber-Reihe Thesen Band 37 7Hresen oªn moi ka½ ¥n t† mÐj†w ¡ Promhje±@ m”llon to‰ 3Epimhjffw@‡ † crðmeno@ ¥g ka½ promhjoÐmeno@ ¢pþr to‰ bfflou to‰ ¥mauto‰ pant@ p€nta ta‰ta pragmateÐomai, … Auch in jener Geschichte hat mir Prometheus besser gefallen als der Epimetheus, und eben weil ich es mit ihm halte und auf mein ganzes Leben im voraus Bedacht nehmen möchte, beschäftige ich mich mit diesen Dingen, … (Prt. 361d2–5) Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48405-0 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 11 20 a. b. c. d. 1. Hegels philosophiegeschichtliche These . . . . . . . . . . Antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische und methodische Vorklärungen . . . . . Anthropologische Voraussetzungen von Selbstbestimmung bei Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Mensch – ein Mängelwesen . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Mensch – ein Wesen in praktischen Selbstverhältnissen 1.3 Die Bedeutung des Umgangs mit anderen und anderem . . 2. Das Selbst (t a't) und seine Identität . . . . . . . . . 2.1 Was ist das Selbst (t a't)? – Alkibiades I . . . . . . . . 2.2 Zum Problem der Identität im Symposion (207a5–208b7) . 29 52 63 63 71 78 87 88 104 Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Apologie: Leben als Selbsterforschung . . . . . . . . . 3.2 Selbsterkenntnis im Auge des anderen – das Spiegelgleichnis im Alkibiades I . . . . . . . . . . . . 121 123 . . . . . 4.1 Handeln als selbstbestimmter Vollzug (466b–468e) . . . . 165 168 3. 4. Selbstbestimmung und Individualität im Gorgias Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 143 A 7 Inhaltsverzeichnis 4.2 Wie soll ich leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Antwort des Kallikles – Leben für die Begierden 4.2.2 Sokratische Selbstbeherrschung als Lebensweise . . 4.2.3 Das Motiv der Übereinstimmung mit sich selbst . . 4.2.4 Selbstbestimmung und Individualität der Lebensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 194 201 208 Individualität und Selbstbestimmung in der Politeia . . . 5.1 Platons individualitätstheoretischer Ansatz in der Politeia 5.2 Die Individualität des Gerechten und der Ungerechten . 5.2.1 Die Gerechtigkeit der Einzelseele und ihre Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Einer sein – Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Der Charakterdiskurs im VIII. und IX. Buch – die Individualität der Ungerechten . . . . . . . . 5.2.4 Der Philosoph als Persönlichkeit . . . . . . . . . . 5.3 Die Wahl der Lebensweise – »Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.« (617e4 f.) . . . . . . . . . . . 243 247 264 . 264 . 273 . . 288 310 . 331 5. Vorwort 225 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Noch immer gehört es zum Grundbestand aktueller philosophiehistorischer Auffassung, Platon (und der Antike) ein Problembewusstsein von Selbstbestimmung und Individualität abzusprechen. Liest man die Dialoge allerdings ohne Vorbehalt, lässt sich entgegen weitverbreiteter Vorurteile zeigen, dass Platon erstaunlich viel und sowohl historisch als auch systematisch Wichtiges zu diesem Thema zu sagen hat. Die vorliegende Arbeit, in der ich diesen Nachweis zu führen versuche, ist die redigierte und geringfügig gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2007/08 vom Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Volker Gerhardt, dem ich einen im Vergleich zur üblichen Lesart Platons anderen Zugang zu den platonischen Dialogen verdanke und der als Doktorvater die Entstehung der Arbeit – über einen längeren Zeitraum und teilweise unter nicht förderlichen Bedingungen – mit Rat, Geduld und Vertrauen begleitet hat. Ebenfalls herzlich möchte ich Christof Rapp danken. Als Zweitgutachter hat er durch seine kritischen Anmerkungen und Fragen meinen Blick und mein Problembewusstsein geschärft. Für kritische Korrektur und Lektüre, hilfreiche Hinweise und anderweitigen Beistand danke ich ebenso herzlich namentlich Bettina Fröhlich, Colin G. King, Reinhard Mehring, Barbara Schulz und Héctor Wittwer, und nicht zuletzt Frank Opitz, der nicht nur meine Freuden aus nächster Nähe mit mir geteilt hat. Mein herzlicher Dank gilt ebenso Lukas Trabert vom Karl Alber Verlag für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe »Thesen«. Berlin, am 2. Mai 2010 8 ALBER THESEN Jacqueline Karl Selbstbestimmung und Individualität bei Platon Jacqueline Karl A 9 Einleitung a. Hegels philosophiegeschichtliche These »Man muß wissen, was man in den alten Philosophen oder in der Philosophie jeder anderen bestimmten Zeit zu suchen hat, oder wenigstens wissen, daß man in solcher Philosophie eine bestimmte Entwicklungsstufe des Denkens vor sich hat und in ihr nur diejenigen Formen und Bedürfnisse des Geistes zum Bewußtsein gebracht sind, welche innerhalb der Grenzen einer solchen Stufe liegen.« 1 Wer das missachtet, bemüht sich aus der Sicht Hegels vergeblich oder gelangt zu einer falschen Interpretation. Genau dieser Fall würde nun bei der Suche nach Selbstbestimmung und Individualität bei Platon eintreten, denn die querelle des anciens et des modernes um den Anspruch auf Subjektivität ist nach neuzeitlichem Selbstverständnis entschieden: Weil erst die Bedingungen christlicher Innerlichkeit ein Selbstbewusstsein der Individualität ermöglicht hätten, stehe die Antike jenseits der christlich inspirierten Moderne, allein diese sei durch das Prinzip der subjektiven Freiheit ausgezeichnet. Aber worauf gründet diese Behauptung, die sich auf Hegel als ihren prominentesten Vertreter berufen kann? Für Hegel ist die Philosophie als die Selbstentwicklung des Geistes identisch mit ihrer eigenen Geschichte. Deren Rekonstruktion als eines in sich einheitlichen und notwendigen Fortschritts des Geistes zu sich selbst liegen die Prämissen von Hegels eigener spekulativ-dialektischer Theorie zugrunde. Gemäß seinen Vorgaben teilt Hegel in der Einleitung seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie diese in zwei Epochen ein, und zwar in die antike bzw. griechisch- G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 18, 67 f. Vgl. zu diesem hermeneutischen Problem generell ebd., 58–69. 1 Selbstbestimmung und Individualität bei Platon A 11 Einleitung Hegels philosophiegeschichtliche These römische und die christliche Philosophie, d. h. vor allem die Philosophie der Neuzeit. 2 Zu dieser Einteilung sieht sich Hegel aufgrund einer prinzipiellen Differenz berechtigt: 3 Die neuzeitliche Philosophie sei durch den Gegensatz des Verhältnisses von Subjekt und Objekt bzw. Denken und Sein und – in hegelscher Terminologie – die Forderung, diesen Gegensatz als Einheit zu denken, bestimmt. Erst im Selbstbewusstsein setze sich das Subjekt in einen Gegensatz zum Objekt, wodurch sowohl das Subjekt als Subjekt für sich selbst als auch das Objekt als Objekt für das Subjekt und zugleich das Subjekt als dasjenige, was sich auf das Objekt bezieht, überhaupt erst vorstellbar werden. Allein unter dieser Voraussetzung der im Selbstbewusstsein vorliegenden und zugleich erkannten Reflexionsstruktur könne das Subjekt erkenntnistheoretisch wie auch moralisch-praktisch als letzte Begründungsinstanz fungieren. Weil in der Philosophie von Descartes das Selbstbewusstsein nicht nur ausdrückliches Thema der Philosophie, sondern erstmalig das Gewissheit und Erkenntnis fundierende Prinzip der Philosophie selbst sei, sieht Hegel in Descartes den exemplarischen Beginn der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie: »Mit ihm [Descartes] treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbständig aus der Vernunft kommt und daß das Selbstbewußtsein wesentliches Moment des Wahren ist. Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ›Land‹ rufen; […]. In dieser neuen Periode ist das Prinzip das Denken, das von sich ausgehende Denken«. 4 Im Gegensatz dazu setze die antike Philosophie das Denken mit dem Sein gleich, weil in ihr das Subjekt sich noch in einer unmittelbaren, d. h. unreflektierten Weise auf das Objekt beziehe. Und das ist, nach hegelscher Auffassung, in einem prinzipiellen Sinn zu verstehen: Nicht, dass die antike Philosophie nicht nach dem Menschen und seinen Vermögen gefragt hätte, aber in diesem Fall begreife sie das Subjekt nicht als solches, d. h. nicht als Voraussetzung aller Objektivität, Diese Zweiteilung wird durch eine ebenso in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zu findende Dreiteilung – in griechische, mittelalterliche und neuzeitliche Philosophie – nicht zurückgenommen, weil Hegel die Philosophie des Mittelalters nur als Zeit der Vorbereitung auf die Neuzeit deutet bzw. ihr wegen ihrer Unterordnung unter die Vorgaben der Theologie eine eigenständige Philosophie abspricht. 3 Vgl. dazu ebd., 123–132, bes. 129 f. 4 Ebd., WA 20, 120. sondern – analog wie anderes Seiende – als ein Objekt. Philosophierend sei das antike Denken immer sofort bei dem, was ist – dem Ansichsein der Objekte, und verstehe sowohl Denken als auch Handeln von deren jeweiligen, ihnen vorausliegenden Gegenständen her. Deshalb kenne die antike Philosophie noch nicht das, was die neuzeitliche Philosophie charakterisiert: den Ausgangspunkt des Denkens im Denken selbst und dessen konstituierenden Bezug auf seine Objekte. Dieser fehlende, weil noch nicht begriffene Rückbezug auf sich selbst verhindere, dass Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, als dessen praktisches Pendant, als philosophische Probleme zu den Themen antiker Philosophie gehören konnten. Das moderne Prinzip der subjektiven Freiheit, welches angeblich die entscheidende Differenz zwischen Antike und Moderne ausmacht, kommt nach Hegel indes schon mit dem Christentum in die Welt: 5 Wenn auch nicht in der Klarheit des philosophischen Gedankens erkannt, sondern im Medium der religiösen Vorstellung gedacht, sei diese Religion Ausdruck einer gelungenen Versöhnung der Gegensätze, sodass Hegel im Christentum die Antizipation seiner eigenen Philosophie diagnostiziert. Erst angesichts des absolut und personal gedachten Gottes und der damit verbundenen Ohnmacht des Menschen gelange der Einzelne zu einem ausdrücklichen Selbstbewusstsein. Zugleich werde dieser Gegensatz zwischen dem Absoluten und dem endlichen Individuum durch die Menschwerdung Gottes und der Vergöttlichung des Menschen in der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur sowie absolutem und individuellem Geist versöhnt: Im Christentum wird »der Geist als daseiender, gegenwärtiger, unmittelbar in der Welt existierender Geist, […] der absolute Geist in unmittelbarer Gegenwart als Mensch« gewusst. 6 Weil aber der Einzelne die Versöhnung an sich selbst zu vollbringen habe, indem er sich als Mensch, d. h. als allgemeine Subjektivität, begreift, werde er zum Gegenstand der jedem Subjekt zukommenden göttlichen Gnade. Erst im Christentum, so Hegel, ist »wesentlich der individuelle persönliche Geist von unendlichem, absolutem Werte«. 7 2 12 ALBER THESEN Jacqueline Karl Vgl. dazu ebd., WA 19, 493 ff. Vgl. auch ebd., WA 18, 68 f. und 127 f.; ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, WA 7, § 124, 233 und § 185, 342 f.; ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, WA 10, § 482, 301 f. 6 Ebd., 507. 7 Ebd., WA 18, 68. 5 Selbstbestimmung und Individualität bei Platon A 13 Einleitung Hegels philosophiegeschichtliche These Hingegen war dem Griechen die »Selbständigkeit des Ich in sich«, das Bewusstsein, als Mensch frei zu sein, fremd, weil – und hier zeigt sich nach Hegel die Ursache der Grenze des griechischen Selbstverständnisses – der Begriff eines absoluten Gottes und die damit verbundene Göttlichkeit des einzelnen Individuums fehlten: »Die Griechen hatten menschlich gebildete Götter, hatten Anthropomorphismus; ihr Mangel ist, daß sie dies nicht genug waren. Die griechische Religion ist zuviel und zuwenig anthropomorphistisch: zuviel, indem unmittelbare Eigenschaften, Gestalten, Handlungen ins Göttliche aufgenommen sind; zuwenig, indem der Mensch nicht als Mensch göttlich ist, nur als jenseitige Gestaltung, nicht als Dieser und subjektiver Mensch.« 8 Es ist nicht zu übersehen, dass Hegel im Begriff des christlichen Gottes die entscheidende Bedingung für die Ausbildung der Subjektivität sieht und demnach das Selbstverständnis der Moderne – gerade in seiner Abgrenzung von der Antike – im Christentum, der »zweite[n] Weltschöpfung«, 9 seine Voraussetzungen hat. Das von Hegel ausgehende, mit einem christlichen Vorbehalt versehene philosophiegeschichtliche Urteil, der Antike ein Bewusstsein für Subjektivität abzusprechen, ist bis heute fast ausnahmslos in der Philosophiegeschichtsschreibung tradiert worden. So geht Eduard Zeller in seinem Hauptwerk Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, das über Jahrzehnte hinweg die Philosophiegeschichtsschreibung dominierte, vom hegelschen Ansatz einer inneren Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung aus: 10 Obgleich er sich von Hegels Parallelisierung von philosophischer Logik und historischer Abfolge distanziert, übernimmt er die vorgegebene Subjekt-Objekt-Relation als Deutungs- und Gliederungsschema der griechischen Philosophie. Im Unterschied zur neuzeitlichen Philosophie, die nach der Einheit des Gegensatzes zwischen Geist und Natur strebe, sei der Charakter der antiken Philosophie durch das unmittelbare, ungebrochene Ineinander von Geistigem und Natürlichem, das harmonische Verhältnis zwischen Subjektivem und Objektivem ge- prägt. Selbst in der nacharistotelischen Philosophie, in welcher sich Anfänge der Subjektivität zu entwickeln begännen, sei diese Philosophie nicht fähig, den Gegensatz zwischen Geist und Natur wirklich zu vollenden und ihn angemessen zu vermitteln, weil sich die ursprüngliche Voraussetzung des griechischen Denkens – sein Objektivismus – immer wieder geltend mache. Mit Wilhelm Dilthey gelangt diese Auffassung auch in den philosophischen Lehrbestand: 11 Obwohl durch Sokrates erstmalig die Selbstbesinnung in der Philosophie auftrete, indem er auf den letzten Erkenntnisgrund einer jeden Behauptung zurückging und diesen im sittlichen Bewusstsein fand, vermochte auch Sokrates nicht die Grenze des griechischen Geistes zu überschreiten. Die Begrenzung besteht für Dilthey im objektiven Standpunkt griechischen Denkens, sich auf ein vom Subjekt unabhängiges, dem Erkennen vorausgesetztes Sein zu beziehen: »Auch der Selbstbesinnung des Sokrates geht nicht auf, daß die Außenwelt Phänomen des Selbstbewußtseins, daß uns aber in diesem selber ein Sein, eine Wirklichkeit gegeben sei, deren Erkenntnis uns allererst eine unanfechtbare Realität aufdeckt.« 12 Die Wende zum Subjekt gelingt nach Dilthey erst in der Innerlichkeit des Christentums, in dessen Geistesverfassung er sowohl die Anforderung als auch die Möglichkeit einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden erkenntnistheoretischen Grundlegung sieht. Dieser neue Standpunkt des Selbstbewusstseins findet für Dilthey seinen ersten exemplarischen Ausdruck bei Augustinus: Der Kirchenvater habe in der Selbstbesinnung die unmittelbare Selbstgewissheit der inneren Erfahrung des Subjekts aufgedeckt und diese keinem Zweifel unterworfene Realität zum Ausgangspunkt seiner begrifflich-theoretischen Anstrengungen gemacht. Pointiert formuliert findet sich die hegelsche Auffassung, erneut unter christlichem Vorbehalt stehend, bei Gerhard Krüger, der mit ausdrücklichem Bezug auf Hegel »im Christentum den Grund der Wendung zum Selbstbewußtsein« sieht und nach dessen Auffassung eine »vollständige Geschichte des philosophischen Selbstbewußtseins […] Ebd., WA 19, 508. Vgl. zu dieser Entsprechung von anthropomorphem Polytheismus griechischer Gottesvorstellung und menschlichem Selbstverständnis der Griechen auch ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, WA 17, 123 ff., 128 ff. und 141 ff. 9 Ebd., 510. 10 Vgl. dazu E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, Teil I/1 (1844), 2006, 176–196. Zu Zellers Interpretation vgl. H. J. Krämer, Die Bewährung der historischen Kritik, 1994, bes. 149. 11 Vgl. dazu W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1922, 177–179; zur neuen Geisteshaltung des Christentums, insbesondere bei Augustinus vgl. ebd., 250– 267. 12 Ebd., 178 f. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 8 14 Jacqueline Karl A 15 Einleitung Hegels philosophiegeschichtliche These mit Augustin beginnen« müsste, 13 denn die Griechen waren »Weltbetrachter, nicht Selbstbetrachter«. 14 Selbst Martin Heidegger lässt sich in die Nachfolge Hegels stellen, wenngleich sein Subjektivitätsvorbehalt gegenüber der Antike ganz anderer Provenienz ist: 15 Hegel hatte sein System des spekulativen Idealismus als Vollendung der Philosophie verstanden und von dieser Vollendung her die griechische Philosophie als deren Beginn begriffen. Weil Hegel infolgedessen »das Wesen der Geschichte aus dem Wesen des Seins im Sinne der absoluten Subjektivität« 16 fasst – d. h. Sein als Anwesenheit und Wahrheit als Richtigkeit und Gewissheit –, vermag er aus der Sicht Heideggers auch das Sein im griechischen Sinne nicht aus dem Bezug zum Subjekt zu entlassen: Selbst das unbestimmte Unmittelbare bzw. das abstrakte Allgemeine des griechischen Denkens sei für Hegel das vom bestimmenden und begreifenden Subjekt Gesetzte, auch wenn sich das antike Subjekt noch nicht als solches begriffen habe. Dass Hegels Philosophie nach dieser Auslegung in die Geschichte der europäischen Metaphysik als einer den wahren Sinn von Sein ver- stellenden Geschichte der »Seinsvergessenheit« gehört, ist die eine Seite. Die andere, dass Heidegger für die Wiedergewinnung des ursprünglichen Sinnes von Sein als eines dynamischen Geschehens und von Wahrheit als Unverborgenheit ein Selbstverständnis des Menschen jenseits von Subjektivität reklamiert und aufgrund dessen jede Suche nach Subjektivität unter sein Verdikt der Seinsvergessenheit fällt. 17 Nun speziell zu Platon: Ihn trifft zusätzlich das bekannte hegelsche Diktum, er habe in der Politeia nur »die Natur der griechischen Sittlichkeit« aufgefasst, hingegen das »Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen« nicht nur nicht beachtet, sondern absichtlich verletzt, indem er »ihm seinen nur substantiellen Staat entgegenstellte und dasselbe bis in seine Anfänge hinein […] ganz ausschloß«. 18 Aus der Sicht Hegels konnte für Platon das neue Prinzip nur ein Prinzip des Verderbens und Untergangs sein, da es dem griechischen Geist der unbefangenen Sittlichkeit widersprach. Dieses Platon-Bild Hegels steht allerdings in einem auffälligen Gegensatz zu seiner Sokrates-Darstellung: 19 Hegel hatte in aller Aus- G. Krüger, Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins, 1933, 230. Sein christlicher Vorbehalt richtet sich gleichzeitig – am Beispiel Descartes’ – gegen die Vereinseitigungen und Folgen der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie, welcher er die ursprüngliche Fassung des Selbstbewusstseins in der Tradition theologischen Denkens augustinischer Herkunft affirmativ gegenüberstellt. Vgl. auch ders., Grundfragen der Philosophie, 1958, 110–128. 14 G. Krüger, Grundfragen der Philosophie, 1958, 73. Vgl. dazu das Kapitel: Das Schicksal der Wahrheitsfrage. a) in der Antike, ebd., 73–110. Die Aufzählung ließe sich beliebig erweitern: Heinz Heimsoeth kontrastiert die metaphysische Überordnung des Allgemeinen über dem Individuellen im antiken Weltbild, besonders in Form des absoluten Seinsvorranges des Allgemeinen im platonisch-aristotelischen Universalismus, scharf mit der durch das Christentum erfolgten Umkehrung der Bedeutung und Blickrichtung: Das Allgemeine werde jetzt vom Individuellen aus gedacht, dessen Einzigartigkeit sogar noch zusätzlich betont (Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik, 1922, daraus: V. Das Individuum, 236 ff.). Julius Stenzel spricht von einer charakteristischen »Abdämpfung des individuellen Selbstbewußtseins, indem der Einzelne nicht auf sich zu – reflektierend – sondern von sich weg ins Gegenständliche hinein seinen Blick richtet«, die als Folge einer »kosmischen Auffassung vom Menschen« der griechischen Metaphysik sogar in der ausdrücklich auf das Sein des Menschen gerichteten Fragestellung des Sokrates beibehalten sei (Metaphysik des Altertums (1934), 1971, 30; zu Sokrates vgl. ebd., 90 f. und 96–98). Vorurteile sind oftmals zeitresistent, noch Ende der 80er-Jahre sieht Hans Robert Jauss den Anfang des Individuums in der Heraufkunft des Christentums und bei Augustin (Vom plurale tantum der Charaktere, 1988, 242 ff.). 15 Vgl. dazu M. Heidegger, Hegel und die Griechen, 1960. 16 Ebd., 54. 17 »Aber die 3Alffijeia, die Entbergung, spielt […] im Ganzen der griechischen Sprache, die anders spricht, sobald wir bei ihrer Auslegung die römischen und mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorstellungsweisen aus dem Spiel lassen und in der griechischen Welt weder nach Persönlichkeiten, noch nach dem Geist, noch nach dem Subjekt, noch nach dem Bewußtsein suchen.« (Ebd.) 18 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, WA 7, Vorrede, 24 und § 185, 342. Vgl. auch ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 19, 113 f. und 123–129. Die Berufung auf Hegels Diktum gegen Platon findet sich immer wieder im Kontext politischer Philosophie, so z. B. bei Karl R. Popper (wenn auch kritisch gegen Hegel gewendet), der Platon als »Urvater« des modernen Totalitarismus namhaft machte (Die offene Gesellschaft, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 1980, 392 f., Anm. 43 mit Bezug auf den § 185 der Grundlinien der Philosophie des Rechts). In der Tradition Hegels steht auch die Kritik von Dolf Sternberger an der Einheitskonzeption des platonischen Staates, welcher er die Vielheit als das fundamentale Konstituens der Polis des Aristoteles entgegenhält, wenngleich mit einer im Vergleich zu Hegel völlig anderen Pointe: Indem Sternberger Einheit und Vielheit als kategorialen Gegensatz auffasst, und zwar als fundamentalen Unterschied in der Wesensbestimmung des Staates, und diesen Kategorien zwei, Antike und Moderne übergreifende Traditionslinien zuzuordnen vermag, wird bei ihm aus der zunächst naheliegenden »querelle politique des anciens et des modernes« innerhalb der politischen Philosophie die »querelle des Platoniens et des Aristotelistes« (Politie und Leviathan, 1990, bes. Kapitel: Der Staat – Vielheit oder Einheit?, 289 ff.; ebenso ders., Drei Wurzeln der Politik, 1978, 105 ff. und 392 f.). 19 Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 18, 441 ff. und 467 ff. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 13 16 Jacqueline Karl A 17 Einleitung Hegels philosophiegeschichtliche These drücklichkeit Sokrates »das Prinzip der subjektiven Freiheit, daß man das Bewußtsein in sich selbst führt«, zugesprochen und ihn zudem als »Hauptwendepunkt des Geistes in sich selbst« begriffen! 20 Sollte der bedeutendste Schüler wirklich das, was seinen Lehrer charakterisierte, bewusst negiert haben, nach Hegel sogar mit Notwendigkeit, weil die Entwicklungsstufe des Geistes nichts anderes zuließ? Die merkwürdige Trennung zwischen Sokrates und Platon beruht auf einer nahezu ausschließlich an Xenophon 21 und Aristoteles orientierten Sokrates-Interpretation. Hegel versteht Sokrates hauptsächlich als ethischen Begriffsphilosophen, der auf der Ebene des reinen Verstandesdenkens bisher geltende Normen destruierte. Selbst aber blieb Sokrates – und das kennzeichne den Mangel seines Prinzips – bei der Unbestimmtheit der sittlichen Allgemeinbegriffe stehen, insofern er »das Gute an sich« nicht zu konkretisieren vermochte. Weil er sich nicht als derjenige wisse, der mit Bewusstheit in sich selbst entscheide, berufe er sich für Entscheidungen in konkreten Situationen auf sein daimnion: in der eigenwilligen Umdeutung Hegels ein psycho-pathologisches Phänomen, ein in das subjektive Bewusstsein verlegtes eigenes, vordem für die Griechen äußeres Orakel. Zwar liege die Entscheidungsmacht der Sache nach in der Zuständigkeit des Individuums, erschiene aber bei Sokrates selbst – ebenso mangelhaft wie sein Wissen des Allgemeinen – als sein »Dämon« und könne als die Eigenheit dieses Individuums keinen Anspruch auf allgemeine Wahrheit erheben. 22 Abgesehen davon, dass Hegel die Bedeutung von Sokrates als »Hauptwendepunkt des Geistes in sich selbst« wieder relativiert, ist mit Blick auf das Verhältnis zu Platon entscheidend, dass er Sokrates einen theoretischen Wissensbegriff unterstellt und die dem sokratischen Philosophieren wesentlich existenziell-praktische Dimension des Begriffs von Denken und Wissen verkennt. In dieser Hinsicht macht sich dieses auch stark durch Aristoteles 23 geprägte Sokrates-Bild in Bezug auf Platon bemerkbar: So kann ebenfalls sein Schüler Platon in der hegelschen Deutung nicht als praktischer Philosoph verstanden werden, sondern das von Sokrates übernommene Erbe besteht nach Hegel ausschließlich in der Übernahme und Erweiterung des »sokratischen Standpunkts zur Wissenschaftlichkeit«, 24 d. h. in der Ausbildung der Philosophie zur Wissenschaft. Das Ausblenden der praktischen Dimension platonischer Philosophie steht ebenso im Zusammenhang mit Hegels eigenen Intentionen, die Philosophiegeschichte als Vorgriff auf seine eigene absolute Metaphysik spekulativ zu deuten. Indem Hegel die Spätdialoge Platons 25 und die platonische Dialektik in den Mittelpunkt seiner Auslegung stellt und diese als Vorwegnahme seiner eigenen spekulativen Dialektik versteht, folgt er der neuplatonischen Platon-Interpretation und trägt nicht unwesentlich zur absolut-idealistischen Dogmatisierung Platons bei. 26 Das die Individualität ausschließende Platon-Verständnis besteht letztlich – nicht nur bei Hegel – aus einem Bündel von Vor- Ebd., 468 und 441. Hegel spricht auch von der »weltgeschichtlichen Konversion«, welche das mit Sokrates erstmalig auftretende Prinzip der Subjektivität verursacht habe (ebd., 495). 21 Xenophon habe Sokrates »viel genauer und getreuer geschildert als Platon«, und zwar, man beachte, insbesondere »in Ansehung des Inhalts seines Wissens und des Grades, wie sein Denken gebildet war« (ebd., 477 und 520). Zu Aristoteles als Quelle für die Sokrates-Interpretation vgl. Anm. 23 unten. 22 »Der Dämon des Sokrates ist die ganz notwendige andere Seite zu seiner Allgemeinheit; wie ihm diese zum Bewußtsein kam, so auch die andere Seite, die Einzelheit des Geistes. […] Welcher Mangel in dieser Seite, werden wir sogleich bestimmen: nämlich der Mangel des Allgemeinen ist ersetzt selbst mangelhaft, auf eine einzelne Weise […]. Es erscheint darum als eine Eigenheit, welche nur einem Einzelnen zukam; dadurch erhält er den Schein der Einbildung, erscheint ihm nicht, wie er in Wahrheit.« (Ebd., 491) Dahinter steht auch ein prinzipieller Vorbehalt gegenüber der Moralität, der sich aus Hegels eigenem ethischen Ansatz ergibt: Moralität an sich ist ein einseitiger und insofern unberechtigter Standpunkt, solange sie nicht in einem übergreifenden Zusammenhang mit der objektiven Sittlichkeit des Volkes steht. Zu Hegels Sokrates-Auffassung vgl. E. Spranger, Hegel über Sokrates, 1938; E. Sandvoss, Hegels Antisokratismus, 1966. Zur Interpretation des daimnion des Sokrates vgl. H. Gundert, Platon und das Daimonion des Sokrates, 1977 und Anm. 119 im Kapitel 4.2.3 unten. 23 Bereits Aristoteles hatte als den wesentlichen Beitrag des Sokrates zur Philosophie den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen sowie das allgemeine Definieren und darin den Anfang der Wissenschaft gesehen (Metaph. XIII 1078b27–30, vgl. auch I 987b2–4). Ebenso hatte er bei seiner Kritik an Sokrates einen theoretischen Wissensbegriff vorausgesetzt, insofern dieser Tugend als Wissen (¥pistffimh) verstanden und sie dadurch mit zu definierenden Begriffen (lgoi) gleichgesetzt habe (EN I 1144b17–21 und 28–30). Hegel verweist zweimal innerhalb seiner Sokrates-Darstellung auf diese AristotelesStellen (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 18, 457 und 475). 24 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 19, 11. 25 In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie machen die Dialoge Politeia, Timaios und Parmenides »zusammen den ganzen Körper der Platonischen Philosophie aus« (ebd., 61). 26 Zu Hegels Platon-Deutung, wenngleich aus einer affirmativen Sicht, vgl. J. Halfwassen, Idee, Dialektik und Transzendenz, 1997. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 20 18 Jacqueline Karl A 19 Einleitung Antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung behalten – philosophiegeschichtlicher, christlicher und neuplatonischer Provenienz. Gegen Hegels philosophiegeschichtliche Auffassung argumentiere ich in der vorliegenden Arbeit dafür, dass in den Dialogen Platons das Problem von Selbstbestimmung und Individualität als philosophisches Problem präsent und Gegenstand der philosophischen Erörterung ist. Hatte Hegel zum einen die Philosophie als »die Eule der Minerva«, die »erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« beginnt, 27 und zum anderen seine Metaphysik der absoluten Subjektivität als Vollendung der Philosophie verstanden, so lässt sich in einem zweifachen Sinn von Hegel als dem Epimetheus der Geschichte der Philosophie sprechen. Hingegen haben wir Platon als prometheischen Denker zu begreifen – als philosophischen Gründer der Thematik. b. Antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung Mit der These, auch innerhalb der antiken Philosophie, speziell in der Philosophie Platons, lasse sich von Selbstbestimmung sprechen, stellt sich zugleich die Frage, inwiefern antike und moderne Ethik im Allgemeinen und antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung im Besonderen miteinander übereinstimmen oder nicht. Gehört das antike Verständnis nur zur Vorgeschichte des modernen Begriffs, sodass sich die Fortschrittsthese zumindest in einer moderateren Form weiterhin vertreten lässt? Oder beginnt mit der Antike bereits die Geschichte dieses Themas, vielleicht mit einer gegenüber der Moderne eigenständigen Ausformulierung? Gegenwärtige Positionierungen zu diesem Problem fallen sehr unterschiedlich aus. Sie reichen von einer Gegenüberstellung von antiker und moderner Ethik, verbunden mit der Intention, bestimmte Einseitigkeiten moderner Theoriebildung im Rückgriff auf antike Fragestellungen zu korrigieren, bis zu einer Antike und Moderne übergreifenden Kontinuitätsbehauptung. Letztgenannte schließt die Differenzen nicht aus, lässt sie aber gegenüber einer Betonung der Kontinuität in den Hintergrund treten: Die Kontinuität bestehe im Anspruch auf individuelle Selbstständigkeit einschließlich einer Radikalisierung dieses G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, WA 7, Vorrede, 28. 28 Vgl. dazu von V. Gerhardt: Moderne Zeiten, 1992, bes. 602 ff.; Selbstbestimmung, 1999, 107 ff. 29 Zum Vergleich von antiker und moderner Ethik bezüglich ihrer Konvergenz und Divergenz und insbesondere hinsichtlich einer möglichen Aktualisierung der antiken Ethik für die gegenwärtige Problemlage gibt es seit Längerem eine weitläufige, vielschichtige und kaum noch zu überblickende Diskussion: z. B. O. Gigon, Der Begriff der Freiheit in der Antike, 1973, bes. 51–56; H. J. Krämer, Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs, 1977, bes. 267–270; ders., Antike und moderne Ethik?, 1983; B. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000. Zur Renaissance, welche die antike Frage nach dem guten Leben seit einigen Jahren in der aktuellen Theoriediskussion erfährt, vgl. die angegebene Literatur in den Anm. 43 bis 47 unten. Für das Problem des Selbstbewusstseins bei Platon liegen bereits vergleichende Studien vor. Vgl. dazu die Angaben in Anm. 69 im Kapitel 3.2 unten. 30 »Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in ver- ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 27 20 Anspruchs unter modernen Bedingungen, und die Radikalisierung fände ihren Ausdruck in der von Kant benutzten Formel des Menschen als Zweck an sich selbst. 28 Zwar wird auch in der vorliegenden Arbeit von der Kontinuitätsannahme ausgegangen. Es ist allerdings zu fragen, ob sich das Verhältnis zwischen antikem und modernem Verständnis mit den Begriffen der Kontinuität und Radikalisierung angemessen erfassen lässt. Vorausgesetzt, dass jede historische Weiterführung einer Fragestellung als eine Metamorphose der ihr vorausliegenden Antwort begriffen werden kann, bleibt zunächst offen, ob die Differenz zwischen beiden Begriffsbestimmungen mit dem Gedanken der Radikalisierung adäquat angegeben ist. Es ist ebenso vorstellbar, dass einige Aspekte des ursprünglichen Begriffs nur noch sekundär von Bedeutung oder überhaupt nicht mehr in die neue Begriffsbestimmung eingegangen sind. In diesem Fall liegen eher zwei gegenläufige Bewegungen vor – Radikalisierung und Verlust. Dann besteht die Möglichkeit, dass die antike Philosophie, speziell die platonische, auf das Problem der Selbstbestimmung und Individualität auch eine andere Antwort gibt. Deren mögliche Aktualität würde von vornherein ausgeblendet, wenn sie als vormodern bezeichnet und ihr durch diese Bewertung eine nur philosophiehistorische Bedeutung zugestanden wird. 29 Der Unterschied zwischen antikem und modernem Verständnis wird angesichts des Begriffsgebrauchs bei Kant, welcher Selbstbestimmung als Begriff überhaupt erst in den philosophischen Kontext einführte, 30 offensichtlich: Abgesehen davon, dass Kant den Begriff nicht Jacqueline Karl A 21 Einleitung Antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung definiert, sondern nahezu beiläufig verwendet, könnte eine genaue Interpretation der Selbstbestimmungsformel des Willens zeigen, dass Selbstbestimmung nur partiell der Autonomie bzw. Selbstgesetzgebung entspricht und als der umfassendere Begriff auch den Bereich der von Kant sogenannten Heteronomie umfasst. Selbstbestimmung beschreibt zunächst nur die aller Moralität vorausliegende Handlung als solche und bezeichnet erst in einer ausdrücklich moralischen Perspektive die Selbstgesetzgebung des Willens. 31 Allerdings trifft Kant selbst diese Unterscheidung nicht, und eine moralneutrale Handlungstheorie ist in seinen Schriften nicht ausdrücklich ausgearbeitet, wenngleich vorausgesetzt, wie neuere Interpretationen zeigen konnten. 32 Nimmt man Kant in seinem tatsächlichen Vorhaben beim Wort, ein apriorisches Prinzip von Moralität zu begründen, das die strikte Allgemeingültigkeit und Unbedingtheit von moralischen Geboten verbürgt, dann ist sein Begriffsgebrauch insofern für die moderne Ethik paradigmatisch geworden, als dass Selbstbestimmung mit Autonomie, und das heißt: mit moralischer Autonomie, gleichzusetzen ist. Selbstbestimmung wird als das Vermögen des Willens bzw. der praktischen Vernunft gedacht, sich selbst durch sich selbst zu bestimmen. Der Wille gibt sich selbst in der Regelung seiner Maximen als letzten Bestimmungsgrund ein allgemeines Gesetz – den kategorischen Imperativ oder das Sittengesetz. Voraussetzung dafür ist die Freiheit des Willens von allen empirischen Bestimmungsgründen, wie Neigungen und Benünftigen Wesen anzutreffen sein. Nun ist das, was dem Willen zum objectiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftige Wesen gleich gelten.« (I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 427) Zur Begriffsgeschichte vgl. V. Gerhardt, Artikel Selbstbestimmung, 1995. 31 Vgl. neben der Selbstbestimmungsformel des Willens auch Kants Ausführung zu den »Principien der Sittlichkeit aus Heteronomie« und die »Rathschläge der Klugheit«, die als hypothetische Imperative das Erreichen der eigenen Glückseligkeit befördern sollen. (Ebd., 441 ff. und 416–419) 32 Gerold Prauss zeigt, indem er den Begriff der Autonomie anders als Kant nicht auf Moralität eingrenzt, dass der Bereich der Heteronomie und insbesondere das Streben nach Glückseligkeit als ein Handeln aus Neigung nicht als ein Fall von ausschließlicher Fremdbestimmung, sondern als Selbstbestimmung zu solcher Fremdbestimmung bzw. als Autonomie zur Heteronomie verständlich gemacht werden kann (Kant über Freiheit als Autonomie, 1983, 52 ff. und 101 ff.). Auch Beatrix Himmelmann gelangt in ihrer Kant-Interpretation zu dem Ergebnis, dass Kant neben der moralischen Autonomie im strengen Sinn eine moralneutrale Autonomie oder Selbstbestimmung des Willens angenommen hat (Kants Begriff des Glücks, 2003, 51 ff.). 22 ALBER THESEN Jacqueline Karl dürfnissen, subjektiven Absichten oder dem eigenen Glück. Gefordert ist also ein allgemeiner Standpunkt, der von einer nicht vergleichbaren Individualität gerade absieht, damit der kategorische Imperativ für alle vernünftigen Wesen gleich, d. h. ohne jede Einschränkung, Gültigkeit beanspruchen kann. Und nur dieser Bereich der intersubjektiven Normen, des richtigen bzw. gerechten Handelns kann Gegenstand der Moralphilosophie sein, weil nur auf die diesem Bereich korrespondierende moralische Frage sich nach Kant in der Philosophie streng begründbare und allgemeinverbindliche, d. h. universalisierbare Antworten finden lassen. Die andere praktische Frage, die sich auch und gerade mit dem Problem der Selbstbestimmung stellt, und zwar die ethische Frage im weiten Sinn als die Frage nach dem guten Leben bzw. dem wahren Glück des Individuums, schließen nach einem weitverbreiteten Verständnis Kant und die von seiner Konzeption ausgehende moderne Theoriebildung wegen begründungstheoretischer Schwierigkeiten aus der Moralphilosophie aus: 33 Zwar zählt Kant das menschliche Streben nach Glückseligkeit zu den Grundgegebenheiten menschlichen Daseins, hält es aber zugleich nicht für möglich, einen bestimmten, konsistenten Begriff von Glückseligkeit zu bilden, weil nach seinem Verständnis Glück prinzipiell auf Erfahrung bezogen ist, zugleich aber nach maximaler Erfüllung strebt und mit dem Gefühl der Lust bzw. des Wohlbefindens verbunden ist. 34 Nach diesem Begriff von Glück, der nicht ohne Weiteres selbstverständlich ist, 35 kann aus seiner Sicht das Prinzip der Glückseligkeit nicht einmal mehr eine sichere Orientierung im Handeln ermöglichen, geschweige denn als Prinzip von Moralität angenommen werden: Auf die Frage nach dem guten Leben können keine allgemeingültigen praktischen Prinzipien, höchstens ungewisse Ratschläge der Klugheit angegeben werden, weil die Antwort 33 Vgl. dazu E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, 1984, 45 ff.; U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 13; dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 12 f. Dass diese Lesart von Kant auf einem Vorurteil beruht, hat Beatrix Himmelmann eindrucksvoll belegen können (Kants Begriff des Glücks, 2003). 34 Vgl. dazu I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 418. Vgl. auch Kritik der reinen Vernunft, AA III, B 834: »Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive dem Grade und auch protensive der Dauer nach).« 35 Zum neuzeitlichen subjektiven Glücksbegriff als »Gefühl« und dessen Kritik vgl. M. Hossenfelder, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, 1992. Selbstbestimmung und Individualität bei Platon A 23 Einleitung Antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung aufgrund der jeweils subjektiven Bedürfnisse und Empfindungen individuell verschieden ausfallen muss. 36 Ebenso weist Kant die objektive Beantwortung zurück, welche ein inhaltliches Kriterium für die Beschaffenheit des Menschen angibt, weil der »ontologische Begriff der Vollkommenheit« leer und unbestimmt sei und zudem zirkulär, indem in ihm das bereits vorausgesetzt wird, worauf der Begriff erst eine Antwort sein soll. 37 Trotzdem ist das nicht Kants letztes Wort zur Glückseligkeit: Wenn uns auch in dieser Welt die Übereinstimmung unseres moralischen Verhaltens mit unserem je individuellen Glück notwendig versagt bleiben muss, so bleibt uns als der letzte Bezugspunkt das Ideal des höchsten Gutes: die Einheit von Moralität als der Bedingung für Glückswürdigkeit und der dieser Moralität angemessenen Glückseligkeit – und mit diesem Postulat zumindest die Hoffnung auf deren »jenseitige« Einheit. 38 Entgegen dieser Trennung von gutem Leben und Moralität dachte die antike Ethik diesseitiger, denn die umfassendere Frage nach dem guten Leben, die Frage nach der Glückseligkeit, der e'daimonffla, steht im Mittelpunkt der griechischen Ethik, allerdings ohne die moralische Problematik, worauf sich die moderne Ethik in der Nachfolge Kants hauptsächlich bezieht, auszuschließen, im Gegenteil: Die primäre Frage der antiken Ethik nach dem, was man wahrhaftig will, umschließt sekundär die Frage nach dem, was man in Bezug auf die anderen tun soll, und zwar derart, dass moralisches Handeln aus einem wohlverstandenen Eigeninteresse verstanden wurde, sodass individuelles Glück, t ⁄gajn, und moralisches Gutsein, t kaln ka½ t dfflkaion, miteinander übereinstimmen. Dieser Auffassung ging historisch die sophistische Aufklärung voraus, welche die traditionelle Moral als Konvention demaskiert und damit die Selbstverständlichkeit von moralischem Verhalten infrage gestellt hatte. Moral wurde infolgedessen begründungsbedürftig. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Moral und Glück, sahen die Sophisten im jeweiligen Interesse des Handelnden, d. h. seinem individuellen Wohlergehen, das Begründungskriterium schlechthin. Sie verbanden damit die Behauptung, dass moraZu Kants Ablehnung der subjektiven Möglichkeit einer Antwort auf die Frage nach der Glückseligkeit vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 442 f.; auch Kritik der praktischen Vernunft, AA V, § 3, 22 ff. 37 Vgl. dazu ebd., AA IV, 443. 38 Vgl. zum Verhältnis von Moral und Glück bei Kant knapp und pointiert M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, 1995, 20 ff. 39 mþn dikaiosÐnh ka½ t dfflkaion ⁄lltrion ⁄gajn t† nti (343c2 f.). Vgl. auch 367c3 f. und bereits 338c2 f. 40 Zu diesem Zusammenhang zwischen der Frage nach dem guten Leben und Philosophie bei Sokrates und Platon vgl. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 15 ff.; dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 11 f. und 31 ff.; H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000. 41 In der mir bekannten Forschungsliteratur ist bislang noch nicht nach Selbstbestimmung in der Philosophie Platons gefragt worden, eine Ausnahme bilden die Publikationen zu diesem Thema von Volker Gerhardt (vgl. die in der Bibliographie aufgeführten Titel des Autors). ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 36 24 lisches Handeln immer auf Kosten des eigenen Glücks geht, denn »die Gerechtigkeit und das Gerechte [sind] eigentlich ein fremdes Gut«, so lautet die von Thrasymachos vertretene These im Buch I der Politeia. 39 Aus diesem Grund sei dem eigenen Glück der Vorzug vor der moralischen Rücksicht gegenüber anderen zu geben. Die antike Ethik folgte den Sophisten in ihrem kritisch-rationalen Anspruch, moralisches Handeln neu zu begründen und sich dabei am Interesse des Handelnden zu orientieren. Sie behauptet aber gegen die These der Sophisten, dass gerade derjenige, welcher moralisch handelt, nicht gegen, sondern seinem wohlverstandenen Eigeninteresse entsprechend handelt und sein eigenes Glück nicht verfehlt, sondern gerade erreicht. Bei Platon steht die Frage, wie man leben soll, nicht nur im Mittelpunkt seiner im engeren Sinn praktischen Philosophie, sondern die Frage nach dem Guten ist die Frage sokratisch-platonischer Philosophie schlechthin: Philosophieren heißt, nach dem Guten zu suchen, und das in einem prinzipiellen Sinn, denn alle anderen Fragen müssen, wenn sie philosophisch sinnvoll sein sollen, auf diese Frage bezogen bleiben. 40 Dadurch hat Philosophie nicht ein theoretisches Wissen von den letzten Dingen oder ersten Prinzipien zum Gegenstand, sie ist also nicht – wie nach einem heute verbreiteten Verständnis – bloße Theoriebildung, sondern Philosophie wird zur Selbsterkenntnis, ohne die Erkenntnis der Welt auszuschließen. Nach diesem Verständnis des platonischen Begriffs von Philosophie als praktischer Selbsterkenntnis vertrete ich die weitere These, dass Platon Selbstbestimmung vom Individuum ausgehend gedacht hat. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die existenzielle Dimension des Problems als auch Bedingungen und Grenzen von Selbstbestimmung zu thematisieren. 41 Die angedeuteten Differenzen zwischen antiken und modernen Ethikkonzepten und insbesondere zwischen Platon und Kant sind der Jacqueline Karl A 25 Einleitung Antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung Hintergrund, vor dem diese Arbeit steht und vor dem sich der platonische Ansatz konturiert. 42 Das bedeutet allerdings nicht, auch nicht nach meinem Verständnis, dass die antike Ethik nur philosophiehistorisch von Belang wäre. Das Gegenteil ist der Fall: In den letzten zwei Jahrzehnten ist nicht nur ein verstärktes Interesse an einer Aktualisierung der Fragestellung nach dem guten Leben in der moralphilosophischen Diskussion zu beobachten, sondern es lässt sich vielmehr von einer Wiederkehr der Ethik des guten Lebens, einer regelrechten Renaissance dieses Themas sprechen – und zwar im Rückgriff auf die antike Ethik, wobei diese selbst erneuert oder als Korrektiv für Defizite der modernen Ethik benutzt wird. Denn insbesondere gegen den Formalismus der Ethik Kants und seiner Nachfolger wird der Ausschluss der ethischen Frage: »Wie soll ich leben?«, kritisiert und deren Wiederaufnahme und theoretische Ausarbeitung innerhalb der praktischen Philosophie in einer sich inzwischen differenzierenden Diskussion thematisiert: als Argumentation für einen objektiven Begriff des wahren Glücks bzw. für objektive Bestimmungen des guten Lebens, 43 als Rückkehr zur antiken Identität von Glück und Moral 44 oder als Verteidigung der in der Lebensführung auszuhaltenden und zu vermittelnden Spannung und Differenz zwischen individuellem Glücksstreben und moralischer Rücksichtnahme auf andere, 45 ebenso als »Ethik der Lebenskunst« 46 bis hin zu einer – über den engeren Horizont der MoralGegen die oft vertretene Dichotomisierung von antiker Strebens- und neuzeitlicher Sollensethik hatte ich bereits die von Volker Gerhardt vertretene Kontinuitätsthese erwähnt, gegen eine vereinfachende Gegenüberstellung von Platon und Kant sprechen exemplarisch die differenzierten Ausführungen von Dieter Henrich (Der Begriff der sittlichen Einsicht, 1960) und Hermann Weidemann (Kants Kritik am Eudämonismus, 2001). 43 Vgl. dazu E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, 1984. Tugendhat hält die Wiederaufnahme der Frage nach dem wahren Glück unter der Bedingung, nicht hinter die inzwischen erreichten Begründungsansprüche zurückzufallen, für geboten und plädiert, indem er Kants Kritik am Vollkommenheitsbegriff methodisch ernst nimmt, für einen formalen, inhaltlich nicht fixierten Begriff von psychischer Gesundheit als objektives Kriterium für das eigene, wohlverstandene Glück. Vgl. ebenso M. Hossenfelder, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, 1992, 24 ff.; A. Hügli, Mutmassungen über den Ort des Glücks, 1997, bes. 54 ff. 44 Vgl. dazu A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, 1997; C. Taylor, Quellen des Selbst, 1999; R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, 1989. 45 Vgl. dazu B. Williams, Ethik und die Grenzen der Philosophie, 1999; M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, 1995. 46 Vgl. dazu M. Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 2000; ders., Die Sorge um sich, 2000; 42 26 ALBER THESEN Jacqueline Karl philosophie hinausgehenden – philosophiehistorischen und systematischen Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen der individuellen Frage nach dem guten Leben und der Philosophie wie auch ihrem Gegenstand und ihrer Methode. 47 Auch wenn die vorliegende Arbeit sich nicht direkt an der aktuellen Debatte über das Verhältnis von antiker und moderner Ethik beteiligt, kann sie als ein indirekter Beitrag gelesen werden, z. B. als Auseinandersetzung mit der von Jürgen Habermas getroffenen Unterscheidung zwischen Ethik – als der Frage nach dem guten Leben – und Moral – als der einzig universalisierbaren Lehre von der Gerechtigkeit: 48 Nach diesem Verständnis stehen ethische Fragen aufgrund ihres Selbstbezuges in einem Zusammenhang mit der Identität und dem Selbstverständnis des jeweiligen Individuums. Deshalb liege deren Beantwortung in der alleinigen Zuständigkeit des Einzelnen. Hingegen ermögliche nur die Einnahme des universalen moralischen Standpunktes, auf die Frage nach dem, was alle wollen können, eine für alle verbindliche und gültige, d. h. gerechte Antwort zu finden. Hatte die klassische Ethik seit Aristoteles, und im Neoaristotelismus bis heute, versucht, die Frage nach dem guten Leben zu beantworten, so besteht nach der »genealogischen Betrachtung der Moral« von Habermas die Aufgabe der Moralphilosophie unter nachmetaphysischen Bedingungen der Moderne – und zwar seit Kant, in dessen Nachfolge Habermas seine eigene Diskursethik als intersubjektivistisch umgedeutete Moraltheorie kantischer Prägung stellt – in der Konzentration auf Begründungsfragen: in der Rechtfertigung des moralischen Gesichtspunktes und in der Normenbegründung in moralisch-praktischen Diskursen. Was wird in dieser Bestimmung der Moraltheorie von Habermas konsequent ausgeschlossen? Es ist der Einzelne als der Ausgangspunkt der moralischen Frage: »Was soll ich tun?«, sein Selbstverständnis und sowie die kleineren, in der Bibliographie angeführten Schriften und Interviews aus seiner letzten Arbeitsphase. Zur Neubegründung der Ethik Foucaults im Anschluss an die antike Ethik vgl. M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, 1995, 35 ff.; W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, 2000. 47 Vgl. dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996; dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999; H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000. 48 Vgl. dazu von J. Habermas: Lawrence Kohlberg, 1991; Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch, 1991; Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, 176 ff.; Eine genealogische Betrachtung, 1999, bes. 38 ff. Inzwischen auch L. Wingert, Gemeinsinn und Moral, 1993, 13 f., 27 ff. und 48 ff. Selbstbestimmung und Individualität bei Platon A 27 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität sein Selbstbegriff als ein handelndes Wesen. Damit reduziert Habermas Moral auf einen ausschließlich theoretischen Begründungsdiskurs, auf ein »epistemisches Sprachspiel«, 49 in welchem die Zustimmung der Beteiligten nur durch epistemische Gründe, durch den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« gewonnen wird. Als derart gefasste theoretische Einsichten muss ihnen eine Motivation zu entsprechenden Handlungen fehlen. Von daher erklärt sich dann auch Habermas’ kategorische Ausgrenzung des Motivationsproblems aus der Zuständigkeit der Philosophie und dessen Verweisung in den ethischen Bereich von Identitäts- und Sozialisationsprozessen sowie in die Zuständigkeit der Betroffenen. 50 In diesen ethisch-existenziellen Diskursen der Selbstverständigung nimmt Habermas allerdings das, wovon er in der Moraltheorie so rigoros absieht, zur Kenntnis: ein bestimmtes vorgängiges Selbstverständnis des Einzelnen, damit es zu einer bewussten Entscheidung kommt, zu einer Einsicht, die zugleich eine Umorientierung des Lebens motiviert: »Andererseits ist meine Identität gegenüber dem reflexiven Druck eines veränderten Selbstverständnisses nur dann nachgiebig, ja wehrlos, wenn diese denselben Maßstäben der Authentizität gehorcht wie der ethisch-existentielle Diskurs selber. Ein solcher Diskurs setzt auf seiten des Adressaten bereits das Streben nach einem authentischen Leben voraus […]. Insofern bleibt der ethischexistentielle Diskurs auf das vorgängige Telos einer bewußten Lebensführung angewiesen.« 51 Meiner Ansicht nach kann eine Moralphilosophie zur Bestimmung moralischen Handelns weder den Begriff eines praktischen Wis- c. Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität Am Ende des Kapitels a. der Einleitung hatte ich Platon – im Gegensatz zu Hegel – als den prometheischen Denker von Selbstbestimmung in der Geschichte der Philosophie bezeichnet, der im Anschluss an Sokrates als der philosophische Gründer dieser Thematik zu begreifen ist. Lässt sich aus dieser Behauptung schließen, das Problem sei den Griechen vor Platon noch nicht gegenwärtig gewesen? Nicht ohne Weiteres, denn selbst unabhängig von der griechischen Kulturentwicklung könnte man einwenden, dass bereits mit der menschlichen Existenz sowohl Selbstbestimmung als auch Individualität als Sachverhalte gege- J. Habermas, Eine genealogische Betrachtung, 1999, 63. Habermas gesteht zwar zu, dass »der Umstand, daß sich Gerechtigkeitsethiken gegenüber Motivationsfragen taub stellen müssen«, ein Problem bilde und dass unabhängig vom Problem der Willensschwäche »die Bereitschaft, eine Sache unter dem moralischen Gesichtspunkt zu betrachten, sowohl davon abhängig [ist], daß man die Dimension des Moralischen überhaupt wahrnimmt, wie auch davon, daß man diese ernst nimmt«. Aber den Philosophen als solchen bleibe »nur der Rückzug auf die reflexive Ebene einer Analyse des Verfahrens, womit ethische Fragen überhaupt zu beantworten sind. […] Die Moraltheorie taugt also zur Klärung des moralischen Gesichtspunktes und zur Begründung seiner Universalität; sie trägt aber nichts bei zur Beantwortung der Frage: ›Warum überhaupt moralisch sein?‹, ob diese nun in einem trivialen, in einem existentiellen oder im pädagogischen Sinne verstanden wird.« (Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, 184 f.) Vgl. auch ders., Lawrence Kohlberg, 1991, 94. 51 J. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch, 1991, 112. 52 Vgl. G. Böhme, Platons theoretische Philosophie, 2000, 4: »Deshalb halte ich es auch für gänzlich verfehlt, Platon verstehen zu wollen, indem man ihn mit modernen Mitteln, etwa der Prädikatenlogik oder Methoden der Sprachanalyse, rekonstruiert, denn der eigentliche Gewinn, den man aus einem Studium der Platonischen Philosophie ziehen kann, liegt gerade in umgekehrter Richtung, nämlich darin, daß wir von Platon her uns selbst besser verstehen lernen.« ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 49 50 28 sens noch eine vorgängige Disposition sowie das Selbstverständnis des Einzelnen außer Acht lassen. Platon ist dafür ein lehrreiches Beispiel, weil er ausgehend vom Guten – entgegen Habermas, der den Vorrang des Gerechten vor dem Guten mit Vehemenz verteidigt – weniger die Gerechtigkeit thematisiert, sondern vielmehr denjenigen im Blick hat, der Gerechtigkeit realisieren soll: den Gerechten, dessen Disposition und sein Selbstverständnis. Denn gegen Habermas lässt sich mit Platon argumentieren, dass das jeweilige Argument nicht von demjenigen, der es vertritt, zu trennen ist, oder anders gesagt: Nur derjenige, der in sich Gerechtigkeit realisiert hat, der Gerechte, wird auch dem anderen gerecht begegnen können. Der Grund dafür ist, dass nicht wie bei Habermas die wechselseitige Relation von Selbst- und Weltverhältnis durch die dichotome Unterscheidung von Ethik und Moral unterlaufen wird, sondern dass nach Platon, wie im folgenden Text nachgewiesen wird, jede Art des Weltverhältnisses, d. h. in Bezug auf moralisches Handeln: des Verhältnisses zum anderen, unumgänglich vom Selbstverhältnis des einzelnen Menschen geprägt ist. In dieser Arbeit unternehme ich also den Versuch, nicht nur Platon besser zu verstehen, sondern auch – uns selbst. 52 Jacqueline Karl A 29 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität ben sind. Denn Menschen handeln bewusst, sie setzen sich aufgrund getroffener Entscheidungen Handlungsziele, an denen sie sich in ihrem Handeln orientieren und worauf sie sich selbst verstehen. Im bewussten Handeln bilden sie ein Selbstverhältnis aus, wodurch sie sich von anderen unterscheiden. Von diesem »natürlichen« und alltäglichen Sachverhalt, von welchem Philosophie gleichwohl auszugehen hat, ist das philosophische Denken über Selbstbestimmung und Individualität allerdings zu unterscheiden.53 Nur in dieser letzten Bedeutung spreche ich bei Platon vom Beginn der Geschichte von Selbstbestimmung und Individualität, und zwar, um es noch einmal zu betonen: in der Philosophie. Das bedeutet nicht, es habe keine »Vordenker« gegeben. Das Gegenteil ist der Fall: Platons philosophiegeschichtliche »Gründung« kann auf einer die Thematik selbst gut vorbereitenden langen Vorgeschichte in der griechischen Kulturentwicklung aufbauen. Gerade weil dieses Problem im allgemeinen Bewusstsein der Griechen bereits über einen langen Zeitraum hinweg präsent gewesen ist und – als klärungsbedürftig empfunden – thematisiert wurde, kann Platon nicht nur daran anschließen, sondern vermag er der philosophische Gründer zu sein. So hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts der Althistoriker Eduard Meyer in seinem gleichnamigen fünfbändigen Werk die Geschichte des Altertums als Prozess fortschreitender Individualisierung mit Sokrates als Höhepunkt dargestellt: »In ihm [Sokrates] erreicht der Individualismus der neuen Zeit den Gipfel […]. Sokrates hat die Summe der ganzen bisherigen Entwicklung ihres Denkens [der griechischen Nation] gezogen und das Ergebnis so hingestellt, daß es der Menschheit nicht wieder verlorengehen konnte.« 54 Henning Ottmann hat in seiner auf vier Bände angelegten Geschichte des politischen Denkens die griechische Kultur der aristokratischen Gesellschaft von ihrem Beginn an als eine Kultur des Wettstreits, des ⁄gðn, charakterisiert. Es sei eine Kultur, welche »das Bewußtsein von Leistung und Exzellenz ebenso hervorgetrieben [hat] wie die BilZu dieser Unterscheidung zwischen natürlicher Bewusstheit und philosophischem Selbstbewusstsein vgl. K. Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken, 1962, 6. In etwas abgewandelter Form wieder in: ders., Subjektivität und Selbstbewußtsein, 1997, 16–18. 54 E. Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. IV/2, 1956, 168 und 175. 55 H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, VI. Vgl. auch ebd., 21 f. 56 Vgl. zur Synthese von kompetitiven und kooperativen Werten ebd., VI, 15 f. und Bd. I/2, 2001, 1. 57 Vgl. dazu ebd., VI und 12 ff., zit. ebd., Bd. I/2, 2001, 2. 58 Vgl. dazu B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, 1993, bes. Kapitel I, auch II und VI sowie das Nachwort 1974; bereits in seiner Habilitationsschrift Aischylos und das Handeln im Drama (Leipzig 1928). 59 Snell beruft sich selbst auf Hegel: ebd., 283, bes. 290 sowie in Anm. 54 auf 298. Vgl. dazu A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, 53–59. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 53 30 dung von Selbstbewußtsein und Individualität« 55 und deren kompetitive Werte im späteren historischen Verlauf nicht durch die kooperativen Werte der Gleichheit und Gemeinsamkeit der griechischen Demokratie abgelöst wurden, sondern mit diesen eine fruchtbare Synthese eingingen. 56 Zu den wesentlichen Voraussetzungen der durch die Griechen begründeten Politik, und zwar in einem anspruchsvollen Sinn, zählt Ottmann deren Entdeckung der Freiheit der Wahl und der Entscheidung, der Verantwortlichkeit des Einzelnen und seiner Handlungskompetenz – beginnend mit den Heroen der homerischen Epen, über den Politiker Solon, den Historiker Thukydides, den griechischen Tragödien bis hin zu Sokrates und Platon, dessen politisches Denken einen »welthistorischen Wendepunkt zur Subjektivität« markiere. 57 Diese dem platonischen Philosophieren vorausgehende Geschichte von Selbstbestimmung und Individualität soll im Folgenden von ihren Anfängen an skizziert werden. Im Gang durch die wichtigsten historischen Etappen griechischen Denkens von Individualität wird sich zeigen, dass Individualität zu den wesentlichen Eigentümlichkeiten bzw. Bestandteilen der gesamten griechischen Kultur gehörte und Platon an eine lange kontinuierliche Entwicklung sowohl im literarisch-philosophischen als auch politisch-sozialen Bereich anschließen konnte. Über den Beginn der Geschichte von Individualität wird seit Langem und bis heute kontrovers diskutiert. Die wohl einflussreichste These hat Bruno Snell vertreten: 58 Ausgehend von der entwicklungsgeschichtlichen Position, welche der Geschichtsphilosophie Schellings und Hegels verpflichtet ist, 59 dass sich im Verlauf einer schrittweisen »Entdeckung des Geistes« erst allmählich Vorstellungen von Selbstbewusstsein, Entscheidungsfreiheit, Handlungskompetenz und Individualität herausgebildet haben, behauptet Snell, die homerische Auffas- Jacqueline Karl A 31 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität sung von Mensch und Welt liegt noch jenseits dieser »Entdeckung des Selbstbewusstseins«. Weder verfüge Homer über eindeutige abstrakte Begriffe für Körper und Seele, noch sei ihm die Auffassung der menschlichen Person als einer geistig-psychischen Einheit bekannt gewesen. Deshalb konnte der homerische Mensch auch kein Bewusstsein von freier Entscheidung und selbstverantwortlichem Handeln haben. Erst in der griechischen Tragödie habe sich der Mensch als Urheber seiner eigenen Entscheidungen begriffen und sich nicht mehr von einem Äußeren – durch göttliches Wirken – bestimmt gefühlt. Diese These fand von Anbeginn neben breiter Zustimmung ebenso heftigen Widerspruch. 60 Zahlreiche Beispiele aus der aktuellen Fachdiskussion, auf deren Ergebnisse im Folgenden nur knapp verwiesen werden kann, belegen mit guten Gründen, dass Snell mit seinen Thesen das Verständnis des Menschen bei Homer unzulänglich beschreibt: Zuvörderst sind gegen die Annahme, Homer sei der Anfang unseres Denkens, die Ergebnisse der neueren Forschung geltend zu machen. Diese haben hinlänglich gezeigt, dass die homerische Welt nicht den Ursprung, sondern bereits das Ergebnis einer jahrhundertlangen Entwicklung darstellt. Die homerische Gesellschaft muss »in eine lange Tradition hochentwickelter Staaten mit komplexen politischen und ökonomischen Strukturen, mit ausgebildeten Institutionen im Bereich des Rechts, der Religionen usw.« eingeordnet werden; und Homer als Dichter steht »am Ende einer langen Dichtungstradition, mit deren Inhalten und Techniken er auf reflektierte Weise souverän umgeht und diese so zu ihrer höchsten Vollendung und Vollkommenheit führt«. 61 Die entwicklungsgeschichtliche Position in der Nachfolge von Snell vertreten in einer exemplarischen Auswahl: Ch. Voigt, Überlegung und Entscheidung, 1972, bes. 102–107; H. Fränkel, Dichtung und Philosophie, 1969; E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, 1991; A. W. H. Adkins, Merit and Responsibility, 1960. Für die Gegenposition stehen, begrenzt auf die aktuelle Diskussion: A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990; ders., Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000; B. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000; B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000; H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001. Eine detaillierte Darstellung der Forschungsgeschichte ist zu finden bei A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, Teil A, Kapitel 1 und 4, 12–20 und 36–52. 61 A. Schmitt, Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 26. Vgl. dort auch die in den Anm. 6–10 angegebene Forschungsliteratur. Vgl. auch B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 184 (mit Verweis auf W. Burkert, Towards Plato and Paul, 1998, 60): »Das entscheidende Stück der Entstehungsgeschichte der europäischen Vorstellung von Individualität liegt also (wie die Entwicklung der Formelsprache) in den Jahrhunderten vor 60 32 ALBER THESEN Jacqueline Karl Gegen die Behauptung Snells, Homer habe sowohl den Körper als auch die Seele nicht als Einheit, sondern als Ansammlung von Teilen aufgefasst, weil ihm die Begriffe für Körper und Seele fehlten, hat Bernard Williams eingewandt, dass der fehlende Begriff nicht berechtigt, auf die fehlende Vorstellung von der Sache zu schließen, denn in der Darstellung der Figuren Homers werden die Ganzheit der lebendigen Person und im Gebrauch von Begriffen, die einzelne psychische Funktionen bezeichnen, die Einheit der Person selbst vorausgesetzt. 62 Arbogast Schmitt konnte durch eine differenzierte Interpretation der homerischen Psychologie plausibel machen, dass die Aktivität des no@, des vernünftigen Vermögens, in einem freien, die gesamte Bedeutung einer Sache erfassenden Denken besteht und dieses aktive Prinzip die funktionelle Einheit der verschiedenen Seelenkräfte hervorbringt: ein einheitliches Zusammenwirken von no@ sowie Fühlen und Wollen, die der Erkenntnis des no@ entsprechen. 63 Und am Beispiel einer bekannten Szene aus dem 20. Buch der Odyssee zeigte Bernd Seidensticker, dass trotz wechselnden Vokabulars zur Bezeichnung unterschiedlicher Aktivitätszentren nicht von einer »seelisch-geistigen Fragmentierung des Ich« auszugehen ist. 64 Vielmehr biete die Szene »ein geschlossenes und überzeugendes Bild eines inneren Konflikts«, in dessen Selbstanrede »das einheitsstiftende Selbst« vorausgesetzt und auch sprachlich – a't@ (er selbst) – realisiert sei: »Er selbst [a't@] aber, wälzte sich bald auf die eine und dann auf die andere Seite.« (Od. XX, 24) Außerdem ist Snell vorzuwerfen, dass er einen bestimmten Entscheidungsbegriff für die Homer-Interpretation methodisch unzulässig benutzt. Snell hatte zwar nicht bestritten, dass die Heroen Homers mit Bewusstheit sich entscheiden und handeln, allerdings dass Spontaneität und Selbstständigkeit menschlichen Handelns bereits aus einer Reflexion auf das Selbstbewusstsein, das diese Fähigkeiten erst ermöglicht, begründet wird. 65 Wie Arbogast Schmitt nachgewiesen hat, versteht Snell – im Anschluss an das neuzeitlich-nachcartesianische und nicht nach Homer. Walter Burkert hat jüngst in einem parallelen Kontext daran erinnert, daß es immerhin 2.000 Jahre dokumentierter Literatur- und Geistesgeschichte vor Homer gibt.« 62 Vgl. dazu B. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000, 26–30. 63 Vgl. dazu A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, 174–228, bes. 211 ff. 64 Vgl. hier und im Folgenden: B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 178. 65 Vgl. dazu B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, 1993, 10. Selbstbestimmung und Individualität bei Platon A 33 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität Konzept des Selbstbewusstseins des Geistes – unter Entscheidung eine autonome, völlig aus sich selbst gegründete Selbstständigkeit und verwendet diesen Begriff als Maßstab für die Beurteilung dessen, was überhaupt als Entscheidung zu gelten hat, und zwar in einem alternativ ausschließenden Sinn: 66 Als freie Entscheidung gelten allein nur diejenigen Fälle, welche den Kriterien des neuzeitlichen Entscheidungsbegriffes entsprechen; alle anderen Formen von Selbstständigkeit in diesem nicht absoluten Sinn werden grundsätzlich als fremdbestimmt und passiv von außen gesteuert verstanden – wie im Fall Homers. Dieses methodische Vorgehen schließt von vornherein die Möglichkeit aus – und ist insofern unzulässig –, dass freies Entscheiden und Handeln auch anders verstanden werden können und gleichwohl in diesen Begriffen zu beschreiben sind: 67 Ausgehend von einem anderen methodisch-begrifflichen Verständnis interpretiert Schmitt die homerische Darstellung ein und derselben Handlung in ihrer doppelten – göttlichen oder anderweitig äußeren und menschlichen – Ursächlichkeit und die Entsprechung zwischen göttlicher Beeinflussung und charakterlicher Disposition als Ausdruck einer konsequenten Differenzierung der Bereiche von Fremdbestimmtheit und Selbstbestimmung. 68 Der homerische Mensch sei in seinem Verhalten nicht der Fremdbestimmung vonseiten der Götter unterworfen, sondern die Götter sind Einfluss nehmende Kräfte bei der Entscheidungsfindung, die dem Menschen gerade nicht abgenommen werde, weil er diese Aufgabe selbst zu leisten und zu verantworten habe. 69 Homer hatte nach Schmitt also nicht nur eine Vorstellung von dem, was es heißt, sich zu entscheiden, sondern auch das Zur methodisch-kritischen Auseinandersetzung mit Snells Entscheidungsbegriff vgl. A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, 12–71. 67 Damit ist ein prinzipielles methodisches Problem angesprochen: die Klärung und Verwendung der eigenen Begrifflichkeit bei der Interpretation antiker Texte. Vgl. dazu die näheren Ausführungen im folgenden Kapitel d. der Einleitung. 68 Vgl. dazu ebd., 72–110 und 174–228. 69 Neben Schmitt vgl. auch B. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000, 33– 46; B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 180–183; H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, Kapitel 1.2.2: Die Heroen, ihr Selbstbewußtsein und ihre Entscheidungsfähigkeit, 22 f., ebenso 13 und 182. Auch von Cornelia J. de Vogel wird dem homerischen Menschen die »faculty of self-determination« zugesprochen und damit das Personsein: »Person is man as a rational being and moral subject, free and self-determining in his actions, responsible for his deeds.« (The Concept of Personality, 1963, 26 und 23) 70 Vgl. dazu B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 168–172. Vgl. auch C. J. de Vogel, The Concept of Personality, 1963, 26 f. 71 Ebd., 171. 72 Vgl. dazu von A. Schmitt: Individualität als Faktum menschlicher Existenz, 2002, 113–119; Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 28–35. Vgl. ebenso C. J. de Vogel, The Concept of Personality, 1963, 27: »This was clearly recognized by Prof. T. B. L. Webster, Greek Art and Literature, 700–530 B.C., London 1959, pp. 24–45. ›In the Iliad and Odyssey the great heroes stand out as individual figures, and Homer was particularly interested in them when they took difficult decisions or exhibited characteristics which were not contained in the traditional picture of the fighting man.‹« ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 66 34 Wissen von dem seelischen Vermögen, dem no@, das aufgrund seiner Aktivität einen Bereich freien Entscheidens und Handelns erkennt, begründet und es dem Menschen ermöglicht, allein aus sich selbst aktiv zu sein – im Bereich dessen, was dem Menschen in seiner eigenen Verfügung steht. Auch die Vorstellung, ja, mehr noch: das Interesse an und ein Wissen um Individualität sind bei Homer vorhanden. Das betrifft zunächst die künstlerische Darstellung der Helden selbst. Bernd Seidensticker zufolge charakterisiert Homer sie als unverwechselbare Persönlichkeiten mit eigenem Profil, das sich bis in den jeweiligen Sprachstil ausprägt. 70 Aber nicht nur der Blick von außen, ebenso das eigene Selbstverständnis artikuliere ein Identitäts- und Individualitätsbewusstsein: Die Ich-Erzählung des Odysseus über die zehn Jahre seiner Irrfahrten lässt, so Seidensticker, deutlich werden, wie er zu dem geworden ist, der er ist, eigentlich gewinnt Odysseus erst durch diese Ich-Erzählung »seine volle, sich ihrer selbst bewußte und sich mit sich selbst identifizierende Individualität« zurück, die ihren prägnanten und bewussten Ausdruck findet: »Ich bin Odysseus« (Od. IX, 19). 71 Gleichzeitig gilt Homers eigentliche Darstellungsintention nach Arbogast Schmitt gerade nicht der Schilderung einer fraglosen Übereinstimmung von individuellen und gemeinschaftlichen Interessen, sondern dem Gegenteil: dem Verhalten seiner Protagonisten, die von diesen gemeinschaftlichen Normen abweichen, weil sie sich an ihrer subjektiven Befindlichkeit orientieren und wegen dieser situativen Verengung der Perspektive ihren nur vermeintlichen Vorteilen folgen. 72 Das Verfolgen eines nur scheinbar individuellen Interesses sei für Homer allerdings Ausdruck einer Fremdbestimmtheit, einer Fremdbestimmtheit durch Handlungskomponenten, die nicht in der Macht des Handelnden liegen. Im Unterschied dazu versteht Homer, Jacqueline Karl A 35 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität so Schmitt weiter, unter Individualität das, was den Handlungen im eigentlichen Sinn ihre individuelle Prägung gibt, eben genau das, was wirklich in der Verfügung des Einzelnen steht und seinen Grund in einem selbstständigen Prinzip hat, aufgrund dessen der Einzelne seinen wahren Vorteil erkennen und erstreben kann. Und das sei eine subjektive Leistung, Individualität nach Homer eine »sittliche Aufgabe«. Ein Grund für dieses Individualitätsverständnis liegt in einer bisher noch nicht genannten Besonderheit griechischer Kultur – ihrer Agonalität. Bereits Jacob Burckhardt hat in seiner Griechischen Kulturgeschichte ausdrücklich das agonale Wesen der Griechen hervorgehoben. Schon bei Homer sei das allgemeine Motto für das ganze spätere Griechentum gegeben: »Immer der erste zu sein und vorzustreben den andern.« 73 Im Anschluss an diese Interpretation von Burckhardt und auch von Nietzsche hat Henning Ottmann, wie schon erwähnt, bereits die frühe aristokratische Kultur als eine Kultur des ⁄gðn charakterisiert. Dabei war dieses Streben nach Bestheit keineswegs, wie gemeinhin angenommen wird, auf den militärischen Bereich beschränkt. »Wohlberedt in Worten zu sein und rüstig in Taten«, 74 so lautete der an den Helden gerichtete Anspruch, der neben der kriegerischen Tüchtigkeit gleichfalls die Fähigkeit umfasste, der Rede und Diplomatie mächtig zu sein. 75 Ebenso durchdrang die Agonalität nahezu alle Bereiche der aristokratischen Gesellschaft. 76 Natürlich sind Reichtum, militärischer Erfolg und Herkunft für die eigene Wertschätzung und insbesondere für die Anerkennung durch andere maßgeblich gewesen – der gesellschaftliche Rang war an den aristokratischen Stand gebunden –, aber innerhalb der Aristokratie mussten der J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 4, 1957, 31; gleichfalls ebd., Bd. 2, 1956, 330 f. Vgl. auch ebd., Bd. 1, 1956, 292–295 u. ö. – a§þn ⁄risteÐein ka½ ¢pefflrocon ˛mmenai ˝llwn (Il. VI, 208; XI, 784). In der Übersetzung von Hans Rupé (Homer, Ilias, 2001) kommen das Bewusstsein des eigenen Könnens und das Streben nach Bestleistung noch deutlicher zum Ausdruck: »Immer der erste zu sein und ausgezeichnet vor andern« (VI, 208), bzw.: »Immer der erste zu sein und sich auszuzeichnen vor allen« (XI, 784). Wenn nicht anders angegeben, wird im Folgenden diese Übersetzung von Rupé benutzt. 74 mÐjwn te «ht»r’ ˛menai prhkt»r€ te ˛rgwn (Il. IX, 443). 75 So heißt es auch zwei Verszeilen vorher: »Auch in des Rates Verhandlung, darin sich Männer hervortun« (o'd’ ⁄gorffwn, ´na t’ ˝ndre@ ⁄riprepffe@ telffjousi, IX, 441). 76 So betont auch Elke Stein-Hölkeskamp die große Bedeutung der kompetitiven Werte für den aristokratischen Lebensstil, z. B. in der Ausrichtung von Gastmählern, in Wettkämpfen, im Austausch von Geschenken (Adelskultur und Polisgesellschaft, 1989, 52). 77 Vgl. dazu H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, 22. Vgl. auch die Ausführungen von Elke Stein-Hölkeskamp zur königlichen Machtstellung, die – weil nicht institutionalisiert, sondern durch die persönlichen Qualitäten des Inhabers begründet – immer wieder durch die individuelle Überlegenheit auszuweisen war (Adelskultur und Polisgesellschaft, 1989, 42). 78 Aufgrund dessen wurde die homerische Adelskultur mehrfach als eine »Shame-Cultur« bezeichnet, so z. B. von Eric Robertson Dodds (Die Griechen und das Irrationale, 1991, explizit 15 f.). Wie allerdings die Analyse des Begriffes der Scham von Bernard Williams zeigt, ist das ethische Verständnis der Scham bei Homer und den Griechen insgesamt wesentlich komplexer als die oben unterstellte simple Anpassung an die öffentliche Meinung und enthält sogar Aspekte, die wir heute mit dem Begriff der Schuld bezeichnen, sodass auch der strikte Gegensatz zwischen »Shame-Cultur« und »GuiltCultur« nicht aufrechtzuerhalten ist (Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000, Kapitel 4). 79 »Der Agon individualisiert. Er treibt Leistung und Selbstbewußtsein des einzelnen hervor.« (H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, 25) Vgl. ebenso ebd., VI, 15 f. und 21–23. Auch hier zeigt sich die Unhaltbarkeit der These von Snell: Die selbstbewusste Bewertung der eigenen Fähigkeiten bliebe unverständlich, wenn die Heroen keine Entscheidungsfreiheit und Handlungskompetenz hätten, wie Ottmann zu Recht bemerkt: »Das Bewußtsein des eigenen Könnens, das die Helden des Homer auszeichnet, kann man nicht würdigen, wenn man die Menschen des Homer für Marionetten der Götter hält.« (Ebd., 22) ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 73 36 jeweilige Rang und das damit verbundene Ansehen durch tatsächlich erbrachte individuelle Leistung erreicht und – weil durch die Konkurrenz der anderen stets gefährdet – immer wieder durch Leistung faktisch nachgewiesen werden. 77 Auch wenn die Helden sich in ihrem Handeln am Maßstab von Ehre und Ruhm bei der Mit- und Nachwelt orientierten, ihre eigene Einschätzung von der tatsächlichen Anerkennung und Ehrerweisung durch die anderen abhängig war und sie somit dem aristokratischen Kodex entsprachen: 78 Der die gesamte Kultur durchdringende ⁄gðn, das Streben des Einzelnen, von allen der Beste zu sein und sich selbst vor allen anderen zur Geltung zu bringen, hat Selbstbewusstsein und Individualität, Wertschätzung der eigenen Persönlichkeit und gesellschaftliche Anerkennung dieser Individualität bewirkt. 79 Für das fünfte Jahrhundert v. Chr. konstatiert Jacob Burckhardt eine Verbreitung und Vertiefung der Agonalität und des Strebens nach Individualität: »Die Macht der Persönlichkeit zeigt sich also jetzt in den großen Beispielen nicht mehr agonal, d. h. im Siege über einen oder einige Ähnliche, sondern absolut, und was Plutarch von Themistokles sagt, daß er auf jedem Gebiete von andern unterschieden (—dio@) sein Jacqueline Karl A 37 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität wollte, gilt mehr oder weniger von allen damaligen großen Männern.« 80 Der Befund mag zunächst überraschen: Widerspricht die Einschätzung von Burckhardt nicht der Tatsache, dass sich in diesem Jahrhundert die griechische Demokratie mit der Entmachtung des Areopags, des Adelsrates in Athen, 462/61 v. Chr. endgültig institutionalisiert und etabliert hatte? Beruht doch die Herrschaft des Demos auf den gegensätzlichen Werten der Gleichheit der Bürger und der Gemeinsamkeit der in der Politik verhandelten Interessen! Die Antworten, die in der aktuellen Forschung gegeben werden, fallen unterschiedlich aus: Für Kurt Raaflaub hat der Individualismus des griechischen Adels als Opponent zum politischen Denken dessen Herausbildung und Entwicklung zwar nicht behindert, aber allein aus dem Gegensatz heraus ermöglicht: Die »unmittelbare Ursache, die die frühesten Manifestationen politischen Denkens provozierte und auf lange Zeit hinaus einer der stärksten Antriebe solchen Denkens blieb«, ist »die Unzufriedenheit mit der Eigensucht und dem Versagen der adligen Führungsschicht, die Diskrepanz zwischen den Interessen der Gemeinde und denen der mächtigen einzelnen […]. Es ist deshalb die in der Soziogenese der Dark Ages angelegte langwierige Auseinandersetzung zwischen den kollektiven Ansprüchen der Gemeinde und denen eines individualistischen Adels, der wir nicht nur die Entwicklung der Polis in ihrer klassischen Form und die Herausbildung eines autonomen politischen Bereiches innerhalb der Polis, sondern, in direkter Interdependenz mit diesem, auch die Anfänge des politischen Denkens zuzuschreiben haben.« 81 Andere Althistoriker, allen voran Christian Meier, aber ebenso Peter Spahn, vertreten eine andere Position: Die Individualität des Adels habe die Demokratie nicht nur in einer gewissen Hinsicht ermöglicht, sondern sie sei – neben vielfältigen historisch-kulturellen Umständen, den politischen Reformen von Solon (um 594 v. Chr.) und Kleisthenes (um 508/07 v. Chr.) sowie anderen politischen und militärischen Entwicklungen – für das Entstehen des politischen Denkens und der griechischen Demokratie in einem positiven Sinn konstitutiv gewesen. 82 J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 4, 1957, 204 f. – »Da er immer und überall originell sein wollte« (7Idio@ dff ti@ ¥n p”si boulmeno@ enai, Them. 18, 8). 81 K. Raaflaub, Die Anfänge des politischen Denkens, 1989, 32. 82 Vgl. zu den Besonderheiten, Entstehungsbedingungen und historisch-kulturellen Voraussetzungen der griechischen Demokratie die Publikationen von Christian Meier zu diesem Thema, bes. Die Entstehung des Politischen, 1983. Vgl. dazu ebd., 57 ff. u. ö. Ch. Meier, Die Entstehung einer autonomen Intelligenz, 1987, 99 f. Vgl. auch ders., Entstehung und Besonderheit, 1995, 260 f.; ders., Politik und Anmut, 1985, 31 f. und 53 ff. 85 Vgl. dazu P. Spahn, Individualisierung und politisches Bewußtsein, 1993, 362 und 360. 86 Denn das Gemeinsame muss, um wirksam zu sein, den Einzelnen berühren. So bereits Aristoteles, Pol. II 1261b33–35: »denn wenn die größte Zahl von Menschen etwas gemeinsam besitzt, dann erfährt dies die geringste Pflege und Sorgfalt. Man kümmert sich ja am ehesten um persönliches Eigentum, um das der Allgemeinheit dagegen weniger oder nur in dem Maße, wie es jeden persönlich angeht«. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 80 38 Zu den wesentlichen Bedingungen des zur Demokratie führenden Prozesses zählt Meier, dass die griechische Kultur im Unterschied zu den anderen Hochkulturen nicht von einer politischen Zentralgewalt, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstanden ist. 83 Der Schwäche der politischen Zentralgewalt korrespondierten die Macht der partikularen Kräfte der Aristokratie und – damit in einem Zusammenhang stehend – ihre Schwäche zu politischer Bindungsfähigkeit, ein generell wenig ausgeprägtes Bindungswesen ebenso wie die Eigenständigkeit der einzelnen Poleis. Meier führt diese Besonderheiten auf die Individualität des Adels und dessen Streben nach Autarkie und Eigenständigkeit zurück: »Bei den Griechen jedoch blieb es dabei, daß sie in keiner Weise ›mediatisiert‹ wurden zu Teilen eines Ganzen, das sie nicht selbst relativ konkret, unmittelbar und in überschaubarem Kreis ausgemacht hätten. […] Sie wollten offenbar frei und ungebunden sein […], und ohne jede Abhängigkeit von höheren Instanzen, sei dies nun ein Monarch, dem sie sich hätten unterwerfen müssen, oder die disziplinierende, beschneidende Kraft einer herrschenden Oligarchie römischen Typus, der sie sich unter Verzicht auf viele Freiheiten, in starker Ausrichtung auf die politischen und militärischen Pflichten des Standes hätten einfügen müssen. Und dieses Streben nach weitgehender Autarkie hatte letzten Endes Erfolg.« 84 Auch Peter Spahn kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass der auffällige Individualismus der Griechen, zunächst der Aristokraten, später der weiterer Bevölkerungsschichten, die Politisierung gerade nicht behindert, sondern ermöglicht und befördert hat, weil politisches Bewusstsein und dessen Herausbildung in mehrfacher Hinsicht die Individualität und Eigenständigkeit des Einzelnen voraussetzt. 85 Politische Verantwortlichkeit könne nicht von einem Kollektiv, sondern nur vom Bewusstsein individuellen Betroffenseins ausgehen. 86 Jacqueline Karl 83 84 A 39 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität Individualität als die Bedingung für Politik betont gleichfalls Henning Ottmann: Wahlfreiheit und Entscheidung, Handeln-Können und Verantwortlichkeit des Einzelnen seien die Voraussetzungen für Politik, und zwar für eine Politik, die auf Miteinander-Reden und MiteinanderHandeln, auf Freiheit und Gleichheit beruhe. 87 Politik in diesem anspruchsvollen Sinn sei nicht möglich, solange Menschen nicht verantwortlich wären und Politik sich in Befehl, bloßem Gehorsam oder Gewalt ausdrücke. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar entscheidender war, dass die Werte des aristokratischen Ethos – insbesondere das Streben nach Autarkie und die Agonalität – in der sich etablierenden Demokratie nicht durch eine bürgerliche Alternative verdrängt, sondern integriert wurden: »Die Entwicklung der griechischen Kultur war eine von den ›competitive values‹ der aristokratischen Epoche zu den ›cooperative values‹ der Polis (Adkins). Aber es ist das Geheimnis dieser Kultur, daß sie die agonalen Werte nicht einfach durch die kooperativen abgelöst hat. Stattdessen ist es der griechischen Kultur gelungen, die Gegensätze auszuhalten. Sie verband den Willen zur Exzellenz mit dem zur Kooperation, den Willen zur Leistung mit dem Respekt vor der Gleichheit, die Bildung selbstbewußter Persönlichkeiten mit der Hochschätzung des gemeinsamen Lebens in der Stadt.« 88 Wieso blieben die aristokratischen Werte in Kraft? 89 Die Geschichte der Entwicklung der attischen Demokratie ist auch eine Geschichte der politischen Entmachtung des Adels, und es wäre vielmehr davon auszugehen, dass sich die Bürger, die neuen politischen Akteure, im Bewusstsein ihrer neuen politischen Position auch hinsichtlich der kulturellen Wertorientierungen dezidiert von den Aristokraten unterscheiden wollten. Wie bereits gesagt, ist das Gegenteil der Fall gewesen. Bis zum Beginn der attischen Demokratie waren die Normen in allen Bereichen der Polis-Öffentlichkeit derart von den Adligen geprägt, dass ausschließlich ihre Ideale in der Öffentlichkeit bestimmend und maßgebend waren – und auch blieben, weil die Bürger den Vgl. dazu H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, VI und bes. Kapitel I.5: Voraussetzungen für die Entdeckung der Politik, 12–18. 88 Ebd., 16. Vgl. auch ebd., 94 und 104 f. 89 Christian Meier hat in mehreren Publikationen versucht, diese Frage hinlänglich zu beantworten: Bürger-Identität und Demokratie, 1988; Politik und Anmut, 1985; Entstehung und Besonderheit, 1995. Im Folgenden stütze ich meine kurze Darstellung auf Meiers Ausführungen. 90 H. Arendt, Vita activa, 2001, 47 f. und 53. Vgl. auch: Die Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen, ebd., 213 ff. 91 kaj’ kaston doke…n ˝n moi tn a'tn ˝ndra par’ mn ¥p½ ple…st’ n e—dh ka½ metÞ carffltwn m€list’ n e'trapfflw@ t sma atarke@ parffcesjai (II, 41, 1 f.; Übersetzung nach Ch. Meier, Politik und Anmut, 1985, 17). Vgl. auch die Interpretation dieser Stelle der Perikles-Rede von Meier in dieser Publikation. Ähnlich bereits bei Herodot in seinen Historien (V, 78): »Die Athener waren stark geworden. Das bürgerliche Recht des freien Wortes für alle ist eben in jeder Hinsicht, wie es sich zeigt, etwas Wertvolles. Denn als die Athener von Tyrannen beherrscht wurden, waren sie keinem einzigen ihrer Nachbarn im Kriege überlegen; jetzt aber, wo sie frei von Tyrannen waren, standen sie weitaus an der Spitze. Daraus ersieht man, daß sie als Untertanen, wo sie sich für ihren Gebieter mühten, sich absichtlich feige und träge zeigten, während jetzt nach der Befreiung ein jeder eifrig für sich selbst schaffte (dþ a't@ kasto@ wut† proejumffeto katerg€zesjai).« Vgl. auch die Interpretation dieser Stelle bei Herodot von P. Spahn, Individualisierung und politisches Bewußtsein, 1993. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 87 40 bisherigen politischen Adelspraktiken zwar ein eigenes politisches Ethos entgegensetzen konnten, aber keine umfassend andere Ethik oder gar eine eigene Kultur. Hinzu kommt, und das ist wesentlich, dass sich jetzt für die Bürger ein Raum eröffnete, der bis dahin dem Adel vorbehalten war: die Polis als der Bereich der Öffentlichkeit und Gleichheit, in dem sich die Bürger als Bürger, und das heißt: politisch, betätigen konnten. Mit den Worten Hannah Arendts gesagt, traten die Bürger »aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs«, an den »Ort des heftigsten und unerbittlichsten Wettstreits, in dem ein jeder sich dauernd vor allen anderen auszeichnen mußte, durch Hervorragendes in Tat, Wort und Leistung zu beweisen hatte, daß er als ein ›Bester‹ lebte (a§þn ⁄risteÐein)«. 90 Darüber hinaus ergab sich wegen der Hochschätzung der Betätigung in der Öffentlichkeit für sie auch die Möglichkeit, eine respektierte Position zu gewinnen, Rang und öffentliche Geltung zu erlangen, was ihnen außerhalb des Bereichs der Polis aufgrund bestehender Ungleichheiten verwehrt blieb. Dass diese Interpretation auch dem Selbstverständnis der Zeitgenossen entsprach, belegen die Quellen hinreichend: Thukydides lässt in seiner Schrift Der Peloponnesische Krieg Perikles in seiner Rede auf die gefallenen Athener zusammenfassend sagen, Athen sei im Ganzen die hohe Schule Griechenlands, »für sich aber, so will mir scheinen, bietet sich bei uns jedermann zugleich für die meisten Dinge und mit Anmutigkeiten höchst gewandt als eigenständige (autarke) Persönlichkeit dar«. 91 Perikles’ Charakterisierung der Athener bestätigt, dass die Etablierung der attischen Demokratie gleichsam zu einer Demokrati- Jacqueline Karl A 41 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität sierung der Individualität führte! Denn Perikles grenzt seine Beschreibung nicht auf einen Teil der Bürger ein, sondern bezieht seine Aussage, sich als eine eigenständige Persönlichkeit darzustellen, ausdrücklich auf jedermann, und das heißt auf alle Bürger, wenn auch nicht auf alle Einwohner der Polis. Und diese Aussage ist wörtlich zu nehmen, weil jeder Bürger – mag es auch im Einzelnen gewiss Unterschiede in der Teilhabe an der Politik gegeben haben – sich politisch betätigte: mit einem Engagement in einem für uns heute höchst erstaunlichen Ausmaß 92 und »in bürgerlicher Gegenwärtigkeit« 93 einer direkten Demokratie. Darin macht sich nichts anderes geltend als das bereits beim Adel ausgeprägte, dann von den anderen Schichten übernommene Streben nach Autarkie und Eigenständigkeit: selbst für alles aufzukommen und – bezogen auf den politischen Bereich – die öffentlichen Angelegenheiten selbst mitzubestimmen und nicht nach dem Willen anderer leben zu wollen. 94 Das Perikles-Zitat ist gleichfalls ein prägnanter Ausdruck für das damalige Verständnis von Individualität: selbstständig zu sein und diese Selbstständigkeit in einer vielfältigste Anforderungen umfassenden Weise zur Geltung zu bringen. Dieses Streben der Griechen, »primär sie selbst und nur sie selbst und darin umfassend zu sein«, 95 entspricht einem von zwei theoretisch zu unterscheidenden Bedeutungsschwerpunkten des Individualitätsbegriffes: Individualität als Autarkie und Autonomie. Dagegen war der zweite Aspekt von Individualität in der Bedeutung von Besonderheit und Einzigartigkeit des einzelnen MenChristian Meier führt diese politische Identität oder Bürger-Identität, die aus intellektuellen Faktoren, wie Einsicht und Verantwortungsgefühl, allein nicht erklärt werden könne, auch auf potentielle Antriebe bzw. »anthropologische Dispositionen« zurück: auf das Bedürfnis nach einem angemessenen Status, das Streben nach Ehre, den Wunsch, sich auszuzeichnen, um – wie bisher nur die Aristokraten – seinen eigenen Wert zu beweisen, was jetzt innerhalb der Demokratie im Bereich des Politischen, und nur dort, nach Maßgabe der nach wie vor gültigen Ideale der Adligen möglich wurde. »Der Gleichheitstrieb war das anthropologische Unterfutter des Bürger-Engagements.« (Bürger-Identität und Demokratie, 1988, 73) Vgl. dazu insgesamt das Kapitel: Anthropologische Dispositionen der Griechen zum politischen Engagement breiter Schichten, ebd., 67 ff. Für diese Möglichkeit nahm man offensichtlich bereitwillig die Belastungen der politischen Tätigkeiten auf sich. Vgl. auch H. Arendt, Vita activa, 2001, 53. 93 Ch. Meier, Entstehung und Besonderheit, 1995, 281. 94 Vgl. dazu Ch. Meier, Bürger-Identität und Demokratie, 1988, 74 und 83. 95 Ch. Meier, Politik und Anmut, 1985, 98. Zur Interpretation von Autarkie als »vielfältigsten Anforderungen gegenüber gewachsen zu sein« vgl. ebd., 70 ff. und 87 ff. 92 42 ALBER THESEN Jacqueline Karl schen aus der Sicht der Althistoriker in der Antike weniger stark ausgeprägt. 96 Weil das Streben nach Eigenständigkeit und Vollkommenheit einem für alle gleichermaßen verbindlichen Ideal galt und nicht besonderen Fähigkeiten auf einem speziellen Gebiet oder der Ausbildung eines höchst individuellen Charakters, kam es im Gegenteil »zur Wertschätzung von Gleichartigkeit und sogar einer gewissen Konformität«. 97 Die griechische Kulturentwicklung bis ins fünfte Jahrhundert, bislang unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung der Individualität skizziert, führte andererseits dazu, dass bisherige Selbstverständlichkeiten politischer, religiöser und ethischer Art ihren Gültigkeits- und Akzeptanzanspruch verloren, ohne dass aufgrund der Radikalität des Bruchs mit der eigenen Herkunft neue Orientierungen in der Kürze der Zeit gefunden werden konnten. Innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten im fünften Jahrhundert v. Chr. hatte sich Athen von einer unbedeutenden Polis zur führenden Großmacht im ägäischen Raum entwickelt, betriebt eine riskante Außenpolitik, etablierte erstmalig in der Weltgeschichte eine – zumal direkte – Demokratie, es gab weitere rasante Veränderungen innerhalb der Wirtschaft und des geistigen und kulturellen Lebens, Athen wurde zum Mittelpunkt für Handwerker, Händler und Intellektuelle aus aller Welt. Dadurch entstanden ungeahnte Handlungsmöglichkeiten, aber mit den neuen Möglichkeiten ergaben sich gleichfalls völlig neue unerwartete Probleme, auf die man nicht vorbereitet war, für deren Lösung es keine selbstverständlichen Kriterien und Methoden gab, denn: »Die Griechen hatten keine Griechen vor sich.« 98 Für die Bewältigung dieser so umfassend neuen Situation gab es nur die Möglichkeit, die Probleme rational zu durchdringen und sich gemeinsam darüber zu verständigen. Die Griechen entwickelten dabei eine aufgeklärte, methodisch neue Weise zu denken – mit praktischem Erfolg. Dieser methodische, die Schwierigkeiten meisternde Sachverstand brachte nach Christian Meier ein außerordentliches »Könnens-Bewußtseins« hervor, die Überzeugung, dass Probleme sachverständig bewältigt werden können und zugleich zu entscheidenVgl. dazu P. Spahn, Individualisierung und politisches Bewußtsein, 1993, 345. Ebd., 346. Ähnlich auch Ch. Meier, Politik und Anmut, 1985, 106: Die Identifikation mit der Bürger-Identität führte eher zu »gleich- und ähnlich gerichtetem Denken«, das innerhalb der Bürgerschaft erst durch Antigone und Sokrates durchbrochen wurde. 98 Ch. Meier, Die Entstehung des Politischen, 1983, 51. 96 97 Selbstbestimmung und Individualität bei Platon A 43 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität den Verbesserungen in den Bedingungen menschlichen Lebens und Handelns führen. 99 Allerdings handelte es sich im Wesentlichen um eine Zunahme nur technischen Könnens, ganz im griechischen Sinn von tffcnh, 100 nicht um die Bewältigung von Problemen ethischer und existenzieller Art. Und diese waren infolge des in weiten Teilen radikalen Wandels fast unvermeidlich, weil durch die neue Praxis des Handelns bisher gültige religiöse, moralische und politisch-rechtliche Orientierungen auf eine nicht bekannte Weise infrage gestellt wurden, wenn nicht sogar außer Kraft gesetzt. Diese Situation der Orientierungslosigkeit – für die Polis als Ganzes, aber insbesondere für den Einzelnen –, die Spannung zwischen einer nicht mehr fraglos akzeptierten Herkunft und einer noch nicht durch weitere Sinnzusammenhänge legitimierten Gegenwart thematisiert die griechische Tragödie. Die griechische Tragödie gehört mit Sicherheit zur Vorgeschichte platonischer Selbstbestimmung und Individualität, aus der anderen zeitlichen Perspektive ist Platon im historischen Prozess der Vertiefung des Bewusstseins menschlicher Freiheit der »Nachfolger der Tragiker«. 101 Im Unterschied zu den homerischen Helden sieht sich der tragische Held mit einem Normenkonflikt konfrontiert, auf den konventionelle Maßstäbe keine zureichenden Antworten mehr geben, und daraus resultiert eine Ausweglosigkeit, die er nur mit einer – jenseits tradierter Regeln – selbst zu treffenden Entscheidung überwinden kann. Für dieses vertiefte Verständnis von Wahl, Entscheidung und freiwillig selbstverantwortlichem Handeln sei an die Frage des Orest, die er kurz vor seiner Entscheidung für den Muttermord stellt, in den Choephoren des Aischylos erinnert: »Pylades, was soll ich tun?« (Pul€dh, tffl dr€sw; Ch. 899), oder an Antigones Entscheidung in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles für den eigenen Tod, die der Chor als autonom bezeichnet: »du lebst nach eignem Gesetz, drum allein zum Lande der Toten gehst du«. 102 Zum »Könnens-Bewußtsein« vgl. Kapitel: Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens: Das »Könnens-Bewußtsein« des 5. Jahrhunderts v. Chr., ebd., 435–499. 100 Vgl. zum Begriff tffcnh die Erläuterungen im Kapitel 4.1 mit der Anm. 24 unten. 101 Vgl. dazu H. Kuhn, Die wahre Tragödie, 1969. 102 ⁄ll’ a'tnomo@ zsa mnh d¼ jnatn 3Adan katabffis–h (Ant. 821 f.). – Der Begriff »autonom, Autonomie« (a'tnomo@, a'tonomffla), ansonsten als politische Kategorie zur Kennzeichnung der Unabhängigkeit einer Stadt gebraucht, wird hier erstmalig in ethischer Bedeutung auf eine einzelne Person angewandt (R. Pohlmann, Arti- kel Autonomie, 1971, 701). Vgl. auch den Eintrag unter der zweiten Bedeutung von a'tnomo@ in: H. G. Liddell, A Greek-English Lexicon, 1996, 281. 103 Nur soviel sei an dieser Stelle gesagt: In der Forschung herrscht keineswegs Einigkeit darüber, ob die Akteure der griechischen Tragödie als subjektiv selbstständig entscheidende und handelnde Personen dargestellt werden oder nicht. Vgl. dazu die Diskussion der verschiedenen Positionen bei Arbogast Schmitt sowie seinen eigenen Vorschlag in: Wesenszüge der griechischen Tragödie, 1997. Vgl. auch die Interpretation der griechischen Tragödie als »politischer Kunst« von Ch. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 1988. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon 99 44 Die griechische Tragödie wurde im jetzigen Zusammenhang nur der Vollständigkeit halber erwähnt, 103 weil die drei ausgewählten Etappen der Vorgeschichte von Selbstbestimmung und Individualität – die Epen Homers, die athenische Demokratie und die nun im Folgenden zu behandelnden Sophisten – für deren Veranschaulichung hinreichend sein sollten. Die politischen und kulturellen Umwälzungen, die in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts, dem sogenannten »perikleischen Zeitalter«, insgesamt von politischer Stabilität und praktischen Erfolgen begleitet waren, führten in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer Verschärfung der Krisenerscheinungen. Als Ursachen gelten der Peloponnesische Krieg seit 431, der nach einigen Jahrzehnten Kriegsführung mit einer Niederlage Athens endete, zugleich Erfahrungen der Relativität im politischen Bereich, z. B. der mehrfache Wechsel der Herrschaftsformen in Athen, und insbesondere auf kulturellem und ethischem Gebiet: Bedingt durch die kulturelle Offenheit Athens und den damit einhergehenden Kontakten zu anderen Kulturen hatte man bereits seit längerer Zeit die erschütternde Erfahrung gemacht, dass anderen Ortes nach teilweise völlig anderen Geboten gelebt wurde. Jetzt setzte sich in zunehmenden Maße die Einsicht durch, dass Gesetze, Sitten und Lebensformen das Werk des Menschen sind, demnach Konventionen und somit auch veränderbar. Der Verlust der fraglos akzeptierten und orientierenden – um mit Hegel zu sprechen – unbefangenen Sittlichkeit und die wegen fehlender Orientierung verbundene Verunsicherung wurden nun in einer ganz anderen Dimension bewusst und erfahren, erkannt und thematisiert und führten letztlich zu einer Auflösung der gemeinsamen Sitten und Verbindlichkeiten. Diese Radikalität der Umwälzungen wird nicht nur an dem vielfach geäußerten Vorwurf an die athenische Demokratie deutlich, jeden nach seinem ei- Jacqueline Karl A 45 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität genen Belieben leben zu lassen, 104 sondern reichte bis in den ethischen Sprachgebrauch: »Auch änderten sie die gewohnten Bezeichnungen für die Dinge nach ihrem Belieben. Unüberlegte Tollkühnheit galt als aufopfernde Tapferkeit, vorausdenkendes Zaudern als aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit als Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit als alles lähmende Trägheit«, so lautete bereits bei Thukydides das Ergebnis seiner Analyse der Situation. 105 Der nicht mehr einheitliche Gebrauch der ethischen Sprache ist ein deutliches Anzeichen für die bestehenden Meinungsverschiedenheiten grundsätzlicher Art, und zwar darüber, wie man leben soll. Diese Veränderungen wurden von den Sophisten, neben den Rhetoren die Vertreter der griechischen Aufklärung, diagnostiziert und thematisiert. Das auf die Praxis bezogene, durch theoretisch-philosophische Reflexion begleitete Wirken der Sophisten ist eine Reaktion auf diesen Wandel und die damit einhergehende Verunsicherung und zugleich der Versuch, neue und der Situation adäquate Orientierungen zu geben. 106 Die Sophistik ist ein vielschichtiges Phänomen, über das in 46 der weiteren Untersuchung noch mehrfach zu reden sein wird, weil Platon seine philosophische Position in Auseinandersetzung mit den Sophisten und deren Auffassungen entwickelt. Deshalb beschränke ich mich jetzt auf eine knappe Charakterisierung allgemeinerer Art und auf den uns interessierenden Aspekt der Individualität. Zur Vorgeschichte gehören die Sophisten eigentlich nur in thematischer Hinsicht, denn als Zeitgenossen bilden sie den aktuellen Diskussionshintergrund sokratisch-platonischen Philosophierens. Diese Intellektuellen des fünften Jahrhunderts, wie man die Sophisten am ehesten bezeichnen könnte, reisten zwischen den Poleis umher, hielten Vorträge und erteilten gegen Bezahlung Unterricht. Als professionelle Lehrer traten sie mit dem Anspruch auf, über ein praktisches Wissen zu verfügen, das nicht auf ein spezielles Gebiet begrenzt war, sondern sich auf die Praxis insgesamt bezog, und vertraten die Vorstellung eines mitteilbaren, lehrbaren und rational nachvollziehbaren Wissens, was dem tffcnh-Verständnis bzw. dem nach Christian Meier sogenannten »Könnens-Bewußtsein« ihrer Zeit entsprach. Damit kamen die Sophisten dem wachsenden Bedürfnis nach neuer Orientierung und Bildung entgegen. 107 Dieses starke Interesse an Bildung lässt sich zurückführen auf die neuen Anforderungen, die an den einzelnen Bürger als politisches Subjekt in der direkten Demokratie gestellt wurden. Die aktive Teilnahme an den politischen Entscheidungsprozessen und eigener politischer Erfolg erforderten neben Sachwissen ebenso rhetorisches Können, um durch die Rede – als das Medium von Politik schlechthin – die anderen überzeugen und auch die je eigenen Interessen durchsetzen zu können. Die Aufklärung der Sophisten betraf die tradierten Vorstellungen des Mythos, der Religion und der Sittlichkeit, bisherige metaphysische Sinnbezüge wurden der Kritik unterworfen und prinzipiell abgelehnt. Charakteristisch für sophistisches Denken ist, dass es grundsätzlich auf Praxis bezogen war, denn selbst theoretische Probleme der Sprachphilosophie oder der Erkenntnistheorie unterstanden letztlich praxisorientierten Erkenntnisinteressen. Außerdem umfasste es den gesamten Bereich menschlichen Handelns und Lebens, sodass Thomas Buchheim in diesem Zusammenhang von der »Universalität sophistischer Zu- 104 Vgl. z. B. Platon, R. 557b8–10: In einer Demokratie könne »jeder sich seine Lebensweise für sich« einrichten, »welche eben jedem gefällt« (§dfflan kasto@ n kataskeu¼n to‰ a¢to‰ bfflou kataskeu€zoito ¥n a't–», `ti@ kaston ⁄rffskoi). Ebenso Aristoteles, Pol. V 1310a30–34: »Denn Recht besteht nach dieser Auffassung in Gleichheit, Gleichheit bedeute aber, daß die Beschlüsse der Menge die oberste Autorität bilden; und Freiheit und Gleichheit sei, daß jeder tut, was er will. Daher lebt in solchen Demokratien jeder, wie es ihm gefällt, und für das, worauf er Lust hat, wie Euripides sagt.« Vgl. auch Isokrates, Areopagiticus, 20 und 37. 105 ka½ t¼n e§wju…an ⁄xfflwsin tn ¤nom€twn ¥@ tÞ ˛rga ⁄ntffillaxan t–» dikaiðsei. tlma mþn gÞr ⁄lgisto@ ⁄ndreffla yilfftairo@ ¥nomfflsjh, mffllhsi@ dþ promhj¼@ deilffla e'prepffi@, t dþ syron to‰ ⁄n€ndrou prschma, ka½ t pr@ ¿pan xunetn ¥p½ p”n ⁄rgn (III, 82, 4). Zum Zusammenhang von Krise, sprachlichem Wandel und ethischem Dissens als Ausgangspunkt platonischer Philosophie vgl. P. Stemmer, Platons Dialektik, 1992, bes. Kapitel 1, 4–30. 106 Eric Robertson Dodds betont gegen die übliche Gleichsetzung von Sophistik mit dem Beginn griechischer Aufklärung zu Recht: »Die Aufklärung ist natürlich viel älter, sie hat ihre Wurzeln im Ionien des sechsten Jahrhunderts; sie wirkt sich aus bei Hekataios, Xenophanes und Heraklit und wird in einer späteren Generation von spekulativen Naturforschern wie Anaxagoras und Demokrit weiterentwickelt.« (Die Griechen und das Irrationale, 1991, 93) Allerdings habe die Sophisten bestimmte Fragen erstmalig explizit gestellt, und ihre Aufklärung ist radikaler, umfassender und insgesamt wirkungsvoller gewesen. Zu den historischen Voraussetzungen sozialer und politischer Art für das Auftreten der Sophisten vgl. J. Martin, Zur Entstehung der Sophistik, 1976; G. B. Kerferd, The sophistic movement, 1981, 15–23. 107 So begreift Werner Jaeger die Sophisten insgesamt als ein »bildungsgeschichtliches Phänomen« (Paideia, Bd. 1, 1934, 364–418). ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon Jacqueline Karl A 47 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität ständigkeit« sprechen kann. 108 Trotz unterschiedlicher, teilweise sich sogar widersprechender Positionen lassen sich gemeinsame Aspekte nennen, 109 z. B. die von den Sophisten vertretene Auffassung der Rhetorik: 110 Reden lässt sich nicht nur über alles, sondern alles Wichtige im Leben werde durch das Reden bestimmt. Diese angenommene Macht der Rede zeigt sich in den mit bestimmten erkenntnistheoretischen Annahmen verbundenen Lehren von Protagoras, dass es über jeden Gegenstand zwei entgegengesetzte Meinungen gibt, die gleichwertig behauptet und durch Reden plausibel gemacht werden können, und dass es darauf ankomme, die schwächere Sache zur stärkeren zu machen. 111 Wer die Redekunst beherrscht, wird im ⁄gðn der Redenden die anderen überzeugen, seine Interessen und Absichten durchsetzen und politischen Einfluss gewinnen. Ein weiteres Kennzeichen besteht in der Abwendung von naturphilosophischer Spekulation und in der von den Sophisten eingeleiteten anthropologischen Wende. 112 Paradigmatisch dafür ist der ebenfalls von Protagoras überlieferte Homo-mensura-Satz, der zu Beginn seiner Schrift Über die Wahrheit stand: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind.« 113 Abgesehen davon, dass die Interpretation dieses Satzes nach wie vor strittig ist, 114 herrscht in der Forschung inzwischen weitgehend 48 Einigkeit darüber, dass mit dem Wort »Mensch« nicht das Gattungswesen gemeint ist, sondern »der einzelne Mensch«, 115 sodass dieser Satz nicht nur Ausdruck eines wahrheits- und erkenntniskritischen Relativismus ist, sondern – in Orientierung am Paradigma des Wahrnehmungsurteils – das Individuum als Urteilsinstanz schlechthin begreift. Am deutlichsten zeigt sich in der sophistischen Kritik der tradierten Sittlichkeit, dass der Einzelne und seine Individualität immer mehr im Zentrum des Interesses stehen. Die bislang »von Natur aus« (yÐsei) geltenden rechtlichen und moralischen Normen durchschauten die Sophisten als menschliche Vereinbarungen oder Setzungen (jffsei@) und erklärten diese zum bloß Gemachten (nm†w). Ausgehend von dem Gegensatz zwischen nmo@ und yÐsi@, 116 Gesetz und Natur, galt den Sophisten nunmehr die Natur als einzig wahre Norm – mit höchst unterschiedlichen Schlussfolgerungen: So behauptete Antiphon die Gleichheit der Menschen von Natur aus, welche durch gesetzlich vorgeschriebene Hierarchien, z. B. freie Bürger und Sklaven, entstellt werde. Oder man kritisierte, wie Kallikles im platonischen Dialog Gorgias, die konventionellen Normen als ungerechtfertigte Einschränkung und Unterdrückung individueller Bedürfnisse und Interessen und bezog sich auf die von Natur aus gegebenen und kultivierten Unterschiede zwischen den Menschen. Aus diesen leitete man in einem zweiten Schritt das Naturrecht des Stärkeren ab, das darin bestehe, seine Interessen gegen die Schwächeren durchzusetzen. Bei aller Fragwürdigkeit wird hier eine Individualethik entwickelt, die von der Individualität des Einzelnen ausgeht und entschieden die griechische Agonalität in das Gesamtkonzept aufnimmt. Oder man empfahl wie Thrasymachos in der Politeia, allerdings ohne Rückgriff auf die Antithese, das Ungerechte als das dem eigenen Glück Zuträgliche, weil gerechtes Handeln zu eigenem Nachteil und nur zum Vorteil der anderen führe. Gemeinsam ist allen unterschiedlichen Positionen, dass durch die Einsicht in die Konventionalität der Sitten nicht nur die tradierte Mo- 108 Vgl. dazu Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde, 1986, Kapitel III.4: Sophistische Techne: universale Könnerschaft, 108–123. 109 Vgl. die Übersicht bei W. H. Pleger, Sokrates, 1998, 44–46. 110 Heinrich Gomperz interpretiert das rhetorische Interesse der Sophistik als das dominierende und gemeinsame Charakteristikum der Sophisten: »Und gerade in dieser bewußten Proklamierung eines formalen Bildungsideals, in diesem Bekenntnis zu einer rhetorischen Kultur erblicke ich jenes Moment, das neben der äußerlichen Gemeinschaft der Berufsübung und im Zusammenhange mit ihr die Sophisten zu einer Einheit zusammenschloß.« (Sophistik und Rhetorik, 1912, 41) Diese Interpretation blieb nicht ohne Widerspruch. Vgl. dazu die Angaben bei C. J. Classen, Sophistik, 1976, 10, Anm. 38. 111 »Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen (Meinungen).« (dÐo lgou@ enai per½ pant@ pr€gmato@ ⁄ntikeimffnou@ ⁄llffiloi@. DK 80 B 6a) »Es gilt die schwächere Meinung zur stärkeren zu machen.« (… tn `ttw … lgon krefflttw poie…n. B 6b) 112 Werner Jaeger sieht darin »den ersten Humanismus, den die Geschichte kennt« (Paideia, Bd. 1, 1934, 383). 113 p€ntwn crhm€twn mfftron ¥st½n ˝njrwpo@, tn mþn ntwn £@ ˛stin, tn dþ o'k ntwn £@ o'k ˛stin. (DK 80 B 1) 114 Zu den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten vgl. A. Graeser, Die Philosophie der Antike 2, 1993, 21–26. Vgl. dazu W. H. Pleger, Sokrates, 1998, 30. Die Antithese von nmo@ und yÐsi@ hat eine lange Vorgeschichte im frühgriechischen Denken, in Ethnographie, Geschichtsschreibung und Medizin, und die Sophisten gebrauchten diesen Gegensatz keineswegs nur innerhalb des ethisch-politischen Bereiches, sondern ebenso auf den Gebieten der Kulturentstehungslehren, der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie. Vgl. dazu die ausführliche Studie von F. Heinimann, Nomos und Physis, 1987. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon Jacqueline Karl 115 116 A 49 Einleitung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität ral ihre Legitimität verlor, sondern Moral überhaupt begründungsbedürftig wurde. Zugleich wurde der Begründungsanspruch durch die sophistische Unterscheidung zwischen eigenem Wohl und Moralität verschärft. Mit dieser Unterscheidung war wiederum die Frage nach den Gründen und Motiven gerechten Handelns verbunden, wobei die sophistische Vorstellung von autonomer Praxis das jeweilige Eigeninteresse des Handelnden als Kriterium geltend machte. 117 Angesichts dieser langen, bis in Platons Gegenwart hineinreichenden Vorgeschichte von Individualität und der Tatsache, dass Platon seine Philosophie nicht nur vor dem zeitgenössischen Hintergrund sophistischer Diskussionen, sondern auch in direkter Auseinandersetzung mit ihren Positionen entwickelt hat, liegt die Frage nahe, ob sich überhaupt noch von Platon als dem prometheischen Denker in Belangen von Individualität und Selbstbestimmung sprechen lässt. Für Platon selbst gibt es einen so engen Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Guten und der Philosophie, dass nach seinem Verständnis die Philosophie im eigentlichen Sinn erst mit der von Sokrates gestellten Frage nach dem guten Leben beginnt. Die Neuartigkeit der sokratischen Forderung nach Selbstbesinnung wird von Platon in zwei Dialogen in deutlicher Abgrenzung von der Naturspekulation der Vorsokratiker hervorgehoben, und zwar im Phaidros, wo der Selbsterkenntnis der Vorrang vor naturphilosophischen Fragestellungen zugesprochen wird (229e f., vgl. auch Ap. 19b ff.), und in Sokrates’ Schilderung seiner eigenen philosophischen Entwicklung im Phaidon (96a ff.). Dieser philosophiehistorischen Einordnung von Sokrates folgte auch Cicero in seiner oft zitierten Aussage: »Sokrates aber rief als erster die Philosophie vom Himmel herab, machte sie in den Städten heimisch und führte sie sogar in die Häuser ein und zwang sie, über das Leben, die Sitten und die guten und schlechten Dinge Untersuchungen anzustellen.« 118 Von verschiedenen Autoren wird betont, dass nicht Sokrates die Naturphilosophie abgelöst, die anthropologische Wende vollzogen 50 und die Frage nach dem guten Leben in die Philosophie eingeführt habe, sondern bereits die Sophisten. 119 Allerdings haben die Sophisten die Frage nach dem guten Leben eher marginal thematisiert und nicht in einem alles andere umfassenden Sinn wie Platon. Denn nach platonischem Verständnis ist die Frage nach dem Guten die Frage der Philosophie schlechthin, und zu dieser ist jene erst durch Sokrates geworden. Diese Frage steht, so Ursula Wolf, »als solche und ohne jede Verdeckung im Zentrum« seines Philosophierens, »nicht nur als Frage des Teilgebietes der Ethik, sondern in dem prägnanten Sinn, daß der letzte Gegenstand der Philosophie die Frage nach dem Guten ist und alle Bereiche der Philosophie auf diese Perspektive bezogen sind«. 120 In dieser Hinsicht ist Platon ganz und gar Sokratiker geblieben. Philosophie wird durch diese Fokussierung auf das Gute selbstreflexiv: Wie eine Beantwortung der Frage nach dem guten Leben einen Ausgriff auf das Ganze der Welt und die Erkenntnis des menschlichen Weltbezuges erfordert, so bleibt jeder Ausgriff auf das Ganze der Welt durch die leitende Perspektive des Guten auf seinen Ausgangspunkt zurückbezogen – auf die Selbsterkenntnis des Philosophen. 121 Diese Selbsterkenntnis ist allerdings wiederum nicht eine theoretische Erkenntnis, sondern sie ist im eigentlichen Sinn des Wortes als praktisch zu verstehen. Sie orientiert denjenigen, der philosophiert, in seinem Leben und Handeln, oder genauer: Philosophie ist keine Theoriebildung, die sich jenseits desjenigen vollziehen ließe, der philosophiert, sondern eine Lebensweise, die den Philosophierenden selbst verändert und sich dadurch auszeichnet, dass als Instanz menschlichen Urteilens und Handelns einzig und allein die begründete Einsicht des Einzelnen anerkannt wird. 122 117 Vgl. zur Neubestimmung der Ethik durch die Sophisten z. B. P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 503 f.; ders., Platons Dialektik, 1992, § 2: Krise und Typen ethischen Dissenses, 12 ff.; U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 21 f. 118 »Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere.« (Tusc. V, 4, 10) 119 Vgl. dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 17 f. und 21 ff.; dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 32; W. H. Pleger, Sokrates, 1998, 29; bereits W. Jaeger, Paideia, Bd. 1, 1934, 383. 120 Ebd., 15. Vgl. auch H. Kuhn, Die wahre Tragödie, 1969, 316: »Die Neuheit des Unternehmens bestand nicht so sehr im Nachdenken über menschliches Verhalten, sondern darin, daß das menschliche Problem des Sokrates erste, wenn nicht einzige Sorge war und daß er eine Antwort nicht auf dem Weg über die Welt, sondern in den menschlichen Gedanken und Worten, den lgoi, suchte, und das heißt letztlich in sich selbst.« 121 Zur konstitutiven Bedeutung der Frage nach dem Guten und der Selbsterkenntnis des Philosophen für die Selbstreflexivität der sokratisch-platonischen Philosophie vgl. die erhellende Studie von H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000. 122 Vgl. zur Einheit von philosophischer Lebensweise und philosophischem Diskurs von Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform, 1991; Wege zur Weisheit, 1999. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon Jacqueline Karl A 51 Einleitung Hermeneutische und methodische Vorklärungen Wenn sich in den Dialogen ein systematischer Zusammenhang zwischen der Frage nach dem guten Leben einerseits und Selbstbestimmung und Individualität andererseits nachweisen lässt, dann beginnt mit Platon im Anschluss an Sokrates nicht nur die Philosophie im eigentlichen Sinn, sondern mit dieser zugleich die Geschichte von Selbstbestimmung und Individualität in der Philosophie, und zwar in einer ausdrücklich praktischen, den Philosophierenden selbst einbeziehenden Bedeutung. d. Hermeneutische und methodische Vorklärungen Wer sich mit Platon beschäftigt, sieht sich mit mehrfachen hermeneutischen Problemen konfrontiert: Abgesehen von den für echt gehaltenen Briefen liegt uns das platonische Werk in der literarischen Form des Dialogs vor. In diesen Dialogen, in denen Platon nie selbst spricht, sondern Sokrates in den meisten Fällen als Hauptfigur im Gespräch mit anderen individuell gezeichneten Personen agiert, werden keine feststehenden Lehrsätze präsentiert. Dargestellt ist vielmehr ein konkretes Philosophieren in ganz bestimmten Gesprächssituationen, in denen von konkreten Einzelfragen ausgehend Probleme entwickelt und Versuche ihrer Lösung unternommen werden, ohne zu eindeutig übernehmbaren Ergebnissen zu gelangen. Hinzu kommt Platons eigener Vorbehalt gegenüber der Schriftlichkeit zugunsten der Mündlichkeit, die sogenannte Schriftkritik im Phaidros (274b ff.) und im Siebten Brief (341b ff.), von welcher auch seine eigenen Dialoge nicht ausgenommen werden können. Wie ist mit diesem Textbefund umzugehen? Von welchen Quellen sollte eine Interpretation der platonischen Philosophie ausgehen? Wie ist die Dialogform an sich zu verstehen? Bis heute gibt es in der Forschung darüber eine heftig geführte Diskussion. 123 Vor einigen Jahren erschien von Thomas A. Szlezák eine Monographie mit dem Titel Platon lesen. 124 Was auf den ersten Blick wie eine unparteiliche Aufforde- 52 rung zur Lektüre der platonischen Dialoge überhaupt aussieht, ist bei näherem Zusehen eine dezidierte Antwort auf die Frage, wie Platon richtig zu lesen sei. Objekt des Streites sind nämlich nicht Quisquilien, sondern sich einander ausschließende Paradigmen der Interpretation, wie Giovanni Reale behauptet: Dem bis heute aktuellen, aber aus der Sicht Reales »veralteten« schleiermacherschen Paradigma stehe das neue Paradigma der ungeschriebenen Lehre gegenüber. 125 Dieses im Vergleich zu anderen aus seiner Sicht alternativlose Paradigma wird von der sogenannten Tübinger Schule vertreten, welcher neben Szlezák und Reale insbesondere deren Initiatoren Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser angehören. 126 Ausgehend von der platonischen Schriftkritik im Phaidros und im Siebten Brief und von den nur indirekt bei anderen Autoren überlieferten Lehrstücken Platons, zum Beispiel der Bericht über den öffentlichen Vortrag Platons Über das Gute bei Aristoxenos, schließen die Vertreter der Tübinger Schule auf die Existenz einer nur innerakademisch vorgetragenen ungeschriebenen Lehre. Diese Prinzipienlehre, die ihnen als Platons eigentliche Philosophie gilt, hat in der Tübinger Perspektive den Charakter eines philosophischen Systems und wird im Sinn einer ontologischen Letztbegründung verstanden. Zugleich dient sie als Basis für ein adäquates Verständnis der Schriften selbst. Die als Quelle platonischen Philosophierens nunmehr sekundären Dialoge hätten demnach für die Mitglieder der Akademie nur die Funktion der Erinnerung an bisher Erkanntes und hinsichtlich der Öffentlichkeit als Werbeschriften für die Philosophie und die Platonische Akademie allein einen protreptischen Wert gehabt. Wegen der Gefahr von Missverständnissen, denen Geschriebenes potenziell immer ausgesetzt ist, habe Platon seine nur mündlich vorgetragene Philosophie in den Dialogen zurückgehalten, nur bestimmte Auslassungsstellen in den Texten wiesen über sich hinaus auf die ungeschriebene Lehre, die nach 123 Die wichtigsten Vorschläge für eine Interpretation der Dialogform finden sich in einer übersichtlichen Darstellung bei U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 26 ff. 124 Vgl. dazu Th. A. Szlezák, Platon lesen, 1993. 125 Vgl. dazu G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 1993. Reale übernimmt den Begriff Paradigma, den Thomas S. Kuhn in seinem Werk The Structure of Scientific Revolution (Chicago 1962; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1967) ursprünglich zur Beschreibung der Geschichte der Naturwissenschaften entwickelt hat, auch für die unterschiedlichen Forschungsperspektiven der PlatonInterpretation. 126 Vgl. dazu Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985; H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, 1959; K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 1963. ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon Jacqueline Karl A 53 Einleitung Hermeneutische und methodische Vorklärungen Tübinger Verständnis nicht nur mündlich mitteilbar, sondern auch schriftlich fixierbar sein soll. Gegen dieses Platon-Verständnis lässt sich einwenden, 127 dass die ungeschriebene Lehre aus der indirekten Überlieferung erst rekonstruiert werden muss, wohingegen die Dialoge als originäre Schriften Platons vorliegen. Außerdem überzeugt die Behauptung, dass die eigentliche Philosophie Platons nur in Vorträgen und Gesprächen innerhalb der Akademie entwickelt worden sei, aus mehreren Gründen nicht: Einerseits ist der philosophische Gehalt der Dialoge bei Weitem relevanter, als von den Vertretern der Prinzipienlehre zugestanden wird, und andererseits erhält die philosophische Dürftigkeit dessen, was sich aus der indirekten Überlieferung gewinnen lässt, eine ernst zu nehmende Relevanz erst in Verbindung mit den authentischen Erörterungen in den Dialogen. Dieser Rückgang auf die Schriften ist möglich, weil die Prinzipientheorie bereits in den späten Dialogen eine Rolle spielt und neben der marginalen Überlieferung bei anderen Autoren vom Werk her zusätzlich bestätigt wird. Aber das vermindert den philosophischen Wert der Dialoge nicht, im Gegenteil: Nicht die ungeschriebene Lehre erschließt die Schriften, sondern sie wird von diesen überhaupt erst verständlich. 128 Das auf Schleiermacher zurückgehende Paradigma der Dialogtheorie, 129 dem sich auch die vorliegende Arbeit zurechnet, geht von anderen Prämissen der Interpretation aus. Neben dem Primat der Dialoge für die Interpretation – die »methodischen Vorrang besitzen« 130 – 127 Für die in der Forschung differenziert geführte Auseinandersetzung mit den Thesen der Tübinger Schule sollen exemplarisch genannt sein: W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, bes. § 2: Geschriebene und ungeschriebene Lehren, 38 ff., Anhang. Zur Platondeutung Giovanni Reales, 326 ff.; Ch. Quarch, Sein und Seele, 1998, 3. Kapitel der Einleitung: Gegen einen hermeneutischen Paradigmenwechsel, 19 ff. und die in der folgenden Anm. genannten Literaturangaben. 128 Vgl. das »Friedensangebot« an die Vertreter der Tübinger Schule von Günter Figal, der eine Platon-Interpretation vorschlägt, die von den Dialogen ausgeht und zugleich prinzipientheoretische Überlegungen aufnimmt, ohne die dogmatischen Konsequenzen der Tübinger Schule zu ziehen (Riesenschlacht? Überlegungen zur Platoninterpretation, 1994), und die deutliche Ablehnung sowohl des »Angebotes« als auch der PlatonInterpretation der Heidelberger Schule generell (Gadamer, Wieland, Figal) von Hans Joachim Krämer (Platons Ungeschriebene Lehre, 1996, 268–270, Anm. 78). 129 Neben Gadamer, Wieland, Figal und jüngstens Quarch sind weitere exemplarische Vertreter: P. Friedländer, Platon, 1954/1957/1960, vgl. Kapitel VIII: Dialog, Bd. 1, 1954, 164 ff.; H. Gundert, Der platonische Dialog, 1968. 130 »Daß wir mit dem uns Bekannten anfangen müssen, kann nicht im Ernste kontro- 54 ALBER THESEN Jacqueline Karl wird die platonische Schriftkritik auch auf die Mündlichkeit bezogen. Über die berechtigte Kritik des schriftlichen Mediums hinausgehend, will die Schriftkritik, so Wolfgang Wieland, »auf die Ungegenständlichkeit des Wissens« und »auf die Grenzen möglicher Mitteilbarkeit« aufmerksam machen, wovon sowohl das geschriebene als auch das gesprochene Wort betroffen sind. 131 Das philosophische Wissen sei kein Besitz, den man nach Art eines Gegenstandes sich aneignen kann, es sei kein propositionales Wissen, das sich als semantisches Korrelat textfähiger Aussagen mitteilen lässt, sondern vielmehr von der Art eines Gebrauchswissens im Umgang mit sich und der Welt, ein Wissen mit praktischem und dispositionellem Charakter, und zwar, um es noch einmal zu wiederholen, unabhängig vom schriftlichen oder mündlichen Medium der Sprache. Dieses Wissen ließe sich nicht in Form von Dogmen oder Lehrsätzen mitteilen, auch nicht im Bereich des Mündlichen. Die Tübinger Lesart, Platon habe wegen der begrenzten Möglichkeiten des schriftlichen Mediums seine Lehre in den Dialogen zurückgehalten, im innerakademischen Gespräch gleichwohl gelehrt, erweist sich nach dieser Interpretation der Schriftkritik als fragwürdig. Im Ausgang von den Arbeiten von Hans-Georg Gadamer und Wolfgang Wieland zeigt Christoph Quarch anhand einer Interpretation der zwei Textstellen der Schriftkritik, dass das philosophische Wissen ein Wissen vom Guten oder guten Leben ist, das nur im lebendigen Vollzug erlernt und gelebt werden kann, 132 wie Platon im Siebten Brief selbst sagt: »Es gibt ja auch von mir darüber keine Schrift und kann auch niemals eine geben; denn es läßt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenstände, sondern aus häufiger gemeinsamer Bemühung um die Sache selbst und aus dem gemeinsamen Leben entsteht es plötzlich – wie ein Feuer, das von einem übergesprungenen Funken entfacht wurde – in der Seele und nährt sich dann schon aus sich heraus weiter.« (341c4–d2) Die Einsicht in das Gute vermag sich nur im lebendigen Vollzug des Philosophierens einstellen, im gemeinvers sein. Ebensowenig, daß daher die Dialoge einen nicht von uns zu verantwortenden, sondern durch die Überlieferungslage gegebenen methodischen Vorrang besitzen. Sie sind da und sind nicht Resultat einer Rekonstruktion.« Und deshalb sei daran festzuhalten, dass »der Weg über die Dialoge der Königsweg zum Verständnis Platos bleibt«. (H.-G. Gadamer, Platos ungeschriebene Dialektik (1968), GW VI, 131 und 133) 131 Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, § 1: Platons Schriftkritik, 13 ff., § 2: Geschriebene und ungeschriebene Lehren, 38 ff., zit. 27 und 38. 132 Vgl. dazu Ch. Quarch, Sein und Seele, 1998, 22 ff. Selbstbestimmung und Individualität bei Platon A 55 Einleitung Hermeneutische und methodische Vorklärungen samen Bemühen um Erkenntnis und Verständigung. Wie die Schriftkritik gezeigt hatte, können im mündlichen sokratischen Dialog von zwei oder mehreren Partnern die Möglichkeiten, die in der Sprache als einem Instrument der Verständigung gegeben sind, am ehesten verwirklicht werden. Als praktisches Wissen lässt sich das Wissen vom Guten nicht objektivieren, auch nicht für den Wissenden selbst, sondern das Wissen ist mit dem Wissenden selbst unlösbar verbunden. 133 Deshalb prüft Sokrates in den Dialogen nicht nur das Wissen seiner Dialogpartner, sondern diese müssen zugleich auch über sich selbst Rechenschaft geben. Im Unterschied zum Tübinger Ansatz wird die Tatsache ernst genommen, dass Platon seinen Werken die literarische Form von Dialogen gegeben hat. Die Dialogform ist mehr als nur ein künstlerisches Gestaltungsmittel, sie ist die Antwort Platons auf seine eigene Schriftkritik, insofern zumindest auf der dramatischen Ebene des Dialogs die Momente der Mündlichkeit, die einem Text ansonsten fehlen, bewahrt bleiben. Als »Medium des philosophischen Gedankens« steht die Dialogform in einem inneren Zusammenhang mit dem Inhalt der Philosophie. 134 In der Perspektive dieses Paradigmas ergibt sich erwartungsgemäß auch ein anderes Verständnis der platonischen Philosophie im Ganzen: Weil wir in den Dialogen mit einem sich in konkreten Situationen artikulierenden Philosophieren konfrontiert werden, das wegen seines nicht zu vergegenständlichenden Charakters nicht in einer dogmatisch verstandenen Lehre im Sinne einer ontologischen Letztbegründung seinen Höhepunkt erreicht, sind die philosophische Tätigkeit und die ihr zugrunde liegende Methode wesentlicher als das Ziel, ohne dass dadurch das Philosophieren ziellos wäre. Die Systematik Platons besteht nicht in einem hierarchisch gedachten Ableitungssystem zweier Prinzipien, sondern vielmehr in der Einheitlichkeit ihres Verfahrens – 56 der nicht abschließbaren Dialektik. 135 Auch in der vorliegenden Arbeit wird Platon in der Perspektive dieses Paradigmas verstanden – als praktischer Philosoph, der das sokratische Erbe angetreten hat. 136 Einige Bemerkungen zur methodischen Vorgehensweise in der vorliegenden Untersuchung: Jede Interpretation platonischer Texte steht vor der hermeneutischen Aufgabe, moderne Denkmuster nicht unreflektiert in die Deutung des Textes einzubringen, ansonsten besteht die Gefahr, das antizipierte Resultat bereits durch die Interpretation vorwegzunehmen. Virulent wird dieses Problem noch mehr, wenn mit einer modernen Begrifflichkeit gearbeitet wird, wie in der vorliegenden Arbeit, gelten doch Selbstbestimmung und Individualität nach üblichem Verständnis als charakteristisch neuzeitliche Begriffe. Zunächst möchte ich einem weitverbreiteten Missverständnis widersprechen: Aus der Tatsache, dass in den platonischen Dialogen keine dem modernen Verständnis adäquate Begrifflichkeit vorzufinden ist, kann nicht der Schluss gezogen werden, dass Platon die entsprechenden Sachverhalte überhaupt nicht gekannt haben konnte. Denn das Fehlen eines Begriffes bedeutet nicht notwendig das Fehlen des später mit diesem Begriff bezeichneten Sachverhaltes und der Reflexion über diesen Sachverhalt, oder anders gesagt: Die moderne Verwendung des Begriffs sagt nichts über die Modernität des Sachverhalts aus, den er bezeichnet. 137 Damit ist noch nicht gesagt, dass der jeweilige Begriff 133 Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, § 14: Das Wissen und der Wissende, 236 ff.; bereits H.-G. Gadamer, Praktisches Wissen (1930), GW V. 134 Vgl. dazu ebd., § 3: Der Dialog als Medium des philosophischen Gedankens, 50 ff.; ebenso ders., Das sokratische Erbe, 1996, 8 ff. – Die vorliegende Interpretation benutzt überwiegend deutschsprachige Forschungsliteratur, der Grund dafür ist die mit Schleiermacher beginnende und bis heute währende Tradition der Dialogtheorie bzw. hermeneutischen Platon-Interpretation im deutschsprachigen Raum; hingegen hat die angelsächsische Platon-Forschung, bis auf Ausnahmen, den Dialog »als Medium des philosophischen Gedankens« vernachlässigt. 135 Die Unabschließbarkeit der Dialektik wird auch durch die Aufnahme prinzipientheoretischer Überlegungen nicht widerlegt oder eingeschränkt. Vgl. dazu G. Figal, Riesenschlacht? Überlegungen zur Platoninterpretation, 1994, 160 ff.; H.-G. Gadamer, Platos ungeschriebene Dialektik (1968), GW VI, 150 ff. Gadamer versteht das platonische Ideendenken »als eine allgemeine Relationstheorie«, welche »die Unendlichkeit der Dialektik zur Folge« hat, weil »zwar eine jede Relation, die es an sich geben kann, in die Ausdrücklichkeit des Gehoben- und Gesetzt-Seins gebracht werden kann, daß aber ein gleichzeitiges Gesetztsein und Präsentsein aller Relationen grundsätzlich unmöglich ist. […] Aber die Unvollendbarkeit, die dem menschlichen Erkennen und Denken wie allem irdischen Seienden anhaftet, schmälert nicht die Großartigkeit des Weges der menschlichen Erkenntnis, die immer ins Offene gestellt ist.« (Ebd., 151 f.) 136 Vgl. dazu den gleichnamigen Aufsatz von W. Wieland, Das sokratische Erbe, 1996 und die Ableitung der platonischen Dialektik aus dem sokratischen Dialog von H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos (1931), GW V. Vgl. ebenso zu Platon als praktischem Philosophen die Monographie von M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten, 2003, Einleitung, 1 ff. 137 Vgl. B. Zehnpfennig, Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte, 1987, 12: »Die Neuzeitlichkeit des Begriffs ist aber nicht gleichbedeutend mit der Neuzeitlichkeit der Sache, die er bezeichnet – das Faktum, daß Platon Termini wie ›Subjekt‹, ›Objekt‹, ALBER THESEN Selbstbestimmung und Individualität bei Platon Jacqueline Karl A 57