David Heise - Expressive Order: Confirming Sentiments in Social Action Tobias Schröder, Freie Universität Berlin Stichworte: Computersimulation, Eindrucksbildung, Emotionaler Raum, Handlungssteuerung, Identität, Kultur, Kybernetik, Personenwahrnehmung, Sprache, Symbolischer Interaktionismus 1. Rekonstruktion In der sozialen Interaktion streben Menschen danach, Dinge zu erleben, die sie schon wissen. So fasst David Heise (2007: 35) seine Affektsteuerungstheorie (Affect Control Theory) gerne in einem Satz zusammen. Das Bedürfnis nach Bestätigung sozialen Wissens fasst er als Motor der Interpretation und Ausführung sozialer Handlungen auf. Heises Theorie soll hier anhand seines relativ jungen Buches Expressive Order (Heise 2007) dargestellt werden, bei dem es sich um ein Überblickswerk handelt, in dem er die Theorie selber, den Stand der empirischen Forschung, die historische Entwicklung sowie die mathematischen Modelle und die Software INTERACT darstellt, durch welche die Affektsteuerungstheorie formal operationalisiert ist, und die zur Analyse und Simulation von sozialem Verhalten und Emotionen benutzt werden kann1. Die Einzigartigkeit seiner Theorie besteht in der zentralen Annahme, dass handlungsrelevantes soziales Wissen vor allem über emotionale Mechanismen der Sprachverarbeitung geschaffen, vermittelt und aufrechterhalten wird, und darin, dass sie eine präzise mathematische Formalisierung dieser Mechanismen anbietet. David Heise beginnt das erste Kapitel mit einem stichwortartigen Überblick über die Kernaussagen seiner Theorie und führt Beispiele für soziale Phänomene heran, zu deren Erklärung sie nützlich ist. Die Affektsteuerungstheorie besagt, dass Individuen in sozialen Situationen solche Handlungen herbeiführen, die ihnen erlauben, die Gefühle zu bestätigen, die sie mit den an der Interaktion beteiligten Personen (einschließlich ihrer selbst) verbinden. Emotionen haben eine Signalfunktion: Sie zeigen dem Individuum an, wie kohärent das gerade Erlebte zu seiner eigenen Identität ist, und dienen damit als kybernetische Steuerungsgröße für soziales Verhalten. Ist es nicht möglich, sich affektiv konsistent zur mentalen Repräsentation der Situation zu verhalten, so deuten Individuen die Situation um, indem sie sich selbst und/oder ihren Interaktionspartnern neue Identitäten zuweisen. Die affektive Bestätigung der eigenen Identität in der sozialen Interaktion stärkt das Selbstgefühl, während erlebte Abweichungen zu Gefühlen fehlender Authentizität führen, welche das Individuum zum Ausleben einer anderen, kompensierenden Identität motivieren. 1.1 Grundgefühle (sentiments) Zur Bestimmung, Messung und mathematischen Modellierung von Affekten greift Heise auf die Arbeiten von Osgood und Kollegen (Osgood/Suci/Tannenbaum 1957) zurück, die gezeigt haben, dass sich die affektive Komponente der Wortbedeutung in einem dreidimensionalen „affektiven Raum“ beschreiben lässt, dessen Basisvektoren durch Gegensatzpaare von Adjektiven festgelegt werden (sog. semantisches Differenzial). Die erste Dimension, Evaluation (E), wird durch den Kontrast gut, angenehm vs. schlecht, unangenehm bestimmt und kann auf das psychologische Grundkonstrukt von Annähern vs. Vermeiden bezogen werden. Die zweite Dimension, Potenz (P, stark, kraftvoll vs. schwach, zart), spiegelt die Grunderfahrung von Macht- und Hierarchieunterschieden sowie Kontrollerleben wider, während die dritte, Aktivierung (A, erregt, lebhaft vs. still, ruhig), die Reaktionsbereitschaft des Organismus repräsentiert. In einem umfangreichen interkulturellen Forschungsprogramm haben Osgood, May und Miron (1975) empirische Belege für die Annahme vorgelegt, dass diese drei Dimensionen über alle Sprachen und Kulturen hinweg universal gültig sind. Semantische Differenziale werden im Forschungsprogramm zur Affektsteuerungstheorie dazu benutzt, sprach- und kulturspezifische affektive Lexika zu erstellen. Dabei handelt es sich um Datenbanken, die zumeist zwischen 500 und 2.000 für Beschreibungen sozialer Interaktion relevante Worte enthalten (Soziale Rollen, Handlungen, Emotionen, Persönlichkeitseigenschaften sowie Settings), denen ein sog. EPA-Profil zugewiesen wurde. Ein EPA-Profil ist ein Vektor, der sich aus empirisch ermittelten durchschnittlichen Bewertungen der Worte auf den Dimensionen des semantischen Differenzials durch in der Regel jeweils 25-30 männliche und weibliche Muttersprachler ergibt. Affektive Lexika dienen als Datenbasis für die Computersimulation von sozialer Interaktion mit INTERACT (Heise 2007: 7 ff.). 1.2 Kultur Wenn David Heise von Kultur spricht, so hat er vor allem ein sozial geteiltes Gefühlserleben innerhalb einer Sprachgemeinschaft im Sinn. Empirisch lässt sich zeigen, dass Angehörige einer Kultur in hohem Maße über die 1 INTERACT ist frei im Internet verfügbar: http://www.indiana.edu/~socpsy/ACT/interact/JavaInteract.html. Eine deutschsprachige Version kann vom Autor dieses Kapitels bezogen werden: http://www.tschroeder.eu. mit dem semantischen Differenzial gemessenen affektiven Assoziationen von Worten übereinstimmen: Die Bewertungen zufällig gezogener Substichproben sind sehr hoch korreliert, und EPA-Profile sind auch über sehr lange Zeiträume von 20 Jahren und mehr höchst stabil. Zudem sind die Unterschiede im Gefühlserleben zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen empirisch größer als die zwischen Angehörigen derselben Kultur. So haben beispielsweise Japaner verglichen mit US-Amerikanern und Deutschen eine weniger positive Wahrnehmung von Familienbegriffen wie „Vater“, „Mutter“ oder „Kind“, und US-Amerikaner scheinen das Machtgefälle zwischen Vätern und Müttern nicht zu empfinden, welches für viele andere Kulturen charakteristisch ist. Empirisch ermittelte Korrelationen von EPA-Profilen zwischen verschiedenen Kulturen fallen generell deutlich niedriger aus als die Stabilitätskoeffizienten innerhalb einer Kultur (Heise 2007: 13 ff.). 1.3 Sub-Kulturen Die Gesellschaft differenziert sich in Subgruppen auf, die für spezifische Begriffe und Interaktionsweisen spezielle und vom sozialen Mainstream unterschiedene affektive Bedeutungen entwickelt haben. Heise spricht hier von Subkulturen. Typischerweise entwickeln deren Mitglieder im Vergleich zur Gesamt-Kultur positivere Gefühle zu solchen Begriffen, Handlungen und Objekten, die für die Subkultur von besonderer Bedeutung sind. Als eine Art von Subkultur fasst Heise das Geschlecht auf. Männer und Frauen verbinden verschiedene Gefühle mit bestimmten Begriffen. Allerdings sind diese Unterschiede auf wenige Begriffe beschränkt und treten in empirischen Studien in einer Häufigkeit auf, die nur wenig größer ist als das, was durch Zufall zu erwarten wäre. Der einzige robuste, über verschiedene Kulturen hinweg konsistent auftretende Geschlechtsunterschied besteht darin, dass Männer im Vergleich zu Frauen sexuelle Identitäten, Handlungen und Situationen generell als angenehmer empfinden. Einige Untersuchungen vor dem Hintergrund der Affektsteuerungstheorie widmen sich auch spezielleren Subkulturen, wie z.B. „schwulen Christen“ oder Konsumenten von Marihuana. Das gemeinsame Ergebnis solcher Studien besteht darin, dass Begriffe, die für die Identität dieser Subkulturen besonders bedeutsam sind, deutlich anders wahrgenommen werden als von der Mehrheits-Kultur. Das gesamte affektive Lexikon der Subkulturen unterscheidet sich aber kaum und allenfalls unsystematisch von jenem der MehrheitsKultur (Heise 2007: 21 ff.). 1.4 Die Definition der Situation In jeder Situation nehmen die Beteiligten zunächst automatisch eine Definition der sozialen Position der Interaktionspartner vor, sich selbst eingeschlossen. Die englische Sprache kennt etwa 10.000 Begriffe, die geeignet sind, Identitäten in Alltagssituationen zu beschreiben. Etwa die Hälfte davon bezieht sich auf die basalen Institutionen der Gesellschaft wie Berufe, Verwandtschaft, Politik oder Religion. Die übrigen beziehen sich etwa auf Aspekte des Körpers, ethnische Zugehörigkeit, moralische Bewertungen, Freizeitaktivitäten oder sexuelle Präferenzen. Nicht jedes Individuum kann spontan jede dieser 10.000 Identitäten annehmen (es erfordert eine lange Ausbildung, z.B. „Neurochirurg“ zu sein), aber Heise schätzt, dass in jeder Situation noch einige hundert zur Auswahl stehen. Wie bewältigt das Individuum im Alltag diese kognitive Herausforderung? Eine große Rolle spielen gesellschaftliche Institutionen, die Heise als Konstellationen von Identitäten, Handlungen und Settings auffasst, die dem Individuum die Wahl erleichtern. Die wichtigsten Institutionen des Alltags, denen sich die meisten Identitäten zuordnen lassen, sind die folgenden: Familie, Sexualität, Wirtschaft, Religion, Bildung, Medizin, Recht, Politik und Unterhaltung. Aber auch das Selbst ist am Prozess der Situationsdefinition beteiligt, indem es aus dem Angebot an Identitäten in den verschiedenen Institutionen bevorzugt solche mit einer hohen affektiven Passung auswählt. Eine Person mit sehr angenehmem, mächtigen und lebhaften Selbstgefühl (E+ P+ A+) fände z.B. innerhalb der Institutionen Sexualität, Wirtschaft und Unterhaltung gute Ausdrucksmöglichkeiten (z.B. als „Liebhaber“, „Führungskraft“ oder „Sportler“) (Heise 2007: 27 ff.). 1.5 Die Interpretation von Handlungen Soziale Handlungen und Geschehnisse werden Heise zufolge immer in einem Handlungsrahmen (action frame) interpretiert, der durch das grammatische (kulturell invariante) Grundschema Akteur – Handlung – Objekt – Setting vorgegeben ist. Gemäß der von den beteiligten Personen vorgenommenen Definition der Situation (vgl. Abschnitt 2.5) wird der Handlungsrahmen mit Begriffen aus dem affektiven Lexikon gefüllt, etwa so: „Kellner – begrüßt – Gast – in Restaurant“. Eine solche sprachliche Situationsinterpretation hat eine emotionale Folge, die sich aus der kulturell geteilten affektiven Bedeutung der verwendeten Begriffe ergibt. Hier greift nun das eingangs beschriebene Motivationsprinzip der Affektsteuerungstheorie, demzufolge Menschen bemüht sind, ihr bestehendes soziales Wissen in konkreten Situationen bestätigt zu sehen. Die Gefühle, welche die Beteiligten durch das Geschehen zueinander entwickeln, sollen sich möglichst wenig von den kulturell geteilten Grundgefühlen unterscheiden, die mit ihren Identitäten einhergehen. Es kommt also darauf an, dass alle an einer Interaktion Beteiligten eine gemeinsame Situationsdeutung entwickeln, die emotional kohärent ist. In den Interaktionen des Alltags machen wir immer wieder die Erfahrung, dass Erwartungen verletzt werden, dass wir also Emotionen erleben, die den situationsbezogenen Grundgefühlen widersprechen. Solche Erfahrungen durchbrechen den Handlungsfluss, erregen Aufmerksamkeit und regen zu einer Modifikation der Situationsinterpretation an. Man stelle sich beispielsweise vor, dass eine Mutter ein Kind schlägt. Wie man in dieser Situation die Mutter erlebt, hat nur noch wenig mit dem kulturell geteilten Grundgefühl zu einer prototypischen „Mutter“ zu tun. Eine solche situationsbedingte Veränderung der affektiven Bedeutung bezeichnet Heise als Eindrucksbildung (impression formation). Ein großer Teil der empirischen Forschung im Rahmen der Affektsteuerungstheorie befasst sich mit der mathematischen Modellierung solcher Eindrucksbildungsprozesse. Diese lassen sich, wie zahlreiche Studien in mehreren Sprachen gezeigt haben, sehr präzise mit empirisch ermittelten Gleichungssystemen in Kombination mit den affektiven Lexika (s. Abschnitt 1.1) als Datenbasis vorhersagen. Die affektive Reaktion von Personen auf eine „Mutter, die ein Kind schlägt“ lässt sich also fast vollständig aus den EPA-Profilen der Worte „Mutter“, „schlagen“ und „Kind“ errechnen. Viele in den Eindrucksbildungsgleichungen enthaltene Koeffizienten lassen sich im Sinne psychologischer Prozesse interpretieren. Der Stabilitätseffekt etwa bezieht sich auf die konservativen Tendenzen des Geistes: bestehende Grundgefühle wirken auch bei affektiv widersprechenden Handlungen fort. Eine Mutter wird immer noch vergleichsweise positiv empfunden, selbst wenn sie in einer spezifischen Situation ein Kind schlägt. Gleichzeitig bewirkt aber der Verhaltenseffekt, dass Akteure und Objekte stark im Lichte der gezeigten Handlungen wahrgenommen werden. Die meisten Menschen dürften nicht nur die schlagende Mutter, sondern auch das geschlagene Kind als eher negativ und unangenehm empfinden. Die leidvolle Erfahrung vieler Gewaltopfer, zusätzlich zu ihrem Missgeschick noch soziale Ablehnung und Stigmatisierung zu erfahren, wird somit von der Affektsteuerungstheorie vorhergesagt. Zusätzlich zu den genannten Haupteffekten enthalten die Eindrucksbildungsgleichungen auch komplexere Interaktionsterme. Konsistenzeffekte treten innerhalb einer affektiven Dimension auf. So werden Akteure, die positive Objekte positiv und negative Objekte negativ behandeln, als angenehmer wahrgenommen. Einen „Verbrecher“ zu schlagen (negative Handlung einem negativen Objekt gegenüber) wird deutlich positiver bewertet als ein „Kind“ zu schlagen (negative Handlung einem positiven Objekt gegenüber). Kongruenzeffekte schließlich sind Interaktionen über die affektiven Dimensionen hinweg. So wird ein Akteur, der ein positives Objekt machtvoll behandelt, in der Regel als besonders negativ wahrgenommen. Hier wirkt sich also die Potenz- auf die Evaluations-Dimension aus. Ein zentraler Begriff für die Affektsteuerungstheorie ist die affektive Abweichung (deflection), welche die zentrale Kenngröße bei der Computersimulation von Verhalten mit INTERACT darstellt. Man kann sie sich innerhalb des dreidimensionalen emotionalen Raumes als Distanz zwischen dem Grundgefühl denken, das mit einer Identität verbunden ist, und dem affektiven Eindruck, der vorübergehend durch ein soziales Ereignis entstanden ist. Psychologisch ist sie als Maß für die Verletzung sozialer Erwartungen als Folge von Ereignissen interpretierbar. Wir neigen dazu, soziale Ereignisse so zu interpretieren, dass die aus der Interpretation folgende affektive Abweichung minimal wird (Heise 2007: 35 ff.). 1.6 Die Konstruktion von Handlungen Mehr noch als die Interpretation von Ereignissen können eigene Handlungen dazu dienen, soziales Wissen und Gefühle im sozialen Erleben bestätigt zu sehen, denn die handelnde Person hat Kontrolle über den Verlauf der Interaktion. Große Teile des Handlungsrahmens – die eigene und fremde Identität, das Setting, der institutionelle Rahmen – sind durch die Situationsdefinition (s. Anschnitt 1.5) bereits bestimmt. Es kommt nun nur noch auf die Frage an, so Heise: Welches Verhalten soll ich zeigen? Nun ist wiederum die affektive Kohärenz zur Situationsdefinition entscheidend: Wir wählen solche Handlungen, die am ehesten zu einer Bestätigung unserer kulturell geteilten Grundgefühle führen. Im dynamischen Verlauf von Interaktionen kommt es auf die wechselseitige Koordination von Handlungen in einer Weise an, die allen Beteiligten erlaubt, affektive Bestätigungen ihrer sozialen Wahrnehmung zu erhalten (Heise 2007: 43 ff.). 1.7 Emotionen Heise betont die wichtige Funktion von Emotionen für die soziale Organisation: Sie erlauben dem Individuum, Struktur und Wandel in sozialen Beziehungen zu empfinden. Eine Emotion verwandelt den Eindruck, den wir von uns selbst als Folge eines sozialen Ereignisses gewonnen haben, in eine körperliche Reaktion. Indem unsere Mimik und Gestik die emotionale Reaktion widerspiegeln, kommunizieren wir zugleich unsere implizite Bewertung einer Situation an die anderen Beteiligten. Emotionen kommt somit eine wichtige Steuerungsfunktion beim wechselseitigen Koordinieren und „Aushandeln“ von Situationsdefinitionen zu, die für alle Interaktionspartner gleichermaßen affektiv kohärent sind. Emotionen lassen sich wie Identitäten im dreidimensionalen Osgoodschen Affektraum (s. Abschnitt 1.1) verorten. Heise geht entsprechend von Gefühlszuständen aus, die für spezifische Identitäten charakteristisch sind, die also immer dann empfunden werden, wenn das Individuum in einer Situation eine Bestätigung seiner Identität erfährt. Der konkrete Gefühlsinhalt wird aber auch durch das Ausmaß der affektiven Abweichung bestimmt. So kann etwa eine an sich positive Handlung ein negatives Gefühl auslösen, wenn sie gemessen am Standard, der durch die Identität vorgegeben worden ist, zu wenig positiv ist. Heise führt das Beispiel einer standardisierten Geburtstagskarte an, die, wenn sie von einem entfernten Bekannten kommt, Freude auslöst, wenn sie aber das einzige Geschenk des Ehepartners ist, zu Enttäuschung und Wut führt. Heises Emotionstheorie ist insofern hoch interaktiv: Es kommt immer auf die komplementären Identitäten und wechselseitigen dynamischen Eindrucksbildungsprozesse an. In Anlehnung an Kemper (1978) bezeichnet er als strukturelle Emotionen diejenigen Gefühlszustände, die aus der perfekten wechselseitigen Bestätigung von Identitäten in der dyadischen Interaktion resultieren (Heise 2007: 57 ff.). 1.8 Variationen der Situationsdefinition Wenn die Handlungen und Emotionen anderer die eigenen Erwartungen verletzen, so ist das ein Hinweis darauf, dass sie unsere eigene Definition der Situation nicht teilen. Eine vernünftige Reaktion darauf besteht in einer Neuinterpretation. Diese erfordert eine Antwort auf die Frage: Wer würde so handeln? Angenommen, ein Arzt beleidigte einen Patienten. Der resultierende affektive Eindruck von diesem Arzt wäre eher negativ, leicht mächtig und leicht lebhaft, was etwa dem EPA-Profil eines Quacksalbers oder dem verschmolzenen Eindruck (amalgamation) entspricht, der aus der Kombination der Arzt-Identität etwa mit dem Adjektiv arrogant resultiert. Der Satz „Ein arroganter Arzt beleidigt einen Patienten“ ist affektiv sehr kohärent (Heise 2007: 65 ff.). 1.9 Das Selbst So wie wir unsere Identität durch soziales Handeln bestätigen, so nehmen wir spezifische Identitäten an, um uns der affektiven Bedeutung unseres Selbst zu versichern. Wer sich als sehr angenehm, mächtig und lebhaft empfindet, wie z.B. viele junge Frauen aus der US-amerikanischen Mittelschicht, wird dazu neigen, viele Situationen vor allem im Sinne von Identitäten zu definieren, die mit Familie, Romantik und Freundschaft verbunden sind. Nicht immer entsprechen Situationsdefinitionen aber persönlichen Präferenzen, da sie Einschränkungen durch physikalische oder organisationale Rahmenbedingungen unterliegen (z.B. Naturkatastrophen bzw. Hierarchien). Dadurch können Diskrepanzen zwischen Selbstgefühl und situativ ausgelebten Identitäten entstehen, die in Gefühlen mangelnder Authentizität resultieren und das Individuum veranlassen, in anderen Situationen kompensierende Identitäten einzunehmen (Heise 2007: 73 ff.). 1.10 Formale Modellierung von sozialer Interaktion Der zweite Teil von Expressive Order (Heise 2007: 79 ff.) enthält eine ausführliche Darstellung der mathematischen Modelle, durch welche die Affektsteuerungstheorie operationalisiert ist, sowie eine Bedienungsanleitung für das INTERACT-Simulationsprogramm. Hier kann darauf nicht näher eingegangen werden, es soll allerdings bemerkt sein, dass die volle Bedeutung, Eleganz und „Schönheit“ (Clore/Pappas 2007) von Heises Theorie sich kaum ohne Auseinandersetzung mit ihrem formalen Modell erschließen wird. 2. Diskussion: Theoretische Verknüpfungen der Affektsteuerungstheorie Die Affektsteuerungstheorie weist viele Bezüge zu zentralen theoretischen Konzeptionen inner- und außerhalb der Soziologie auf. Mit dem Buchtitel Expressive Order weist Heise selber auf den Zusammenhang zum Werk von Erving Goffman (1967) hin, der die aktive Steuerung von sozialen Eindrücken (impression management) als Motor der sozialen Interaktion auffasst. Von Neil MacKinnon (1994) stammt die umfassende Einordnung der Affektsteuerungstheorie in die gedankliche Tradition des Symbolischen Interaktionismus, der durch Heises Werk zwei wesentliche Ergänzungen erfährt. Dies betrifft zum einen die Rolle von Affekten und die wechselseitige Bedingtheit von Emotionen und der Struktur signifikanter Symbole, die von Mead (1934) im Wesentlichen ignoriert wurde. Zum anderen stellt die Affektsteuerungstheorie den Versuch einer quantifizierten und mathematisch formalisierten Reformulierung des Symbolischen Interaktionismus dar. David Heise ist es ein Anliegen, epistemologische und methodologische Differenzen zwischen qualitativ-interpretativen und quantitativ-nomologischen Positionen zu überwinden (dies hat ihm freilich innerhalb der Soziologie nicht nur Freunde eingebracht). Wie in ihrem Namen zum Ausdruck kommt, liegt der Affektsteuerungstheorie ein kybernetisches Regelkreismodell sozialer Interaktion zugrunde. Das aus einer sprachlichen Situationsdeutung hervorgehende Grundgefühl dient als soziale Steuerungsgröße. Ergibt sich durch einen bestimmten Handlungsverlauf eine zu große Abweichung vom Zielwert, so muss durch affektiv kohärente Handlungen bzw. Uminterpretationen der Situation nachgesteuert werden, um die entstandene Diskrepanz zu reduzieren. Das Individuum wird als zielorientiertes Wesen verstanden, welches aktiv handelt, um gewünschte affektive Zustände zu erreichen. Damit weist Heises Theorie deutliche Parallelen zur Identitätstheorie von Peter Burke (Burke/Stets 2009) auf (aber auch interessante Unterschiede). Gemein haben beide Theorien die Annahme, dass das Streben nach Verifikation von Identitäten das zentrale Motivationsprinzip bei der Handlungssteuerung ist. Während Heise aber davon ausgeht, dass Individuen simultan die affektive Bedeutung aller Situationsaspekte berücksichtigen (Akteur, Objekt, Handlung, Setting), beschränkt Burke den Fokus auf die persönliche Identität der handelnden Person. Damit einhergehend betont Heise eher die soziale Strukturiertheit des Handelns und die kulturelle Eingebundenheit des Selbst, während Burke sich stärker für die persönliche, idiosynkratisch konstituierte Identität interessiert. Ein weiterer Unterschied besteht in der Funktion von Emotionen, wie sie in beiden Theorien gesehen wird. Nach Burkes Konzeption führt eine Bestätigung der eigenen Identität in der Interaktion zu positiven Emotionen, während eine Abweichung zu negativen führt. Heise hingegen trennt zwischen der Valenz von Emotionen und dem Konzept der Abweichung: Auch „zu angenehme“ Emotionen können affektiv inkonsistent sein und dazu führen, dass die korrespondierenden Interaktionssituationen gemieden werden, wie etwa Robinson und Smith-Lovin (1992) in einem viel zitierten Experiment zeigten. David Heises Theorie ist auch interdisziplinär hervorragend anschlussfähig. Da ist zunächst der Rückgriff auf den Osgoodschen Affektraum, der in der Psychologie mittlerweile als etabliertes Ordnungsschema für sozio-emotionale Phänomene gelten kann. Auch zu den Appraisal-Theorien, welche die Korrespondenz kognitiver Situationsbewertungen mit spezifischen Gefühlsqualitäten zum Thema haben, bestehen deutliche Parallelen (vgl. Scherer/ Dan/ Flykt 2006). Heise selber bezieht sich in seinen Schriften immer wieder auf die klassischen Einstellungs-Konsistenz-Theorien, allen voran die Balancetheorie von Heider (1946) und ihr Leitmotiv vom Streben des Geistes nach einer bedeutungsvollen Gestalt. Auch zeitgenössische konnektionistische und neurokomputationale Konsistenz- bzw. Kohärenztheorien, welche die Rolle von Emotionen und motivierter Kognition berücksichtigen (z.B. Thagard 2006), dürften mit der Affektsteuerungstheorie kompatibel sein. Interessante, wenngleich bislang völlig unerforschte, Bezüge sind auch in den Grenzbereichen von Psychologie und Linguistik gegeben, wenn man etwa an die kognitive Metapherntheorie von Lakoff und Johnson (2003) denkt oder an evolutionäre Theorien der Sprachentstehung, welche die funktionale Äquivalenz von sozialer Interaktionserfahrung und sprachlicher Struktur betonen (z.B. Jackendoff 2003; Tomasello 2008). 3. Würdigung David Heise bietet nichts weniger an als eine allgemeine Theorie der sozialen Interaktion, welche die vielfältigen Bezüge zwischen kulturellen Deutungsmustern, sozialer Wahrnehmung, Emotionen und Handlungssteuerung in ein sparsames formales Modell integriert: Höchst präzise (und empirisch bewährte) Vorhersagen über soziale Interaktionen in den verschiedensten gesellschaftlichen Zusammenhängen sind möglich. „By comparison, the rest of us work on modest problems with blunt instruments” (Clore/Pappas 2007: 333). Literaturverzeichnis Burke, Peter J./Stets, Jan E. (2009): Identity Theory. New York: Oxford University Press. Clore, Gerald L./Pappas, Jesse (2007): The Affective Regulation of Social Interaction. In: Social Psychology Quarterly 70. 333-339 Goffman, Erving (1967): Interaction Rituals: Essays on Face-to-Face Behavior. New York: Doubleday. Heider, Fritz (1946): Attitudes and Cognitive Organization. In: Journal of Psychology 21. 117-121 Heise, David R. (2007): Expressive Order: Confirming Sentiments in Social Action. New York: Springer. Jackendoff, Ray (2003): Foundations of Language. Brain, Meaning, Grammar, Evolution. New York: Oxford University Press. Kemper, Theodore D. (1978): A Social Interactional Theory of Emotions. New York: Wiley Lakoff, George/Johnson, Mark (2003): Metaphors we live by (2nd ed.). Chicago: University of Chicago Press. MacKinnon, Neil J. (1994): Symbolic Interactionism as Affect Control. Albany: State University of New York Press. Mead, George H. (1934): Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago: University of Chicago Press. Osgood, Charles E./May, William H./Miron, Murray S. (1975): Cross-cultural Universals of Affective Meaning. Urbana: University of Illinois Press. Osgood, Charles E./Suci, George J./Tannenbaum, Percy H. (1957): The Measurement of Meaning. Chicago: University of Illinois Press. Robinson, Dawn T./Smith-Lovin, Lynn (1992): Selective Interaction as a Strategy for Identity Maintenance. In: Social Psychology Quarterly 55. 12-28 Scherer, Klaus R./Dan, Elise S./Flykt, Anders (2006): What Determines a Feeling’s Position in Affective Space? A Case for Appraisal. In: Cognition & Emotion 20. 92-113 Thagard, Paul (2006): Hot Coherence. Mechanisms and Applications of Emotional Cognition. Cambridge: MIT Press. Tomasello, Michael (2008): Origins of Human Communication. Cambridge: MIT Press.