1 Akusmatische Interpretationen am Studio für elektroakustische Musik (SeaM) Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Diplom-Komponist Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar elektroakustische Komposition vorgelegt von: Constantin Popp wohnhaft in: Bodelschwinghstr. 105, 99425 Weimar Mentoren: Prof. Robin Minard, Prof. Michael Obst Weimar, den 13.07.09 Inhaltsverzeichnis Einleitung.........................................................................................................................................3 I Nomenklatur..................................................................................................................................5 II Lautsprecher und Aufführungsraum............................................................................................9 II.1 Klangfarbe..........................................................................................................................11 II.2 Raum..................................................................................................................................18 II.3 Hörposition.........................................................................................................................21 II.4 Schlussfolgerung................................................................................................................25 III Akusmatische Interpretation des Klangregisseurs ...................................................................26 III.1 Wiedergabelautstärke........................................................................................................27 III.2 Klangfarbe.........................................................................................................................28 III.3 Routing..............................................................................................................................30 III.4 Schlussfolgerung...............................................................................................................34 IV Akusmatische Beschallungssysteme.........................................................................................38 IV.1 Der funktionalisierte Lautsprecher....................................................................................39 IV.1.1 Idee............................................................................................................................39 IV.1.2 Traditionen.................................................................................................................41 IV.1.3 Konsequenzen............................................................................................................46 IV.2 Mehrkanalkompositionen und akusmatische Beschallungssysteme.................................50 IV.3 Das akusmatische Beschallungssystem des SeaM............................................................56 IV.4 Allgemeine Vor- und Nachteile akusmatischer Beschallungssysteme..............................60 IV.5 Zusammenfassung.............................................................................................................63 Exkurs: Visualisierung...................................................................................................................64 Fazit...............................................................................................................................................72 Literaturverzeichnis.......................................................................................................................75 Anhang.............................................................................................................................................1 2 Einleitung Der Aufführungsraum und die darin aufgestellten Lautsprecher beeinflussen wesentlich die Wahrnehmung des Publikums beim Hören einer auf Tonträger fixierten akusmatischen Komposition. Aufgrund dieses Einflusses kann eine Komposition unter Umständen unverständlich oder unglaubwürdig erscheinen. Ein Mediator, Klangregisseur genannt1, beugt dieser Unverständlichkeit in gewissem Maße vor, indem er vorab bzw. während der Aufführung sich um eine für die Komposition geeignete Konfiguration bzw. Platzierung von Lautsprechern kümmert; also ihren Einfluss zum Verständnis der Komposition gewinnbringend einsetzt. Das klangliche Ergebnis der Summe seiner Entscheidungen kann man als akusmatische Interpretation der aufgeführten Komposition bezeichnen. Die Rahmenbedingungen seiner akusmatischen Interpretation werden durch die Eigenarten des Aufführungsraums, technischen Aufbaus und den Eigenschaften der erklingenden Komposition definiert. Der Vorgang der Mediation besteht aus der Zeit vor und während der Aufführung. In dem jeweiligen Zeitabschnitt werden spezifische Tätigkeiten ausgeübt. Während hauptsächlich vor der Aufführung und vor den Proben die Auswahl, Konfiguration und Positionierung von Lautsprechern allgemein definiert wird, können deren Einstellungen kompositions-spezifisch während der Aufführung bzw. der Proben verändert werden. Die Anordnung der Lautsprecher wird meist für ein komplettes Konzert vorgegeben und während der Aufführung nicht oder nur minimal verändert.2 Das bedeutet, dass der Lautsprecheraufbau aus den Notwendigkeiten der Aufführungspraxis und dem kleinsten gemeinsamen Nenner der zu erklingenden Kompositionen resultiert. Aus dem Umgang mit dem Einfluss des Aufführungsraums und den Lautsprechern ergeben sich drei Ansätze der Aufführungspraxis akusmatischer Musik: der französische3 bzw. englische4 und 1 2 3 4 Siehe Paulo C. Chagas, „Spiel und Dialog. Das Komponieren mit Apparaten“, in: Elena Ungeheuer (hrsg.), Elektroakustische Musik, Laaber 2002, S. 183. Regisseur gehe zurück auf das lateinische Wort „regere“ und stehe für richten, lenken, führen, leiten. Klangregisseur meine dementsprechend die Person, die den Klang lenke – im Sinne von „kontrollieren“, zum Beispiel über ein Mischpult. Das liegt daran, das ein Umbau des Aufbaus u. U. recht aufwendig werden und daher viel Zeit kosten kann, was den Konzertablauf behindern könnte. Vertreten u. a. durch die Studios in Frankreich in Paris (Akusmonium der Group de Recherche Musicales), Bourges (Cybernéphone), Lyon (Group de Musiques Vivantes de Lyon). Vertreten u. a. durch die Studios in England in Birmingham (BEAST), Manchester (MANTIS), Sheffield (USSS bzw. M2). 3 der deutsche5 Ansatz. Sie unterscheiden sich auch in der Gewichtung und Möglichkeiten des Klangregisseurs. Die französische und englische Aufführungspraxis akusmatischer Musik hebt den vermittelnden Charakter des Klangregisseurs besonders hervor, indem er zum darbietenden Interpreten6 erhoben wird und die Komposition in Echtzeit an die Aufführungssituation anpasst. In der eher mit dem deutschen Sprachraum verbundenen Aufführungspraxis wird im Gegensatz dazu sein Einfluss und die Notwendigkeit seines Eingreifens möglichst minimiert, indem die Komposition bereits eine mehrdimensionale Verräumlichung enthält und idealer Weise mit einer dem Studio vergleichbaren Anzahl von Lautsprechern und Raumakustik wiedergegeben werden soll. Daher kann man bei ihr eher weniger von akusmatischer Interpretation sprechen. Alle drei Ansätze benötigen aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit spezifische technische, räumliche und musikalische Rahmenbedingungen. In der vorliegenden Arbeit soll nun hauptsächlich die französische bzw. englische Aufführungspraxis besprochen werden. Da die deutsche Aufführungspraxis auf den Klangregisseurs als Darbietenden verzichtet und damit der französischen bzw. englischen Aufführungspraxis widerspricht, sei sie hier aus Platzgründen nur kurz zusammengefasst bzw. indirekt angesprochen. Damit werden ebenso die mit ihr assoziierten Verräumlichungstechniken wie die Wellenfeldsynthese oder Ambisonics nicht besprochen. Für den, der mehr über Ambisonics wissen möchte, bietet sich als Einstieg die Dokumentation7 der AmbisonicsImplementation des Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) der Hochschule der Künste Zürich, Schweiz, und die Webseiten8 der Music Technology Group der Universität York, England, an. Stefan Kerbers Diplomarbeit9 und Marije Baalmanns Dissertation10 geben jeweils einen weiten Überblick über die Wellenfeldsynthese. Für den, der sich über die Unterschiede in den Denkweisen der Kodierung von Verräumlichungen interessiert, sei zum Einstieg P.-A. Gauthier‘s Paper „Sound Reproduction Using Multi Loudspeakers Systems” empfohlen.11 5 Vertreten u. a. durch die Studios in Deutschland in Berlin (TU-Berlin), Karlsruhe (ZKM), in der Schweiz in Zürich (ICST) und in Österreich in Graz (IEM). 6 Zum Konzept des „darbietenden Klangregisseurs“ vgl. Kapitel III.4. 7 Jan C. Schacher, Philippe Kocher, „Ambisonics Spatialization Tools for Max/MSP“, ICMC 2006, <http://www.icst.net/fileadmin/data/pdf/js/ICST_Ambisonics_ICMC2006.pdf> 12.5.2009. 8 „University of York: Music Technology Group: Sound in Space“, <http://www.york.ac.uk/inst/mustech/3d_audio/index.html> 12.5.2009. 9 Stefan Kerber, Zur Wahrnehmung virtueller Quellen bei Wellenfeldsynthese, Diplomarbeit TU München 2003. Weitere Texte finden sich unter <http://www.hauptmikrofon.de/wfs.htm>. 10 Marije Baalmann, Implementierung komplexer Schallquellen für die Wiedergabe elektroakustischer Musik durch Wellenfeldsynthese, Dissertation TU-Berlin, 2007. 11 Gauthier, Philippe-Aubert: „Sound Reproduction Using Multi Loudspeakers Systems”, eContact! 7, Nr. 2 (2004). 4 In der vorliegenden Arbeit wird, nachdem wichtige Begriffe kurz definiert werden, der verändernde Einfluss der Lautsprecher und des Aufführungsraums belegt (vgl. Kapitel II), anschließend das Konzept des darbietenden Klangregisseurs erläutert (vgl. Kapitel III), gefolgt von der Darstellung des Konzepts der akusmatischen Beschallungssysteme12 und ihrer verschiedenen praktischen Umsetzungen (vgl. Kapitel IV). Abgerundet wird die Arbeit mit einem kurzen Überblick über verschiedene Visualisierungsmöglichkeiten akusmatischer Kompositionen bzw. ihrer räumlichen Interpretation (vgl. Kapitel „Exkurs: Visualisierung“). Für die Darstellung der Thematik der Arbeit ist es wichtig, kurz auf die Thematik Raum einzugehen. Mit dem Aufführungsraum ist der Ort gemeint, in dem eine akusmatische Komposition einem Publikum präsentiert wird, z. B. ein Konzertsaal. Die Komposition wiederum wird an einem Ort hergestellt, der mit „Produktionsraum“ bezeichnet werden soll. Im Normallfall ist dies ein Studio. Häufig sind beide Räume grundverschieden in ihrer Größe und Raumakustik, aber nicht unbedingt. Der Produktionsraum kann beispielsweise zu einem Aufführungsraum werden, wenn in ihm die Komposition einem Publikum präsentiert wird; dies ist z. B. bei sog. Studiokonzerten der Fall. Darüber hinaus können in der akusmatischen Komposition selbst Räume simuliert werden.13 Darauf verweist die Wortkombination „komponierte Räume“. Wenn die Simulation von Räumen auf eine Hörerfahrung von Raum verweist, die in der Realität potentiell vorkommen könnte, wird in der Arbeit von einer Simulation einer „konkreten Raumwahrnehmung“ gesprochen.14 Mit dieser Formulierung wären dann aber Fälle von Raum, die man z. B. mit Tonhöhen, Strukturen oder der Zeit verknüpft, nicht gemeint. I Nomenklatur Zur Nomenklatur ein paar Anmerkungen. Da die französische bzw. englische Aufführungspraxis in Deutschland kaum verbreitet ist, fehlen entsprechende deutsche Fachbegriffe. Es wird daher nahe gelegt, soweit sinnvoll, die englischen Fachbegriffe zu übernehmen. Darüber hinaus werden ein paar denkbare deutsche Übersetzungen vorgeschlagen. Als Kriterium der Begriffsauswahl 12 Begriffserklärung siehe folgendes Kapitel. 13 Z. B. geschieht dies durch Verwendung von Raumaufnahmen oder durch die klangliche Aufzeichnung einer Simulation einer Raumakustik durch spezielle Geräte bzw. Algorithmen. 14 Vgl. dazu Gauthier 2004, Abschnitt „The Situation of Multi Loudspeakers Systems in the Technological Paradigm of Audio Spatialization“. 5 soll eine möglichst klare Abtrennung der französischen bzw. englischen Aufführungspraxis gegenüber anderen Aufführungspraxen dienen. Für die Tätigkeit des Klangregisseurs als Darbietender15 hat sich in der englisch-sprachigen Fachliteratur der Fachbegriff sound diffusion durchgesetzt. Dies ist zum Beispiel an den Überschriften der entsprechenden Fachbücher zu sehen.16 Laut Dennis Smalley verweise sound diffusion dabei auf die Projektion und die Verteilung von Klang in einem Aufführungsraum („acoustic space“) für eine Gruppe von Hörern durch einen Darbietenden, bzw. bezeichne das „Hörbarmachen“ des Aufführungsraums und das Hervorheben von Klangformen und Strukturen zum Erhalt einer „gewinnbringenden“ Hörerfahrung.17 (Warum dies gemacht wird, wird sich im Laufe der Arbeit zeigen.) Ein Klangregisseur verteilt den Klang räumlich, indem er ihn mit Hilfe eines Mischpults zwischen in unterschiedlichen Distanzen zum Hörer aufgestellten Lautsprechern bewegt (vgl. dazu Kapitel IV.1). Dabei wird der Klang durch den Aufführungsraum und die Lautsprecher gefärbt und man hört indirekt also auch die Eigenschaften des Aufführungsraums und der jeweiligen Lautsprecher.18 Der Begriff sound projection, kreiert von Françoise Bayle, meint prinzipiell dasselbe wie sound diffusion, hat sich aber offenbar nicht durchgesetzt, da er in der Literatur kaum verwendet wird. Dies liegt vielleicht daran, dass das Wortteil „Projektion“ aus der Optik entlehnt wurde und eher bildliches oder emotionales Übertragen meint. Eine deutsche Entsprechung für den englischen Begriff sound diffusion zu finden, ist nicht ganz einfach. Den englischen Begriff direkt zu übersetzen, hat dabei wenig Sinn. Zwar meint der Begriff „Diffusion“ verstreuen und ausbreiten,19 doch wird er häufig eher mit den Eigenschaften eines Raums verknüpft und weniger mit der Tätigkeit eines darbietenden Klangregisseurs.20 Der Zusatz „Klang“ wirkt irreführend, da durch den Kontext sowieso die Streuung von Klang angenommen wird. Es hat daher im Deutschen wenig Sinn, von „Klangdiffusion“ zu sprechen, 15 Die Bedeutung der Konstruktion „Klangregisseur als Darbietender“ wird in Kapitel III.4 gesondert erläutert. 16 Siehe die Titel im Literaturverzeichnis. 17 „Sound diffusion is the projection and the spreading of sound in an acoustic space for a group of listeners [...]. Another defintion would be the ‚sonorizing‘ of the acoustic space and the enhancing of sound-shapes and structure in order to create a rewarding listening experience.“ Zitiert nach Larry Austin, „Sound Diffusion in Composition and Performance: An Interview with Denis Smalley”, in: Computer Music Journal 24, Nr. 2 (2000), S. 10. 18 Vgl. dazu den zweiten Teil der Definition von Denis Smalley. 19 Vgl. dazu die Definition auf: „Ears: Electroacoustic Resource Site. Diffusion“, <http://www.ears.dmu.ac.uk/spip.php?rubrique82> 7.7.2009. 20 Dies ist ebenso bei der Definition auf bei Ears der Fall. 6 vor allem dann, wenn dieser Begriff noch überhaupt nicht verbreitet ist und seine Wortbestandteile eher in die Richtung der Raumakustik weisen und nicht in die der Aufführungspraxis. Deshalb erscheint es vielleicht sinnvoller, eine „neue“ Wortkonstruktion zu verwenden. Es wird daher vorgeschlagen, den Begriff „akusmatische Interpretation“ zu benutzen. Dies hätte den Vorteil, dass an die darbietende Tradition des Begriffs „Interpretation“ angeknüpft wird, der in der Instrumentalmusik fest verankert ist, und aber durch das Wort „akusmatisch“21 auf nichtinstrumentale, elektroakustische Musik übertragen wird. Gleichzeitig wirkt das Wort „akusmatisch“ einschränkend, um Missverständnisse, die durch die Benutzung eines Begriffs aus der Instrumentalmusik entstehen könnten, zu vermeiden (vgl. dazu Kapitel III.4). Statt sound diffusion oder akusmatische Interpretation kann alternativ auch „Verräumlichung“ benutzt werden, solange durch den Kontext gewährleistet ist, dass das Verteilen von Klängen in einem Aufführungsraum durch einen Darbietenden gemeint ist. Denn laut EARS meint Verräumlichung (spatialisation) allgemein die räumliche Wiedergabe von Klängen durch Lautsprecher.22 Sie kann somit auf die deutsche wie auch auf die englische bzw. französische Aufführungspraxis bezogen werden. Wenn die Wiedergabe akusmatischer Musik während des Konzerts ohne das interpretierende, darbietende Eingreifen eines Klangregisseurs gemeint ist, wird die Verwendung des Begriffs „Reproduktion“ vorgeschlagen. Denn das darbietende bzw. interpretierende Moment des Klangregisseurs steht hier nun nicht mehr im Vordergrund, weshalb sich der Begriff akusmatische Interpretation als Bezeichnung verbietet. Das Wort „Reproduktion“, im Sinne von „Wiedergabe“, eignet sich hier, da im Konzert durch den Verzicht auf den Darbietenden lediglich ein festes Abbild der Komposition im Konzert erzeugt wird, anstatt sie sinngemäß im Aufführungsraum durch einen Darbietenden interpretieren zu lassen und die Eigenarten des Aufführungsraumes und Lautsprecher für die Komposition sinnvoll zu nutzen. 21 Vgl. dazu die Begriffsbestimmung von „akusmatisch“ in François Bayle [et. al], L' Image de son, Münster 2003, S. 181. „Akusmatisch“ bezeichne die „Situation reines Hörens, bei der die Aufmerksamkeit nicht durch eine sichtbare oder vorhersehbare instrumentale Kausalität geweckt oder verstärkt werden kann“, sowie „Musik, die sich nur in Form von Klangbildern [...] verstehen läßt und nur ausgehend von deren Projektion [durch Lautsprecher] wahrzunehmen ist [...] [Anm. des Autors: Unterstreichung im Original nicht vorhanden]. 22 „Ears: Electroacoustic Resource Site. Spatialisation“, <http://www.ears.dmu.ac.uk/spip.php?rubrique240> 7.7.2009. 7 Ähnlich schwierig verhält es sich bei der Übersetzung des englischen Begriffs sound diffusion systems.23 Durch ihn sind Kombinationen von Musikelektronik gemeint, also hauptsächlich der Verbund von Lautsprechern und Mischpulten, der für die Wiedergabe akusmatischer Musik geeignet ist. Als eine deutsche Entsprechung des Begriffs sound diffusion systems, in Anlehnung an akusmatische Interpretation, wäre „akusmatisches Beschallungssystem“ denkbar. Auch hier stellt das Wort „akusmatisch“ sicher, dass es hier z. B. nicht um Popmusik und um ihre Beschallungstechnik geht. Solange der Begriff im Zusammenhang mit akusmatischer Interpretation benutzt wird, würde er auch nicht das Beschallungssystem von AmbisonicsKonzerten bezeichnen, da hier üblicherweise auf den darbietender Klangregisseur verzichtet wird. Mit loudspeaker orchestra (Lautsprecherorchester) wird ein (französischer) Sonderfall der akusmatischen Beschallungssysteme beschrieben, bei denen hauptsächlich frontal zum Publikum aufgestellte frequenzbandbegrenzte Lautsprecher zum Einsatz kommen, die die Mitglieder eines Orchester repräsentieren sollen.24 Der Begriff Acousmonium („Akusmonium“) wird hierbei synonym für den Begriff Lautsprecherorchester25 verwendet, steht aber insbesondere auch für das Lautsprecherorchester der Groupe de Recherche Musicales.26 23 Dieser Begriff fällt u. a. bei James Mooney, Sound Diffusion Systems for the Live Performance of Electroacoustic Music. An Inclusive Approach led by Technological and Aesthetical Consideration of the Electroacoustic Idiom and an Evaluation of Existing Systems, PhD Diss. University of Sheffield 2005. 24 „Ears: Electroacoustic Resource Site. Loudspeaker Orchestra“, < http://www.ears.dmu.ac.uk/spip.php? rubrique245> 7.7.2009. 25 Da der Begriff „akusmatisches Beschallungssystem“ aufgrund seiner vielen Silben sich recht umständlich aussprechen lässt, kann alternativ auch überlegt werden, synonym den Begriff „Lautsprecherorchester“ zu benutzen. Der besondere Aufbau, den der Begriff im Englischen implizieren würde, sollte dabei aber nicht unbedingt gemeint sein und müsste deshalb durch einen weiteren Begriff bezeichnet werden. Dafür würde sich, in Anlehnung an François Bayle, das Wort „Akusmonium“ anbieten (siehe Bayle 2003, S 183f). 26 Bayle 2003, S 183f. 8 II Lautsprecher und Aufführungsraum Die Lautsprecher und der Aufführungsraum üben einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung der in akusmatischer Musik komponierten Klangfarben und Räume aus. Beide Parameter sind für akusmatische Musik von großer Bedeutung, da sie als Träger von Information dienen können. Wenn also die Wahrnehmung dieser Parameter sich durch die Aufführungssituation ändert, würde dies dann auch Konsequenzen auf den Informationsgehalt der Komposition haben. Zur Erläuterung wurden Klangbeispiele hergestellt, zu finden auf der CD im Anhang, um die Unterschiede in der Wahrnehmung von Kompositionen und Klängen in verschiedenen Räumen und auf verschiedenen Lautsprechern subjektiv erfahrbar zu machen und zu belegen. Dazu wurden Aufnahmen27 von Testsignalen in verschiedenen Räumen erstellt, in denen unterschiedliche Lautsprecher standen. Die Aufnahmen wurden anschließend mit den Testsignalen verglichen. Durch den Vergleich wird der Einfluss der Lautsprecher und Räume hörbar. In dem Vergleich werden nun der Aufnahmeraum, die Lautsprecher und die Position der Lautsprecher im Aufnahmeraum (mit Bezug zum Hörer) als jeweilige Parameter betrachtet. Durch gezielte Veränderung einzelner Parameter soll ihr Einfluss deutlich, sowie systematische Fehler vernachlässigbar werden. Allerdings ist die strikt getrennte Betrachtung von Raum und Lautsprecher aufgrund ihrer untereinander starken Interaktion schwierig. Die Richtcharakteristik der Mikrophone half hier, um trotzdem zu repräsentativen Aussagen zu kommen. Welche konkreten Klänge, Lautsprecher und Aufnahmeräume in den jeweiligen Klangbeispielen ausgewählt wurden, wird in dem jeweiligen Beispiel beschrieben. Für die Beispiele wurden Lautsprecher verschiedener Marken, Größen und Einsatz- und Preisbereiche ausgewählt, mit denen die Testklänge wiedergegeben werden sollen. Allen Testlautsprechern liegt das Funktionsprinzip des dynamischen Lautsprechers28 zu Grunde. Auf 27 Zum Einsatz kamen zwei Neumann KM-184 Nierenmikrophone, die an ein Motu Traveler Mk 1 angeschlossen wurden. Die ORTF-Stereophonie wurde gewählt, um eine etwas nach vorn gerichtete, stark-räumliche Aufnahme zu erhalten. 28 Zum Funktionsprinzip siehe Michael Dickreiter (hrsg.), Raumakustik, Schallquellen, Schallwahrnehmung, Schallwandler, Beschallungstechnik, Aufnahmetechnik, Klanggestaltung (= Handbuch der Tonstudiotechnik 1), München 1987, S. 205ff. 9 den Vergleich zu anderen Lautsprecherfunktionsprinzipien, wie elektrostatische Lautsprecher29 oder DML-Panels30 wurde verzichtet, da sie im Beschallungsbereich wenn überhaupt nur eine eher untergeordnete Rolle spielen. Außerdem geht es in der Darstellung vor allem um den Beleg des verändernden Moments und weniger um die Diskussion, welcher Lautsprechertyp nun weniger verändert oder hochwertiger ist. Hifi- bzw. Studiolautsprecher wurden in den Vergleich mit aufgenommen, um zum Einen ihre Unterschiede zu Beschallungslautsprechern zu zeigen und somit zum Anderen den Unterschied der Studio- gegenüber der Aufführungssituation darzustellen. Außerdem ist die Verwendung von Studiolautsprechern aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften auch in akusmatischen Konzerten mittlerweile üblich.31 Ein offenes, nicht in eine Lautsprecherbox eingebautes Lautsprecherchassis ist in dieser Aufstellung mit beigefügt, um weitere Eigenheiten des dynamischen Lautsprechers zu demonstrieren. Als Beispiellautsprecher standen der PA-Lautsprecher Meyer UPJ-1 (10" Tieftontreiber, 3" Hochtonkompressionstreiber), der PA-Lautsprecher D&B E3 (6,5" Tieftontreiber, 1" Hochtontreiber), der PA/Hifi-Lautsprecher ElectroVoice Evid 6.2 (2x 6" Tieftontreiber, 1" Hochtontreiber), der Hifi-PA-Lautsprecher JBL Control 5 (6,5“ Tieftöner, 1“ Hochtöner), der Hifi/Studio-Lautsprecher JBL Control 1 (5,25" Tieftontreiber, 3/4" Hochtontreiber), der Studiolautsprecher Adam A7 (6,5" Tieftöner, 2" Hochtonbändchen), ein Car-Hifi Openframe 5" Koaxial-Chassis von Rockwood, sowie der PA Subwoofer Meyer USW-1 zur Verfügung. Als Aufnahmeräume kamen Räume zum Einsatz, die in ihrer Auswahl ebenso als repräsentativ für die Diskussion gelten sollen. Sie unterscheiden sich voneinander in puncto Raumgröße, Raumakustik und Funktion. Als Innenräume wurden die zwei Werkstattstudios des SeaM32 in der Coudraystrasse benutzt (Raum 011 – groß, akustisch optimiert; Raum 009 – klein, keine akustische Optimierung), sowie das Heimstudio des Autors (klein, akustisch optimiert). Die Testsignale bestehen einerseits aus nach mathematischen Formeln generierten Klängen, andererseits aus Ausschnitten von Kompositionen. Während Letztere die Problematik in der „Praxis“ in Zusammenhang mit musikalischen Implikationen (aus „subjektiver“ Sicht) zeigen, 29 Zum Funktionsprinzip siehe Dickreiter 1987, S. 208. 30 Zum Funktionsprinzip siehe Charalampos Ferekidis, „DML – Distributed Mode Loudspeaker. Ein neuer Schallwandler, akustische Eigenschaften und die Konsequenzen für den praktischen Einsatz“, Tonmeistertagung 1998, <http://wvier.de/texte/NXT_Tonmeistertagung.pdf> 12.5.2009. 31 Z. B. verwendet das akusmatische Beschallungssystem MANTIS (Manchester Theatre in Sound) der University of Manchester, England, 40 Studiolautsprecher der Marke GENELEC. Vgl. „Overview of MANTIS“, <http://www.novars.manchester.ac.uk/mantis/overview/index.html> 7.7.2009. 32 Studio für elektroakustische Musik der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar (SeaM). 10 erlauben die mathematischen Klänge das Betrachten auf theoretischer, „objektiver“ Ebene. In jedem Klangbeispiel erklingt zuerst immer das Testsignal als Referenz. Allerdings soll darauf hingewiesen werden, dass sich die Wahrnehmung des Hörers im Aufnahmeraum von der medialen Abbildung der Wahrnehmung der Mikrophone unterscheidet. Dies zeigt sich beispielsweise in der mäßigen Aufzeichnung tiefer Frequenzen in den Klangbeispielen. Auch sollten die Lautstärkeunterschiede zwischen den einzelnen Aufnahmen, soweit nicht anders beschrieben, vernachlässigt werden bzw. sind bereits bei der Produktion zwecks besserem Verständnis aufeinander angepasst worden. Zum Nachvollziehen der Klangbeispiele sollte eine möglichst in sich neutrale Abhöranlage (oder ggf. ein sehr hochwertiger Kopfhörer) mit größtmöglichem Frequenzgang und möglichst schalltotem Raum (= Studio) zum Einsatz kommen (Hierin zeigt sich wiederum das verändernde Moment der Lautsprecher und Räume). II.1 Klangfarbe Zuerst soll die These belegt werden, das der Lautsprecher eine eigene Klangfarbe besitzt, anschließend verdeutlicht, in wie weit sie von der Platzierung des Lautsprechers im Raum und der Platzierung des Hörers gegenüber des Lautsprechers abhängt. Diese These ist ein Hinweis, in wie weit Lautsprecher und Aufführungsräume die komponierte Klangfarbe beeinflussen. Die verändernde Wirkung des Lautsprechers wird nur anhand der Klangfarbe beschrieben. Andere Eigenschaften von ihm, die ebenfalls die Wiedergabe verändern, können in diesem Kontext außen vor gelassen werden.33 Zur Verdeutlichung der Eigenklangfarbe der Lautsprecher werden alle fünf Lautsprecher zuerst rosa Rauschen (Klangbeispiel „Frequenzgang-Rauschen“, CD-Titel 1)34, dann ein Sinusglissando im Bereich von ca. 30 bis 22000 Hz (Klangbeispiel „Frequenzgang-Sinusglissando“, CD-Titel 2) und ein Kompositionsausschnitt35 aus "berührung" wiedergeben (Klangbeispiel „FrequenzgangBerührung“, CD-Titel 3). Bei letzterem sei vor allem auf die entstehende Klangfarbe der Violine 33 Zu nennen wären da Frequenzgang, Impulstreue, Richtwirkung, Deutlichkeit, Auflösung und die Membrangröße. 34 Das rosa Rauschen wurde gewählt, weil seine Leistung pro Oktave um ca. 3 dB sinkt und so ein dem Hören entgegenkommendes ausgewogenes Klangbild besitzt, um die einzelnen Klangfarben der Lautsprecher besser hörbar werden zu lassen. 35 Zeitausschnitt 4‘52- 5‘01. 11 (Anfang) und des Beckens (bei ca. 1.712 Sekunden) verwiesen. Das Mikrophonpaar steht in dem von den Lautsprechern gebildeten Mittelpunkt im Abstand von ca. 80 cm, um den Einfluss des Raumes auf die Aufnahme zu reduzieren. Da es auf die Lautstärke der einzelnen Lautsprecher nicht ankommt, sind sie grob aufeinander angepasst. Zur besseren Darstellung werden zusätzlich, soweit sinnvoll, in Comparisonics36 farblich kodierte Wellenformdarstellung der Klangbeispiele abgedruckt. Klangbeispiele „Frequenzgang-Rauschen“ und „Frequenzgang-Berührung“ zeigen deutlich, wie stark sich die einzelnen Klangfarben der Lautsprecher voneinander unterscheiden. Klangbeispiel „Frequenzgang-Sinusglissando“ macht die einzelnen unterschiedlichen Frequenzgänge der Lautsprecher gut hörbar (weitere Erklärungen siehe Abbildung 2). Während der Meyer UPJ-1 ein sehr gleichmäßiges Klangbild evoziert, fallen der ElectroVoice-Lautsprecher mit seinem fast nasalen, scharfen Klangbild, das Rockwood-Chassis aufgrund seiner mangelnden Tiefe und der Meyer Subwoofer mangels hoher Frequenzen (in der Abbildung 2 im graphischen Loch zwischen Anfang und Ende des Testsignals erkennbar) aus dem Rahmen. Bei einem Subwoofer ist ein Mangel an hochfrequenten Anteilen natürlich gewollt: So zeigt sich hier, dass dieser Lautsprecher speziell auf die Wiedergabe von tiefen Frequenzen spezialisiert ist und zusätzlich eine gute Frequenzweiche besitzt, um hohe Frequenzen, die die Membran vielleicht selbst wiedergeben könnte, zu unterdrücken. Aber ohne hohe Frequenzen bleibt hier vom musikalischen Inhalt des Kompositionsausschnitts nicht mehr viel übrig: von den verwendeten Instrumenten und musikalischen Zusammenhängen bleibt wenig erkennbar. Das Rockwood-Chassis ist dagegen überhaupt nicht in der Lage, tiefe Frequenzen wiederzugeben, hohe hingegen schon37. Im Vergleich mit dem Kompositionsausschnitt fällt hier auf, dass der Violinenklang am Anfang fast nicht (!), bzw. nicht mehr als Violine hörbar ist, weil der Frequenzbereich unterhalb von 1200 Hz unterrepräsentiert wird, der offensichtlich für das Erkennen dieses Violinenklangs eine wesentliche Rolle spielt. Das Becken dagegen erscheint zwar etwas zu ‚hell‘. Das Rockwood-Chassis könnte also als „hoher“ Hochtöner eingesetzt werden, hätte also durchaus seine Berechtigung. 36 „[...] shades of red are used for high-pitched sounds; greens and blues are used mostly for mid-range sounds; and bass sounds are represented by dark colors. Similar sounds are indicated by similar colors, and changes in sound are shown as changes in color“. „Coloring the Audio Waveform Display“, <http://www.comparisonics.com/color.html> 7.7.2009. 37 Das liegt am akustischen Kurzschluss, siehe S. 14. 12 Abbildung 1: Klangbeispiel „Frequenzgang-Rauschen“. Aufnahme aus 80 cm Distanz. Rosa Rauschen. Die unterschiedlichen Farbtöne in der Darstellung verdeutlicht die Unterschiede in der Klangfarbe der Lautsprecher. Zur Farbkodierung siehe Fußnote 36. Abbildung 2: Klangbeispiel „Frequenzgang-Sinusglissando“. Aufnahme aus 80 cm Distanz. Sinusglissando. Die Unterschiede in der Amplitude der Wellenform verdeutlichen gut die charakteristischen Frequenzverläufe der Lautsprecher. Die Hifiabstimmung (Verstärkung der Frequenzen um 120 und ca. 4000-6000 Hz) des ElectroVoiceLautsprechers ist in der Grafik schön sichtbar, ebenso wie ein kleiner Einbruch der Lautstärke um die Trennfrequenz zwischen Tief- und Hochtöner. Die grün-rote Anhebung im Bereich von ungefähr 500- 2000 Hz wird vermutlich von Raumresonanzen verursacht sein, da sie in allen Lautsprechern (außer dem Subwoofer) verschieden stark (je nach Klangfarbe) auftreten. Zur Farbkodierung siehe Fußnote 36. 13 Die JBL-Control 1 besitzt ein Loch (kreisrunde Markierung in Abbildung 3) im Frequenzgang bei ca. 3-6 kHz. Dies lässt zum einen höhere Frequenzen deutlicher zu Tage treten, da etwaige, in dem Loch liegende Frequenzen die höheren Frequenzen nicht überdecken (maskieren) können. Zum anderen kann es hier aber passieren, dass Klänge einer Komposition, die sich genau in diesem Bereich befinden, zu leise wiedergegeben werden und somit unter Umständen ein Informationsverlust während des Hörens auftreten kann. Von dem mangelnden Bass abgesehen, verhält sich die Control 1 in den Klangbeispielen als etwas zu ‚hell‘, unterstreichen dadurch aber den „Hifi-Charakter“.38 Abbildung 3: FFT-Analyse des rosa Rauschen (links) im Vergleich zu den JBL-Control 1 (rechts). Bei dem ElectroVoice erscheinen hingegen, wie im Kompositionsausschnitt deutlich wird, metallische, hochfrequente Klänge recht ‚scharf‘ und ‚grell‘, wie es der Vergleich zu den homogenen Meyer UPJ-1 deutlich zeigt. Dennoch lässt es sich, ebenso wie das RockwoodChassis, für die Darstellung von Hochfrequenzeffekten benutzen, bei denen man die Schärfe bzw. Intimität bei subtilem Einsatz gut gebrauchen könnte. Das Rockwood-Chassis zeigt mit seinen mangelnden Fähigkeit, tiefe Klänge wiederzugeben, warum dynamische Lautsprecher meist in eine luftdicht abgeschlossene Box verbaut werden. Denn dies liegt am sogenannten akustische Kurzschluss. Eine Membran gibt nicht nur Schallwellen nach vorn, sondern auch nach hinten aus, wobei die hinteren gegenüber den vorderen Schallwellen phasengedreht sind. Bei Wellenlängen, die im Verhältnis Frequenz zur Membrangröße groß sind, also tiefen Frequenzen, überlagern sich die vorderen mit den hinteren Schallwellen und löschen sich aus.39 Ein Einbau des Chassis in eine Lautsprecherbox trennt die 38 Vgl. dazu Thomas Görne, Tontechnik, München 2008, S. 288f. 39 Siehe Görne 2008, S. 209. 14 Wellen voneinander. Schallabsorbtionsmaterial im Inneren der Lautsprecherbox dämpft die rückwärtigen Wellen und reduziert damit den Einfluss des Gehäuses auf das Chassis. Dies erklärt zum Teil, wieso Lautsprecher eine eigene Klangfarbe besitzen. Weitere Gründe werden in der entsprechenden Literatur über Lautsprecher beschrieben.40 Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass sich schon allein die Klangfarben der einzelnen Lautsprecher teilweise deutlich voneinander unterscheiden und die Lautsprecher damit die komponierten Klangfarben verändern. Allerdings ist die Situation sogar noch ein wenig komplexer, wie es die Beschreibung der Versuchsanordnung schon vermuten lässt. Denn die Wahrnehmung der Klangfarbe des Lautsprechers ist zusätzlich noch abhängig von der Position, aus der der Hörer den Lautsprecher hört, sowie der Position des Lautsprechers im Raum. Zur Verdeutlichung folgen hier weitere Beispiele. Im Klangbeispiel „Drehung-E3“ (CD-Titel 4) wird die Klangfarbe des Lautsprechers in Abhängigkeit von der Hörposition dargestellt – es tritt die Richtcharakteristik des dynamischen Lautsprechers zu Tage. Mit einem Neumann KM-184 Nierenmikrophon wird um den D&B E3 Lautsprecher auf einer Kreisbahn im Abstand von ca. 20 cm herum gegangen. Als Testsignal dient hier wieder rosa Rauschen. Das Beispiel zeigt sehr deutlich, wie tiefe Frequenzen rundherum gut wahrnehmbar sind, hohe Frequenzen aber hauptsächlich nur an der Vorderseite des Lautsprechers.41 Für die Positionierung des Lautsprechers zum Hörer hat dies gewaltige Konsequenzen. Denn schon bei einer geringen räumlichen Verschiebung des Hörers aus dem Zentrum des Hochtöners heraus wirkt das Klangbild zunehmend matter. Besonders stört dies, wenn die räumliche Ausdehnung des Publikums den Strahlungskegel des Hochtöners überschreitet: Während im Zentrum sitzende Hörer das Klangbild korrekt wahrnehmen können, verfälscht sich der Klangeindruck zum Rand des Publikums immer mehr – man könnte hier von einem klangfarblichen sweet spot sprechen.42 Diesem Problem kann man nicht durch Filterung entgehen, da ja die Filterung alle Hörer betreffen würde. Deshalb müssen die Lautsprecher akribisch genau auf sie ausgerichtet werden, damit die Klangfarben nicht weiter verfälscht werden.43 40 41 42 43 Görne 2008, S. 278ff. Siehe dazu auch Görne 2008, S. 207 und Görne 2008, S. 283. Vgl. dazu die Diskussion des sweet spots auf S. 22. Vgl. dazu die Diskussion in Gary Davis und Ralph Jones, The sound reinforcement handbook. Written for Yamaha by Gary Davis & Ralph Jones, Milwaukee 1990, S. 351ff. 15 Die Rotation um den Lautsprecher herum wird im Abstand von ca. 2 Metern im Klangbeispiel „Drehung-E3-Distanz“ (CD-Titel 5) noch einmal wiederholt. Der Einfachheit halber werden dieses Mal die zwei Extrempositionen ausgewählt: Das Mikrophonpaar ist einmal vor und einmal hinter dem Lautsprecher platziert. Es zeigt sich, dass die Abnahme der Höhen weniger stark, aber dennoch deutlich ausfällt. Das liegt daran, dass man nun aufgrund der Erhöhung des Hörabstands mehr die Reflexionen der Höhen im Aufnahmeraum hört und die Höhen nun ‚räumlicher‘ klingen. Man nimmt sie also zeitlich verspätet und durch den Raum gefärbt war, weshalb sie etwas ‚verwaschen‘ wirken. Zum Sichtbarmachen des Einflusses der Positionierung des Lautsprechers im Raum auf die Klangfarbe folgen nun zwei Beispiele: „Ecke-Rauschen“ (CD-Titel 6) und „Ecke-Berührung“ (CD-Titel 7). Das Klangbeispiel „Ecke-Rauschen“ gibt eine Ahnung, in wie weit die Positionierung von Lautsprechern im Raum einen Einfluss auf die Klangfarbe haben kann. Rosa Rauschen wird über den E3-Lautsprecher wiedergegeben, der im Abstand von ca. 50 cm zur Wand um 45° nach oben geneigt sich in einer Raumecke befindet und in die Ecke hinein strahlt. Das Mikrophon befindet sich hinter (!) dem Lautsprecher, schaut also ebenso in Richtung der Ecke. Es wird nun die vertikale Position des Lautsprechers variiert, sowie die Hörposition. Zuerst befindet sich der Lautsprecher in 1,50 m Höhe, danach wird er auf den Boden gelegt. Beide vertikale Positionen werden einmal aus ca. 2 m Distanz gehört und einmal im Abstand von ca. 5 m. Man hört im Klangbeispiel, wie die Tiefen eine Betonung erhalten. Dies fällt besonders stark auf, wenn der Lautsprecher auf dem Boden liegt. Die Betonung ergibt sich aus der Überlagerung seines Direktschall mit seinem im Raum reflektierten Schall, was zusätzlich durch die Richtcharakteristik des Lautsprechers verstärkt wird.44 Derselbe Effekt tritt nicht nur in Raumecken, sondern auch an Raumkanten (Wänden) auf, allerdings nicht so stark. Bei der Variation des Hörabstandes fallen auch hier wieder die Klangfarbenunterschiede auf, vor allem auch in Bezug zu dem nah-aufgenommenen Rauschen.45 Sie resultieren auch hier wieder aus der Überlagerung von Direkt- und Diffusschall. 44 Vgl. dazu Görne 2008, S. 309ff. 45 Die Lautstärkeunterschiede seien jetzt noch außer Acht gelassen. 16 Abbildung 4: „Simuliertes ortsabhängiges Schallfeld im Rechteckaum der Abmessungen 3m x 3,4m x 2,4 m. Darstellung des Schalldrucks in der Ebene [...] bei 80 Hz, 93 Hz, 109 Hz, 127 Hz. der Pegel schwankt ortsabhängig um bis zu 40 dB (Simulation: CARA)“. Quelle: Gröne 2008, S. 70. Zum Darstellen der musikalischen Konsequenz der Tiefenanhebung aufgrund von Raumkanten sei hier auf das Klangbeispiel „Ecke-Berührung“ verwiesen, bei dem der Kompositionsausschnitt über den in die Ecke gerichteten E3-Lautsprecher wiedergegeben wird.46 Wenn der Lautsprecher auf dem Boden liegt, erscheint eine Resonanzfrequenz bei ca. 230 Hz (Zeitpunkt: 0‘33), die sich stark in den Vordergrund spielt, ebenso wie die Tiefen. Je höher man im Spektrum geht, desto entfernter erscheinen wieder die Klänge. Insgesamt klingt somit die Stelle sehr schwammig, mulmig und recht undifferenziert. In 5 m Entfernung wirkt sie dann aber wieder etwas stimmiger, kommen doch die mittleren Frequenzen wieder stärker in den Vordergrund und erscheinen insgesamt gleichmäßig entfernt zu sein (Vergleiche 0‘44 mit 0‘25). Je nach Raumbeschaffenheit ändert sich also der Klangeindruck von Hörposition zu Hörposition, je nachdem, wie sich der Direktschall des Lautsprechers mit seinen frühen Reflexionen oder seinem erzeugten Nachhall des Raums vermischen. Dies hat zum Einen einen Einfluss auf die Klangfarbe, doch zum Anderen auch auf die veränderte Wahrnehmung der Räumlichkeit des Klangeindrucks. Zu diesem Thema wird im folgenden Unterkapitel genauer Bezug genommen. Doch zunächst zurück zur Wahrnehmung der Klangfarbe. Auf die Besonderheit von stehenden Wellen (Raummoden) sei hier gesondert verwiesen.47 Ihr Einfluss stört beispielsweise sehr bei der Beurteilung von tiefen Frequenzen, wie das in Abbildung 4 zu sehen ist. In der Abbildung wird ein ortsabhängiges Schallfeld für einen 46 Im Beispiel erklingt der Ausschnitt sechs mal: direkt ohne Mikrophonierung, über die E3 frei im Raum stehend direkt aufgenommen, indirekt aufgenommen über die E3 in mittlerer Höhe in die Raumecke gerichtet, indirekt aufgenommen über die E3 auf dem Boden liegend in die Raumecke gerichtet, anschließend beide indirekten Varianten im Mikrophonabstand von ca. 5 m. 47 Der Effekt der Raummoden tritt verstärkt Räumen mit parallelen Wänden auf und ist vor allem bei akustisch nicht oder unzureichend optimierten Räumen, wie Heimstudios oder Galerien, störend hörbar. 17 rechteckigen Raum mit den Abmessungen von 3 x 3,4 x 2,4 m simuliert. Der Schwankung des Schalldruck kann von Position zu Position bis zu 40 dB betragen. Je nach Kopfdrehung und Hörposition ergibt sich somit ein völlig anderer Klangeindruck. Hinzu kommt, dass die Wellenlänge bei tiefen Frequenzen bereits so groß ist, dass der Hörer quasi den Wellenverlauf abhören kann: Wenn er zum Beispiel an Knotenpunkten sitzt, wird er nichts (!) hören, während die Hörer neben ihm u. U. an einem Amplitudenmaximum der Welle sitzen kann und sie für ihn daher unglaublich laut erscheint. Unter solchen Umständen wird die Beurteilung vom Bassbereich einer Komposition quasi zum Glücksspiel – ein Problem, das bei der Produktion wie auch bei der späteren Aufführung der Komposition mit beachtet werden muss.48 So zeigt sich, dass ein dynamischer Lautsprecher, selbst wenn er völlig neutral wäre, von Raum zu Raum und (Hör-)Position unterschiedlich klingt und die Wahrnehmung der Klangfarbe der Komposition deshalb changiert. Das Beispiel der Raumecke verdeutlicht, wie wichtig es ist, die Positionierung der Lautsprecher auch auf klangfarblicher Ebene zu beachten. Hinzu kommt, dass ja die Lautsprecher die Klangfarbe bei jeglicher Wiedergabe färben. Wenn beispielsweise ein Komponist auf die Idee käme, seine Komposition mit dem ElectroVoice zu produzieren, würde er die Höhen, die ja der Lautsprecher überrepräsentiert, in seiner Mischung herunter regeln und in den unteren Mitten ungenau arbeiten, weil diese unterrepräsentiert sind. Bei der Wiedergabe dieser Komposition auf einem in sich neutralen Lautsprecher, wie dem Meyer UPJ-1, wird der Komponist dann erschreckt feststellen, wie dumpf bis schwammig seine Komposition klingt, da dem Meyer ja die Höhenüberrepräsentation fehlt und die Tiefenwiedergabe wesentlich exakter ist. Dies beschreibt, wie sehr sich die Lautsprecher oder, allgemeiner, die Hörsituation während der Produktion in die Komposition mit einschreibt.49 Eine ähnliche Problematik wird sich bei der Wahrnehmung von komponierten Räumen ergeben. II.2 Raum Die Einflussnahme der Raumakustik des Aufführungsraums auf ein elektroakustisches Werk lässt sich auch anhand des Beispiels der in einer Komposition simulierten Raumakustik zeigen. Dazu wurden wieder spezielle Testsignale und Musikausschnitte erstellt. Sicherlich gibt es weitere Einflüsse des Aufführungsraums auf die Komposition, die nicht unbedingt mit der 48 Vgl. dazu die Diskussion im Kapitel III.2. 49 Und aber auch, wie sinnvoll in sich neutral-abgestimmte Lautsprecher bei der Produktion von Kompositionen sein können. 18 Raumakustik zu tun haben, doch werden sie hier nicht erläutert, da die These der Einflussnahme bereits durch die Diskussion über die Raumakustik bewiesen werden wird.50 Im Klangbeispiel „Raum-Hall-Beep“ (CD-Titel 8) erklingt vier mal ein kurzer verzerrter Sinusimpuls: je einmal entfernt in einem simulierten ‚großen‘ und ‚kleinen‘ Raum. Als Verhallungsalgorithmus wurde dank der recht realistischen Simulation der Faltungshall in Samplitude ausgewählt. Der unverhallte Sinusimpuls wird jedem verhallten vorangestellt. Das Testsignal selbst wird in den drei Innenräumen (Heimstudio und die beiden Werkstattstudios) wiedergegeben, die sich vor allem wesentlich in der Nachhallzeit, Raumgröße und Deutlichkeit voneinander unterscheiden. Erwartungsgemäß zeigen sich auch hier in den einzelnen Räumen unter Umständen gravierende musikalische Bedeutungsverschiebungen. Während das Heimstudio die komponierte Räumlichkeit verständlich reproduzierte, scheiterte das Werkstattstudio 011 an dem Unterschied zwischen Impuls mit und ohne ‚kleinen‘ Raum. Im anderen Werkstattstudio (Raum 009) ist überhaupt kein räumlicher Unterschied zwischen den Impulsen mehr hörbar! Einzig die Einschwingzeit der Impulse lässt noch Rückschlüsse auf deren frühere ‚Verhallung‘ zu, auch wenn das für den Hörer nicht zwangsläufig so klar sein muss, schließlich könnten sie ihre Form auch durch andere Verfahren erhalten haben. Somit lenkt Raum 009 die Aufmerksamkeit des Hörers eher auf die unterschiedlichen Einschwingzeiten und überdeckt die verschiedenen Räumlichkeiten der Impulse mit seiner eigenen Raumakustik. Das Verschmelzen der Räumlichkeiten der Komposition mit dem Aufführungsraum führt hier einerseits zu einem Informationsverlust, also zum Verlust der Möglichkeit zur Differenzierung komponierter Räume, andererseits aber auch zu einer Bedeutungsverschiebung, nämlich dem Hervortreten anderer Parameter, wie der der Einschwingzeit. Dass die Möglichkeit der Informationsreduktion durch den Aufführungsraum schwerwiegende Konsequenzen für die Wahrnehmung von Kompositionen haben kann, zeigen die folgenden Beispiele. Im Klangbeispiel „Ekg-Clicks“ (CD-Titel 9) kann ein starker Eigencharakter eines Aufnahmeraums zu einem extremen Bedeutungsverlust führen.51 Während die ersten drei Sinusimpulse leicht entfernt mit langem Nachhall erklingen sollen, folgt der vierte Sinusimpuls 50 Zu nennen wäre da z. B. die gesellschaftliche Konnotation des Aufführungsraums (z. B. Zweck des Raums: Konzertsaal, Galerie, Heimstudio, Fabrikhalle) und der Grundlärmpegel eines Raumes erzeugt durch Lüfter (Verstärker, Klimaanlage, Computer), Publikum (Bewegungsgeräusche und gegenseitige Beeinflussung der Konzentration).Vgl. hierzu Görne 2008, S. 94f.; Austin 2000, S. 12f. 51 Auch zeigt das Beispiel gut die Färbung der Klangfarbe der Komposition durch den Aufführungsraum. 19 extrem nah und ohne Nachhall. Musikalisch erzeugt dies zum Einen einen Kontrast zum vorhergehenden. Zum Anderen kann das plötzliche Näherkommen des Impulses auch als Steigerung oder Hineintreten in die persönliche Sphäre des Hörers verstanden werden. Das Werkstattstudio 009 verschluckt den Unterschied des dritten und vierten Impulses völlig. Die Steigerung und der Kontrast bleiben aus, so dass sich in Folge dann auch eine veränderte Wahrnehmung des Zeitverlaufs der Komposition ergibt, da Parameter scheinbar nicht mehr variiert werden und die Komposition quasi in einen stationären (und langweilenden) Zustand übergeht. Das Funktionieren der Komposition ohne Intervention eines Klangregisseurs steht in so einem Aufführungsraum ernsthaft in Frage. Die Fähigkeit eines Raumes, Klangereignisse stark zu verschmelzen, kann auch der Komposition dienen. Orchestrale, ‚symphonische‘ Werke bedingen einen gewissen Grad der Verschmelzung, damit die einzelnen Instrumente der Instrumentalgruppen nicht heraus stechen, sondern einen homogenen Gesamtklang erzeugen. Sonst würde sich die ‚symphonische Wirkung‘ nicht entfalten. Sicherlich gibt es auch akusmatische Werke, die sich an einem hohen Verschmelzungsgrad des Aufführungsraums nicht stören oder gar davon profitieren. Das wären vor allem Werke, die man ebenfalls dem ‚symphonischen‘ Typ zuordnen könnte. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass der Aufführungsraum zum Charakter der Komposition passen sollte, damit die komponierten Diskurse hörbar bleiben. Das Klangbeispiel „Panning-Meyer“ (CD-Titel 10) soll verdeutlichen, in wie weit das Reflexionsverhalten eines Produktionsraumes sich bei der Komposition von akusmatischer Musik einschreiben kann. Das Testsignal besteht aus zwischen beiden Kanälen langsam hin und her schwingenden Clicks. Es wurde bei einer Basisbreite der Lautsprecher von 4,50 und 10 Metern im Abstand von 2 und 4 Metern aufgenommen. Um die 10 Meter Basisbreite zu erreichen, wurde die komplette Versuchsanordnung im Raum um 90 Grad gedreht – die ungedämmten Reflexionsflächen (Projektionswand und Tür) befinden sich so dann in der Aufnahme rechts und leicht mittig und lassen sich so im Klangbeispiel gut vom Direktschall unterscheiden, besonders bei der Aufnahme im Abstand von 2 Metern. Die Bewegung der Impulse, da sie wegen ihrer Kürze die Raumantwort nicht maskieren, lässt hier die einzelnen Reflexionsflächen deutlich hervortreten. Die Aufnahme zeigt, wie ausgeprägt und asymmetrisch die frühen Reflexionen in dem Raum sind, während der Anteil des diffusen Nachhalls recht gering ist. Bei der Produktion von Stereo- und Mehrkanalwerken können solche ausgeprägten, unsymmetrisch auftretenden frühen Reflexionen aber zu Misch-Fehlern führen. Dazu ein 20 Beispiel: Ein Klang in Mono soll im Panorama links platziert werden, während auf der gegenüberliegenden Seite vom Produktionsraum eine starke frühe Reflexion hörbar ist. Durch die Reflexion erscheint der Monoklang recht breit, da man die Reflexion aufgrund des HaasEffekts derselben Klangquelle zuordnet. Sobald man die Komposition in einem anderen Raum spielt, wo rechts sich keine ausgeprägte Reflexionsfläche befindet, wird man den Monoklang recht schmal hören, weil die Seitenreflexion, die die Breite erzeugte, fehlt. Problematisch wird es dann, wenn der Komponist die Seitenreflexion wegen der höheren Stereobreite haben wollte und vergaß, dass die Reflexion vom Produktionsraum erzeugt wurde, so dass der Komponist sie deshalb nicht künstlich in der Komposition simuliert hatte. Die Übertragbarkeit von platzierten Klängen wird daher schwierig, wenn ihre Position in Produktionsräumen, die asymmetrische frühe Reflexionen aufweisen, definiert wurden. Bei akusmatischer Musik, deren musikalischer Diskurs sich stark mit komponierten, konkreten Räumlichkeiten auseinander setzt, stellt eine etwaige mangelnde Übertragbarkeit der komponierten Räumlichkeit in der Aufführungssituation eine nicht zu unterschätzende Problemquelle dar. Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Raumakustik des Aufführungsraums nicht nur die Wahrnehmung der Komposition verändert, sondern auch zur einkomponierten Raumakustik passen sollte, um ihre sinngemäße Reproduktion im Aufführungsraum zu ermöglichen. Eine zu lange Nachhallzeit, gepaart mit einer gewissen Undeutlichkeit, verwischt Details im Klangbild, was der Komposition zum Vor- oder Nachteil gereicht, je nachdem, welches Klangideal darin angestrebt wurde. Der Einfluss des Aufführungsraumes ist mindestens genauso entscheidend wie der Einfluss der Lautsprecher auf die Klangfarbe der Komposition. Ein weiterer Einfluss, der in den Beschreibungen der Versuchsaufbauten bereits anklang, wird nachfolgend besprochen werden. II.3 Hörposition Da in den vorhergehenden Versuchsanordnungen indirekt die Hörposition im Aufführungsraum angesprochen wurde, soll sie hier mit ihren Konsequenzen dezidiert am Beispiel des stereophonen Amplituden-Pannings erläutert werden.52 Auf andere Panning-Verfahren, wie Ambisonics, wird hier zwecks besserer Klarheit nicht eingegangen; die Bemerkungen gelten in 52 Die Testsignale enthalten für jeden Lautsprecher einen eigenen Kanal. Im rechten wie auch linken Kanal erklingt derselbe Klang, allerdings in unterschiedlicher Lautstärke. Die Position, von der das Ohr den Klang wahrnimmt, hängt von dem Lautstärkeunterschied ab. Vgl. dazu Dickreiter 1987, S. 124ff. 21 gewissen Grenzen ebenso für sie.53 Allerdings sei auf den verfälschenden Charakter des Mikrophonierungsverfahren gesondert hingewiesen. Denn die mediale Abbildung ergibt eine starke Verflachung des abgebildeten Raumes, die dadurch entsteht, dass zum Einen mit wachsendem Abstand zur Schallquelle sich die Unterschiede der Amplituden zwischen linkem und rechtem Kanal immer weniger ausprägen, zum Anderen der Direkt- und Diffusschall räumlich quasi zu einer (!) Schallquelle zusammenfasst wird. Während der Hörer von hinten auf ihn treffende Reflexionen von dem von vorn auf ihn zukommenden Schall räumlich unterscheiden kann, kann er dies in der stereophonen Aufnahme nicht mehr, da nun beide Schallereignisse aus der gleichen Richtung (nämlich von vorn) kommen. Somit müssen die Mikrophone, um eine klarere Trennung zwischen vorder- und rückwärtigem Schall mit Hilfe einer ausgeprägten Lautstärkedifferenz zu erreichen, sehr viel dichter vor den Lautsprechern stehen, als menschliche Ohren dies müssten.54 Deshalb sind die Angaben zur Distanz bei den Aufnahmen nur eingeschränkt repräsentativ, wenngleich sie für die Veranschaulichung der These dienlich bleiben. Das Testsignal des Klangbeispiels „Raum-Panning“ (CD-Titel 11) besteht aus drei kurzen verzerrten Sinusimpulsen, die die drei möglichen Extrempositionen im Stereopanorama (rechtslinks-mitte) beschreiben, gefolgt von einem zentrierten längeren Rauschimpuls. Die Mikrophone stehen in dem von den beiden Lautsprechern gebildeten Zentrum im Abstand von ca. 1 Meter, sowie anschließend seitlich so versetzt, dass ihr rechter Kanal auf Position des rechten Lautsprechers zeigt. Das Testsignal wird mit beiden Mikrophonpositionen in allen drei Studioräumen aufgenommen. Die Breite der Lautsprecher ist quasi von Raum zu Raum konstant gehalten worden. Im Klangbeispiel wird die Verzerrung der Panorama-Positionen durch veränderte die Hörposition deutlich. Durch die Verschiebung der Hörposition nach rechts wandern die Extrempositionen ‚Links‘ und ‚Mitte‘ ebenfalls gewaltig mit nach rechts, so dass aus dem Links eine ‚Mitte‘, aus der Mitte ein ‚ziemlich Rechts‘ wird. Selbst eine geringere Abweichung der Hörposition aus der Mitte heraus würde schon ausreichen, um das Klangbild des Hörers zu verschieben.55 Das 53 Die Wellenfeldsynthese verspricht hier eine gewisse Lösung des Problems (vgl. Görne 2008, S. 300), doch spielt sie in der Aufführungspraxis elektroakustischer Musik noch eine untergeordnete Rolle und wird deshalb in dieser Diskussion nicht betrachtet. 54 Auf ein Surround-Aufnahmeverfahren wurde aufgrund höheren Aufwands bei der Aufnahme und der schwierigeren Wiedergabe beim Leser verzichtet. Eine Kunstkopfstereophonie, die durchaus eine räumlich realistischere Abbildung ermöglicht, konnte mangels entsprechender Mikrophone ebenfalls nicht durchgeführt werden. 55 Vgl. Dickreiter 1987, S. 215. 22 bedeutet, dass der Bereich – der sweet spot, in dem Links und Rechts korrekt hörbar bleiben, recht klein ausfällt (vgl. dazu Abbildung 5). Bei den zwei Werkstattstudios fällt zusätzlich auch noch der Einfluss der Raumakustik auf. In beiden Räumen erscheint die Links-Position nicht nur in der Mitte, sondern auch viel entfernter, als die rechte Position.56 Bei dem linken Lautsprecher beginnt sich bei der Hörposition der Direktschall mit dem Diffusschall zu vermischen, wodurch die Position noch entfernter wirkt. Somit kommt zu der räumlichen Bewegung zwischen Rechts und Links (bzw. Mitte) die dritte Ebene der räumlichen Tiefe hinzu. Räumliche Diskurse werden so zusätzlich verzerrt, da so, ähnlich wie es beim Beispiel „Ekg-Clicks“ (CD-Titel 9) passieren kann, der Unterschied zwischen nah und fern nicht mehr unbedingt hörbar bleibt. Außerdem kann dies die viel schlimmere Folge haben, dass der rechte Lautsprecher aufgrund seiner Nähe zum Hörer scheinbar mit höherer Lautstärke erklingt und daher den linken Lautsprecher maskieren kann. Für solche Hörer tritt dann unangenehmer Weise ggf. ein ‚Totalverlust‘ der musikalischen Informationen des linken Lautsprechers auf. Warum dies so ist, liegt am sogenannten Abstandsgesetz. Abbildung 5: Größe des sweet spots bei 3 m Basisbreite der Lautsprecher bei Lautsprechern a) normaler Richtcharakteristik und b) mit breiter Richtcharakteristik. Quelle: Dickreiter 1987, S. 126. 56 Dies ist durchaus logisch, da ja die Mikrophone dem rechten Lautsprecher viel näher stehen, als dem linken. 23 Den Einfluss des Abstandsgesetzes zeigt das Klangbeispiel „Raum-Bewegung-Nah-Fern“ (CDTitel 12). Hier kommt dasselbe Testsignal vom Klangbeispiel „Raum-Panning“ (CD-Titel 11) zum Einsatz. Lediglich der Aufnahmeabstand wurde in der Aufnahme variiert: Man hört das Signal je einmal aus einem Meter und aus 5,50 Metern Abstand. Der Deutlichkeit halber wurde es nur im Raum 011 aufgenommen. Es zeigt sich, je weiter die Mikrophone entfernt stehen, desto leiser wird das Testsignal im Raum aufgenommen. Bücher der Tonstudiotechnik sprechen dabei von einer Abschwächung von 4-6 dB pro Entfernungsverdopplung.57 Das bedeutet in anderen Worten: Pro Entfernungsverdopplung halbiert sich der wahrgenommene Schalldruck. Außerdem kommt hinzu, wie es das Beispiel auch zeigt, dass sich der Direktschall zunehmend mit dem Diffusschall des Raumes vermischt und der Raum immer mehr einen Einfluss auf den Klang ausüben kann. Entfernte Klänge klingen dadurch entfernter und leiser, und können daher auch leichter von näheren Lautsprechern überdeckt werden, wodurch sich der Informationsverlust, der im oberen Beispiel angesprochen wurde, ergibt. Das Problem des sweet spots tritt häufiger in der Praxis auf, als man zuerst denken mag. Denn je nach Aufführungssaal befindet sich genau im sweet spot ein Fluchtweg, während sich links und rechts von ihm die Stühle für das Publikum befinden. Dies ist beispielsweise im Fürstensaal der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar der Fall, wo die Lautsprecherkonzerte des SeaMs häufig stattfinden (siehe Abbildung 10 auf S. 56). Auch sitzt der Klangregisseur mit seinen technischen Geräten häufig im sweet spot, damit er die Klangwiedergabe während der Wiedergabe ‚korrekt‘ beurteilen und kontrollieren kann und blockiert aus Sicht des Publikums weiter kostbaren Platz. Da der sweet spot aufgrund physikalischer Grenzen nicht beliebig erweitert werden kann58, bedeutet dies, dass letzten Endes im Konzert dann relativ wenige Hörer an einer ausgewogenen Hörposition sitzen und das Stück so hören, wie es „gemeint“ ist. 57 Dickreiter 1987, S. 236; Görne 2008, S. 35. 58 Nun könnte man meinen, das Problem könnte sich lösen lassen, in dem das von den Lautsprechern anvisierte Zentrum („sweet spot“) durch einen breiten Lautsprecherabstand möglichst groß gemacht wird. Dexter Morril weißt in „Loudspeakers and Performers: Some Problems and Proposals” darauf darauf hin, dass dieser Abstand nicht beliebig weit auseinander gezogen werden darf, da die Trennung von Links und Rechts daran gekoppelt ist. Je weiter die Lautsprecher also auseinander stehen, desto größer ist die Panoramatrennung und desto eher hören Hörer nur jeweils ihren nähergelegenen Lautsprecher. Zusätzlich kommt hinzu, dass sich bei großen Distanzen zwischen den beiden Lautsprechern ihre beiden Schallkegel wenig oder nicht mehr überschneiden und damit entweder die Entstehung einer Phantomschallquelle verhindern oder die Mittenposition wesentlich leiser erscheint als die Maximalpositionen Rechts und Links (das „Loch in der Mitte“-Problem). So kann jeder Lautsprecher zu einem einzelnen, unabhängig klingenden Objekt werden – der sweet spot in dem Sinne existiert dann nicht mehr. Eine Komposition, die auf der Bewegung von Phantomschallquellen beruht, wird auf diese Art nicht mehr verstanden werden. Vgl. dazu die Diskussion Dexter Morill, „Loudspeakers and Performers: Some Problems and Proposals”, in: Curtis Roads (hrsg.), The music machine: selected readings from computer music journal, Cambridge (Mass.) u. a. 1989, S. 95-100. 24 Zusammengefasst wird deutlich, dass die Hörposition einen weiteren wichtigen Faktor zur Wahrnehmung einer Komposition in einem Aufführungsraum darstellt. Von ihr hängt ab, in wie weit räumliche Bewegungsdiskurse einer Komposition, seien sie durch Panning oder Simulationen von Raumakustiken erzeugt, wie auch die Klangfarbe (siehe Kapitel II.1) erfahrbar bleiben. Wie bei den Themen Raum und Lautsprecher auch gilt dies genauso bei der Produktion der Komposition. Denn der Komponist sitzt für gewöhnlich im sweet spot, während später im Konzert, wie gezeigt wurde, nur eine geringe Anzahl von Hörern dort überhaupt sitzen kann. Es ergibt sich hier wieder eine Differenz zwischen der Studio- und der Konzertsituation. II.4 Schlussfolgerung Die Einflüsse seitens der Lautsprecher, des Aufführungsraums und der Hörpositionen bilden ein recht komplexes Netz von Abhängigkeiten, die bei der Aufführung und Produktion einer akusmatischen Komposition beachtet werden wollen, zumal sich die Hörsituation zwischen Produktion und Aufführung gravierend unterscheidet. Das Produzieren ist gekennzeichnet durch intimes, mehrmaliges Hören in einem kleinen Raum in geringer Distanz zu Lautsprechern. Es entspricht damit genau dem Gegenteil einer Aufführung, welches eher ein kollektives, einmaliges Hören in einem großen Raum mit häufig völlig anderer Akustik und größerer Distanz zu den Lautsprechern darstellt.59 Die aufzuführende Komposition erfährt aus diesen Gründen eine tief greifende Transformation, die ihre Gültigkeit und Verständlichkeit in Frage stellen könnte, wie das am Beispiel der Deutlichkeit komponierter räumlicher Kontraste in verschiedenen Aufführungsräumen demonstriert wurde. Die Komposition erklingt somit lediglich als Variante, die sozusagen ein Abbild60 von ihr ist. Damit der Verweischarakter der aufgeführten Komposition auf die auf Tonträger gespeicherte Komposition erhalten bleibt, also die ‚gemeinte‘ Komposition erkennbar wird, braucht es jemanden, der den zwischen Hör- und Produktionssituation stattfindenden Transformationsprozess steuert: Es braucht den Klangregisseur als Vermittler zwischen Komposition und Hörer. 59 Studiokonzerte bilden hier nur bedingt eine Ausnahme, da zwar die Lautsprecher und die Raumakustik prinzipiell dieselbe ist, doch die Transformation der Veränderung der Hörsituation von intim zu kollektiv bestehen bleibt. 60 „Abbild“ wird hier eher im Sinne von Zeichen verstanden. Ein Abbild ist hier also ein Verweis auf etwas Abwesendes (bzw. Gedachtes). 25 III Akusmatische Interpretation des Klangregisseurs Der Klangregisseur soll sicherstellen, dass sich der musikalische Diskurs der Komposition auch bei der Aufführung offenbart, indem er die Abbildung der Komposition im Aufführungsraum sinnstiftend beeinflusst.61 Dazu stehen ihm grundlegend genau die Parameter zur Verfügung, die bei der Lautsprecherwiedergabe als hochgradig variabel und nicht oder nur bedingt fixierbar angesehen werden können und deshalb sein Eingreifen erfordern: die Wiedergabelautstärke, die Klangfarbe und die Verteilung der Kanäle der Komposition auf die bei der Aufführung vorhandenen Lautsprecher. Über dieses Eingreifen jedoch wird er gegenüber dem Hörer zu einem Vermittler und es stellt sich die Frage, in wie weit der Klangregisseur während seiner Tätigkeit zu einem darbietenden Interpreten wird. Die dynamische Beeinflussung der genannten Parameter während der Aufführung gibt auf diese Frage eine mögliche Antwort. Die Erläuterung der Thesen findet anhand eines imaginären Konzerts akusmatischer Musik statt, bei dem stereophone wie auch mehrkanalige Kompositionen aufgeführt werden sollen.62 Bei der Betrachtung wird eine dem Studio ähnliche Hörumgebung angenommen, also der Aufführungsraum als akustisch kaum wirksam und die Lautsprecher als in sich neutral definiert. Damit entsteht eine Situation, die speziell für die Lautsprecherwiedergabe optimiert worden ist und daher scheinbar ohne einen Vermittler auskommen könnte. Dass der Klangregisseur, wie zu zeigen sein wird, auch in einer solchen Situation unverzichtbar ist, verdeutlicht sein interpretatorisches Wirken und zeigt wiederum, wie wenig absolut (oder objektiv) akusmatische Musik auf Datenträger fixierbar ist und das subjektive Moment der Interpretation auch hier unterschwellig vorhanden ist. Der umgekehrte Fall, bei dem also eine Aufführungsumgebung angenommen wird, die nicht per se für die Lautsprecherwiedergabe gedacht ist63, erfordert umso mehr das Wirken des Klangregisseurs, da die in Kapitel II geschilderten Probleme hier verstärkt auftreten. Wie der 61 Vgl. dazu, wie die Kinoindustrie aufgrund von Normen für Akustik, Optik und Geräte der Wiedergabe ohne einen Klangregisseur auskommt. Siehe dazu beispielsweise „THX Certified Cinemas“, <http://www.thx.com/cinema/builtTHX/index.html> 8.7.2009. THX normiert u. a. dieselben Parameter, die in dieser Arbeit als flexibel angesehen werden: Klangfarbe (durch Lautsprecherspezifikation), Raumakustik (Definition von Größe, Reflexions- und Absorptionsverhalten), Positionierung der Lautsprecher, usw. 62 Die Lautsprecher sind an Positionen entsprechend eines gemeinsamen Nenners der Mehrkanalkompositionen aufgebaut worden. 63 Also eine Aufführungsumgebung, die Klangereignisse stärker als im Studio verschmelzen lässt und die Klangfarben deutlich modifiziert. 26 Klangregisseur Kompositionen auch unter solchen Bedingungen sinnvoll aufführen kann, zeigt Kapitel IV.1. III.1 Wiedergabelautstärke Das Feld der Vermittlung eröffnet sich bereits beim Thema der Wiedergabelautstärke. Sie erscheint schließlich höchst relativ und subjektiv. Denn es gibt im Konzertalltag keinen Standard, der definiert, welche Lautstärke des auf einem Medium gespeicherten Signals welcher Lautstärke im Konzert entsprechen soll. Wie laut soll die Maximallautstärke einer Komposition sein: Liegt sie bei 85 dB oder 105 dB oder noch höher, gemessen aus welcher Distanz, also in einem Meter Entfernung oder am Mischpult? Dies hängt nicht nur von den Hörgewohnheiten ab und der gesellschaftlichen Konnotation der Aufführungssituation (z. B. Diskothek = sehr, sehr laut), sondern auch von den Fähigkeiten des Gehörs der Hörenden. So wird die Wiedergabelautstärke einer leisen Komposition ein wenig angehoben werden, wenn vorher eine extrem laute Komposition erklang, weil das Ohr sich an die laute Wiedergabelautstärke gewöhnt hatte und daher ein leise als zu leise (= unhörbar) einstufen könnte. Auch definiert der Aufführungsraum, in wie weit leise Stellen überhaupt leise sein dürfen, damit sie im Grundlärm (noise floor) des Raumes, der durch z. B. Bewegungen des Publikums, Klimaanlagen und sonstigen Lüftern (in den Geräten der Beschallung) entsteht, nicht untergehen oder gar verschwinden. Und ab wann ein „verschwinden“ als ein „verschwinden“ erscheint, hängt wiederum von der psychischen und physischen Verfassung des Klangregisseurs ab. Der Dynamikumfang der Komposition sollte also auf den Dynamikumfang der Aufführungssituation angepasst werden und diese Anpassung ist ein interpretatorischer Vorgang. Eine statische Einstellung der Wiedergabelautstärke verbietet sich bei Kompositionen, die einen größeren Dynamikumfang besitzen, als es der Aufführungsraum zulassen würde, denn sie bräuchten, wie im oberen Beispiel angedeutet, für leise Stellen eine andere Einstellung als bei lauten Stellen.64 Auch zufällig in den Aufführungsraum hineinragende Außengeräusche erfordern manchmal ein Anheben der Lautstärke, um sie zu maskieren oder um die Aufmerksamkeit der Hörer weiterhin bei der Komposition zu halten. Ähnlich eines langsamen (‚mitdenkenden‘) Kompressors, wird hier ein dynamisches Regeln der Lautstärke durch den Klangregisseur sinnvoll. Doch sei nun gewarnt, dass durch übermäßiges Regeln der Verlauf der Komposition 64 Ein für ein Konzertsaal zu hoher Dynamikumfang entsteht, wenn z. B. die Komposition unter geschlossenen Kopfhörern oder in einem extrem ruhigen Raum abgemischt worden ist. 27 empfindlich gestört werden kann. Denn es sollte beispielsweise nicht der Kontrast zwischen leisen und lauten Stellen aufgehoben werden, wenn die Komposition diesen Kontrast erfordert. Auch Crescendi erleiden eine Verzerrung, wenn ihr Lautstärkeverlauf nivelliert wird, was wiederum einen Einfluss auf die Zeitwahrnehmung von einer Komposition haben kann. Ebenso können Höhepunkte verschwinden, wenn sie zu leise wiedergegeben werden – also ihr Kontrast zum vorhergehenden aufgelöst wird, vice versa. Weitere Beispiele sind denkbar. Die Anpassung der Wiedergabelautstärke ist also ein delikater Vorgang und daher muss der Klangregisseur um den Lautstärkeverlauf der Komposition wissen, um die momentane Lautstärke ohne größeren Schaden anpassen zu können. Im Vorfeld sollte er schauen, wo eine Anhebung oder Absenkung der Lautstärke als sinnvoll erscheint und an welcher Stelle innerhalb der Komposition dies am besten durchzuführen ist. Ein Verändern der Wiedergabelautstärke hat aber auch einen Einfluss auf die Mischung der Klangfarben einer Komposition, da sie ihrerseits ja relativ zu einer Wiedergabelautstärke während der Produktion definiert worden sind.65 Unter Umständen müssen die Klangfarben der Komposition wiederum korrigiert werden, um die Mischung wieder in sich stimmig werden zu lassen, was gleichzeitig den nächsten interpretatorischen Gestaltungsspielraum des Klangregisseurs zeigt. III.2 Klangfarbe Ein weiterer interpretatorischer Vorgang wird in der Anpassung der Klangfarbe der Komposition bei der Wiedergabe deutlich. Häufigstes Beispiel aus der Praxis: Welche Lautstärke und welchen Frequenzbereich soll der Subwoofer besitzen und aus welchen Kanälen der Komposition soll er gespeist sein? Die Lautstärke des Tieffrequenzbereichs lässt sich im Studio nur schwierig bestimmen, wenn es im Studio in diesem Frequenzbereich stehende Wellen gibt – man wird die tiefen Frequenzen somit zu laut oder zu leise auf dem Trägermedium fixieren (siehe Kapitel II.1 und Abbildung 4). Im Konzert wird der Klangregisseur nun anhand von Hörgewohnheiten und seinem Eindruck von der wiederzugebenden Komposition diese Lautstärke anpassen. Da die Kompositionen 65 Vgl. dazu die Kurven gleicher Lautstärke, z. B. bei: „Fletcher-Munson ist nicht Robinson-Dadson“, <http://www.sengpielaudio.com/Acoustics226-2003.pdf> . 28 häufig aus verschiedenen Studios kommen, hilft hier eine statische Einstellung für das gesamte Konzert auch wenig weiter. Jede Komposition benötigt ihre eigene Einstellung. Aber selbst ein dynamisches Regeln innerhalb einer Komposition könnte als sinnvoll erscheinen, um so Kontraste, Höhepunkte oder andere wichtige Momente, vorausgesetzt sie besitzen eine entsprechende Energie in den Tiefen, stärker herauszuarbeiten. Dies würde bedeuten, dass sich der Klangregisseur von der konkreten Vorlage der Komposition ‚entfernt‘ und durch (geringfügige) Übertreibung den musikalischen Sinn verdeutlicht, ähnlich dem, wie es ein Interpret aus der Instrumentalmusik machen würde. Hinsichtlich der Trennfrequenz66 gibt es keinen Usus – auch hier entscheidet häufig die Klangästhetik und der Kenntnisstand des Klangregisseurs bzw. die vorhandenen technischräumlichen Umstände. Sie wird während der Kalibrierung der Anlage, nicht während der Aufführung, eingestellt und ist somit einer der Punkte, der im Vorfeld vom Klangregisseur betrachtet wird. Zu hoch darf die Trennfrequenz nicht sein, damit Klangobjekte, die selbst im Bassbereich noch ein gewisses Panning enthalten, sich auch entsprechend ‚massiv‘ bewegen. Denn das Richtungshören von Frequenzen unterhalb der 160 Hz ist nämlich anhand des Gefühls von ‚Masse‘ und ‚Präsenz‘ möglich.67 Je größer die Distanz zu einem Subwoofer ist, desto ‚weicher‘, ‚schwammiger‘ kann der Klangeindruck werden – und somit wird die Position des Subwoofers als solches hörbar. Auch kann eine zu hohe (120+ Hz) Trennfrequenz ein unsauberes tiefes Frequenzbild erzeugen, da Raumeigenarten hier stärker hinzukommen und nun nicht getrennt von Tieffrequenzeffekten geregelt werden können. Für den Autor scheint eine Trennfrequenz von unterhalb 80 Hz daher sinnvoll, solange die anderen Lautsprecher noch entsprechend Leistung um 80 Hz aufweisen. Ein gewisses ‚Loch‘ im Frequenzgang um 125 Hz ist häufig sinnvoll, um die Deutlichkeit der Komposition wegen der Raumeigenarten zu erhöhen – und dies ist eine interpretatorische Entscheidung, denn es steht hier ja die Maßgabe im Hintergrund, einen klaren und prägnanten Klang aus dem Wiedergabesystem zu erhalten. Der Klangregisseur könnte (und müsste) zusätzlich den Frequenzgang der Komposition anpassen, falls sie in dem Aufführungsraum als zu mulmig erscheint. Ähnliches lässt sich auch über die Möglichkeit einer Klangfarbenanpassung für Frequenzen oberhalb des Frequenzbereichs des Subwoofers sagen. Sie wird dann sinnvoll, wenn der gewünschte Klangeindruck sich in der Aufführungssituation nicht mehr einstellt. Selbst geringe 66 Die Trennfrequenz der Frequenzweiche des Subwoofers bestimmt, wie ‚hoch‘ der Subwoofer klingen kann. 67 Vgl. Görne 2008, S. 119. 29 klangfarbliche Abweichungen können bereits Bedeutungsverschiebungen zur Folge haben, wie das in Kapitel II.1 anhand der emotionalen Deutung der Klangfarbe in der Komposition berührung erläutert wurde. Auch die Deutlichkeit von Platzierungen von Klangobjekten innerhalb der Komposition mit Hilfe von richtungsbestimmenden Bändern („boosted bands“)68 kann während einer Aufführungssituation durch den Unterschied der Klangfarbe innerhalb des Produktions- und Aufführungsraum leiden, wenn beispielsweise bestimmte Frequenzbereiche im Aufführungsraum weniger stark hörbar sind als im Produktionsraum. Die Legitimation und die Notwendigkeit für eine Klangfarbenanpassung der Komposition im Aufführungsraum wäre also dann gegeben, wenn einzelne Frequenzbereiche der Komposition im Aufführungsraum über- oder unterrepräsentiert werden und ohne ihre Korrektur unpassende Bedeutungsverschiebungen einhergehen würden, z. B. bestimmte Frequenzbereiche ‚unabsichtlich stören‘ würden. Die Entscheidung, ob solch ein Fall bei der zu interpretierenden Komposition vorliegt, liegt hier wiederum im Ermessen des Klangregisseurs, also bei seinem Einfühlungsvermögen und seiner Wahrnehmung der Komposition. Dabei weisen die musikalischen Konsequenzen mangelhafter klangfarblicher Wiedergabe auf die Notwendigkeit des Eingreifens seitens des Klangregisseurs hin. Solange nicht durch übermäßiges Regeln der Lautstärke das Mischungsverhältnis durcheinander gebracht wird oder bestimmte Momente aufgrund besseren Verständnisses klangfarblich nicht korrigiert werden müssen, kann der Einsatz der Klangfarbenanpassung stückspezifisch statisch bleiben. Andernfalls erscheint ein dynamisches Regeln auch hier sinnvoll. III.3 Routing Ein weiterer Puzzlestein des Klangregisseurs für eine sinnstiftende Interpretation ist das Routing, also die Zuordnung der Kanäle der Komposition auf die vorhandenen Lautsprecher. Hierbei geht es vor allem um die zwei Fälle, bei denen weniger oder mehr Lautsprecher zum Einsatz kommen, als die Komposition zur Wiedergabe benötigt.69 68 Definition von boosted bands in Blauert, Jens und Jonas Braasch: „Räumliches Hören“, in: Stefan Weinzierl (hrsg.), Handbuch der Audiotechnik, Heidelberg 2008, S. 94. 69 Die Frage des Routings tritt bei Ambisonics nicht so stark auf, da die Verräumlichung der Komposition kanalunabhängig in einem speziellen Format kodiert und anschließend dezidiert für die vorhandenen Lautsprecher dekodiert wird. Siehe dazu Philippe Kocher, „Raumklang mit Ambisonics in Max/MSP“, <www.icst.net/fileadmin/data/pdf/pk/Ambisonics_in_MaxMSP.pdf> 8.7.2009. 30 Der erste Fall tritt bei dem Routing des Subwoofers auf und erscheint quasi trivial, solange es nur einen gibt. Aber schon bei zwei Subwoofern stellt sich die Frage, ob sie jeweils ein eigenes Signal bekommen (stereo) oder jeweils das gleiche (mono). Und bei Mehrkanalwerken wird diese Frage noch komplexer und ist dann zusätzlich abhängig von der Position der Subwoofer. Da sich die Kanalanzahl einer Komposition während der Aufführung nicht ändert, bleibt das Routing des Subwoofers statisch. Schwieriger wird es, wenn ein Mehrkanalwerk auf weniger Lautsprechern abgebildet wird, da hier ggf. Fehlplatzierungen auftreten können. Bereits das Abbilden eines 5.1-Werks auf einer quadrophonen Anlage bereitet hier gewisse Schwierigkeiten. Vor allem die geänderte Position der Surroundlautsprecher (120 Grad bei 5.1 gegenüber äquivalenten 90 Grad bei quadro)70 kann bei Kreisbewegungen zu Problemen führen. Durch die geänderten Abstände kann sich die Wahrnehmung der Geschwindigkeit der Klangbewegung verändern, da die Distanz nun innerhalb der hinteren Lautsprecher verkürzt ist, während sie an den Seitenlängen (vorn links zu surround links) verlängert worden ist. Auch das Gefühl der Umhüllung könnte sich verändern. Bei quadro kämen die Klänge aus den zwei Surroundlautsprechern dann mehr von hinten und könnten bei gleichem Schallpegel eine weniger starke Umhüllung erzeugen, da sie wiederum weniger das Hörfeld des im Zentrum sitzenden ausfüllen.71 Der Klangregisseur könnte hier daher ein Umstellen der Lautsprecher vor der Wiedergabe fordern, um solchen Problemen entgegen zu wirken. Das Routing würde dennoch innerhalb der Komposition statisch bleiben. Insgesamt wird deshalb versucht, mindestens so viele Lautsprecher an den entsprechenden Positionen zu haben, wie die Komposition es nach ihrem Standard benötigt. Falls dies nicht möglich ist, muss ein Kompromiss gefunden werden. Ein anderer Fall wäre es, wenn mehr Lautsprecher zur Wiedergabe vorhanden sind, als das Stück aufgrund seiner Kanalanzahl benötigt. Dies tritt beispielsweise dann auf, sobald eine stereophone Komposition auf einem quadrophonen Beschallungssystem wiedergegeben werden soll. Es läge nahe, einfach nur die zwei frontalen Lautsprecher zu nutzen und die Surroundlautsprecher nicht zu verwenden. Wieso wäre dies ‚suboptimal‘? Zur Erläuterung zwei Beispiele: ‚Umhüllung‘ und extrapolierte Klangbewegungen. 70 Vgl. „Ears: Electroacoustic Resource Site. Quadrophonic“, <http://www.ears.dmu.ac.uk/spip.php?rubrique249> 8.7.2009; sowie Eberhard Sengpiel, „Wiedergabe Surround Sound 5.1 nach ITU-R BS.775”, <http://www.sengpielaudio.com/Surround-ITU-Wiedergabe.pdf> 12.5.2009. 71 Vgl. dazu David Griesinger, „Loudspeaker and listener positions for optimal low-frequency spatial reproduction in listening rooms”, Powerpoint-Präsentation ASA 2005, Folie 6f. 31 Wenn der von der Komposition simulierte Raumeindruck sich mit dem Raumeindruck des Aufführungsraums widerspricht, kann eine Bedeutungsverschiebung auftreten, vor allem dann, wenn die Simulation unbewusst als unzureichend empfunden oder als Simulation entlarvt wird. Diese Thematik sei anhand der Wahrnehmung von Umhüllung72 erläutert. Aufgrund der Hörerfahrung erwartet der Hörer eine gewisse ausgeprägte Umhüllung bei langen Nachhallzeiten, wie sie beispielsweise bei einem Kirchenhall vorkommen. Wenn nun der Aufführungsraum keinen eigenen langen Nachhall besitzt, hört man hauptsächlich nur den langen Nachhall der Simulation durch die Lautsprecher. Nah und zentriert an den Lautsprechern sitzende Hörer werden von den Lautsprechern umhüllt – da sie sich mit dem kompletten Hörfeld im Schallkegel der Lautsprecher befinden. Je weiter aber sich die Hörer von den Lautsprechern entfernen, desto eher ragt ihr Hörfeld aus dem Schallkegel der Lautsprecher hinaus und sie nehmen immer mehr den eigenen Charakter des Aufführungsraums war. Wenn dieser nun eine kurze Nachhallzeit besitzt (< 1 Sekunde), wie in diesem Beispiel angenommen wurde, fehlt ihnen die für die Raumerfahrung des Kirchenhalls nötige Umhüllung. Die Simulation der Raumerfahrung durch Lautsprecher wird also entlarvt – man hört Hall aus den Lautsprechern und befindet sich nicht mehr ‚in‘ (!) dem simulierten Raum. Für den Hörer entsteht so aus einer konkret gemeinten Raumwahrnehmung eine abstrakte Raumwahrnehmung, die durch den Mangel an dem komponierten Raum entsprechenden rückwärtigen Reflexionen hervorgerufen wird. Eine Lösung des Klangregisseurs, wieder eine konkrete Raumwahrnehmung zu erhalten, könnte sein, die mangelnde Umhüllung auch durch die hinteren Lautsprecher zu simulieren, indem er ihnen nochmal die Komposition zuweist, aber leicht verzögert und etwas leiser. Durch die Verzögerung würden nun auch die rückwärtigen Raumreflexionen, die vorher in dem komponierten Raumeindruck fehlten, auch von den Lautsprechern simuliert. Ohne die Verzögerung würden die Hörer, die sich in nächster Nähe zu den hinteren Lautsprechern befänden, sie ‚zu früh‘ und deshalb nicht als ‚Reflexionen‘ hören, sondern als Hauptschallquellen, weil der Schall der vorderen Lautsprecher für diese Hörer später eintrifft.73 Durch das künstliche Erzeugen von zusätzlichen Raumreflexionen wären alle Hörer wieder, wie sie es von ihrer Hörerfahrung her kennen,von dem komponierten Raum umgeben sein.74 72 Dabei sei hier Umhüllung definiert als ein Umgeben sein von Klang. 73 Vgl. Gesetz der ersten Wellenfront, in Eberhard Sengpiel, „Haas-Effekt und Präzedenz-Effekt (Gesetz der ersten Wellenfront)“, <http://www.sengpielaudio.com/Haas-Effekt.pdf> 8.7.2009; Dickreiter 1987, S. 127. 74 Vgl. dazu David Griesinger, „Loudspeaker and listener positions for optimal low-frequency spatial reproduction in listening rooms”, ASA 2005, S. 16.; Dickreiter 1987, S. 129. 32 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ohne Intervention durch den Klangregisseur trotz der Imitation der Studioumgebung (= trockene Akustik) eine ‚sinngemäße‘ Wiedergabe der Komposition in diesem Aufführungsraum gefährdet wäre und zwar wegen der Diskrepanz zwischen realem Raum und suggeriertem, real-werdenem Raum. Das Routing bleibe hierbei eher statisch, es sei denn, die gewünschte Umhüllung darf im Verlauf der Komposition entfallen. Bisher wurde das Routing als eher statisches Element betrachtet – eine Annahme, die nicht zwangsläufig so sein muss, wie das folgende Beispiel der extrapolierten75 Klangbewegung zeigt. Denn würde in dem obigen Beispiel nicht das Problem der mangelnden Umhüllung im Vordergrund stehen, sondern die Bewegung von Klangobjekten, könnte der Klangregisseur ja auf die Idee kommen, die Klangbewegungen um das Publikum herum abzubilden, in dem er dynamisch die Lautstärke der hinteren Lautsprecher gegenüber der Lautstärke der vorderen Lautsprecher regelt.76 Dynamisch deshalb, weil ja die Komposition nicht die ganze Zeit von hinten oder von vorn erklingen soll. Berechtigt wäre er zu seinem Eingreifen beispielsweise, wenn in der Komposition ein entsprechender konkreter Raumeindruck durch psychoakustische Effekte suggeriert wäre, wie z. B. durch „boosted bands“. Auch hier würde wieder, kurz zusammengefasst, ein in der Komposition konkret gemeinter Raumeindruck sich ‚nur‘ durch die räumliche Interpretation konkret reproduzieren. Es stellt sich sodann ein Erkenntnisgewinn bzw. durch Übertreibung (Extrapolation) eine größere Klarheit ein, da die Klänge nicht mehr nur so klingen, als ob sie von hinten erklingen würden, sondern sich tatsächlich auch hinter dem Hörer befinden. Diese zwei Beispiele zeigten, dass es durchaus sinnvoll ist, bei Stereowerken mehr Lautsprecher für die Wiedergabe von akusmatischen Kompositionen im Konzert zu nutzen, als es ursprünglich die Kanalanzahl es vermuten ließe77. Es ergibt sich dadurch ein Gestaltungsspielraum, mit dem etwaigen räumlichen Bedeutungsverschiebungen oder Informationensverlusten vorgebeugt bzw. angelegte Klangeindrücke verstärkt werden können – eine Thematik, die Kapitel IV weiterführend behandeln wird. Vor allem Stereowerke gewinnen von der räumlichen 75 „Extrapoliert“ deshalb, weil eine stereophone Komposition echte rückwärtige Bewegungen mangels separater Kanäle nicht aufzeichnen und daher lediglich den Eindruck erwecken kann, die Klänge ‚könnten‘ von hinten erscheinen. 76 Vgl. dazu die Diskussion in Christian Clozier, „Composition, diffusion and interpretation in electroacoustic Music“, in: Barrière, Françoise (hrsg.), Composition, diffusion en Musique électroacoustique, Bourges 1998, S. 246ff, oder Rainer Boesch, „Composition/Diffusion in electroacoustic music“, in: Barrière, Françoise (hrsg.), Composition, diffusion en Musique électroacoustique, Bourges 1998, S. 223f. 77 Diese These ist sicherlich auch auf Mehrkanalwerke übertragbar. Vgl. dazu Kapitel IV.2. 33 Interpretation, weil sie im Konzertsaal die zusätzliche Dimension der reellen (nicht simulierten) räumlichen Tiefe erhalten, die, im Gegensatz zu Mehrkanalwerken, nur eingeschränkt im Vorfeld definiert werden kann. Allerdings gilt der Gestaltungsspielraum hauptsächlich für den Spezialfall, bei dem eine konkrete Raumdarstellung sich ohne Eingreifen des Klangregisseurs nicht vermitteln würde. Wenn es auf einen abstrakten Klangeindruck oder nicht auf die räumliche Dimension der Komposition ankäme, tritt die Differenz zwischen Produktions- und Aufführungsumgebung nicht so stark in den Vordergrund und es könnte daher auf eine räumliche Interpretation verzichtet werden. III.4 Schlussfolgerung Das interpretatorische Spannungsfeld bei der Abbildung einer akusmatischen Komposition in einer Konzertumgebung eröffnet sich im Umgang mit den flexiblen Parametern Lautstärke, Klangfarbe und Zuweisung der Komposition zu den vorhandenen Lautsprechern, selbst wenn die Aufführungsumgebung mit der Studioumgebung vergleichbar ist. Unter Beachtung der verändernden Wirkung der Aufführungssituation kann der Klangregisseur die Unterschiede im Klangbild zwischen der Produktion und der Aufführung, die durch die Differenzen der Lautsprecher und Raumakustik entstehen, z. T. korrigieren und sogar zwecks einer größeren Klarheit nutzen. Er stellt beispielsweise sicher, dass eine in der Komposition suggerierte konkrete Raumerfahrung sich auch im Konzertsaal wiederherstellt (reproduziert). So könnte man den Klangregisseur nicht nur als Vermittler, sondern auch als jemanden betrachten, der für die Qualitätssicherung bei einer Aufführung zuständig ist. Die Fallstricke und Probleme, die sich bei seinem etwaigen mangelhaften Eingreifen zeigen können, bilden ihrerseits einen Beleg für die These, sein Tun oder Unterlassen als interpretatorischen Vorgang zu bezeichnen. Ein Interpretationskonzept sollte nun sicherstellen, dass die zu spielende Komposition durch die Tätigkeit des Klangregisseurs gegenüber einer unvermittelten Darstellung keinen Schaden erleidet. Der Klangregisseur muss also die technischen und räumlichen Umstände der Komposition und des Aufführungsraums vor der Aufführung kennen und in Bezug zu seiner eigenen auditiven Sensibilität und manuellen Geschicklichkeit setzen. Er muss also beispielsweise schnell genug sein, Klänge durch (manuelle) Interaktion mit der Technik (Mischpult) entsprechend im Raum zu platzieren, ohne das Klangbild zu zerreißen.78 78 Harte Schnitte in der Musik, bei der auf eine Einschwingzeit von Klängen verzichtet wird, stellen hier große Anforderungen an den Klangregisseur; sie räumlich unterschiedlich zu verteilen erfordert ein gewisses Maß an Können (Virtuosität). Auf das Konzept der Virtuosität wird hier aufgrund der einfachen Darstellung nicht näher 34 Dass seine Gestaltungsmittel bei der Wiedergabe einer Komposition nicht per se statisch bleiben müssen, sondern unter Umständen als hochgradig dynamisch aufgefasst werden können, gibt darüber Auskunft, in wie weit der Klangregisseur als Interpret auch darbietend tätig ist. Wenn man das Konzept des Interpreten auf den Klangregisseur anwendet, welche Konsequenzen übt es auf die Wahrnehmung des Hörers von dem Klangregisseur im Sinne als Darbietender und Darstellender aus? Der Interpret in der Instrumentalmusik ist aus klanglicher Sicht produzierend79 tätig – seine Instrumente spielen nicht von selbst und benötigen sein immanentes Eingreifen – und er kann in seinem Tun beobachtet werden. Der Hörer erlangt durch das Zuschauen u. U. einen Erkenntnisgewinn gegenüber der Musik, weil er sieht, wie und mit welchem energetischen Aufwand sie produziert wird. Dieser Erkenntnisgewinn resultiert aus der Kopplung zwischen gestischem Einsatz des Interpreten und klanglichem Resultat. Man stelle sich vor, ein Geiger erhöht den Bogendruck, um den Ausdruck einer Stelle hervorzuheben. Diese Aktion lässt sich zum einen an seiner Gestik im Arm und in der Hand ablesen (als Anspannung oder Anstrengung) sowie ggf. auch in seiner Mimik. Die Geige würde sodann knirschender und rauer erklingen. Dabei ist aber die Geste ein notwendiges Mittel zum Zweck, den Klang der Geige zu verändern: Ohne erhöhten Druck würde sich dieses ‚raue‘ nicht einstellen. Der musikalische Effekt steht dabei aber im Vordergrund. Der Erkenntnisgewinn für den Zuhörer liegt nun in der Tatsache begründet, dass er sieht, wie das, was er hört, gemacht wird und ggf. seine auditive Wahrnehmung schärfen kann, indem er gezielt auf die klangliche Reaktion einer visuellen Aktion hört. Da der Klangregisseur demgegenüber nun mit vorproduzierten Klängen hantiert, erklingt die Musik bereits quasi ohne sein Zutun (von dem Starten und Stoppen der Wiedergabe abgesehen). Es eröffnet sich bei der Aufführung eine zeitliche und örtliche Trennung zwischen Produktion und Wiedergabe, die zur Folge hat, dass der Hörer nicht mehr sieht, wie die Musik gemacht worden ist.80 Es fehlt somit ein gewisser Erkenntnisgewinn gegenüber der Musik, der sich durch das Beobachten der Interaktion des Klangregisseurs mit der Technologie einstellen könnte. Aus Sicht des Hörers liegt das vor allem an der Aufhebung der Kopplung zwischen Aktion des eingegangen. 79 Aus kompositorischer Sicht reproduziert er aber durch sein Spielen eine vom Komponisten geschaffene Komposition. 80 Zumindest im Fall sogenannter Tonbandmusik. Im Fall der Live-Elektronik kann sich ein anderer Eindruck einstellen. Das Einschließen der Betrachtung der Live-Elektronik in diesem Zusammenhang würde aber die Darstellung unnötig verkomplizieren und verlängern, weshalb auf sie hier nicht näher eingegangen wird. 35 Klangregisseurs und Reaktion des Klangs, da die Geste, mit der der Klangregisseur eine Klangfarbe verstärken kann, energetisch gesehen nicht im Zusammenhang mit dem entsprechenden Klangeindruck stehen muss. Ob der Klangregisseur den Fader nun langsam bewegt, bedeutet nicht gleichzeitig, dass sich der Klang entsprechend langsam bewegt. Vielmehr kann der Klang sich chaotisch verhalten, mal laut, mal leise, mal abbrechend erscheinen (je nach Komposition). Die Tätigkeit des Klangregisseurs mit seiner langsam Bewegung des Faders würde in diesem Fall auf eine von ihm von außen auf den Klang aufgetragene Bewegung hinweisen, nämlich z. B. auf ein hervorhebendes Crescendo oder Decrescendo. Dieser Unterschied wird dem Hörer als solches aber nicht unbedingt klar, da er die Vorlage, auf die sich der Klangregisseur bezieht, nicht unbedingt kennen muss, es sei denn, er hat die Komposition schon mehrmals gehört und erinnert sich an ihren Verlauf. Somit wohnt dem Eingriff des Klangregisseurs dann eher das Moment des Korrigierens bzw. des Betonen des Energetischen inne. Die Problematik des fehlenden musikalischen Erkenntnisgewinns des Hörers beim Betrachten des Klangregisseurs liegt auch in dem für den Zuhörer unbekannten Zusammenhang zwischen Fader und Lautsprecher (z. B. auch aufgrund mangelnder Übersicht). Er kann nun nicht mehr direkt einzelne Aktionen des Klangregisseurs nachvollziehen, sondern lediglich hinnehmen – ein Eindruck, den Antje Vohinckel treffend mit dem Fliegen vergleicht: Der Passagier versteht durch Beobachtung nicht unbedingt, wie der Pilot das Flugzeug fliegt81, sondern sieht höchstens, dass der Pilot scheinbar ‚wahllos‘ an irgendwelchen Knöpfen und Reglern dreht, die irgendeine wichtige oder weniger wichtige Funktion ausführen. Der Passagier ist lediglich mit dem Ergebnis der Tätigkeit des Piloten konfrontiert (= dem Fliegen), bleibt aber im Verständnis des Handelns des Piloten außen vor. Die Mimik des Klangregisseurs hilft dem Hörer beim Verstehen der Interaktion des Klangregisseurs mit der Technik aus dem selben Grund (mangelnder Zusammenhang zwischen Aktion und Reaktion) ebenso wenig weiter. Somit sind die Klangregisseure in ihrer Darbietung bei akusmatischer Musik zwar anwesend, vor allem aufgrund ihrer häufig exponierten Lage in der Mitte des Publikums, könnten aber aus Sicht des Hörers auch abwesend sein. Da der bei einer Performance wichtige Bezug zwischen Dargestelltem und Gehörtem fehlt oder ungenügend deutlich ist, sollte (im Deutschen) auch 81 Antje Vohwinckel, „Blackbox in Concert”, unveröffentlichtes Manuskript 2008, S. 2ff. 36 nicht vom Klangregisseur als Performer gesprochen werden. Denn bei einer Performance ist die visuelle Tätigkeit ebenso wichtig, wie das Klangergebnis.82 Es ergibt sich die für akusmatische Musik eigentümliche Situation, dass der Klangregisseur, ebenso wie die Lautsprecher, vom Zuhörer als visuell abwesend betrachtet werden sollten. Dies erinnert an Pythagoras und seine Schüler, „Akusmatiker“ genannt, die durch einen Vorhang räumlich von ihm getrennt waren, damit sie sich mehr auf seine Worte konzentrierten.83 Dabei kommt dem Lautsprecher dieselbe Funktion zu Teil, wie es der Vorhang bei den Schülern hatte. Aufgrund der visuellen Abwesenheit von Klängen und Darbietendem kann vorgeschlagen werden, um Missverständnisse zu vermeiden, die bei der Verwendung von ‚Interpretation‘ im Zusammenhang mit akusmatischer Musik entstehen könnten84, das Wort ‚akusmatisch‘ der Interpretation bzw. dem Interpreten voran zu stellen.85 So wird auch in Worten aus einer beobachtbaren Interpretation eine nur hörbare Darbietung – das Darstellende des Klangregisseurs wird somit als sekundär bezeichnet. Wie das Wort ‚akusmatisch‘ bei akusmatischer Musik die Verschleierung der Klangquellen andeutet, würde es bei ‚akusmatischer Interpretation‘ die Unsichtbarkeit der Wirkung der Tätigkeit des Klangregisseurs suggerieren. Zusammenfassend gesagt, ist mit akusmatischer Interpretation somit ein Ausdruck gefunden worden, mit dem die Bandbreite der Tätigkeit des Klangregisseurs bei einer Aufführung beschrieben werden kann. Er umreißt ein (ggf. darbietendes) Korrigieren, Übertreiben oder gar Extrapolieren musikalischer Diskurse der Komposition. Dies ähnelt nun Denis Smalleys Definition von sound diffusion, so dass geschlussfolgert werden kann, dass ‚akusmatische Interpretation‘ als eine deutsche Entsprechung von sound diffusion gelten darf. In wie weit nun ein spezieller technischer Aufbau dem Klangregisseur bei der Ausführung seiner akusmatischen Interpretation helfen kann, zeigt das folgende Kapitel. 82 83 84 85 Vgl. dazu Hermann Danuser, Art. „Neue Musik“, in: MGG2, Sachteil Bd. 7, Kassel u. a. 1997, Sp. 109. Bayle 2003, S. 181f. Vgl. dazu das Problem der unsichtbaren, reproduzierenden Tätigkeit des Interpreten. Was sehr sinnvoll erscheint, wenn man bedenkt, das „Akousma“, aus dem Griechischen kommend, auditive Wahrnehmung bedeutet. Vgl. Bayle 2003, S. 181. 37 IV Akusmatische Beschallungssysteme Das Konzept des akusmatischen Beschallungssystems wurde in der Einleitung und im vorherigen Kapitel grob gestreift und soll hier nun detailliert anhand der folgenden Fragestellungen beschrieben werden: • Wie werden Lautsprecher zu einem akusmatischen Beschallungssystem und wie bilden sie damit Gestaltungsmittel für eine akusmatische Interpretation? • Welche Ansätze gibt es für solche akusmatischen Beschallungssysteme? • Welche technischen, ästhetischen Probleme erwachsen daraus? • Welche Vor- und Nachteile ergeben sich aus ihrem Einsatz und unter welchen Gesichtspunkten ist ihr Einsatz sinnvoll? Stereophone Werke, wie in Kapitel II mehrfach praktisch belegt wurde, erleiden in einer Aufführungssituation für mehr als einen Hörer Probleme in der Darstellung – die komponierte konkrete Raumwahrnehmung stellt sich außerhalb der Hörsituation des Studios bedingt oder nur für wenige Hörer ein.86 Zur Lösung dieser Probleme wurde in den 1970er Jahren das Konzept des akusmatischen Beschallungssystems geschaffen. Auf welche Weise dies erreicht wird, zeigt Kapitel IV.1. Erste Vertreter dieser Systeme stellen das Cybernéphone87 von 1973, damals unter der Bezeichnung Gmebaphone laufend, das Acousmonium88 von 1974 und das BEAST89 von 1982 dar. Sie können, wie in Kapitel IV.1.2 erkenntlich werden wird, als Archetypen der akusmatischen Beschallungssysteme gelten. Da aber die Probleme der stereophonen Wiedergabe aus den Eigenschaften der Aufführungsräume und Lautsprecher resultieren, gelten sie ebenso für Mehrkanalwerke. Deshalb lässt sich das Konzept des akusmatischen Beschallungssystems auch mit gewissen Einschränkungen auf mehrkanalige Werke übertragen; ein Vorgang, der in Kapitel IV.2 beschrieben werden wird. 86 Man denke da an die Diskussion, wo im Raum 009 der Unterschied zwischen nahen und fernen Klängen annähernd verschwindet. Oder vgl. Harrison 1999, Abschnitt „Diffusion – theory and practice“. John Dack gibt als Motivation für die Entwicklung des akusmatischen Beschallungssystems auch den begrenzten Dynamikumfang vom Tonband an. Vgl. John Dack, „Diffusion as Performance”, Systems Research in the Arts 3 (2001), <www.cmt.cl/material_festival/Diffusionasperfomamance.doc> 12.5.2009, S. 3. 87 Clozier 1998, S. 81 88 Bayle 2003, S. 183 89 Birmingham Electroacoustic Sound Theatre (BEAST), siehe „Electroacoustic Music Studios / BEAST“, <http://www.beast.bham.ac.uk/> 12.5.2009, oder James Mooney, Sound Diffusion Systems for the Live Performance of Electroacoustic Music. An Inclusive Approach led by Technological and Aesthetical Consideration of the Electroacoustic Idiom and an Evaluation of Existing Systems, PhD Diss. University of Sheffield 2005, S. 135. 38 IV.1 Der funktionalisierte Lautsprecher IV.1.1 Idee Anstatt zu versuchen, den Einfluss des Aufführungsraum und der Aufführungslautsprecher auf die Wahrnehmung des Hörers auszublenden bzw. zu minimieren, wird ihr Einfluss zum Gestaltungsmittel erhoben und mit Hilfe einer Vielzahl von Lautsprechern in spezieller Konfiguration nutzbar gemacht. Kolorierte bzw. diffus-erklingende Lautsprecher in Verbund mit ‚unverfärbten‘90, also direkt und neutral erklingenden Lautsprechern werden nun bewusst genutzt, um Räumlichkeiten oder Klangfarben innerhalb einer Komposition herauszuarbeiten. Die gefärbten bzw. ungefärbten Lautsprecher erklingen dabei nicht alle gleichzeitig, sondern nur jeweils eine Auswahl davon, entsprechend der momentanen Situation in der Komposition, indem die einzelnen Lautstärken der Lautsprecher vom Klangregisseur am Mischpult aufeinander abgestimmt werden. Zusammen, also alle Lautsprecher und das Mischpult, bilden sie das jeweilige akusmatische Beschallungssystem. Der Kontrast zwischen den gefärbten und ‚ungefärbten‘ Lautsprechern soll nun auf die Kontraste im Material bzw. in der Struktur der Komposition verweisen. Aufgrund dieses Verweises nun ist das Nachzeichnen91 und damit das (subjektive) Reproduzieren des musikalischen Diskurses durch den Klangregisseurs auch unter Nicht-Studio-Umgebungen möglich. Somit wird quasi nicht direkt die Komposition im Aufführungsraum abgebildet, sondern vielmehr ihr Klangbild (siehe unten) mit ihren Relationen im Material und ihrer Struktur. Damit wird die Tätigkeit des Nachzeichnens zum essentiellen Faktor während einer Aufführung. Ein mangelhaftes Nachzeichnen stört nun nicht mehr nur das Klangbild an sich, sondern vor allem die komponierten Relationen.92 Zu bemerken ist ferner, dass nicht der einzelne Lautsprecher gefärbt oder ungefärbt ist, sondern allgemein betrachtet immer eine Gruppe von Lautsprechern in der Anzahl der Kanäle der Komposition (allgemein formuliert: 2 für Stereo, 4 für Quadro, etc).93 Denn das komponierte 90 ‚Gefärbt‘ soll sich von nun an nicht nur auf die Klangfarbe beziehen, sondern auch die räumliche Färbung mit einschließen, die entsteht, wenn Lautsprecher aus großer Entfernung gehört werden. 91 ‚Nachzeichnen‘ meint, dass der Klangregisseur den räumlichen, klangfarblichen und dynamischen (Lautstärke) Verlauf der Struktur der Komposition mit Mitteln des akusmatischen Beschallungssystems imitiert (oder übertreibt). Durch das Herausarbeiten des Verlaufs ergibt sich bei der Aufführung idealer Weise ein Erkenntnisgewinn gegenüber einer unvermittelten Darbietung. 92 Vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen der Wiedergabelautstärke in Kapitel III.1. 93 Vgl. Kapitel IV.2. 39 Klangbild als solches soll ja immer komplett erscheinen. Man verschiebt oder manipuliert sozusagen deshalb ‚immer‘ alle Audiokanäle der Komposition.94 Ein Beispiel dazu aus einer stereophonen Komposition: Eine komponierte Klangbewegung von links nach rechts, die in einer auf beiden Kanälen liegenden Klangfläche (Textur) eingebettet ist, soll im Aufführungsraum von links vorn nach rechts hinten projiziert werden. Um die Klangfläche nicht zu stören, müssten also beide Kanäle komplett beachtet werden. Damit das Klangbild nicht seitlich kippt, (es sei denn, man will diesen Effekt), kann man also nicht nur den linken Kanal nur links-vorn, den rechten Kanal nur hinten-rechts abbilden, sondern müsste dynamisch die Lautstärke der beiden vorderen Lautsprecher gegenüber den zwei hinteren Lautsprechern allmählich reduzieren und der Klang würde sich aufgrund der Lautstärkeunterschiede von vorn nach hinten bewegen (Panning per Lautstärke). Die Lage der Klangfläche würde dabei in ihrer Links-Rechts-Balance nicht gestört werden, würde sich nun aber ebenfalls, sozusagen als Nebenwirkung, zusammen mit dem Rest der Klangbewegung hinten befinden. Man kann also einzelne Klänge innerhalb eines polyphonen Klangbildes nicht getrennt bewegen, sondern lediglich ihr Gesamtbild.95 Es zeigt sich hier das dem Klang von außen überlagerte (übergeordnete) Einwirken des Klangregisseurs (vgl. Kapitel III.4). Doch zunächst erstmal zurück zu den Lautsprechergruppen. Die Lautsprechergruppen sind aufgrund ihrer Färbung oder Nicht-Färbung untereinander nicht mehr ‚gleich‘, sondern erhalten dadurch innerhalb ihrer Gemeinschaft eine spezifische Funktion bzw. Rolle, die ihrem Klangcharakter entspricht.96 Ob dieser Klangcharakter nun künstlich durch Filterung oder Platzierung erreicht wird, ist dabei nebensächlich. Die einzelnen Funktionen können nun heißen, bezogen auf die Beispiele im Kapitel II: ‚grell‘ bzw. ‚scharf‘, wie das Klangbild der Electrovoice Evid beschrieben werden könnte, gegenüber ‚klar‘ bzw. ‚neutral‘, wie das der Meyer-Lautsprecher, oder ‚entfernt‘, wie die in die Ecke, rückwärtig zum Hörer strahlenden Lautsprecher, gegenüber ‚nah‘, wie die unmittelbar zum Hörer platzierten Lautsprecher genannt werden könnten. Wenn also eine Stelle etwas ‚greller‘ erklingen soll, könnte man diesen Eindruck durch Einsatz der Evid verstärken; wenn sie von weiter weg 94 Eine Ausnahme von der Gleichbehandlung der Audiokanäle können störende, nicht bedeutungstragende Ungleichgewichte bilden, die man durch eine differenzierte Behandlung der Kanäle korrigieren könnte. Ein Beispiel hierzu wäre die Frage der Balance zwischen den Kanälen Links-Recht bei Stereowerken oder zwischen den Kanälen für vorn und hinten bei Mehrkanalwerken. Denn die Definition der Balance hängt stark von der Hörposition ab, siehe die Diskussion zum sweet spot in Kapitel II.3. 95 Der französische Ansatz des akusmatischen Beschallungssystems erlaubt u. U. das nachträglich getrennte räumliche Verschieben von Klängen. Vgl. Kapitel IV.1.2, S. 45. 96 Aufgrund dieser Rolle könnte man die Lautsprecher nun als Instrumente bezeichnen. Vergleiche hierzu Cloziers Argumentation in Clozier 1998, S. 234 und S. 237. Ob nun aber den Lautsprecher an sich, oder die Gesamtheit aus Lautsprecher und Mischpult als Instrument bezeichnet wird, ist für diese Arbeit nebensächlich. 40 erklingen soll, reduziert man die Lautstärke der nahen Lautsprecher und hebt die Lautstärke der entfernten Lautsprecher an. Zusammengefasst formuliert lassen sich so nun über Lautstärkeveränderungen der Lautsprecher nicht nur Vorn-Hinten-Bewegungen erzeugen, sondern auch Klangfarben und Räumlichkeiten der Komposition akusmatisch interpretieren – also die Relationen des Werks im Aufführungsraum nachzeichnen. Welche Rollen von Lautsprechern potentiell überhaupt vorkommen, hängt vom jeweiligen Ansatz ab. Zu unterscheiden sind dabei allgemein zwei Vorgehensweisen, in denen jeweils eine verändernde Eigenschaft der Lautsprecher bzw. des Aufführungsraums besonders hervorgehoben ist: die französische Tradition, die die Lautsprecher hauptsächlich anhand ihrer Klangfarbe bzw. ihres beschränkten Frequenzgangs im Raum verteilt (Parameter Klangfarbe), und die englische Tradition, die größtenteils Breitbandlautsprecher in unterschiedlichen Distanzen zum Hörer platziert (Parameter Hörposition). IV.1.2 Traditionen Die französische Vorgehensweise beschreibt François Bayle in „Musique acousmatique“ anhand seines Acousmoniums.97 Dort wird das Klangbild in fünf Register (= Frequenzbereiche) zur räumlichen Verteilung aufgetrennt und zusätzlich um sogenannte ‚Solisten‘ erweitert. Die ‚Solisten‘ sollen dabei das komplette Spektrum wiedergeben und dadurch als (klangfarbliche bzw. räumliche) Referenz dienen. Auch ermöglichen sie die Wiedergabe von Klangobjekten, bei denen die räumliche Auftrennung des Spektrums unangebracht ist. Die fünf Register wiederum bestehen aus sogenannten „Kontrabasslautsprechern“, die den unteren Frequenzbereich von 20400 Hz abdecken, aus einer Kette von Hochfrequenzlautsprechern im Bereich von 4000-16000 Hz, sowie Lautsprechern verschiedener Größe („Kaliber“) und Klangfarbe für den Mittenbereich in verschiedenen Distanzen und Positionen zum räumlichen Ausdeuten der verschiedenen Spektralbereiche.98 Zu den konkreten Positionen der einzelnen Lautsprecher bleibt Bayle etwas ungenau, weil diese Positionen von den Gegebenheiten abhingen, die sich aus den Kompositionen und der Aufführungsituation ableiten würden.99 Zumindest ergeben die Lautsprecher, entsprechend der Analogie zum Orchester, wenn sie hauptsächlich frontal und ggf. 97 Bayle 2003, S. 183; François Bayle, Musique acousmatique, Bry-sur-Marne u. a. 1993, S. 45; François Bayle, „Le futur anterie. Ou origines et conséquences du ‚concept-acous‘”, in: Bernard Fort (hrsg.), Vers un art acousmatique, Lyon 1991, S. 12. 98 Bayle 1994, S. 45. 99 Bayle 2003, S. 183. 41 asymmetrisch zum Publikum aufgestellt werden, eine bühnenähnliche Hörsituation100 (siehe Abbildung 6). Abbildung 6: Aufbauvariante des Acousmonium. Quelle: Bayle 2001, S. 12. „Sur-aig“ für die Hochtonlautsprecher, drei Gruppen aus Mitteltonlautsprecher (brilliant, klar, hohl/tief), zwei Solisten und die Kontrabasslautsprecher. Mit solch einem akusmatischen Beschallungssystem lassen sich die klangfarblichen Diskurse räumlich wiedergeben, gestalten bzw. orchestrieren, wie Bayle es beschreibt.101 Aufgrund der Anlehnung der Aufteilung der Frequenzbereiche an ein Orchester wird sein Konzept auch als „Lautsprecherorchester“102 bezeichnet; er selbst nennt es Acousmonium103 – quasi als Wortschöpfung aus „akusmatisch“ und vielleicht „Harmonium“. Die englische Vorgehensweise wird von Jonty Harrison in „Diffusion – Theories and practises“104 beschrieben. Sie schlägt sich im Aufbau seines BEAST105 wieder. Hier wird die symmetrische Positionierung von Breitband-Lautsprecher zum Gestaltungsprinzip erhoben (siehe Abbildung 7). Die Main-Eight106 – also der Kern des BEAST-Konzepts – umfassen vier abstrakte Positionen: „main“ für ein enges, stark fokussiertes Stereobild, recht nah zum Publikum, „wide“ für stark ausgedehntes, breites Stereobild, ebenfalls recht nah zum Publikum, „distant“ für ein zum Publikum entferntes, durch den Aufführungsraum stark verhalltes Stereobild, und „rear“ für 100 „Ears: Electroacoustic Resource Site. Loudspeaker Orchestra“, <http://www.ears.dmu.ac.uk/spip.php? rubrique245> 5.7.2009. 101 Bayle 2003, S. 183. 102 Mooney 2005, S. 199. 103 Bayle 1993, S. 44. Bayle 2003, S. 183. 104 Harrison 1999. Vgl. dazu auch Mooney 2005, S. 202. 105 „Electroacoustic Music Studios / BEAST“, <http://www.beast.bham.ac.uk/> 12.5.2009. 106 Dies sind 8 Hochleistungslautsprecher angeordnet in vier stereophonen Paaren. 42 ein hinter dem Publikum aufgebautes Stereopaar.107 Das System kann beliebig mit weiteren Lautsprechern an unterschiedlichen Positionen erweitert werden, um die räumliche Ausgestaltung des Systems weiter zu verfeinern.108 Auch hier wird der frontale Bereich stärker ausgestaltet als der rückwärtige. Es ergibt sich ebenfalls eine etwas bühnenartige Situation. Bereits im Grundaufbau lassen sich die räumlichen Diskurse einer akusmatischen Komposition nachzeichnen, da er reelle Entsprechungen für die komponierten Grundraumeindrücke gibt (nah, breit, fern und hinten). Trotz der festgelegten Positionen, wo die Lautsprecherpaare prinzipiell platziert werden sollen (= abstrakte Positionen), sagt dies noch wenig über die tatsächliche Position aus. Beispielsweise hängt das entfernt erscheinende Lautsprecherpaar stark von der Aufführungssituation ab. Denn in akustisch trockenen Räumen reicht die Verhallung des Aufführungsraums und das Abstandsgesetz nicht aus, um eine ‚große‘ Entfernung zu simulieren. So könnten sie daher gegen eine Wand strahlen, um den Weg der Schallwellen zu verlängern und das Hören des Direktschalls der Lautsprecher vom Publikum zu unterbinden. Bei akustisch stark verhallten Räumen kann die Distanz des Lautsprecherpaars zum Publikum geringer ausfallen, da die Entfernungswirkung schon früher erreicht wird (vgl. Kapitel II.2 bzw. II.3). Dies zeigt, dass man im BEAST in abstrakten Positionen denkt, aus denen wiederkehrende Relationen entstehen, wodurch die einzelnen konkreten Aufbauvarianten untereinander kompatibel bleiben oder zumindest sich ähneln. Es verdeutlicht außerdem, dass der Aufbau flexibel den räumlichen Gegebenheiten angepasst werden kann; er darf also als gewisse Variable aufgefasst werden. Beiden Ansätzen wohnen gewisse Gemeinsamkeiten und Unterschiede inne. In wie weit sich diese Unterschiede in Vor- bzw. Nachteile der Ansätze äußern, obliegt dem Betrachter (bzw. der Eignung der Komposition für das jeweilige akusmatische Beschallungssystem). Beide akusmatische Beschallungssystemtypen sind ursprünglich für stereophone Werke gedacht, die dann mit ihrer Hilfe räumlich interpretiert werden können; wohingegen die französische Tradition hier eher den Schwerpunkt auf das räumliche Moment der Klangfarben legt, während die englische Tradition eher die Ausgestaltung der Räumlichkeiten durch Klangbewegung betrachtet. So kann im französischen Fall auf einen symmetrischen Aufbau verzichtet werden, da die Links-Rechts-Balance beim Thema Klangfarbe nicht mehr entscheidend sein muss. Das 107 Vgl. Mooney 2005, S. 108 oder Harrison 1999. 108 Siehe Harrison 1999. 43 Abbildung 7: Möglicher Aufbau des BEAST. Quelle: Mooney 2005, S. 108. Die „main eight“ bilden sich aus „distant“, „main“, „wide“ und „rear“. Sie sind erweitert um „tweeters“ (Hochfrequenzlautsprecher), „roof“ für von der Decke herunter strahlende Klänge, „punch“ zum Verstärken von Druck und Härte, „very distant“ für verstärkte Fernwirkung, „side“ zum Erhöhen des Gefühls der Umhüllung und „B“ (= Subwoofer) für bessere Tiefenwiedergabe. Als Detail am Rande: Die Subwoofer sind hier seitlich auf Höhe der Mitte platziert und nicht frontal, wie bei anderen Sound-Diffusion-Systemen. Ich gehe davon aus, das der seitliche Aufbau eine höhere Umhüllung und ungerichtet erklingt und somit einen Kontrast zur „Punch“-Position bildet. Vgl. dazu Griesinger 2005, Folie 8. Diktat des sweet spots kann so gelindert werden109, während es im englischen Fall weiterhin bestehen bleibt, da ja eher die räumliche Tiefe der Komposition ausgestaltet wird und die LinksRechts-Balance für den Erhalt von Klangbewegungen wichtig bleibt. 109 Siehe Franz-Martin Olbrisch, „Einige Gedanken zum Akusmonium der INA-GRM”, in: Frank Hilberg (hrsg.), Franz Martin Olbrisch: Algorithmus und Event – Komponieren als wissendes Suchen, Saarbrücken 2008, S. 74. 44 Beide Ansätze legen die Rollen der Lautsprecher auf abstrakte Weise fest, lassen aber genug Spielraum für die Umsetzung der Rollen im konkreten Aufführungsfall. Der Grad der Festlegung unterscheidet sich hierbei aber stark.110 Denn Bayle macht zu den einzelnen Trennfrequenzen und den Positionen der Lautsprechergruppen nur bedingt Aussagen, so dass sich die einzelnen konkreten Varianten voneinander stark unterscheiden können (Wo befindet sich welche Klangfarbe im Raum?).111 Das hat zwar den Vorteil der Flexibilität, die aber als negativen Beigeschmack die Konfiguration und das Einarbeiten in das jeweilige System erschwert und somit einen höheren Zeitaufwand zur Folge hat. Harrisons Ansatz der abstrakten Positionen besitzt als Kern die Main-Eight, die als wiederkehrende Konstante in den konkreten Umsetzungen die Einarbeitungszeit reduziert. Die zusätzlichen Effektlautsprecher, die als optionale Komponente ins Spiel kommen, können leicht integriert werden, da sie als Ausdifferenzierungen der Main-Eight verstanden werden können. Insgesamt kann auch dies die Einarbeitungszeit erheblich reduzieren.112 Die Eingriffsmöglichkeiten der französischen Tradition in die Klangfarbe können als ambivalent betrachtet werden. Die Klangfarbenauftrennung erlaubt dem Klangregisseur u. U. das getrennte Bewegen von Klangobjekten im Aufführungsraum, solange sie sich in separaten Frequenzbereichen befinden.113 Es könnte damit also stärker in das Innere des Klangbildes eingegriffen werden, als dies beim BEAST der Fall wäre. Die Auftrennung der Spektralbereiche erzeugt aber den weiteren Nebeneffekt, dass nämlich eine räumliche Bewegung entsteht, wenn ein Klangobjekt über die Zeit verschiedene Frequenzbereiche passiert. Letzteres kann durchaus stören, wenn das Klangobjekt durch das räumliche Aufteilen seine räumliche Gestalt verliert. Dem sollen zwar die Solisten entgegenwirken, doch gibt es von ihnen im ursprünglichen Konzept zu wenige Gruppen an unterschiedlichen räumlichen Positionen.114 Auch fällt es sicherlich schwieriger, die spektrale Balance einer Komposition durch die vielen gefärbten Lautsprecher nicht völlig zu verfälschen.115 110 Hans Tutschku, „On the Interpretation of Multi-Channel Electroacoustic Works on Loudspeaker-Orchestras: Some Thoughts on the GRM-Acousmonium and Beast”, 2001, <http://tutschku.com/content/interpretation.en.php> 12.5.2009. 111 Beim Cybernéphone werden die Trennfrequenzen und abstrakten Positionen ähnlich wie beim BEAST konzeptionell festgelegt. Vgl. dazu Abbildung 8. 112 Tutschku 2001. 113 Vgl. dazu die Ausführungen S. 40. 114 Vgl. hier das Cybernéphone mit seinen vielfältig platzierten Referenzlautsprechern. Siehe Christian Clozier, „The gmebaphone concept and the cybernephone instrument”, in: Computer Music Journal 25, Nr. 4 (2001), S. 86. 115 Tuschku 2001. 45 Bei der englischen Tradition treten die klangfarblichen Besonderheiten konzeptionell nicht auf; doch auf der korrespondierenden Vergleichsebene der räumlichen Ausgestaltung kann auch hier die Einflussnahme nicht nur ein Segen sein. Denn sie steht ja für eine räumliche Ausdehnung, also für ein Anpassen der räumlichen Skalierung des Stereobildes. Das ist sicherlich praktisch, da hier die Dimensionen, die die Komposition durch den Umstand der Aufführung in unterschiedlichen Raumgrößen bekommt, durch den Klangregisseur beeinflusst werden können. Doch kann auch hier ein übermäßiges, vor allem der Geschwindigkeit des Klangobjekts unpassendes Ausdehnen Bewegungen verzerren oder unklar erscheinen lassen.116 IV.1.3 Konsequenzen Die einzelnen Unterschiede der akusmatischen Beschallungssysteme und die daraus folgenden Vor- bzw. Nachteile zeigen, wie wichtig die Eignung der Komposition für den jeweiligen Typ des akusmatischen Beschallungssystems ist – die Frage der Kompatibilität tritt auf. Eine Komposition, die hauptsächlich Prozesse von Klangfarben thematisiert, gewinnt im Vergleich zum französischen Ansatz nur bedingt von einer akusmatischen Interpretation mit Hilfe der englischen Variante. Der umgekehrte Fall, bei dem vor allem räumliche Bewegungen thematisiert werden, gewinnt nur bedingt vom französischen Ansatz. Deshalb muss dem Komponisten bzw. Klangregisseur im Vorfeld klar sein, für welche Variante der akusmatischen Interpretation er komponiert bzw. ein Werk komponiert worden ist, damit die jeweiligen Möglichkeiten sinnstiftend ausgeschöpft werden können. Die Wechselwirkung von akusmatischer Interpretation und Komposition wird hier wiederum deutlich. Damit sich nun die Eignung der akusmatischen Beschallungssysteme für verschiedene Kompositionsweisen erhöht, werden in der Praxis die beiden Ansätze gern vermischt. Da man den Frequenzgang eines Lautsprechers durch Filterung nicht vergrößern kann, müssten, um den englischen Ansatz in einem französischen akusmatischen Beschallungssystem zu integrieren, zusätzlich Breitbandlautsprecher aufgestellt werden. Man kann dies schön im Cybernéphone von Bourges beobachten. Es besteht nicht nur aus vielen frequenzbandbegrenzten Lautsprechern, deren Frequenzbereich und Positionen dem Konzept von Bayle entsprechen, sondern integriert an BEAST-ähnlichen Positionen, also Mitte, Ferne, Breite, Hinten (usw.) 116 Vgl. dazu Punkt 2 von Bayle‘s Grundannahmen, in dieser Arbeit auf S. 48. 46 Breitbandlautsprecher (siehe Abbildung 8).117 Allerdings sollte man hier beachten, dass diese Breitbandlautsprecher u. U. eine andere Bedeutung als beim BEAST erhalten könnten, da sie beispielsweise mit Raum- und Zeittransformationseffekten belegt werden können118. Sie könnten somit einen anderen Klangeindruck erwecken. Der Vergleich ist also mit Vorsicht zu genießen. Andersherum könnte das BEAST mit seinen Breitbandlautsprechern durch Filterung zumindest die klangfarbliche Funktionsweise des französischen Ansatzes imitieren. Angewendet wird dies beispielsweise in den für das Acousmonium typischen Bäumen aus Hochtönern. Jedoch unterscheidet sich im französischen und englischen Ansatz die Platzierung der Lautsprecher, wie das im Vergleich der beiden Abbildungen 6 und 7 zu sehen ist. Das „distant“- und „very-distant“Lautsprecherpaar müssten beispielsweise zum Publikum gedreht werden, das „wide“-Paar könnte die mittleren bis hohen Frequenzen übernehmen. Ob man damit aber dann die Funktionsweise des Cybernéphone wirklich sinnvoll imitieren kann, bleibt fraglich. Eher wird man auch hier den bestehenden Aufbau so belassen und um zusätzliche gefilterte Lautsprecher erweitern. Man kann also nicht so ohne weiteres die Kompatibilität der akusmatischen Beschallungssysteme erhöhen, wie man das an den oberen Beispielen sah. Das Integrieren weiterer Lautsprecher in das System, die die Aufgabe einer anderen Variante der akusmatischen Interpretation verfolgen, erhöht den Verwaltungs- und Aufbauaufwand und damit auch den Zeitaufwand beim Planen, Aufbauen und Üben. Man kommt hier an praktische Grenzen: Denn es ist für den Klangregisseur nicht einfach, sich in einem komplexen Netz von Lautsprechern zurecht zu finden, da im Idealfall ja sämtliche Positionen der Lautsprecher und ihrer Repräsentation (durch Fader) auf dem Mischpults erinnert werden müssten.119 Je mehr Fader es werden, desto schwieriger wird das Verinnerlichen ihrer Wirkung, wie auch die Handhabung des Systems immer schwieriger wird. U. U. müssten weit auseinander liegende Fader bewegt werden und auch Fehlgriffe könnten nicht ausbleiben.120 117 Vgl. Clozier 2001, S. 86. 118 Vgl. Clozier 2001, S. 87. 119 Beschriftungen der Fader helfen auch nur bedingt, da sie, solange sie nicht nur als Symbole ausgedrückt werden, recht langsam zu lesen sind, wie z. B. wegen mangelndem Licht und Zeit oder ggf. ungeeigneter Perspektive zum Lesen, usw. 120 Ein Punkt, der mit Hilfe weiterer intelligenter Computertechnologie vereinfacht werden könnte. Vgl. dazu Mooney 2005, S. 285ff. 47 Abbildung 8: Cybernéphone von 1997. Quelle: Clozier 2001, S. 86. Die Referenzlautsprecher heißen hier A-G und könnten mit BEAST-ähnlichen Positionen verglichen werden (E = wide, A = distant, G = rear, B, D und F erlauben sind hier Raum- und Zeit-Transformationen. Vgl. S. 87). Die V-Systeme entsprächen der französischen Tradition der frequenzbandbegrenzten Lautsprecher. Aus der Besprechung der zwei Ansätze für akusmatische Beschallungssysteme kristallisieren sich ein paar Grundbedingungen heraus, die gelten, wenn der Klangregisseur eine akusmatische 48 Komposition auf einem akusmatischen Beschallungssystem interpretiert. Sie wurden von Bayle121 mit implizitem Bezug zum Acousmonium formuliert, können aber auch etwas verallgemeinert für andere akusmatische Beschallungssysteme verwendet werden. Die Bedingungen lauten in meiner Reihenfolge wie folgt und werden anschließend erläutert: 1. Die Komposition muss sich für solch ein Verfahren eignen. 2. Es muss ein geeignetes Interpretationskonzept vorhanden sein. 3. Es muss eine hinreichende Verteilung der Klangfarben bzw. Lautsprecher im Raum existieren.122 4. Es sollte eine geringe Anzahl von Eingangskanälen vorhanden sein. Die Eignung der Komposition für eine spezifische Art der akusmatischen Interpretation hängt von ihren thematisierten Parametern ab, wie das am Beginn dieses Unterkapitels bereits konkret erläutert wurde. Allgemein formuliert müssen die Parameter, mit der die Komposition operiert, mit denen korrelieren, die das akusmatische Beschallungssystem als Gestaltungsmittel anbietet. Dies sind hauptsächlich die Parameter Klangfarbe und Raum. Ein geeignetes Interpretationskonzept hilft, Schäden an der Komposition durch mangelhafte Interpretation zu vermeiden. Nicht nur Fragen des Erhalts von Räumlichkeiten, Klangfarben und Wiedergabelautstärken stehen zur Diskussion (siehe Kapitel III), sondern auch Fragen des Timings, da ja Klangbewegungen erhebliche Beeinträchtigungen erleiden, wenn sie durch inadäquate Weise, zum Beispiel zu langsam, im Aufführungsraum nachgezeichnet werden. Tutschku benennt dieses Negativbeispiel treffend als eine der Komposition „hinterher hinkende“ Interpretation.123 Die Interaktion mit der Technologie, sowie die einzelnen Beziehungen der Lautsprecher untereinander können derartig komplex werden, dass der Interpret in gewissen Grenzen im Vorfeld wissen muss, was er später auf welche Art interpretieren und üben möchte. Außerdem kann der verändernde Einfluss des Aufführungsraums und der Aufführungslautsprecher nur dann konkret bedacht werden, wenn die Komposition im Vorfeld bekannt ist – also die musikalische Substanz und das klangliche Erscheinungsbild verinnerlicht worden sind. 121 Bayle 2003, S. 177. 122 Bayle spricht hier von einer hinreichenden Verteilung der akustischen Register. Die verallgemeinerte Variante des Autors ermöglicht das Übertragen dieser Grundannahmen auch auf die anderen akusmatischen Beschallungssysteme zu übertragen. 123 Tuschku 2001 (ohne Seitenangabe). 49 Eine hinreichende Verteilung der Klangfarben bzw. Lautsprecher im Raum ist wichtig für ein ausgewogenes Spielen, damit die Unterschiede der jeweiligen Komposition auch entsprechend herausgearbeitet werden können, sei es in Bezug zur Klangfarbe oder zum Raum. Eine geringe Anzahl verschiedener Eingangskanäle hilft, um die Ergonomie der Bedienungsoberfläche (= Mischpult) zur Interpretation zu verbessern. Denn eine Vielzahl von Eingangskanälen lässt sich schwieriger verwalten. Das Routing wird komplexer (welche Kanäle sollen auf welche Lautsprecher gelegt werden?); es müssten mit einem Mal viele, zusammenhängende Fader bewegt werden, etc. Da die Anzahl der Eingangskanäle mit der Anzahl der Lautsprecher innerhalb einer Lautsprechergruppe korreliert, wächst die Anzahl der zu kontrollierenden Fader, die den jeweiligen Lautsprechern zugeordnet sind, um das komplette Klangbild bewegen zu können, entsprechend. Beispiel: Um eine Überblende von zwei Lautsprechergruppen bestehend aus jeweils acht Lautsprechern zu gestalten, müssten 16 Fader gleichzeitig bewegt werden.124 Eine getrennte Behandlung von Einzelspuren einer Komposition während einer akusmatischen Interpretation eignet sich aus diesen Gründen nur bedingt. Denn das Konzept, Klänge per Manipulation von einer Ansammlung von Fadern zu bewegen, stößt hier an seine Grenzen. Man stelle sich vor, es gibt drei Klänge, die jeweils getrennt mit Hilfe von 16 Lautsprechern bewegt werden können. Dann müsste der Klangregisseur 3 mal 16, also 48 Fader auf dem Mischpult vorfinden, und mehr oder weniger gleichzeitig manipulieren. Ohne Unterstützung durch einen weiteren (bzw. durch den Computer simulierten) Mitspieler ist dies unpraktikabel. IV.2 Mehrkanalkompositionen und akusmatische Beschallungssysteme Da akusmatische Beschallungssysteme hauptsächlich auf der Idee der Wiedergabe von Stereowerken und dem Lösen ihrer Probleme im Aufführungsraum beruhen, erscheint die akusmatische Interpretation von Mehrkanalwerken in akusmatischen Beschallungssystemen nicht ganz einfach, was sich beim Vergleichen ihrer Grundannahmen zeigt. Es werden hier nun entsprechende Lösungsvorschläge für die jeweiligen Archetypen der akusmatischen Beschallungssysteme getrennt beschrieben. 124 Das wären also mehr Fader als ein Mensch Finger zur Verfügung hätte. Vgl. dazu den Ansatz „computerassisted sound diffusion“ in Mooney 2005, S. 210 und S. 297ff, bzw. mit Tutschkus Ansatz, Mehrkanalwerke zu Vierkanalwerken zusammenzufassen, damit sie leichter spielbar werden und sich leichter in akusmatische Beschallungssysteme einbetten lassen, siehe Tutschku 2001. 50 Die typischen Mehrkanalstandards, wie Achtkanal oder 5.1, bei denen ein Klangfeld durch Lautstärkeunterschiede (o. ä.) mit Hilfe einer Gruppe von zusammenhängenden Kanälen simuliert wird („channel encoding“), benötigen für ihre Reproduktion mindestens: 1. Entsprechend der Kanalanzahl untereinander gleiche Lautsprecher125, die sich 2. auf einer Kreisbahn mit festem Radius in vordefinierten, z. T. äquidistanten Winkeln um den Hörer herum befinden126. Beide Punkte erfüllen die zwei Archetypen der akusmatischen Beschallungssysteme nicht oder höchstens unzureichend, da ja ihr Konzept hauptsächlich im Aufbau von Lautsprecherpaaren und dem Kontrast der Lautsprecherpaare untereinander beruht. Somit gibt es weder genügend gleiche Lautsprecher, noch stimmen ihre Positionen mit denen der Mehrkanalstandards überein. Selbst wenn der englische Typ angenommen wird und er aus den gleichen Lautsprechern aufgebaut ist, müssten ihre Positionen verändert werden, damit sie sich auf einer Kreisbahn in einem festen Radius befänden und Punkt 2 der Annahmen der Mehrkanalwerke nicht mehr verletzen würden. Zusätzlich kollidieren Mehrkanalkonzepte mit der Forderung Bayles nach einer möglichst geringen Anzahl von Eingangskanälen. Somit stellen Mehrkanalstandards ein gewisses Gegenkonzept zu akusmatischen Beschallungssystemen dar; besonders wenn man bedenkt, das der Raum in Mehrkanalwerken konzeptionell stärker auskomponiert werden kann (z. B. im Verhältnis vorn-hinten) und damit bereits quasi als aufgezeichnete sound diffusion betrachtet werden könnte. Dennoch könnten Mehrkanalwerke von den Möglichkeiten der akusmatischen Interpretation profitieren, zumindest solange hier ebenfalls eine konkrete Raumwahrnehmung komponiert worden ist. Denn die Klänge können sich praktisch nur auf dieser angenommenen Kreisbahn bewegen; sie verlassen sie nur imaginär mittels Einsatz derselben psychoakustischen Effekte, die bei Stereowerken zum Einsatz kommen. Damit erben die Mehrkanalwerke dieselben Probleme in der Glaubwürdigkeit der Wiedergabe (bzw. der Lautsprecherwiedergabe schlechthin), die auch bei Stereowerken zu finden sind: Der Klang könnte reell flach wirken oder räumliche und klangfarbliche Unterschiede würden von der Raumakustik verschluckt werden können. 125 Damit sich die Klänge bei der Bewegung von einem zum nächsten Lautsprecher nicht verfärben. 126 Bei der Oktophonie wären dies 45 Grad, bei der Quadrophonie 90, etc. Es gibt oktophone Aufstellungsvarianten, wo anstatt einer Kreisbahn ein Rechteck angenommen wird. Auf die folgenden Schlussfolgerungen hat dies aber keinen Einfluss. 51 Die erste Lösung auf die Frage, wie man akusmatische Beschallungssysteme kompatibel zu Mehrkanalwerken bekommt, lautet nun, anstatt Lautsprecher in Stereopaaren an verschiedenen Positionen aufzubauen, Mehrkanalkreise in unterschiedlichen Radien aus der Kanalanzahl entsprechender Lautsprechergruppen aufzubauen, bei denen jede nun ihre eigene (räumliche/klangfarbliche) Färbung erhält. Das funktioniert bei den zwei Archetypen mehr oder weniger gut. Dem Problem der Handhabung der unzähligen Fader wird durch den Einsatz von gruppierten Fadern begegnet, wo sozusagen ein Fader nicht mehr ein sondern eine Gruppe von gleichwertigen Lautsprechern repräsentiert. Die zweite, einfachere Lösung wäre, einen Achtkanalkreis in ein bestehendes stereophones Konzept einzubetten, die stereophonen Lautsprecher als Effekte zu betrachten und sie soweit möglich zu vereinfachten Mehrkanalgruppen zusammen zu fassen. Man kann die Anwendung der ersten Lösung bei dem akusmatischen Beschallungssystem „Hydra“ der Universität Boston beobachten (Vgl. Abbildung 9).127 Es kommen Breitbandlautsprecher unterschiedlicher Leistungsklasse zum Einsatz. Auf kleine Studionahfeldlautsprecher (Genelec 8030A, 5“ Tieftöner mit 40 Watt)128 folgen kräftigere Studionahfeldlautsprecher (Mackie HR824 Studio, 8,75" Tieftöner mit 150 Watt)129 und letztlich noch weiter außen kräftige PA-Lautsprecher (Meyer Sound UPA1, 12“ Tieftöner, 400 Watt).130 Die Kreise werden zusätzlich noch um drei leistungsstarke Lautsprecherpaare in unterschiedlichen Distanzen für weitere Raumeffekte erweitert: die Solisten (Meyer Sound UPL1P), zwei auf den Boden neben dem Mischpult liegende, zur Decke strahlende Lautsprecher (Meyer Sound UPJ) und zwei indirekt zum Publikum spielende, stark entfernte Lautsprecher (Meyer Sound UPJ), die beim Harrisonkonzept einem ‚distant‘-Paar entsprächen. Die einzelnen Membrangrößen und Verstärkerleistungen nehmen wegen des Abstandsgesetzes (vgl. Kapitel II.3) von innen nach außen sinnvollerweise zu, was aber zeitgleich auch musikalische Konsequenzen zur Folge hat: Ein Klang kann so von filigran und nah, also der Studiosituation ähnelnd, zu massiv und voll, aber etwas entfernt, der Konzertsituation ähnelnd, 127 Hans Tutschku, „Hydra. Setup and configuration”, 2005, S. 4, <http://www.tutschku.com/download/HydraSetup+configuration.pdf> 12.5.2009. Auch wird an einer Achtkanalvariante des BEAST geforscht, siehe Mooney 2005, S. 206. 128 „Genelec 8030A“, <http://www.audioexport.de/live/genelec_13528_DEU_AE.html> 12.5.2009. 129 „HR824 – Specifications“, <http://www.mackie.com/products/hr824/specs.html> 12.5.2009. 130 „UPA-1P : Compact Wide Coverage Loudspeakers“ <http://meyersound.com/products/ultraseries/upa-1p/> 8.7.2009. 52 sich bewegen. Der Unterschied der Lautsprechergruppen zeigt sich, wie beim BEAST, in der Distanz, räumlichen Ausdehnung (Dimension), Klangfarbe und Masse. Zur Handhabung: Die Fader liegen für jeden Lautsprecher zwar getrennt vor, können aber Dank der zwei Digitalmischpulte (Yamaha DM1000) untereinander gruppiert werden, so dass einfache Überblendungen zwischen den verschiedenen Kreisen möglich werden. Zusätzlich sind die Fader in Stereopaare angeordnet, was die Kompatibilität zur einfachen akusmatischen Interpretation von Stereowerken sichert.131 Abbildung 9: Aufbau der „Hydra“ von 2005. Quelle: Tutschku 2005, S. 6. Die Meyer Sound-Lautsprecher heißen hier „Mayer“. Die roten Punkte entsprechen den vier Meyer Sound UPJ Lautsprechern. 131 Tuschku 2005, S. 13. 53 So lässt sich, aufgrund der Ähnlichkeiten im Aufbau, die „Hydra“ – auch der Benennung des Systems entsprechend – als Variante vom BEAST betrachten und daher dem englischen Ansatz des akusmatischen Beschallungssystems zuordnen. Es erlaubt die räumliche Interpretation sowohl von Stereo- als auch Mehrkanalkompositionen. Somit ist es nicht nur für beide Fälle kompatibel, sondern gibt dem Interpreten weitreichende Möglichkeiten, die Abbildung der Komposition im Aufführungsraum zu manipulieren. Es stellt sich nun die Frage, in wie weit es mehrkanalige Varianten des französischen Ansatzes gibt. Aufgrund der konzeptionellen Unterschiede zu Mehrkanalstandards kommt hier eher die zweite Lösung zum Einsatz. Eine Anwendung der ersten Lösung für den französischen Ansatz ist dem Autor nicht bekannt. Das Cybernéphone unterstützt in seiner siebenten Version zwar die Wiedergabe von Mehrkanalwerken, wie das aber genau möglich wurde, ist leider nicht dokumentiert worden.132 Es könnten zu den bereits vorhandenen Breitbandlautsprechern noch weitere mit gleicher Charakteristik hinzugefügt sowie untereinander ähnliche Lautsprecher zu weiteren Gruppen zusammengefasst worden sein.133 In wie weit dann Mehrkanalwerke analog den Möglichkeiten von Stereowerken interpretierbar werden, verbleibt mangels öffentlich verfügbarer Dokumentation unklar.134 Eine Variante des Acousmoniums für Mehrkanalwerke auf Kreisbahnform schließt sich im Vorfeld bereits wegen seines völlig konträren Konzepts aus. Seine Möglichkeit zum frontalen, ggf. asymmetrischen Positionieren von Lautsprechern steht dem Konzept der umhüllenden Kreisbahn in Standardmehrkanalwerken diametral entgegen. Es würde wenig Sinn haben, den frontalen Aufbau durch Wiederholung von einzelnen Lautsprechergruppen um das Publikum herum zu dehnen, da dies dem besonderen Merkmal des Acousmoniums widerspricht.135 Eher 132 <http://www.imeb.net/MFLi/index.php?option=com_content&task=view&id=514&Itemid=147> 12.5.2009. Der Zugriff auf den Server ist momentan leider nicht mehr möglich. 133 Dies wäre bei unverändertem Aufbau in dem Frequenzbereich von 2000-4000 Hz möglich, sowie beim hohen Mitteltonbereich von 800-2000 Hz. Siehe Abbildung 8. Diese Herangehensweise entspräche auch dem Vorschlag von Tutschku 2001. 134 Das Lautsprecherorchester von „Musiques & Recherches“ in Belgien wird vermutlich die Kompatibilität zu Mehrkanalkompositionen auf die gleiche Weise geschaffen. Vgl. dazu „Proposal of Concerts“, <http://www.musiques-recherches.be/proposition.php?lng=en&id=61> 10.7.2009. 135 Mit einem veränderten Mehrkanalansatz, bei dem z. B. sich Klänge nicht (!) auf einer Kreisbahn bewegen, wäre das Konzept des Acousmoniums auch für Mehrkanalwerke denkbar. Marc Favre beschreibt, wie das Achtkanalformat als aus vier stereophonen Teilen zusammengesetzt betrachtet werden kann. Die Teile können dann jeweils auf vier um das Publikum aufgebaute, in sich symmetrische Lautsprecherorchester projiziert werden. Die stereophonen Teile könnten jeweils unabhängige Elemente einer Komposition darstellen. Vgl. Marc Favre, „La diffusion des musqiues multipistes”, in: Fort, Bernard (hrsg.),Vers un art acousmatique, Lyon 54 würde man einen zusätzlichen Achtkanalkreis hinzufügen und ansonsten das Acousmonium so belassen wie es ist, um so wenigstens die Kompatibilität des akusmatischen Beschallungssystems zu erweitern (Lösungsansatz Nr. 2). Allerdings könnte sich dieser Achtkanalkreis aufgrund seiner Andersartigkeit und veränderten Hörweise (rundherum statt frontal) wie ein Fremdkörper in solch einem System verhalten. Auch hier bleibt im Einzelfall zu prüfen, in wie weit Mehrkanalwerke von einer akusmatischen Interpretation mit solch einem System profitieren. Zusammengefasst zeigt sich, dass, verglichen mit dem französischen Ansatz, der englische Ansatz sich leichter für die akusmatische Interpretation von Mehrkanalwerken anwenden lässt, da hier die einzelnen Rollen der Lautsprecher durch Erhöhung der Kanalanzahl der Lautsprechergruppen beibehalten werden können. Die französische Tradition eignet sich wohl bisher nur eingeschränkt für die Interpretation von Mehrkanalkompositionen, da hier die konzeptuellen Differenzen (vor allem im Aufbau) stärker ins Gewicht zu fallen scheinen. Zukünftige Forschung könnte diese These be- oder widerlegen. Um die Projektion von Mehrkanalkompositionen dennoch zu erlauben, benötigen sie mindestens einen homogenen Kreis aus zusätzlichen Lautsprechern entsprechend der Kanalanzahl (mindestens aber vier). So erfährt Bayles These, dass die Komposition sich für eine akusmatische Interpretation eignen müsse, durch die Thematik der Integration von Mehrkanalansätzen eine zusätzliche Bestätigung. Sicherlich ist der Einfluss des Interpreten, wie man ihn bei Stereowerken hat, bei Mehrkanalwerken nicht ganz so stark, da ja beispielsweise das Vorn-Hinten-Verhältnis bereits während der Produktion definiert worden ist, doch gibt es, je nach Ansatz und Größe, entsprechende räumliche Ausgestaltungsmöglichkeiten, auch wenn hier schnell aberwitzig viele Lautsprecher nötig werden, die ohne digitale Lösungen schwer handhabbar wären. 1991, S. 94. 55 IV.3 Das akusmatische Beschallungssystem des SeaM Abbildung 10: Akusmatisches Beschallungssystem des SeaM beim Aufbau im Fürstensaal vom 9.1.2009. 180°-Foto: Jens Wagner. Das akusmatische Beschallungssystem des SeaM der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar (HfM Weimar) stellt eine Mehrkanalvariante des englischen Ansatzes der akusmatischen Interpretation dar. Da in vielen Konzerten des Studios sowohl stereophone wie auch mehrkanalige Komposition interpretiert werden, ist das System (fast) immer so aufgebaut, dass sich auch beide Kompositionstypen flexibel reproduzieren lassen. Ein Aufbau, der sich nur auf einen Kompositionstyp stützt, kommt höchst selten vor.136 Über die Zeit hat sich ein relativ definierter Aufbau aus Hochleistungsbreitbandlautsprechern ergeben. Es kommen vor allem wegen der höheren Leistung PA-Lautsprecher zum Einsatz. Als Beispiel sei hier der Aufbau vom 9.1.2009 beim Konzert im Fürstensaal der Hochschule (Abbildung 10 und 11) erläutert. Ein fixer, stereophon gruppierter Achtkanalkreis (in der Abbildung 11 dunkelblau markiert) wird mit einer flexiblen Anzahl von Effektlautsprecherpaaren garniert, welche besonders den Gegebenheiten der Aufführungssituation angepasst werden (grün, gelb und orange). Die Effektlautsprecher und einige der Lautsprecher des Achtkanalkreises befinden sich dabei an BEAST-ähnlichen Positionen: ‚distant‘ entspricht ‚diffus vorn‘, ‚roof‘ gleicht der ‚Decke‘, ‚wide‘ kann von den vorderen, seitlichen Lautsprechern des Achtkanalkreises entnommen werden, usw. Somit kann eine stereophone Komposition flexibel räumlich interpretiert werden. Aber auch Mehrkanalwerke kommen in dem Aufbau nicht zu kurz, da sich die Effektlautsprecher zu quadrophonen Gruppen zusammenfassen lassen, wie z. B. die Phönix Rundumstrahler (gelb) vierfach vorkommen oder sich aus ‚diffus hinten‘ und ‚diffus vorn‘ eine Gruppe bauen lässt. 136 Während des Studiums des Autors gab es z. B. nur zweimal einen reinen Stereoaufbau: einmal 2002 bei dem Gastkonzert von Christian Calon und einmal 2009 bei einem gemeinsamen Konzert aller Kompositionsklassen des Instituts für Neue Musik. 56 Zu bemerken ist ferner die Vielzahl von diffusen, stark räumlich gefärbten Lautsprecher (siehe „Seiten“, die diffusen Lautsprecher „hinten“, „Mitte“, „Bühne“, „vorn“). Ihre Notwendigkeit speist sich aus der in vielen Werken des SeaM verwendeten texturalen Kompositionsweise. Denn es werden Räume weniger durch Gesten und durch Bewegungschoreographien generiert, als vielmehr durch Texturen und Raumaufnahmen. Das umhüllende Moment der Komposition ist hierbei entscheidend, welches sich mit diffusen, indirekt zum Hörer strahlenden Lautsprechern sehr gut im Konzert erzeugen lässt. Als hilfreich erweisen sich hier vor allem die Rundumstrahler, die das Paradox verkörpern, eine gewisse Präsenz dank ihrer Nähe zum Publikum entwickeln zu können, gleichzeitig aber aufgrund ihrer Richtcharakteristik nur bedingt lokalisierbar sind. Abbildung 11: Schematische Darstellung vom Aufbau vom 9.1.2009. Die dunkelblau markierten Lautsprechern entsprechen den D&B E9, die grün markierten den Meyer Sound UPJ-1, die gelben den Phönix, die orangefarbenen den ElectroVoice Evid 6.2, die hellgrünen den D&B E3. 57 Abbildung 12: Schematische Darstellung eines BEAST-ähnlichen Aufbaus. Die dunkelblau markierten Lautsprecher entsprechen den D&B E9, die grün markierten den Meyer Sound UPJ-1. Ein kleiner, stereophoner, BEAST-ähnlicher Aufbau, der vor allem auch auf die Besonderheiten des Fürstensaals der HfM eingeht, ist in Abbildung 12 abgedruckt. So beschallt ein Stereopaar die als Reflektor auftretende Rückwand der Bühne und erzeugt damit ein räumliches, breites, aber leicht unscharfes Klangbild, wie es typischer Weise nur bei Instrumentalkonzerten hörbar ist. Die weiteren zwei Lautsprecher auf der Bühne (grün) können, sensibel eingesetzt, diesem Eindruck etwas mehr Schärfe und Nähe geben. Die rückwärtigen Lautsprecher sind leicht nach außen verschoben und nach oben geneigt, um zum Einen mehr Umhüllung zu erlauben und zum Anderen die stark reflektierende Decke mit hohen Frequenzen anzuregen. Dadurch ergibt sich ein relativ präsentes, stark gestreutes Klangbild, ohne dass die weiter hinten sitzenden Hörer von der Anwesenheit der Lautsprecher gestört werden. Eine weitere Besonderheit stellen die anderen zwei hinteren Lautsprecher dar: Denn sie beschallen den Zwischenraum, der sich zwischen der Empore und dem Fußboden des Konzertsaals ergibt. Sie sorgen für ein stark diffuses, aber 58 lokalisiertes breites, rückwärtiges Klangbild, ohne wieder die hinten sitzenden Hörer zu stören. Es zeigt sich hier der Vorteil dieses Aufbaus gegenüber dem Mehrkanalaufbau: Dank der besonderen Ausrichtung und Position der Lautsprecher und des damit verbundenen charakteristischen Klangbilds entsteht für sehr viele Hörer ein vergleichbarer räumlicher Klangeindruck, besonders auch für solche, die nah zu den Lautsprechern sitzen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Ansatz des Aufbaus auch in Zukunft weiterentwickelt werden wird. Abbildung 12 verdeutlicht auch sehr schön, wie die Rollen der Lautsprecher in Anlehnung an den englischen Ansatz flexibel auf die Besonderheiten des Aufführungsraumes angepasst werden können. Durch die eigentümliche Ausrichtung der Lautsprecher und die effektive Einbeziehung von Reflektoren und Diffusoren ließen sich verschiedene Grade der Verstreuung und Breite des Klangbildes erreichen, die die Eigenarten des Aufführungsraumes klanglich in Erscheinung treten lassen. Damit wird gezeigt, wie der zweite Teil von Smalleys Definition von sound diffusion – das Hörbarmachen des Aufführungsraums – praktisch umgesetzt werden kann. Es folgt nun eine knappe Beschreibung des Verwaltungs- bzw. Steuerungsapparats des akusmatischen Beschallungssystems des SeaM. Dank einer von Andre Bartetzki entwickelten Spezialsoftware konnte die Verwaltung und der Aufbau des akusmatischen Beschallungssystems vereinfacht werden. Die Software, „Akusmix“ genannt, übernimmt dabei die Rolle eines für akusmatische Bedürfnisse angepassten Mischpults, das zusätzlich auch mit Hilfe eines integrierten File-Players die Zuspielfunktion übernehmen kann. So bietet die Software die Möglichkeit, bis zu 64 Eingangs- und Ausgangskanäle zu verwalten, die quasi in beliebig viele Lautsprecher zu Gruppen zusammengefasst werden können. Im Vergleich zu einer Lösung mit einem klassischen Mischpult kann der Platzbedarf im sweet spot durch die Softwarelösung erheblich reduziert werden. Ebenso lassen sich die verschiedenen Konfigurationen des Systems (Routing/Filterung der Lautsprecher, Mapping der Fader) schnell abrufen und flexibel anpassen – was die Zeitspanne des Wechsels der Konfiguration zwischen Kompositionen erheblich reduziert und einen flüssigen Konzertablauf gewährleistet. Über eine frei konfigurierbare Faderbox, bestehend aus 25 motorisierten Fadern, lassen sich die Lautstärken der Ein- und Ausgänge flexibel und ‚intuitiv‘ verwalten. 59 IV.4 Allgemeine Vor- und Nachteile akusmatischer Beschallungssysteme Einige Vor- bzw. Nachteile von akusmatischen Beschallungssystemen klangen bereits implizit im Laufe der Arbeit an, weshalb hier nun gesondert darauf eingegangen wird. Ebenso wie im Kapitel IV.1.2 liegt die Deutung, welche Eigenschaften von akusmatischen Beschallungssystemen nun nachteilig oder vorteilhaft sind, beim Leser, wobei die Reihenfolge der Diskussionspunkte einer mehr oder weniger impliziten Wertung des Autors über Vor- und Nachteile entspricht. Zur Debatte stehen: Glaubhaftigkeit, Eignung des Aufführungsraums, Platzbedarf, Subjektivität, Zeitaufwand, theoretische Fundierung und der Fader als Bedienelement für den Klangregisseur. Die akusmatische Interpretation über ein akusmatisches Beschallungssystem kann die Glaubhaftigkeit einer Komposition erhalten und erhöhen. Denn künstliche Raumsimulationen, deren Charakter im Studio vielleicht klischeehaft (vgl. langer Kirchenhall) oder synthetisch (mangelhafter Algorithmus) erscheint, gewinnen durch gezielten Einsatz der Färbung des Aufführungsraum eine gewisse Natürlichkeit und ggf. physikalische Nachvollziehbarkeit. Es kann eine gefühlte Entsprechung der Größe des Aufführungsraum mit der simulierten Größe des komponierten Raums oder eine Kaschierung technischer Mängel durch den Grad der Diffusion des Aufführungsraums auftreten. Bei ungeeignetem Einsatz der akusmatischen Interpretation kann auch das Gegenteil einer erhöhten Nachvollziehbarkeit eintreten. Details und Nuancen werden verwischt, Kontraste egalisiert, Klangbewegungen durch mangelhaftes Nachzeichnen verzerrt. Dies geschieht vor allem bei mangelhafter Kenntnis des Werks. Beispielsweise werden die Zeitpunkte verpasst, bei denen eine extrapolierte Bewegung ausgeführt werden sollte. Oder das Klangbild der Komposition wird mittels zu starker räumlicher Ausdehnung durch zu vieler, gleichzeitig spielender Lautsprecher bei zu hohem Grad der Diffusion des Aufführungsraums vernebelt. Die Möglichkeit der räumlichen Ausdifferenzierung durch Lautsprecher und durch den Einsatz von Filterungen erweitert die Eignung von Aufführungsräumen für die Lautsprecherwiedergabe. Der Einfluss von Raummoden wie auch die klangfarbliche Differenz zwischen Aufführungs- und Produktionsraum kann durch Filterung reduziert werden. Der Grad der Diffusion stört durch den Erhalt der Relation zwischen zum Hörer nahen und entfernten Lautsprechern nicht mehr so stark; der verwischende Klangcharakter von einigen Aufführungsräumen der orchestralen 60 Instrumentalmusik137 wird somit handhabbar. Als Nebeneffekt eignen sich nunmehr eine größere Auswahl von Kompositionen für den jeweiligen Aufführungsraum, da ihre räumliche Relationen durch Intervention des Klangregisseurs im Idealfall erhalten bleiben. Zum Platzbedarf: Für den Einsatz von akusmatischen Beschallungssystemen eignen sich gerade auch große (!) Aufführungsräume, da sie hier dem Klangregisseur aufgrund ihrer Dimensionen genügend Möglichkeiten geben, Lautsprecher in verschiedenen Distanzen und Positionen zum Hörer aufzustellen. Da der sweet spot weiterhin recht klein ausfällt, (schließlich müssen die Abstände der Lautsprecher für alle Hörer in allen Richtungen möglichst gleich sein, damit die Hörer untereinander einen vergleichbaren Klangeindruck erhalten,) entsteht bei großen Aufführungsräumen eine gewisse Absurdität. Als Beispiel sei hier auf Abbildung 9 verwiesen: Der Aufführungsraum in der Abbildung bietet für 308 Zuhörer Stühle an, von denen aber, optimistisch gerechnet, lediglich 49 im sweet spot liegen! Die Größe des Aufführungsraums ist somit nicht unbedingt an die Anzahl an sinnvollen Hörplätzen gekoppelt. Auch muss der Platzbedarf der verwendeten Technik (Lautsprecher, Mischpult, etc.) mitgedacht werden, so dass hier der verfügbare Hörplatz weiter sinkt. Aufgrund der beschränkten Dimension kleiner Räume eignen sie sich dem gegenüber nur eingeschränkt für akusmatische Beschallungssysteme. Die Möglichkeit der Gestaltung des Klangbildes durch den Klangregisseur verstärkt das subjektive Moment bei der Aufführung einer akusmatischen Komposition. Das ‚fixierte‘ Moment der akusmatischen Musik, das als solches nur in der Theorie existiert (vgl. Kapitel II), wird im Zusammenspiel von Aufführungsraum, Publikum und Klangregisseur mit einer spezifischen Ansicht auf diese Musik aufgeweicht und gestaltet. Dies führt gerade zu einem ProArgument zum Besuchen von akusmatischer Musik, da hierdurch ein gewisser Mehrwert entsteht (Wer besitzt zu Hause ein eigenes akusmatisches Beschallungssystem?). Auf der Kehrseite steht sicherlich der zeitliche Aufwand, der beim Einsatz von akusmatischen Beschallungssystemen entsteht. Er resultiert nicht nur aus der Zeit, die der Aufbau und die Konfiguration des Systems an sich verschlingt, sondern umfasst auch die Zeit, die der Klangregisseur damit beschäftigt ist, die Komposition im Aufführungsraum und dem System anzupassen und seine akusmatische Interpretation zu üben. Und Probenzeit ist teuer, so dass sie sich nur eingeschränkt fordern lässt. Dies ist vor allem ein Problem, weil es bisher recht wenig 137 Glogau nennt für orchestrale Musik passende Nachhallzeiten von 1,5- 2,1 Sekunden. Vgl. Hans-Ulrich Glogau, Der Konzertsaal, Hildesheim 1989, S.108. Dem gegenüber steht die Forderung Görnes, dass ein ideales Studio eine Nachhallzeit von ca. 0,3- 0,6 Sekunden haben sollte. Görne 2008, S. 95. 61 Übemöglichkeiten für Klangregisseure auf akusmatischen Beschallungssystemen außerhalb von Konzerten gibt und sie deshalb auf ausgiebige Probenzeit vor Ort angewiesen sind. Man ziehe hier die Analogie zur Instrumentalmusik: Wie seltsam ist es, wenn der Dirigent erst zwei Stunden vor Konzertbeginn sein zu dirigierendes Orchester zum ersten Mal sieht und die Komposition kurz mal eben anspielt. Wie ‚überragend‘ kann unter solchen Umständen die Interpretation der Komposition werden? Im Fall des akusmatischen Beschallungssystems ist dies sogar noch viel gravierender, da ja die Lautsprecher, im Gegensatz zu Orchestermusikern, nicht während der Aufführung mitdenken und selbstständig an einer sinnstiftenden Interpretation mitarbeiten... Ein anderes häufiges Gegenargument gegen den Einsatz von akusmatischen Beschallungssystemen steht im Spannungsfeld der räumlichen Ausgestaltung der Komposition. Aufgrund zu gering bemessener Übezeit und daraus u. U. entstehender mangelhafter akusmatischer Interpretation erscheint für manche Kritiker das räumliche Interpretieren einer akusmatischen Komposition quasi als wahlloses Herumwirbeln von Klang.138 Nur weil die Interpretation unter Umständen improvisiert und nicht durch eine Partitur im Vorfeld durch den Komponisten des Werks definiert worden ist und damit ‚wahllos‘ erscheinen könnte, heißt dies nicht, dass die komplette Aufführungspraxis unnütz wäre. Zum Vergleich: Ein schlecht gespieltes Violinkonzert ist erst einmal nur ein schlecht gespieltes Violinkonzert und stellt nicht gleich die gesamte Aufführungspraxis in Frage. Ein anderer potentieller Nachteil könnte der Fader sein. Eine Diskussion hierüber sei nur kurz angedeutet.139 Die Fähigkeit eines Klangregisseurs, eine akusmatische Interpretation durchführen zu können, hängt auch von seiner Geschicklichkeit im Umgang mit Fadern ab. Nicht nur muss er in der Lage sein, sie schnell genug entsprechend des Timings der Komposition zu bewegen, sondern er muss sich auch für eine für die Interpretation geeignete Anordnung der Fader entscheiden, damit entsprechende extrapolierte Raumbewegungen überhaupt möglich sind. Er kann nicht, als Beispiel, eine umhüllende Textur durch minimale, zufällige Veränderung einzelner Lautstärken von Lautsprechern beleben, wenn die betroffenen Lautsprecher nur auf einem Fader liegen (was aber bei Mehrkanalwerken praktisch wäre; vgl. 48f). Weitere Bespiele sind denkbar. 138 Vgl. dazu die Einleitung in Harrison 1999. 139 Vgl. dazu Mooney 2005, S. 178ff bzw. 285ff. 62 IV.5 Zusammenfassung Da Lautsprecher und Aufführungsräume unweigerlich einen Einfluss auf das Klangbild einer akusmatischen Komposition ausüben, können sie auch als Gestaltungsmittel benutzt werden, um Möglichkeiten des Erscheinungsbildes der Komposition herauszuarbeiten.140 Als Hilfsmittel hierfür stehen dem Klangregisseur akusmatische Beschallungssysteme zur Verfügung, über die die Gestaltungsmittel für ihn auf verschiedene Arten und Weisen nutzbar werden. Über sie lässt sich die räumliche Skalierung und Platzierung, sowie die Klangfarbe an sich und ihr Erscheinen im Raum kontrollieren. Die Ausdifferenzierung dieser Möglichkeiten hängt von dem im akusmatischen Beschallungssystem verwendeten Ansatz ab und von der Anzahl und Platzierung der eingesetzten Lautsprecher. Je mehr Lautsprecher verwendet werden, desto komplexer werden die Abhängigkeiten zwischen ihnen und desto größer wächst der Verwaltungsaufwand zum Beherrschen des Systems. Für die akusmatische Interpretation spezialisierte Software bzw. digitale Lösungen, die das herkömmliche Mischpult als Verwaltungszentrale ersetzen, helfen dem Klangregisseur, indem sie durch Gruppierungen von Fadern (siehe die „Hydra“) oder ausgeklügelten Automationstechniken141 komplexe Systeme bewältigbar werden lassen. Auch können sie ihm weitere Eingriffsmöglichkeiten bieten, wie das z. B. beim „Flux“ der Fall ist.142 Die Software erlaubt die dynamische Veränderung der Wiedergabegeschwindigkeit und der Wiedergabetonhöhe und granulare Transformationen wie Einfrieren und Fragmentieren. Außerdem gibt sie ihm auch strukturelle Modifikationswerkzeuge zur Schichtung oder Wiederholung von Teilmomenten der Komposition als dynamischen Parameter an die Hand.143 Die zu interpretierende Komposition wird damit zu einem flüssigeren Stoff als es bisher der Fall war und wird der Flexibilität ähnlich, die bei Kompositionen der Instrumentalmusik bei der Darbietung durch einen Interpreten üblich ist. Auch befördert die Software eine weitere Entfernung von der Idee, auf Datenträger gespeicherte Musik als ‚fixiert‘ und ‚festgelegt‘ zu betrachten, was der Weiterentwicklung der Aufführungspraxis der räumlichen Interpretation akusmatischer Musik im Konzertsaal als weiteren Nährboden dienen wird. 140 Vgl. dazu Christian Clozier, „About of the Cybernéphone“, 2005, S. 5 (leicht aktualisierter Reprint von Clozier 1998), <http://www.imeb.asso.fr/CSS-/PDF/About-of-the-Cybernephone.doc> 10.7.2009. 141 Vgl. „User Guide“, <http://resound.sourceforge.net/wiki/index.php/User_Guide> 10.7.2009. Automationsmöglichkeiten erscheinen unter dem Punkt „Behaviour-Tab“. 142 David Berezan, „Flux: Live-Acousmatic Performance and Composition“, EMS 2007, <www.emsnetwork.org/IMG/pdf_BerezanEMS07.pdf> 12.5.2009. 143 Berezan 2007, S. 4f. 63 Exkurs: Visualisierung Visualisierung kann dem Klangregisseur bei der Vorbereitung oder beim Darbieten seiner akusmatischen Interpretation helfen, indem das musikalische Geschehen verbildlicht (bzw. abstrahiert) und aus dem Fluss der Zeit herausgerissen wird, und ihm damit einen Anhaltspunkt gibt auf das, was ist, was kommen wird und was gewesen ist. Damit offeriert ihm die Visualisierung eine mehr oder weniger ausgeprägte zeitliche Orientierung in der akusmatischen Komposition. Zu bemerken ist hierbei zweierlei: Dass eine Visualisierung, verglichen mit der Partitur der klassischen Instrumentalmusik, 1. nicht das Moment der produzierenden Spielanweisung enthält. Sie also kann nicht direkt in Klang umgesetzt werden (dies ist ja im Vorfeld bereits geschehen), sondern 2. gibt deshalb höchstens Hinweise, was musikalisch in der Komposition passiert bzw. wie sie reproduziert werden soll.144 Die Frage lautet dabei aber, was eigentlich beschrieben wird: der Verlauf der Komposition oder der akusmatischen Interpretation? Der Verlauf der Komposition wird häufig per Visualisierung einiger weniger Parameter notiert, wie der Lautstärke oder des Spektrums. Softwarezuspielgeräte warten mit einer mehr oder weniger groben Wellenformdarstellung der Komposition auf, die dem Amplitudenverlauf der Schallwelle und indirekt ihrem Lautstärkeverlauf in der Zeit entspricht. Sie geben so einen Überblick auf das zukünftig Kommende mit Bezug zur Momentanzeit und dem sichtbaren Zeitbereich (vgl. Abbildung 13 und 14). Je nach Darstellungsweise des Programms und Frequenzspektrum der Komposition kann dies deutlich oder undeutlich werden. Je kleiner die Zoomstufe ist, umso geringer ist der Überblick über die gesamte Komposition, aber desto genauer wird der einzelne Moment deutlich. Der Einsatzmoment von Akzenten kann so schön sichtbar werden, nicht aber der komplette Verlauf der Komposition über die Zeit. Der Klangregisseur muss also wählen zwischen dem Überblick über die Komposition oder dem detaillierten Überblick über den aktuellen Moment. 144 Vgl. Piere Boeswillwald, „Composition and diffusion“, in: Barrière, Françoise (hrsg.), Composition, diffusion en Musique électroacoustique, Bourges 1998, S. 226. 64 Abbildung 13: Samplitudes Wellenformdarstellung von „Mann aus dem Meer“ von Constantin Popp. Am oberen Rand befindet sich das Zeitraster, rechts oben die Anzeige der Momentanzeit. Die Farbe der Wellenform hängt von spektralen Komponenten des Klangs ab (siehe S. 12) - ein Spezialfeature von Samplitude. Sie entfällt bei anderen Programmen. Abbildung 14: Samplitudes Wellenformdarstellung vom „Mann aus dem Meer“. Dieses mal wurden alle Frequenzen unterhalb von 120 Hz weg gefiltert. Der Verlauf der Komposition ist nun viel genauer sichtbar. 65 Wie die beiden Abbildungen schon zeigen, krankt die Wellenformdarstellung an einigen Problemen. Die genaue Einsatzzeit von Akzenten ist nicht genau ablesbar, sondern nur ungefähr (je nach Zoomstufe). Des weiteren verschmieren tiefe Frequenzen die Darstellung höherer Frequenzen, wie man das im Vergleich der beiden Abbildungen 13 und 14 sehen kann. Je mehr tiefe Frequenzen aus der Darstellung heraus gefiltert werden, desto deutlicher wird im Prinzip der Verlauf der Komposition und desto klarer sind Akzente ablesbar. Wenn der Bassbereich also nicht vorher in einen extra Kanal der Komposition verschoben wurde, muss der Interpret dann seine Synchronisationspunkte im Kopf oder auf einem extra Zettel (= sehr unpraktisch) notiert haben. Markierungen innerhalb der Wellenformdarstellung können hier helfen, aber nur, solange die Beschriftung eher auf einer symbolischen Ebene bleibt, damit sie beim Spielen schnell erfasst werden kann. Extra Zettel haben den Nachteil, das sie Platz und Licht brauchen, um sichtbar zu sein – ein Problem, besonders im Konzert.145 Über die in der Komposition vorhandenen Frequenzen trifft die Wellenformdarstellung im Normallfall aber nur eingeschränkt Aussagen – ein Sonagramm löst dieses Problem. Ein Sonagramm (vgl. Abbildung 15) stellt eine andere Variante der visuelle Repräsentation von Klang bei Softwarezuspielgeräten dar, kann aber wiederum auch nur einen Teil der musikalischen Information visualisieren. Hier wird ein Klang in viele Frequenzbänder zerlegt, deren Lautstärkeverlauf über die Zeit anhand von Farbwerten dargestellt wird. Die Frequenzbänder sind häufig auf der y-Achse eingetragen, während die Zeit auf der x-Achse vergeht (die z-Achse entspricht den Farbwerten, also den Lautstärken der Frequenzbänder). Aber auch hier wird lediglich die gesamte Schallwelle dargestellt und nur eingeschränkt ihre Komponenten. Denn von den verschiedenen Klängen wird immer nur ihr resultierendes Gesamtspektrum angezeigt – die einzelnen Spektren der Einzelklänge vermischen sich miteinander und bleiben nur dann getrennt sichtbar, wenn sie getrennte Frequenzbereiche nutzen. Damit krankt auch diese Darstellungsform an Problemen. Je nach Farbkodierung lässt sich der Lautstärkeverlauf im Vergleich zur Wellenformdarstellung schlechter einschätzen und Akzente können mitunter verwischter erscheinen.146 145 Häufig liegen solche Zettel daher auf dem oberen Teil eines Mischpults, dessen obere Regler während der Darbietung nicht unbedingt gebraucht werden. Das Mischpult selbst ist meistens rudimentär beleuchtet. 146 Vgl. dazu weiterführend Martha Brech, Analyse elektroakustischer Musik mit Hilfe von Sonagrammen, Frankfurt am Main 1994. 66 Abbildung 15: Samplitudes Sonagrammdarstellung vom Anfang des „Mann aus dem Meer“. Je gelber das grün ist, desto lauter ist die korrespondierende Frequenz. Rechts befindet sich das Frequenzraster. Ein Zeitlineal fehlt. Man sieht hier schön die einzelnen spektralen Schichten, aus denen die Komposition zusammengesetzt worden ist: die hochfrequenten Akzente (kurze vertikale Linien, im oberen Teil der Abbildung) und ihre Resonanzen (die an den oberen kurzen vertikalen Linien angehängten horizontalen Linien), wie auch ein etwas verwischtes tiefes Brummen (unten im Bild, sehr gelblich) und rauschhafte Mitten mit einzelnen, eigenen Akzenten (in der Mitte der Abbildung). Da sowohl die Wellenformdarstellung, als auch das Sonagramm lediglich den physikalischen Gesamtklang mehr oder weniger abstrakt visualisieren und nur bedingt Aussagen über musikalische Einzelaktionen aussagen, stellt sich die Frage, ob es nicht deutlichere Wege gibt, musikalische Verläufe darzustellen. Eine Alternative hierzu stellt das Zeichnen von Hörpartituren dar (Abbildung 16). Sie sind quasi abstrahierte bzw. kommentierte Sonagramme, nur dass hier der spektrale Verlauf der Komposition symbolisch dargestellt wird. Durch die Abstraktion der Musik in Symbole, was einer erfolgten kognitiven Interpretation der Musik entspräche, pointiert sie den hörbaren Verlauf und vereinfacht das Lesen, besonders im Vergleich zum Sonagramm. Das Kodieren des Lautstärkeverlaufs auf grafische Weise kann mit Hilfe von Symbolen traditioneller Musiknotation wie Crescendo-Gabeln oder mit Grauschattierungen ermöglicht werden. Vor allem können so auch räumliche Momente der Komposition in der Grafik festgehalten werden, die weder gut bei der Wellenformdarstellung noch beim Sonagramm sichtbar wären. Mit dem Acousmographe von INA (siehe Abbildung 17) kann man eine Hörpartitur computergestützt erstellen. Bei der Wiedergabe der Komposition hilft der Acousmographe dem Leser zusätzlich 67 bei der Orientierung in der Partitur, indem er die aktuelle Spielposition per roter, vertikaler Linie markiert. So verliert der Leser nicht so leicht den Zeitbezug innerhalb der Grafik. Abbildung 16: Stéphane Roy's Hörpartitur von Points de fuite von Francis Dhomont, zitiert nach http://www.electrocd.com/en/partitions/8000/ Abbildung 17: Screenshots vom Acousmographe, zitiert nach http://www.ina.fr/sites/ina/medias/upload/grm/grmtools/Acousmo_3.pdf Obwohl der Vorteil der Hörpartitur in ihrem Wesen des Zeigens eines musikalischen Extrakts auf der Hand liegt, besitzt sie gravierende Nachteile. Sie ist sehr aufwendig zu erstellen, die Orientierung ist relativ schwierig, da das Zeichensystem u. U. recht vage und unterschiedlich sein kann und die Proportionen des Zeitverlaufs ebenso nur diffus verschriftlicht werden können. Denn es gibt für sie nicht, wie in der Instrumentalmusik147 üblich, ein allgemein verbindliches, reglementiertes, wiederkehrendes Zeichensystem (sicherlich gibt es durchaus Ähnlichkeiten von Hörpartitur zu Hörpartitur, die den Leser beim Dechiffrieren unterstützen können). Auch benötigt sie bei der Aufführung der Komposition einen Ausdruck auf Papier, da sie (bisher) noch nicht in die Wiedergabesoftware von akusmatischen Beschallungssystemen integriert worden ist, was vielleicht an dem geringen Aufwand-Nutzen-Verhältnis im Erkenntnisgewinn gegenüber einer einfachen Wellenformdarstellung liegen könnte. 147 Die Neue Musik bildet hier u. U. ebenso eine Ausnahme. 68 Bei den bisher vorgestellten Varianten der Visualisierung des Verlaufs wird sicherlich ihr Moment der Gedankenstütze deutlich. Denn der Leser muss ständig überlegen, ob dass, was er hört, in der Darstellung als Zeichen zu finden ist, ob dieses gefundene Zeichen in der Zukunft wiederkehren wird, ob es später auch auf den ‚gleichen‘ Sachverhalt verweist, usw. Je öfter er die selbe Visualisierung interpretiert hat, desto einfacher wird er sich in ihr zurecht finden und desto eher wird sie ihn unterstützen können. Innerhalb der Visualisierung hilft die Markierung der Wiedergabeposition dem Leser wesentlich bei der Orientierung, da sie den Zeitbezug zwischen Klang und Visuellem klar verdeutlicht. Ohne diesen Zeitbezug wird das Interpretieren von Wellenformdarstellungen, Sonagrammen und Hörpartituren bei geringem spektralen oder dynamischen Kontrast zum Glücksspiel. Auch deshalb sind Softwarelösungen gegenüber eines Ausdrucks auf Papier stark überlegen. Abbildung 18: Kevin Austin: Verräumlichungspartitur von Dhomont's Signé Dionysos, gekürzt zitiert nach http://cec.concordia.ca/econtact/Analyses/pdf/Signe.pdf Eine Möglichkeit, den Verlauf der akusmatischen Interpretation festzuhalten, zeigt Kevin Austin in der Ausgabe 6.4 von eContact! (siehe Abbildung 18 und 19).148 Ein Timecode wird mit einer 148 Kevin Austin, „Francis Dhomont – Signé Dionysos – score by Kevin Austin“, <http://cec.concordia.ca/econtact/Analyses/pdf/Signe.pdf> 12.5.2009, in: eContact! 6, Nr. 4. Scott Wyatt schlägt eine ähnliche Variante vor, verzichtet hierbei aber auf einen Kommentar- und Klangprojektionsbeschreibungsbereich. Vgl. Scott A. Wyatt, „Investigative Studies on Sound Diffusion/Projection at the University of Illinois: a report on an explorative collaboration”, in: eContact! 2, Nr. 4 (1999), <http://cec.concordia.ca/econtact/Diffusion/Investigative.htm> 12.5.2009. 69 Beschreibung des zu hörenden Klangs, Verräumlichungsbemerkungen und Lautstärkeverläufen der in der Verräumlichung benutzten Lautsprecherpaare verknüpft. Die Zeit ‚vergeht‘ dabei auf dem ‚Papier‘ von oben nach unten. Die Dicke der Lautstärkeverläufe entsprechen der eingestellten Lautstärke der Fader (je dicker, desto lauter). In den zwei Abbildungen fallen drei Varianten auf, das musikalische Geschehen zu visualisieren: 1. Wichtige Elemente der Musik lassen sich mit Bezeichnern beschreiben, die den bildhaften Verweis eines Klangs (soweit dies möglich ist) ausführen. 2. Eine abstrahierte Darstellung der Faderbewegungen lässt die Relationen der Fader und Lautstärken der Lautsprecher zueinander klar werden. 3. Die Charakterisierungen der Relationen der Fader lässt sich in Worten beschreiben, falls es der abstrahierten Darstellung an Deutlichkeit fehlt. Abbildung 19: Kevin Austin: Verräumlichungspartitur von Dhomont's Signé Dionysos, gekürzt zitiert nach http://cec.concordia.ca/econtact/Analyses/pdf/Signe.pdf Letzteres ist zum Beispiel gleich am Anfang der Fall: Kreisbewegungen sind deutlicher und einfacher als Worte (swirl, Wirbel) oder als Symbol (siehe die Kreise auf der rechten Spaltengruppe) beschreibbar, als durch die Zeichnung von komplizierten Bewegungsverläufen von Fadern. Dabei bestimmt die Größe und Position des Kreissymbols, zwischen welchen Lautsprechern die Rotation ausgeführt werden soll (siehe Abbildung 18). Ein Panning zwischen Lautsprechern wird hier mit seitlichen, auf Lautsprecher verweisenden Pfeilen angegeben (siehe Markierung in Abbildung 19). 70 Doch auch beim Visualisieren des Verlaufs der akusmatischen Interpretation wird das Moment der Gedankenstütze der Darstellung deutlich. Denn zum Einen bleibt die Übertragbarkeit solcher Spielanweisungspartituren auf andere akusmatische Beschallungssysteme oder Konzertsituationen gering, da sich die Raum- und Lautsprechersituation doch von einem Konzert zum nächsten stark ändern können. Die Darstellung ist des weiteren auch nur eingeschränkt übertragbar, wenn der konkrete Lautsprecheraufbau, auf der sich die Visualisierung der akusmatischen Komposition bezieht, nicht zusammen mit der Partitur dokumentiert ist, wie es z.B. in der abgebildeten Partitur geschehen war. Denn was bedeutet „SP1“ oder „SP2?149 Zum Anderen zeigt sich das Moment der Gedankenstütze der Spielanweisungspartitur auch an anderen Teilen der Darstellung: Der Faderverlauf ist nur vereinfacht dargestellt und Schlüsselklänge sind mit einem Bezeichner verknüpft. So wird für jemanden, der die Komposition nicht kennt, in der Darstellung nicht unbedingt ersichtlich, welcher Klang mit „Water (hiss)“ gemeint ist, was mit ihm passiert und was parallel hörbar ist. Der Verweis des Bezeichners ist also höchst individuell und hängt vor allem auch mit der Hörweise des Erstellers der Spielanweisungspartitur ab – also welchen Klängen von ihm welche Bezeichner zugeordnet werden. Dennoch gibt die Spielanweisungspartitur einen Anhaltspunkt für andere, die dasselbe Stück auf ihrem akusmatischen Beschallungssystem interpretieren wollen. Als Beispiel die Deutung einer Stelle aus Abbildung 18): Wenn ein dem BEAST ähnlicher Lautsprecheraufbau angenommen wird, möchte Kevin Austin (der Autor der Abbildung) beispielsweise bei Sekunde 52 den Klang von Grillen umhüllend um das Publikum abbilden und die folgenden Töne bei Minute 1‘12 langsam zentral näherkommenen lassen. Ein anderer Interpret kann sich nun überlegen, ob er ähnlich verfährt oder etwas anderes macht. Wie bei den anderen Darstellungsmöglichkeiten außer der Wellenform- bzw. Sonagrammdarstellung auch, wird hier (bisher) wieder ein separates Stück Papier fällig, das während der Darbietung gut sichtbar sein müsste. 149 Ein Teil der anderen Bezeichner sind klarer: „A“ für „above“, „R“ für „rear“, „D“ für „distant“. Es gilt anzunehmen, dass die Lautsprecher hier in den Rollen des BEAST fungieren. 71 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Visualisierungen von Kompositionen oder deren akusmatischer Interpretation der Orientierung des Klangregisseurs helfen können. Sie können so im Idealfall die notwendige Probenzeit verkürzen, da sie den Interpreten vorbereiten, er also im Vorfeld weiß, wonach er ‚suchen‘ muss und was kommen wird. Aufgrund der reduzierten Aussagekraft der Visualisierungen fungieren sie aber eher als Gedankenstütze, vor allem für den, der sie erstellt hat. Es könnte sinnvoll erscheinen, die verschiedenen Ansätze der Darstellung zur Erhöhung der Aussagekraft miteinander zu kombinieren, zumindest während der Erstellungsphase der Interpretation. Doch ersetzen sie die Kenntnis des Werks nicht (vielmehr unterstützen sie das Kennenlernen des Werks beim Einstudieren der akusmatischen Interpretation) und es bleibt fraglich, in wie weit sich der Aufwand der Herstellung der Visualisierungen lohnt. Und ob der Interpret sich an seine Verräumlichungskizzen im Konzert überhaupt halten möchte, bleibt ebenso offen. Immerhin, so Wyatt, helfe die Visualisierung einer akusmatischen Interpretation, größere ziellose Improvisationen zu verhindern, indem der Klangregisseur eben weiß, wonach er sucht.150 Fazit Da sich die Lautsprecher und der Produktionsraum in akusmatischer Musik in die Komposition einschreiben und sich die Hörsituation zwischen Produktion und Aufführung wesentlich ändert, entsteht eine Differenz, die die Wahrnehmung der Komposition transformiert. Dies zeigte sich vor allem an den Parametern komponierter und real erklingender Klangfarbe, Raumakustik und Skalierung der Dimension der Komposition bei der Wiedergabe im Aufführungsraum. Die Differenz in den Hörsituationen nun entlarvt die vermeintliche Objektivität der Reproduzierbarkeit der auf Datenträgern ‚fixierten‘ Musik als Illusion.151 Damit nun die komponierten Diskurse im Konzertsaal erhalten bzw. verständlich bleiben, braucht es einen Vermittler, der das musikalische Substrat der Komposition kennt und es entsprechend mit Hilfe der technischen, räumlichen Umgebung gestaltend übersetzt, was das Moment der Subjektivität der Wahrnehmung weiter verstärkt. Dies bedeutet aber keinen Nachteil, sondern im Gegenteil, schafft eine situationsbedingte, spezifische Ansicht auf die Komposition in einer Aufführung, die es dem Publikum erlaubt, sich dem Werk neu zu öffnen, im Idealfall zu Gunsten der Komposition. Das Werk erhält trotz seiner scheinbar festen Aufzeichnung eine Lebendigkeit und 150 Wyatt 1999, Punkt V „Notation“. 151 Vgl. dazu auch Harrison 1999, Abschnitt „From musique concrète to acousmatic music“. 72 Wandlungsfähigkeit zurück. Dem Komponisten akusmatischer Musik steht somit nun in Form des Klangregisseurs ein akusmatischer Interpret gegenüber, der sich um die Qualität der Aufführung eines akusmatischen Werkes (ausgiebig) kümmert und sorgt. Sicherlich folgen aus der Bewusstmachung der Subjektivität der Wahrnehmung nicht nur positive Aspekte. Denn ein ggf. gestaltendes Darbieten verlangt vom Klangregisseur eine gewisse Geschicklichkeit im Umgang mit der Technik, dem Raum und der Komposition, deren Entwicklung natürlich Zeit kostet. So braucht es Probenzeit und Probemöglichkeiten, um das Timing der Komposition und ihre Strukturen durch die Gestaltung nicht zu gefährden. Und die Möglichkeit häufigen Probens ist leider in der Praxis schwierig zu erreichen – Proben kostet Zeit und damit Geld. Der musikalische Gewinn, der sich durch die Vermittlung einstellt, bietet dem Aufwand aber einen gewissen Gegenwert. Aus der Komplexität des Vorgangs der akusmatischen Interpretation und der jeweiligen musikalischen Bedürfnisse leiten sich verschiedene Traditionen der Aufführungspraxis akusmatischer Konzerte ab, die gleichberechtigt nebeneinander existieren. Es kann eine gegenseitige, fruchtbare Wechselwirkung eintreten, wenn sich Komponist und Klangregisseur über die Möglichkeiten der Vermittlung im Klaren sind. So kann der Komponist in gewissen Grenzen die Eigenschaften der akusmatischen Beschallungssysteme kennen und die musikalische Darstellung entsprechend kompatibel komponieren. Im Fall der französischen Tradition würde dies bedeuten, er beachtet die räumliche Trennung der Spektralbereiche und passt die Klangobjekte seiner Komposition entsprechend an, damit sie durch die Trennung keinen Schaden erleiden, also nicht unnötig räumlich verzerrt werden. Auch muss bemerkt werden, dass vor allem stereophone Werke von der akusmatischen Interpretation gewinnen. Durch sie erhalten die Kompositionen eine reelle, glaubhafte, nuancenreiche räumliche Tiefe, die sich für viele Hörer ohne Vermittlung bei der Aufführung nicht per se einstellen würde. Spezialsoftware assistiert dem Klangregisseur bei seiner Vermittlung und erweitert seine Palette an Möglichkeiten. Intelligentes, flexibles Konfigurieren von Fadern vereinfacht das räumliche Spiel, besonders bei der akusmatischen Interpretation von Mehrkanalwerken. Es zeigt sich, wie das Potential der akusmatischen Interpretation durch Spezialsoftware und deren 73 Weiterentwicklung ausgenutzt und entfaltet werden kann. Der „Akusmix“ ist dabei nur ein Beispiel, „Flux“ ein anderes. Die Tradition der akusmatischen Interpretation scheint im Wesentlichen, so zeigen es u. a. Konzerte am SeaM und an der TU-Berlin,152 in Deutschland angekommen zu sein. Aber es offenbart sich auch hier innovatives Potential zur Weiterentwicklung. Ein Teilschritt hierzu stellt sicherlich auch das Beispiel des SeaM dar, dass sein eigenes akusmatisches Beschallungssystem nebst Spezialsoftware zur akusmatischen Interpretation besitzt, per Klangregisseur vermittelte akusmatische Konzerte außerhalb der Hochschule durchführt, sowie die Idee der akusmatischen Interpretation als Teil der Ausbildung der Komponisten elektroakustischer Musik begreift. 152 Vgl. dazu die Konzerte im Rahmen der SMC 2008, „SMC08: sound in space - space in sound – CONCERTS/INSTALLATIONS“, <http://www.smc08.org/index.php? option=com_content&task=view&id=21&Itemid=28> 11.7.2009. 74 Literaturverzeichnis Austin, Larry: „Sound Diffusion in Composition and Performance: An Interview with Denis Smalley”, in: Computer Music Journal 24, Nr. 2 (2000), S. 10-21. Austin, Larry: „Sound diffusion in composition and performance practice II: An interview with Ambrose Field”, in: Computer Music Journal 25, Nr. 4 (2001), S. 21-30. 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Weimar, den Ort, Datum Eigenhändige Unterschrift Anhang 1 CD mit Klangbeispielen. Titelreihenfolge und Titelinhalt wie folgt: Track 1 Titel Frequenzgang-Rauschen Distanz 0,8 m Lautsprecher Meyer Sound UPJ-1, EV, JBL Control 1, Rockshop Chassis, Meyer Sound USW-1 Parameter Klangfarbe / Lautsprecher Reihenfolge Referenz, Meyer Sound UPJ-1, EV, JBL Control 1, Rockshop Chassis, Meyer Sound USW-1 Track 2 Titel Frequenzgang-Sinusglissando Distanz 0,8 m Lautsprecher Meyer Sound UPJ-1, EV, JBL Control 1, Rockshop Chassis, Meyer Sound USW-1 Parameter Klangfarbe / Lautsprecher Reihenfolge Referenz, Meyer Sound UPJ-1, EV, JBL Control 1, Rockshop Chassis, Meyer Sound USW-1 Track 3 Titel Frequenzgang-Berührung Distanz 0,8 m Lautsprecher Meyer Sound UPJ-1, EV, JBL Control 1, Rockshop Chassis, Meyer Sound USW-1 Parameter Klangfarbe / Lautsprecher Reihenfolge Referenz, Meyer Sound UPJ-1, EV, JBL Control 1, Rockshop Chassis, Meyer Sound USW-1 Track 4 Titel Drehung-E3 Distanz 0,5 m Lautsprecher D&B E3 Parameter Klangfarbe -> Hörposition Reihenfolge Referenz, Kreis, Referenz Track 5 Titel Drehung-E3-Distanz Distanz 2m Lautsprecher D&B E3 Parameter Klangfarbe -> Hörposition Reihenfolge Referenz, vor, hinter dem Lautsprecher (180°) Track 6 Titel Ecke-Rauschen Distanz 2 m, 5 m Lautsprecher D&B E3 Parameter Klangfarbe -> Hörposition + Aufstellung Reihenfolge Referenz, Mitte (2 m), Boden (2 m), Mitte (5 m), Boden (5 m) Track 7 Titel Ecke-Berührung Distanz 2 m, 5 m Lautsprecher D&B E3 Parameter Klangfarbe -> Hörposition + Aufstellung (Einfluss auf Komposition) Reihenfolge Referenz, frei im Raum, Ecke-Mitte (2 m), Ecke-Boden (2 m), Ecke-Mitte (5 m), Ecke-Boden (5 m) 2 Track 8 Titel Raum-Hall-Beep Distanz 3 bzw. 4 m Lautsprecher Adam A7 (Heimstudio), JBL Control 5 (Raum 011/009) Parameter Raum -> Hall Reihenfolge Referenz, Heimstudio, Raum 011, Raum 009 Track 9 Titel Ekg-Clicks Distanz 1,5 m, 5 m Lautsprecher Adam A7 (Heimstudio), JBL Control 5 (Raum 011/009) Parameter Raum -> Hall Reihenfolge Referenz, Heimstudio (1,5 m), Raum 011 (1,5 m), Raum 011 (8 m), Raum 009 (1,5 m), Raum 009 (5 m) Track 10 Titel Panning-Meyer Distanz 2 m, 10 m Basisbreite 4 m, 10 m Lautsprecher Meyer UPJ-1 Parameter Hörposition -> Reflexionsflächen Reihenfolge Referenz, 4 m breit + 2 m Distanz, 4 m breit + 4 m Distanz, Aufbau 90° gedeht: 10 m breit + 2 m Distanz, 10 m breit + 4 m Distanz 3 Track 11 Titel Raum-Panning Distanz 1m Lautsprecher Adam A7 (Heimstudio), JBL Control 5 (Raum 011/009) Parameter Hörposition -> seitliche Verschiebung aus dem Zentrum heraus Reihenfolge Referenz, Heimstudio (zentriert), Heimstudio (verschoben), Raum 011 (zentriert), Raum 011 (verschoben), Raum 009 (zentriert), Raum 009 (verschoben) Track 12 Titel Raum-Bewegung-Nah-Fern Distanz 1 m, 6 m Lautsprecher JBL Control 5 Raum Raum 011 Parameter Hörposition -> Distanz Reihenfolge Referenz, 1m Distanz, 6 m Distanz [CD hier hinein kleben] 4