Johannes- Passion - Christliche Gemeindemusikschule

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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
J. S. Bach:
Johannes- Passion
Eine musikalische Analyse
Dipl. mus. Frank Laffin
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Einheit I:
Die Entstehung der Johannes- Passion und ihre
musikalischen Vorgänger
1. Die „musikalische“ Passion in der Geschichte
Passion (lat. passio, Leiden, Erdulden, Schwäche) ist „der Bericht vom Leiden und
Sterben Jesu, wie ihn die Evangelisten Matthäus (26, 27), Markus (14, 15), Lukas (22,
23) und Johannes (18, 19) in unterschiedlicher Redaktion übermitteln. Die Passion bildet
einen zentralen Text für die Heilsgeschichte: Im Sühneopfer am Kreuz, das in den
Einsetzungsworten beim Abendmahl angekündigt wird, erfüllt der Messias seine göttliche
Mission für das Heil der Menschen und offenbart sich als Gottes Sohn.“
(aus: MGG, S. 1453)
1.1. Die einstimmige Passion
Die Lesung der Passion im Rahmen der Karwochenliturgie diente in der Frühzeit des
Christentums der geistlichen Belehrung. Vereinzelt gibt es Hinweise auf eine bevorzugte
und
hervorgehobene
Ausführung
der
Passionstexte
im
Vergleich
zu
andern
Evangelientexten. Augustinus spricht von einer „feierlichen Lesung“ („solemniter legitur
passio,
solemniter
celebratur“).
In
dieser
Zeit
der
Kirchenväter
haben
Passionserzählungen wie bildliche P. Darstellungen (Bildbeispiel „Deesis“, Ende 12. Jh.)
überwiegend erzählenden Charakter. Die Passionsfrömmigkeit der Bettelorden im 13. Jh.
Trägt bereits mystische Züge (vorbereitet durch Bernhard von Clairvaux und begünstigt
durch ein Interesse an Heiligen Stätten, wo das Schicksal des leidenden und sterbenden
Christus nachempfunden wurde), in der gotischen Bildkunst wird der „Schmerzensmann“
dargestellt (Bildbeispiel „Schmerzensmann“, Elsass 1450), der zur compassio, d.h. zum
Mitleiden und zur imitatio christi (Nachfolge) auffordert.
Zahlreiche volkssprachliche Übersetzungen und Nachdichtungen der Passion in Versen
wie in Prosa leiten zu den Passionsspielen über, die in ihrer aufwändigen Gestaltung den
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Bildern in zeitgenössischen Büchern vergleichbar werden (Bildbeispiel „Buchillustration
Lukas“, England ca. 1415). In Zusammenhang mit der bildhaften Ausgestaltung des
Passionsgeschehens ist zu sehen, dass im Laufe des 15. Jh. die Zahl der ausführenden
Personen zunimmt, war der Vortrag der Passionsgeschichte bislang nur einem Kantor
(Sänger) vorbehalten. Dieser trug den Text (z.B. das Johannes- Evangelium nach Papst
Leo I. (440-461) stets am Karfreitag, ebenso in evangelischer Tradition) aus einer
Handschrift, einem Pracht Codex oder dem eigens für ihn bestimmten Cantorinum vor.
Der Vortrag unterliegt den Regeln eines so genannten Rezitationstons (genannt Tenor).
Die frühesten Zeugnisse aus dem 12. Jh. belegen eine melodische Abstufung im Vortrag,
oder anders ausgedrückt: einen wechselnden Tenor. Hierbei wird zwischen den
auftretenden Figuren der Passionsgeschichte unterschieden. Es gibt eine mittlere
Tonhöhe für die Narratio (die Erzählung), eine tiefere Tonlage für die Worte Christi und
eine höhere Tonlage für die Worte der anderen Charaktere (Judas, Petrus, Pilatus, die so
genannten Soliloquenten und die Volksmenge, die so genannten Turbae). (→ CorbieHandschrift, Laaber)1
Es liegt nun nahe, die Unterscheidung der Rezitationstöne auf mehrere Vortragende
aufzuteilen. Die Bestrebung dafür ist, einerseits den Evangelistentext einheitlich zu
rezitieren, andrerseits die Jesus- Worte hervorzuheben, so dass sich mit den übrigen
Textabschnitten insgesamt drei vorherrschende Rezitationsebenen ergeben.
Den Vortragenden wurden nun „Vortragshilfen“ an die Hand gegeben, so genannte
litterae,
also
Buchstabenkürzel.
Dies
sind
sowohl
(relativ
zu
verstehende)
Tonhöhenangaben (wie m = mediocriter, in mittlerer Lage; i = iusum, in tiefer Lage; a =
altius, in höherer Lage, usw.) als auch Ausdrucksbezeichnungen (wie c = celeriter,
schnell; t = tenere, langsam und verhalten; f = fortiter, kräftig, usw.). Häufig überlieferte
litterae verteilt auf die unterschiedlichen Partien der Passion siehe Beispiel aus MGG. Es
zeigt sich, dass die meisten Buchstaben den Jesus- Worten zugeordnet sind, deren Inhalt
und Ausdruck einprägsam mit gesenkter Stimme und zurückgenommenem Vortrag
dargestellt werden. Als übliche Rezitationstöne haben sich die so genannten „römischen
Rezitationstöne“ durchgesetzt (Jesus f, Narratio c´, Turbae f´). Nachdem ursprünglich der
Vortrag der Passion einem Diakon zugewiesen war, erfolgt nun die Aufteilung auf drei
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G. Massenkeil: Oratorium und Passion Bd. 1, Laaber 1998
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Diakone, von denen der zentral stehende die Rolle der Jesus- Worte übernahm. Als
weiterer Schritt zur Verlebendigung des Vortrags werden in einzelnen Fällen mehrere
Sänger zum (nach wie vor einstimmigen) Vortrag der Turbae (des Volkes)
hinzugenommen, eine entsprechende Vorschrift findet sich bereits in einer Handschrift
von 1348 aus Polen).
1.2. Die mehrstimmige Passion
Terminologie
Otto Kade (1893):
● „dramatische Passion“ = nur die direkten Reden werden mehrstimmig vertont v.a. die
Turbae; auch „Choralpassion“ (oder „responsoriale Passion“ = ebenfalls nur die Turbae
sind mehrstimmig)
● „motettische Passion“ (folgt der Gattung der Motette) = auch die erzählenden
Passagen werden polyphon gesetzt; auch „Figuralpassion“ (oder „durchkomponierte
Passion“)
● „Passionsharmonie“ = Zusammenstellung von Texten aus mehreren Evangelien
● „oratorische oder konzertante Passion“ = mit neu komponierten Erzählerpassagen,
die sich nicht länger am Rezitationston orientieren; der Oper und dem Oratorium folgend;
ebenso Hinzunahme von Neudichtungen (Arien und Ariosi) und instrumentalen Vor- und
Zwischenspielen.
Die Anfänge der Mehrstimmigkeit und die katholische Passion
Mit der Aufteilung der Passionserzählung auf mehrere Sänger ergab sich zumindest
theoretisch die Möglichkeit eines mehrstimmigen Gesangs. Die früheste Form der
Mehrstimmigkeit ist vermutlich eine improvisierte Mehrstimmigkeit einfachster Art unter
Berücksichtigung des Quint – Quart – Abstandes der drei verschiedenen Rezitationstöne
(f - c´ - f´). Als Beispiel dafür gilt der um 1450 geschriebene Traktat aus der Pfarrkirche in
Füssen (siehe Bild und Notenbeispiel). Es gibt folgende Beschreibung der Vortragsweise:
„Wenn es zu dem fürchterlichen, lärmenden Ansturm und Tumult der Juden kommt, dann
muss man gemeinsam fortfahren.“ Beachtenswert ist der Umstand, dass die
Mehrstimmigkeit offenbar ausschließlich den Reden der Juden vorbehalten war. Die
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Wissenschaft geht deshalb von einer direkten Verbindung mit den damaligen
Judenverfolgungen aus. Weitere Zeugnisse früher notierter Mehrstimmigkeit fehlen.
Das am meisten verbreitete Stück unter den frühen Passionen ist die „Passionsmotette“
des Antoine de Langueval (um 1507), der Textzusammenstellung nach aus allen vier
Evangelien und durchweg mehrstimmig (zwei- bis vierstimmig) komponiert. Allerdings
bleibt der liturgische Passionston durchweg in einer der vier Stimmen erkennbar. Die
Turbae sind meist vierstimmig, die Solistenpartien (einschließlich der Jesus- Worte)
gewöhnlich zweistimmig.
Zum Vergleich: Johannes- Passion von Balthasar Resinarius Harzer (1543), ebenfalls ein
fest an den Lektionston gebundenes, ausgesprochen frühes Werk. Es ist eine „summa
passiones“, d.h. eine Passion in Kurzform, die nur die wichtigsten Stellen behandelt.
Notenbeispiel (secunda pars):
T. 1-10: Polyphoner Beginn der Narratio in allen Stimmen, erkennbar die natürliche
Mehrstimmigkeit der Rezitationstöne f und c.
T. 10-17: Homophoner Einschub beim Text „sie nahmen Jesus fest“; erste musikalische
Tonmalerei bei den Worten „zu Hannas“ (T. 15); gegenläufige Viertelbewegung.
T. 18-28: Dreistimmige Erzählung des Geschehens vor dem Hohenpriester; deutlich
erkennbar der Rezitationston c der Narratio im Bass.
T. 29-30: Ausdünnung des Satzes als Überleitung zur zweistimmigen Rede von Jesus
T. 31-59: Rede Jesu auf den Rezitationston f; beachte: der Bass ist die eigentlich wichtige
Stimme, auch wenn der Alt „solistischer“ erscheint.
(→ gemeinsam musizieren)
Bedeutende Werke der liturgischen mehrstimmigen Passion in den katholischen Gebieten
des 16. und 17 Jh. sind die Passion Alessandro Scarlattis (Italien um 1680) und die vier
Passionen Orlando di Lassos (München um 1580). Bemerkenswert bei Scarlattis Passion
ist die Besetzung (2 Vl., Va. und Bc), sowie die große Geschlossenheit des Werkes durch
einen einheitlichen Beginn und Schluss. Beide Teile (Exordium und Conclusio) stehen in
derselben Tonart und sind mit Largo überschrieben (siehe Notenbeispiel und Faksimile,
evtl. musizieren T. 1-28), eine Station auf dem Weg zur auskomponierten und
instrumental begleiteten Passion. Orlando di Lasso komponierte ganze vier Passionen,
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
die bis weit ins 18. Jh. tradiert wurden. Seine Johannes- Passion ist ein streng
liturgisches Werk, das über weite Strecken den choralen Passions- oder Rezitationston
beibehält. Auch hier werden wörtliche Reden meist als Duo komponiert (siehe
Notenbeispiel und Faksimile XXVII; Nr.1 und 3-6; evtl. musizieren).
Die protestantische Passion
Die Anfänge der protestantischen Passion sind gleichbedeutend mit den Anfängen der
deutschsprachigen Passionen. Hier gibt es zwei wesentliche Entstehungszweige, die für
Komponisten des 16. Jh. von Bedeutung waren. Der norddeutsche Reformator Johannes
Bugenhagen bot 1526 eine Passionsharmonie an, die gesprochen und nicht gesungen
werden sollte. Martin Luther geißelte in seiner Abhandlung zur „Deutschen Messe“ das
„vier Passion singen“ als „gauckelwerck“ und hielt sich damit an Johann Walters
Vorschlag, des Passionstextes eines Evangeliums einen Anfangs- (Bitt) und Schlussvers
(Dank) hinzuzufügen. [Johann Walter (1496-1570), musikalischer Berater Luthers und
Begründer der eigenständigen deutschsprachigen Kirchenmusik für den lutherischen
Gottesdienst
durch
das
Geistliche
Gesangbüchlein
(1524)]
(siehe
Bildbeispiel
„Gesangbuch“, Laaber, S. 54) Komponisten in diesem Sinne waren der Ansbacher
Hofkapellmeister John Meiland (ca. 1543-1577), und die erstmals gedruckten
Kompositionen von Melchior Vulpius in Weimar (1570-1615), Thomas Mancinus in
Wolfenbüttel (1550-1612), Otto Siegrfied Harnisch in Göttingen (1568-1623) und von Chr.
Schultze in Delitzsch. Sie alle waren aber nur Autoren in Bezug auf die Chöre, die
Einzelgesänge hatten sie lediglich übernommen (inkl. Rezitationstöne). Mancinus
überschreibt seine Passion von 1620: „Mit Personen. In welchem der Text, so der
Evangelista und die anderen Personen singen, choraliter (d.h. nach dem Choralston); der
ander Text aber, der den ganzen chorus praesentiret, mit 4 Stimmen figuraliter (d.h.
mehrstimmig) gesetzt ist.“ (MGG, S. 1471) In Leipzig gilt dieser altprotestantische Modus
noch bis 1716.
Der einzige Musiker, der sich ohne Einschränkung als „Komponist“ einer ganzen Passion
bezeichnen konnte, war Heinrich Schütz, denn in seinen drei Werken nach Matthäus,
Johannes und
Lukas (alle 1666), sind auch die Sologesänge original und sogar in
unterschiedlichen Tonarten. Sie lassen zwar im Lektionston des Evangelisten das Vorbild
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
von Johann Walter noch erahnen, fügen aber bereits dramatische Elemente durch
eindringlich geschilderte Situationsbeschreibungen und eine Vielzahl an musikalischrhetorischen Figuren ein. Zudem schafft Schütz mit seiner Komposition der „Sieben
Worte Jesu am Kreuz“ einen neuartigen Typus von Passionsmusik (siehe Bildbeispiel
„Schütz“, Laaber, S. 186). Seine drei Passionen sind für den Gottesdienst in der Dresdner
Schlosskapelle bestimmt, sie entsprechen durch ihre rein vokale Besetzung dem bislang
üblichen Passionsvortrag ohne instrumentale Begleitung. „Kein anderer Komponist hat
die zentralen neutestamentlichen Historien in ihrer Gesamtheit und jeweiligen Tradition
kompositorisch so reflektiert und mit der ganzen Kraft seiner Kunst durchdrungen wie
Schütz. Und wie kein anderer Komponist seiner Zeit hat er sich bei der Vertonung auf den
reinen Bibeltext konzentriert.“ (G. Massenkeil, Laaber 1998)
(→ gem. musizieren aus Schütz S. 16; Beispiel für dramatische Kraft)
Hamburg an der Wende vom 17. zum 18. Jh.
Mitte des 17. Jh. wirkt in Hamburg der Stadtkantor Thomas Selle, der als letzter
bedeutender Komponist eine Johannes- Passion im konzertanten Stil zur Aufführung
bringt. Die verschiedenen Solisten werden von je einem Instrumentenpaar begleitet (zwei
Violinen für die Jesusworte, zwei Fagotti für die Evangelistenpartie, zwei Cornetti und
Pasaune für Pilatus). Nach Selle lässt sich allerdings eine gewisse Stagnation im
Schaffen neuer Passionsvertonungen feststellen. Beide Nachfolger von Selle geben
keine neuen Impulse mehr auf diesem Gebiet. Sie kommen erst wieder aus einer ganz
anderen Richtung. Die neue Gattung, die Komponisten in Hamburg in den Bann zieht, ist
die deutsche Oper (Eröffnung des ersten Opernhauses in Deutschland 1678). Sie scheint
sich literarisch wie musikalisch attraktiv auf Komponisten aus nah und fern auszuwirken.
Unübersehbar ist geistesgeschichtlich gesehen der Einfluss der Aufklärung. Vor diesem
Hintergrund sind zwei bedeutende Ereignisse unmittelbar mit der Weiterentwicklung der
Passion verbunden.
Die erste neuartige (weil oratorische) Passion ist eine anonyme Johannes- Passion von
1704, die lange Händel zugeschrieben wurde. Sie weist ein eigenes Libretto auf und ist
damit durchwoben von einem neu gedichteten Text eigener Wertigkeit. Er besteht aus 13
Gedichten für acht Arien, vier Duette und einen Schlußchor, die die einzelnen
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Leidensstationen kommentieren. Ein Arientext „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“
erscheint später, der Melodie des Chorals „Machs mit mir Gott, nach deiner Güt“ unterlegt
in der Johannes- Passion von J.S. Bach. Die Vertonung der Narratio wird jetzt zum ersten
Mal ausdrücklich Rezitativ genannt und die Worte der Personen Ariosi. Sie erden von
einem vierstimmigen Streichersatz akkordisch begleitet (Klang- und Notenbeispiel „Mich
dürstet“, Laaber, S. 199). Zudem enthält das Libretto keine Choräle. Die Ablösung vom
lutherischen Gottesdienst ist unübersehbar. Sie erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt
durch das zweite Hamburger „Ereignis“ im Jahr 1704: die (vermutlich außerkirchliche)
Aufführung von Reinhard Keisers „Der blutige und sterbende Jesus“ nach einem Libretto
von Christian Friedrich Hunold, genannt Menantes, der vor allem als Textdichter
weltlicher Kantaten von J.S. Bach bedeutsam war. Keiser selbst war bekannter
Hamburger Opernkomponist, die Musik zu diesem „Passions- Oratorium“ ist allerdings
verschollen. Das Neue daran ist die konsequente Versifizierung des Evangelientextes.
Hunold selbst rechtfertigt dies 1706 wie folgt: […] Allein so hat man gemeinet, dieses
Leiden, welches wir ohne diß nicht lebhafft gnung in unsere Hertzen bilden können, bey
dieser heiligen Zeit nachdrücklicher vorzustellen, wenn man es durchaus in Versen und
sonder Evangelisten, gleich wie die italiänische so genannte Oratorien, abfaste, so dass
alles auf einander aus sich selber fliesset.“ Der Bericht des Evangelisten fehlt also völlig,
und der komplette Evangelientext ist in Versform und wörtlicher Rede abgefasst.
Der Hamburger Jurist und Ratsherr Berthold Hinrich Brockes (1680-1747) verfasst mit
seinem Werk „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Heiland“ von 1712
ebenfalls ein in Verse gefasstes Passions- Libretto, das allerdings die Partie des
Evangelisten beibehält und sogar wieder (vier) Choralstrophen als „Rede der Christlichen
Kirche“ (→ s. Bach) einfügt. Mit dieser Einbeziehung reagiert Brockes wohl auf die Kritik,
die der Hunold- Text bei der Hamburger Geistlichkeit hervorgerufen hatte. Es beginnt ein
wahrhafter Triumphzug der so genannten Brockes- Passion, die von Komponisten wie G.
F. Händel (1716), J. Mattheson (1718) und G. Ph. Telemann (1722) vertont wird. Von
Telemann selbst (Bild) sind 46 unterschiedliche Passionen bekannt, da er sich selbst als
Hauptkantor aller fünf Hamburger Kirchen einen Schwerpunkt setzte, über 46 Jahre
hinweg immer eine neue Passion zu schreiben. Für die Aufführungen standen ihm stets
hochqualifizierte Sänger des Opernhauses zur Verfügung, da dies während der
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Fastenzeit geschlossen war. Neben diesen zahlreichen Passionen sind weitere drei
Passions- Oratorien wie auch andere biblische Stoffe überliefert (Die gekreuzigte Liebe,
1731; Betrachtung der neunten Stunde am Todestag Jesu, 1755; Der Tod Jesu, n.n.). Sie
sind das Zentrum seines kirchenmusikalischen Schaffens. Er verbindet im Oratoriumstext
den wörtlichen Evangelistenbericht mit „poetischen Erwägungen“ und „erbaulichen
Betrachtungen“ und lässt bis zu 50 zusätzliche, allegorische Figuren auftreten (Glaube,
Liebe, Freude, Eifer, Klugheit, Aufmerksamkeit, Verachtung, ja sogar „blinder
Religionseifer“). Die Partie des Evangelisten ist stets als Rezitativ, die der Jesus- Worte
als Ariosi mit Streicherbegleitung und die anderen Solisten als Da Capo- Arien.
2. Die Entstehung der Johannes- Passion von J.S. Bach
Leipzig zur Zeit von J.S. Bach
In der Musikgeschichte Leipzigs gibt es vor Bach nur sehr wenige Spuren, die auf die
spätere Oratorienpflege des Thomaskantors hinweisen. 1717 oder 1718 wird hier die
Brockes- Passion von Telemann aufgeführt, allerdings nicht an einer der beiden
evangelischen Hauptkirchen der Stadt, St. Thomas und St. Nikolai, wo ein solches Werk
wie bereits an den Hamburger Hauptkirchen auf lutherischen Widerstand gestoßen wäre,
sondern an der (1699 eingeweihten) Neukirche, deren Musikdirektor Telemann von 1701
bis 1705 gewesen war. Diese Passionsaufführung gefiel wohl den Leipzigern so, dass
1721 von Bachs Vorgänger Johann Kuhnau in der Thomaskirche eine Markus- Passion
aufgeführt wurde. Von 1723 an konnte aufgrund einer speziellen Stiftung auch an der
Nikolaikirche eine Karfreitagsvesper abgehalten, in deren Zentrum die Predigt stand,
umrahmt von zwei Teilen einer anspruchsvollen Passionsaufführung. Da die benötigte
Anzahl von Instrumentalisten und Sängern nicht gleichzeitig an beiden Hauptkirchen
eingesetzt werden konnte, einigte man sich dahingehend die Karfreitagsvesper, die um
14 Uhr begann, abwechselnd im Jahresrhythmus in den beiden Kirchen aufzuführen.
Diese Situation fand Bach bei seinem Amtsantritt vor und schon zur Karfreitagsvesper am
7. April 1724 führte er in der Nikolaikirche seine Johannes- Passion auf. Nach dem
neusten Stand der Forschungen leitete Bach beim Vespergottesdienst an Karfreitagen
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
jedes Jahr im Wechsel zwischen den beiden Hauptkirchen eine Passion. Dies ergibt für
seine frühe Amtszeit folgende Reihenfolge:
1724 – Johannes- Passion 1. Fs. (BWV 245), Nikolaikirche
1725 – Johannes- Passion 2. Fs., Thomaskirche
1726 – Markus- Passion von R. Keiser mit Adaptionen von Bach, Nikolaikirche
1727 – Matthäus- Passion 1.Fs. (BWV 244), Thomaskirche
1728 – Johannes- Passion 3. Fs., Nikolaikirche
1729 – Matthäus- Passion 1. Fs., Thomaskirche
1730 – Lukas- Passion eines uns unbekannten Komponisten mit Adaptionen von Bach (BWV 246),
Nikolaikirche
2
1731 – Markus- Passion (BWV 247), Thomaskirche
Die privaten Aufzeichnungen des Mesners der Thomaskirche, Johann Christoph Rost
über die Gottesdienstgestaltung dieser Jahre sind erhalten. Sie vermitteln eine korrekte
Vorstellung von den halbliturgischen Aufführungen von Bachs Passionen:
„In der Neuen Kirche wird am Charfreytage auch eine Vesper gehalten, welche 3 Uhr angehet.
Anno 1721 ward am Charfreytag in der vesper die Passion zum 1stmahl musicirt, np. 1. Viertl auf 2. wurde
gelautet mit dem ganzen gaelaute, als ausgelautet, wurd auf dem Chor, das Lied gesung. Da Jesus an dem
Creutze stund p. dann ging gleich die Musicirt Passion an, und ward vor der Predigt halb gesungen, die
Helfte schloß sich mit dem verß, o. Lmb Gottes unschuldig, damit ging der Prister auf die Cantzel. Auf d.
Cantzel ward a. H. Jesu Christ dich zu uns wend gesungen.
Dann ging die andre Helffte d. Music an, als solche aus, ward die Motete Ecce quomodo moritur justus p.
gesungen, als dann der Passions vers intoniret und Collect gesprohen. Als dann Nun dancket alle gott
gesungen.
1722 eben also.
Anno 1723 ward zum ersten mahl die Vesper zu St. Nicolai gehalten, die Predigt hielt d. H. Superintendent
H.D. Deyling, welche Fr. Koppin gestiftet.
Anno 1724 wurd die Passion zu St. Nicolai zum ersten mahl Musiciret p. Zu St. Thom. Aber wurden nur
Lieder gesungen, wie vor diesem gebräuchlich.“ (zitiert nach Martin Petzold 1985, S. 22)
Die Vertrautheit Bachs mit der Hamburger Passionsentwicklung ist unübersehbar:
2
G. Scholz: Bachs Passionen, Beck 2000
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
a) Bach verwendet in der Johannes- Passion Texte aus der Brockes- Passion von
Telemann.
b) 1713 führt Bach bereits die Markus- Passion von R. Keiser in Weimar auf und
ergänzt sie durch eigene Zusätze. Diese Fassung erklingt 1726 ebenfalls in Leizig.
c) Bach führt diese Keiser- Passion in den Jahren 1743-48 erneut in Leipzig auf und
verändert sie erheblich, indem er drei Keiser- Arien durch sieben Händel- Arien
aus dessen Brockes- Passion ersetzt. (→ pasticcio)
Die Textgestalt und die musikalische Umsetzung
Für Bach wie für die konservative Leipziger Kirchengemeinde steht allerdings die
Unantastbarkeit des Bibelwortes Luthers außer Frage. Dieser Standpunkt differiert im
Vergleich zu anderen protestantischer Zentren (s. Hamburg). Bachs Passionen stehen in
Bezug auf die Vertonung des Bibelwortes in der Tradition der Passionen von Heinrich
Schütz. Doch sind seine Wortausdeutungen und das allgemeine Wort- Ton- Verhältnis
viel komplexer als die von Schütz. Eine wesentliche Neuerung sind die evangelischen
Kirchenlieder, die auf die reformatorische Gottesdienstordnung von Martin Luther
(„Deutsche Messe“, 1526) zurückgehen. In der althergebrachten katholischen Messfeier
war der Gemeinde nur eine geringe Beteiligung möglich, im Hauptteil der Messe, dem
Canon messae, hatten sie sogar ganz zu schweigen. In bewusstem Gegensatz dazu bot
die evangelische Kirche den Gläubigen im Gesang der Kirchenlieder eine Identifikation
mit dem liturgischen Geschehen an (s. Martin Luthers Aussagen über Musik, z.B. „eine
schöne herrliche Gabe Gottes und nahe der Musik“). Bachs Einbindung der der
bekannten Kirchenlieder hatte daher zwei Wirkungen: Der Bibeltext regte zum
persönlichen Bekenntnis an und die Texte der bekannten und oft gesungenen
Kirchenliedstrophen wurde durch ihre Platzierung in einen direkten Zusammenhang mit
der jeweiligen Passionsaussage gestellt. Die Neudichtungen und poetischen Texte der
Passionen sind aus der Predigt abzuleiten, hatten ja die Predigten im Gottesdienst nicht
nur belehrende Funktion, sondern auch die Aufgabe, persönliche und emotionale
Regungen bei den Zuhörern zu bewirken. Seit 1985 ist erwiesen, über welche
Predigtsammlungen Bach und seine Dichter verfügten und aus denen sie als Laien
theologisch vertretbare Wendungen und Sprachbilder nehmen konnten, die auch von der
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Leipziger Obrigkeit akzeptiert wurden. Wir haben also bei Bach eine dreifache Schichtung
textlicher Elemente:
a) Die biblische Erzählung bildet den Kern der Passion („biblisch“)
b) In den Strophen der Choräle (d.h. der Kirchenlieder) kommt die Schar der
Gläubigen als eine „mündige“ Gemeinde zu Wort („reformatorisch“, „evangelisch“).
c) Was die Gemeinde bekennt, wird vom Einzelnen in Arien und Ariosi bedacht und
reflektiert („mystisch“, „pietistisch“).
Die Predigten vor allem der protestantischen Konfession waren im 17. und 18. Jh. stark
von der zeitgenössischen Rhetorik beeinflusst. Hierbei orientierten sich humanistische
Denkmuster vor allem an der Rhetorik der Antike, z.B. dem Sprachgebrauch von Cicero
und Quintilian. Man versuchte, diese Sprache in die der Zeit zu übertragen. Dabei wurden
der Rhetorik vier Hauptaufgaben zugemessen: docere – movere – delectare –
persuadere (belehren – bewegen – erfreuen – überzeugen). Diese Auffassung von
Sprach hatte starken Einfluss auf die zeitgenössische Musik. Musik wurde als
„Klangrede“ verstanden. Begriffe aus Sprache und Rhetorik wurden mit derselben
Bedeutung in der Musik übernommen (z. B. Exordium und Conclusio). Ein Vortragsstil,
der Effekte beim Hörer erzielen wollte (im Sinne von „bewegen, erfreuen und
überzeugen“), also ein „überzeugender“ Vortrag, bemühte sich um den Einsatz von
„Figuren“, welche die Bedeutung einzelner Aussagen illustrierten. Solche Figuren wurden
aus der literarischen Rhetorik in die Kompositionslehre übertragen und mit meist
griechischen Fachausdrücken belegt. Dies waren v. a.
-
Figuren der Bildhaftigkeit: Anabasis, Katabasis, Circulatio
-
Wiederholungsfiguren: Klimax
-
Pausenfiguren: Apokope, Abruptio, Suspiratio
-
Intervallfiguren: Exclamatio, Passus duriusculus, Interrogatio
-
Satzfiguren: Katachresis, Parrhesia
(s. Notenbeispiele)
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Es ist nachvollziehbar, dass der kompositorische Schauplatz des Einsatzes solcher
„musikalisch- rhetorischer“ Figuren vorerst die Oper war. In ihr werden große Gefühle
effektvoll musikalisch ausgedrückt, von rasender Rache bis zum schmerzlichen
Liebeskummer. Solche allzu dramatischen Expressionen waren von jeher der der
Kirchenmusik und ihrer Oberen suspekt. Auf der anderen Seite kann sich eine
Kompositionspraxis, die an zeitgenössische Hörgewohnheiten appelliert, nicht völlig der
Ästhetik der jeweiligen Zeit verschließen. Bach stand also stilistisch zwischen zwei
Positionen (kirchliche Zurückhaltung gegenüber einem Zuviel an Gefühl und Neuerungen,
man hatte Bach in seinem Anstellungsvertrag verpflichtet, nicht „opernhaftige“ Musik zu
komponieren vs. ausdrucksstarke Vermittlung einer erregenden Botschaft) und nähert
sich auf zwei Wegen beiden Parteien an: Wenn Bach in seinen Passionen Rezitative und
Arien einbezieht, dann belegt dies eine Nähe zur Oper oder zum Oratorium (einer nichtszenischen Oper), wenn er das evangelische Kirchenlied einbezieht, dann nähert er sich
der Forderung der Geistlichkeit. Insgesamt betrachtet, verwischt also die stilistische
Trennung zwischen Kirchen-, Theater- und Kammermusik, ohne dass man bei Bach von
einer „Verweltlichung“ der geistlichen Musik sprechen sollte. Die stilistische Vielfalt in den
Passionen in Zusammenhang mit dem unleugbaren Gefühl der Zusammengehörigkeit,
hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass diese Werke seit ihrer Wiederentdeckung
bekannt und hochgeschätzt geblieben sind.
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Bachs Johannes- Passion steht in der Rezeptionsgeschichte (d.h. in der Aufnahme bei
Publikum) allerdings auffällig im Schatten der größeren Matthäus- Passion. Die Gründe
dafür sind zahlreich:
-
seit Felix Mendelssohn- Bartholdys glanzvoller Wiederaufführung der
Matthäus- Passion in Berlin (1829) kommt dem Werk in Europa eine nahezu
ununterbrochene Begeisterung entgegen.
-
Die Johannes- Passion gilt nicht zuletzt aufgrund ihrer zahlreichen
Bearbeitungen als „work in progress“, quasi Gebrauchsmusik, die sich der
veränderten Ästhetik und Gottesdienstordnungen unterwerfen musste.
Nach heutigem Stand der Forschung geht man von vier unterschiedlichen
Fassungen aus, die für Aufführungen in den Jahren 1724, 1725, 1732 und
1748 bereit gestellt wurden. Eine Aufsehen erregende Wiederaufführung im
19. Jh., wie jener der Matthäus- Passion durch Mendelssohn, fehlt völlig.
-
Kritikern fällt schon seit jeher eine gewisse ästhetische Heterogenität auf,
der im Text begründet ist. Jesus ist im Johannes- Evangelium (s. auch
Textbetrachtung Kettling) stets der Gottessohn, als König, andererseits aber
auch als gedemütigter Schmerzensmann dargestellt. Das Evangelium
konzentriert sich stark auf das zentrale Ereignis, den Prozeß Jesu vor
Pilatus; die Herrlichkeit Christi ist auch hier immer präsent. Damit bietet die
Johannes-
Passion
eine
„mitleidenden“
Gemeinde
weniger
Identifikationsmöglichkeiten als die ausladende Matthäus- Passion. Der
unbekannte Textdichter konnte auch nicht die packenden Direktheit
erzielen, welche den Text von Picander in der Matthäus- Passion
auszeichnet. So wurde schon über den Text des Arioso „Betrachte meine
Seel“ als „blühender Unsinn“ gesprochen.
Allerdings ist der Einsatz des Chores in den Turba- Stellen dem in der
Matthäus- Passion an Zahl wie an Dramatik weit überlegen. Die
Auseinandersetzung Pilatus – Juden wird besonders packend dargestellt
und übt heute noch eine große Anziehungskraft aus.
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Der Bibeltext ist durchgehend durch Secco- Rezitative (Rezitative mit akkordischer
Begleitung des Basso Continuo) beziehungsweise Turba- Chöre vertont. Auf den ersten
Blick scheinen diese „einfachen“ Rezitative kompositorisch weniger ausgefeilt als die der
Matthäus- Passion. Bei näherer Betrachtung erweist sich dies jedoch nicht als richtig.
Zwar verzichtet Bach auf die Hervorhebung der Jesus- Worte durch hinzugefügte
Streicher, er wechselt aber in schneller Folge Tonarten, Modulationsabschnitte,
Stufenmelodik
und
große
Intervallsprünge,
dissonante
und
konsonante
Akkordbegleitungen, rhythmische Beschleunigungen und Tempi. Deswegen kommt den
Secco- Rezitativen eine besondere Bedeutung zu (nicht zuletzt für die Interpreten).
Notenbeispiel (aus den Auszügen): „Der verminderte Dreiklang“ – der Wille Gottes und
die richterliche Anordnung des Pilatus.
NBA 4/EP Nr. 8, T. 15: „Vater gegeben hat“; verminderter Dreiklang g – e – cis
NBA 16a/EP Nr. 22, T. 9: „Klage wider diesen Menschen?“; verm. Dreiklang d – h – gis
NBA 16e/EP Nr. 26, T. 11: „andere von mir gesagt“; verm. Dreiklang d – h – gis
NBA 18a/EP Nr. 28, T. 16: „ich euch einen losgebe“; verm. Dreiklang d – h – gis
Es ist mit diesen drei Tönen also eine Art Leitmotiv gegeben, das sich immer auf das
Verfahren gegen Jesus bezieht. Somit schafft Bach hier einen theologischen Bezug
zwischen dem Willen Gottes („den mir mein Vater gegeben hat“) und der richterlichen
Anordnung durch Pilatus.
Die Gliederung der Johannes- Passion
Den liturgischen Ablauf der Karfreitagsvesper in Leipzig beachtend, ergibt sich eine große
Zweiteilung der Johannes- Passion um die Predigt herum. Genä0ß der mittelalterlichen
Tradition ist dann das Passions- Geschehen neben Einleitungs- und Schlusschor in fünf
„Akte“ aufgeteilt.
Akt I: Verrat des Judas und Gefangennahme
Akt II: Verhör vor dem Hohepriester und Verleugnung des Petrus
Akt III: Verhör vor Pilatus und Todesurteil
Akt IV: Kreuzigung und Tod
Akt VI: Grablegung
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Dennoch lässt sich ein inhaltlicher Höhepunkt feststellen, der im Prozess Jesu liegt. Bach
unterbricht dabei die Gerichtszene und fügt den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes
Sohn“ ein. Gerade an dieser Stelle des dramatischen Geschehens, als Pilatus Jesus
freigeben wollt, die jedoch aus politischen Gründen nicht wagt, wird im Sinne der
Erlösungstat Christi die Bedeutung des gefangenen Gottessohns für die Befreiung der
Christenheit ausgedrückt. Hier hat der Choral eine aussagekräftige Achsenfunktion. Um
ihn herum gruppieren sich symmetrisch die einander musikalisch wie thematisch
entsprechenden Turba- Chöre (s. auch schematische Darstellung). Weitere Versuche,
augenfällige Symmetrien in der Johannes- Passion zu entdecken, müssen scheitern (im
Vergleich zur h- Moll- Messe), attestierte ihr bereits der erste große Bach- Forscher
Philipp Spitta 1880: „Ihr hoher, bleibender Wert liegt sicher nicht in der Gesamtgestaltung.
Als Ganzes hat sie etwas trübeinförmiges und nahezu verschwommenes.“ Ein anderer
Kritiker kommt zu dem Urteil: „… die Unregelmäßigkeit, mit der die Kirchenliedstrophen,
die zwei Ariosi und die acht Arien… über das Werk verteilt sind, macht deutlich, dass hier
eine regelhaft architektonische Gesamtstruktur nicht geplant war.“ (nach Friedrich Blume aus:
Julia Bungardt: „Zum Problem der Großform in Bachs Johannes- Passion)
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Akt I: „Im Garten“ (NBA 1-5/EP 1-9)
1. „Die Ouvertüre“: Herr, unser Herrscher
Einstieg:
Berichten
des
eigenen
Erlebens
so
genannter
„musikalischer
Schlüsselerlebnisse“
Bereits in den ersten Takten der Johannes- Passion schwingt das ganze Drama von Jesu
Passion mit. Es ist eine seltsam ambivalente Musik: große Geschlossenheit und Einheit
vs. filigrane musikalische Gedanken; augenfällige Bewegung vs. lähmende Statik,
jubelnde Freude vs. verborgener Schrecken, Herrlichkeit Gottes vs. Sterben und Tod.
„Herr, Herr, Herr“ – mit diesem emphatischen Ruf beginnt der Chor die JohannesPassion, der Vorhang reißt auf und der Zuhörer tut einen Blick auf die „Himmelsbühne“.
Gleich von Anfang an wird die Dreizahl beschworen, die uns in diesem Satz weitgehend
beschäftigen wird: drei Rufe, drei große Abschnitte, drei musikalische Bausteine (ein
Hinweis auf die Dreieinigkeit? Die Ausleger und Wissenschaftler sind sich darüber nicht
einig, andere Deutungen liegen näher, doch dazu später mehr). Bach schafft hier Musik
von ungeheurer Dynamik und Bewegtheit („es groovt“). Über einem beharrlichen
Bassfundament
(dem
so
genannten
Orgelpunkt)
eine
ständig
kreisende
Sechzehntelbewegung (meist in den Violinen, oft in der Viola, zeitweise ins Continuo
abwandernd), darüber die paarweise Anordnung von dissonanten Haltetönen der Flöten
und Oboen. Dies ist das musikalisch- motivische Material, aus welchem Bach seine
Einleitung gestaltet.
T. 1-18 ist so etwas wie ein instrumentales Vorspiel, oder im Zusammenhang der
Aufführungspraxis des 18. Jh. die Sinfonia eines Oratoriums. Harmonisch beschreitet
Bach (gelinde ausgedrückt) abenteuerliche Wege, ein gefundenes Fressen für den
Harmonielehre- Unterricht an der Hochschule.
Harmonisches Schema der Takte 1-19:
1
g
t
2
g
D7/g
D
3
c/g
g
t
4
c/g
5
G79
6
c/g
7
D79/g
8
g
9
A79/g
10
D79
s
(D)
s
D
t
DD
D
11
D79
G79/d
(D)
12
G79
C7/g
(D)
13
C7
F7/c
(D)
14
F7
(D)
15
B7
D7
tP
16
A79/e
F/es
DD
←(D)
17
G/d
A78/cis
(D)
DD
18
g/d
D7
D
19
g
t
1
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Bach bleibt harmonisch „ständig in Bewegung, er verlässt sogar innerhalb der ersten
beiden Takte die Grundtonart und „weicht aus“. Mit schmerzerfüllten Akkorden macht er
deutlich: der Weg Jesu ist vorherbestimmt, er führt aus der Herrlichkeit Gottes hinab zum
Kreuz, auch wenn der Chor anschließend nahezu ausschließlich von der Herrlichkeit
Gottes singen wird, der Fatalismus ist musikalisch vorher schon längst ausgedeutet.
Textlich steht die Glorifikation Jesu im Mittelpunkt, die Musik Bachs vermittelt uns eher
einen „tristen Eindruck“.1 In der barocken Tonartentheorie jedoch drückt die Tonart GMoll „mäßiges Klagen und temperierte Fröhlichkeit“ aus (Mattheson, ebd.).
Musikalisch vorweggenommen ist das Kreuz Jesu ebenfalls bereits ab Takt 1 (s.
Notenbeispiel). Die Haltetöne der Holzbläser ergeben zusammen die musikalischrhetorische Figur eines Kreuzes. Wir werden solcher „Augenmusik“ noch oft in der
Passion begegnen, sie sei an dieser Stelle nur erwähnt. Diese Haltetöne musizieren
einen regelrechten Klagegesang, der sich über der perpetuum- mobile- Figur der
Streicher erhebt.
Das Fundament des Basses greift eine solche rhetorische Figur kurz vor Einsatz des
Chores auf (T. 16-18), indem er chromatisch (d.h. in Halbtönen) den Weg nach unten
beschreibt (e – es – d – cis), ebenfalls ein Symbol für die Unausweichlichkeit des Weges
Jesu, dessen Ringen darum textlich in der Johannes- Passion ausgespart wird. Die
Szene im Garten Gethsemane („Mein Vater, ist´s möglich, so gehe dieser Kelch an mir
vorüber, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“) stammt aus dem
Matthäusevangelium (26, 36ff). Musikalisch nimmt sie Bach jedoch in seine Einleitung zur
Passion hinein.
Der Teil A der Großform
Kreuz und Herrlichkeit gehören für Bach in seiner Passion zusammen, dies zeigt sich an
der überaus intensiven Ausgestaltung der drei „H“- Worte („Herr“, „Herrscher“, „herrlich“)
und des vierten Wortes „verherrlicht“, sowie des Satzes „dessen Ruhm in allen Landen“.
Im Vokalpart des ersten Abschnittes a entwickelt Bach eine Reihe unterschiedlicher, aber
untereinander in mehrfacher Beziehung stehender Themengebilde (s. Notenbeispiele):
1
G. Scholz: Bachs Passionen, Beck 2000
2
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
1. „Herr“: Drei Akkordblöcke (T.19+20), die jeweils in Gegenbewegung von Sopran
und Bass einen Quintraum durchschreiten (Quinte = Vollkommenheit).
2. „Unser Herrscher“: Sechzehntelfiguration (wie die Streicher), T. 21 ff, bezeichnend
sind die tonleiterartigen Anstiege der ersten Sechzehntelnoten (Sopran T. 21-23:
g-a-b-c-d), die ebenfalls wieder den Quintraum durchsteigen
Die Akkordblöcke erklingen alsbald verändert auf den schwächeren Zählzeiten 2 und 4
(T. 23+24; die Wirkung ist synkopisch) und bilden den Ausgangspunkt für ein neues
Thema, das nach einem zweitaktigen Zwischenspiel einen neuen Abschnitt b prägt:
3. „Herr, unser Herrscher“ (T. 33 ff) ein imitatorisch geprägter, später als Kanon der
Außenstimmen (T. 37) fortgeführter Themeneinschub. Charakteristisch ist das
durchschreiten des Oktavraums als exclamatio (= Ausruf)
T. 45+46: Seufzermelodik als Ausdruck der Trauer
T. 46+47: „Herr“- Ausrufe auf demselben Ton d uns Imitation
Der große A- Teil geht mit einem kleinen dritten Abschnitt (c) zu Ende, der als
Zirkelkanon komponiert ist.
4. „dessen Ruhm in allen Landen“ (T. 49 ff): canon perpetuus (Gottes Ruhm bleibt
ewig) und groß angelegte Schlusskadenz zur Ausgangstonart G- Moll.
(Teil A hören, T.1-58)
Der Teil B der Großform
Das Thema, das vorher mit den Worten „Herr unser Herrscher“ unterlegt war, bringt nun
einen anderen Text („Zeig uns durch deine Passion“ und „dass du, der wahre Gottes
Sohn“). Dieser „neu-alte“ Gedanke exponiert beinahe unmerklich und aus der Tiefe
heraus das enggeführte Motiv „zu aller Zeit“ (T. 66+67). Auch hier wird der Oktavabstand
durchschritten, bevor die Musik zum in tiefster Lage beinahe zum Erliegen kommt (T. 69).
Beinahe nur deswegen, weil die motorische Sechzehntelbewegung der Streicher
weiterläuft und der Chorklang keine Ruhe gefunden hat (Sekundakkord). Die Musik treibt
weiter und erinnert mit ihrer schnellen Bewegung nunmehr an den Anfang des Chores (T.
21 „Herrscher“). Immer wieder tauchen im Folgenden Entsprechungen aus Teil A der
Großform auf, z.B. T. 79 (Wiederkehr des Themas), T. 82 (Wiederkehr von T. 66). Ein
3
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
nicht ganz so stark empfundener Ruhepunkt ist bei T. 86 erreicht („Niedrigkeit“), bevor
dann zum großen Schlussjubel angesetzt wird. Durch die Da Capo- Form ergibt sich
folgende schematische Gliederung:
Satz 1: “Herr, unser Herrscher”: Aufbau
Teil A
1-18
Sinfonie
a
19-30
zweimalige
“Herr”Rufe
G- Moll
31-32
Ritornell
Teil B
b
33-39
Imitation und
Kanon der
Außenstimmen
D- Dur
a´
40-46
einmalige
“Herr”Rufe
c
47-57
Imitation
und
Zirkelkanon
G- Moll
d
58-78
“Zeig
uns”Imitation
Es- Dur
Teil A
d´
78-95
Wdh. “Zeig
uns”Imitation,
Zirkelkanon
A- Dur
D- Dur
1-18
Sinfonie
19-57
Hauptteil
da capo
G- Moll
(Teil B und da capo hören, T.59-fine), Raum für Fragen, evtl. singen T. 34-46 im Alt
2. Rezitativ: „Jesus ging mit seinen Jüngern“ (NBA 2a/EP 2)
Die Passionserzählung nach Johannes beginnt im Gegensatz zu der in der MatthäusPassion mit der Szene der Gefangennahme Jesu. Der sachliche Bericht wird nur
sparsam musikalisch interpretiert, dafür umso intensiver und genial vom Komponisten.
Die wesentlichen Tonarten dieses Rezitativs haben eher düsteren Charakter (C- Moll, FMoll, G- Moll), wir erinnern uns an die Tonarten der Einleitung. Die ersten acht Takte des
Rezitativs
lassen
Viertaktgruppen
sich
einfach
aufteilen.
Die
in
zwei
erste
deutlich
voneinander
Viertaktgruppe
(T.
1-4)
unterscheidbare
enthält
eine
Situationsbeschreibung. Sie verläuft in großer Ruhe und ohne harmonische Veränderung
in C- Moll, vorzugsweise in Achteln und überwiegend in Sekund- oder Terzschritten. Die
Schilderung, wie Jesus mit seinen Jüngern „wandert“ strahlt Bedächtigkeit und Ruhe aus,
noch keine Gefahr scheint im Verzug zu sein. Dabei beginnt der Solo- Tenor in
beachtlicher Höhenlage. Beides Mal erklingt beim Wort „Jesus“ der Spitzenton der ersten
Takte
(g´´). Mit der zweiten Viertaktgruppe ändert sich schlagartig das Bild
(„Theaterspot“): Jetzt gerät Judas ins Blickfeld des Betrachters. Die Harmonik wird
reicher, das Tempo steigert sich, die Pausen nehmen zu, ebenso die Sechzehntelnoten
(um 100%!), die Musik moduliert nach F- Moll (T. 9), es kommen neue, bislang
ausgesparte Intervalle hinzu, die Sext. Der vielleicht genialste Kunstgriff Bachs besteht
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
jedoch in den beiden Anfängen der Viertaktgruppen. Augenscheinlich sind sie verwandt:
wir haben zwei fallende Terzen und daraufhin Wiederholungstöne (spielen T. 1 und 5),
doch wie unterschiedlich ist ihre Wirkung:
T. 1: Molldreiklang über dem Grundton C (hohe Lage)
T. 5: verminderter Dreiklang über einem Septakkord (tiefe Lage)
Die erste Nennung des Namens „Judas“ wird gleich zu einem barocken Spektakel. Für
die Hörer der damaligen Zeit war klar: Bach verwendet eine rhetorische Figur, die so
genannte parrhesia, eine Figur der kompositorischen Regelwidrigkeit. Sie ist Ausdruck
des Falschen, Schlechten und des Traurigen. Ähnliche Figuren verwendet Bach auch in
T. 8 („Judas“) und T. 10 („Hohepriester“)- es wird gleichermaßen zu Judas´
Markenzeichen.
Als es durch die Mitnahme von Fackeln und Lampen hell im Garten wird, deutet Bach
dies mit einer aufsteigenden Melodik an (T. 12+13), allerdings nicht mit einem Schlage,
sondern erst ganz allmählich. Die Erwähnung des Namens „Jesus“ bringt nun wieder
Ruhe in die vorherige Aufregung. Er ergreift nunmehr die Initiative und das Tempo
verzögert sich bei seinem ersten Einsatz „Wen suchet ihr?“ (T. 17). Doch schon zuvor hat
sich auf zwei Arten die Initiative Jesu bemerkbar gemacht. Einmal ist die offensichtlich
durch die aufsteigende Melodie „ging er hinaus“ (T. 15), wieder mit Spitzenton g´´´. Ein
anderes Mal ist es eher versteckt. Der Bass des Continuos beschreibt eine langsam
aufsteigende Bewegung ab T. 14: d-es-e-f-fis. Diese Bewegung bereitet die alle
Souveränität ausstrahlende Frage Jesu, unterstützt durch den öffnenden Sextakkord des
Continuos: „Wen suchet ihr?“ Die Antwort der Häscher fällt vehement und unsicher
zugleich aus:
3. Chor: „Jesum von Nazareth“ (NBA 2b/EP 3)
Fünfmal wird der Name Jesu genannt. Wie seltsam ist allerdings die Betonung! Immer
wird der Name auf einem unbetonten Taktteil gerufen. Dadurch entsteht nicht etwa
Gewalt sondern Verunsicherung, es ist, als würde die Antwort auf die Frage Jesu nur
stockend gegeben, auf jeden Fall richtiggehend „verspätet“ oder „verschluckt“, vielleicht
auch einfach nur erschreckt.
5
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Musikalisch am hervorstechendsten ist sicherlich die schnelle Achtelfigur der Geigen und
Flöten. Sie kennzeichnet natürlich ebenfalls das Erschrecken der Häscher (s. auch
tremolo). Hier werfen wir aber gleich auch einen interessanten Blick in Bachs
Kompositionswerkstatt. Vergleichen wir einmal diese Sechzehntelfigur mit der Figur in
den Sätzen 2d (EP 5), 16 d (EP 25), 18b (EP 29) und 23 f (EP 46). Was fällt uns auf?
Bach verwendet denselben musikalischen Gedanken mehrfach und transponiert ihn
gegebenen Falls in die entsprechende Tonart. Das Grundmodell findet sich in Satz 2b
(EP 3; spielen). Es ist ein Viertaktmotiv, das eine so genannte „Quintfallsequenz“ enthält,
mit einer abschließenden Kaskade und einer Viertelnote als Schlusston. Auf diese Weise
schafft Bach eine einfache und leicht zu behaltende Verbindung zwischen einzelnen
Sätzen. Bach verwendet noch eine andere Kompositionstechnik, um eine Verbindung
zwischen verschiedenen Turbae- Chören herzustellen. Dazu an anderer Stelle mehr
(hören NBA 2b/EP 3).
4. Rezitativ: „Jesus spricht zu ihnen“ (NBA 2c/EP 4) und
5. Chor: „Jesum von Nazareth“ (NBA 2d/EP 5) und
6. Rezitativ: „Jesus antwortete“ (NBA 2e/EP 6)
Die Antwort Jesu fällt souverän und gefestigt aus. In ihr spiegelt sich ein ganz gewaltiger
heilsgeschichtlicher Zusammenhang (s. die alttestamentliche Gottesoffenbarung „Ich bin,
der ich bin“). Musikalisch ist dies mit einer bekräftigenden und klaren Abschlusskadenz
(Dominante – Tonika) ausgedrückt („authentischer Schluss“). „Judas aber“ wird wieder
mit seinem Motiv des verminderten Dreiklangs eingeführt, in T. 3 allerdings in versteckter
Form, lauten die Töne h-d-f. Nach Jesu Antwort „Ich bin´s“ wird das Erschrecken der
Schergen
lautmalerisch
dargestellt:
die
kleinen
Notenwerte
nehmen
zu,
die
Melodiebewegung ändert sich abrupt, die Töne fallen regelrecht zu Boden, dargestellt
durch die rhetorische Figur einer Katabasis (abwärtsgerichtete Terzenkette es-c-as-es).
Jesus fragt erneut „Wen suchet ihr?“ Die Antwort der Schergen entspricht der ersten in
ihrer musikalischen Ausgestaltung (allerdings in einer neuen Tonart C- Moll),
beachtenswert ist die Verzierung, die den Alt in T. 4 deutlich hervorhebt und ihn leicht
„nervös“ klingen lässt (Humor bei Bach).
6
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Jesus antwortet auch hier gewohnt souverän. Der Evangelist beginnt wieder auf dem
„Jesus- Spitzenton“ g´´ und durchschreitet den Tonraum einer Oktave. Ein weiteres Indiz
für Bachs Humor ist die hinzugenommene Sept (T. 3) bei „suchet ihr den mich“,
ungläubiges Fragen lässt den Zuhörer aufhorchen und betont gleichzeitig die
außerordentliche Bedeutung Jesu (nicht sein Jünger sind von Interesse).
7. Choral: „O große Lieb“ (NBA 3/EP 7)
Der vierstimmige Choral bezieht sich bereits auf das kommende Martyrium Jesu, die
Rede ist von der „Marterstraße“ und passend dazu malt Bach diesen Weg besonders
schmerzhaft aus (Rückblick Tonsatzunterricht). Besonderes Augenmerk lenken wir bei
solchen „simplen“ Choralstrophen auf die Bewegung, v.a. der Mittelstimmen. Sie gestaltet
Bach in der Regel besonders reich. Z.B.: T. 5: Chromatische Führung im Bass g-ges-f-e
und Sopran es-d-des-c (passus duriusculus- der sehr harte Schritt). Der Tenor „schreit“
geradezu
auf
bei
dem
Wort
„Marter“.
Signalworte
für
den
aufmerksamen
Musikwissenschaftler sind dann natürlich auch Worte wie „Lust und Freuden“, die ein
Lautmalerei geradezu provozieren. Wer kann beschreiben, wie Bach hier komponiert?
(Seufzermelodik im Alt und Sechzehntelverzierung in der Schlusskadenz). Bach wechslet
ganz plötzlich für die letzten Worte das Register/die Lage (Oktavsprung in drei Stimmen
gleichzeitig (hätte man uns verboten), dies hängt natürlich mit der Führung des Cantus
firmus zusammen, beschreibt aber einmal mehr den weiten Weg Jesu Christi von oben
nach unten ins Leiden. Dies ist besonders eindrucksvoll auf den Worten „du“ und „leiden“
Mit vielen Dissonanzen komponiert.
Einen Kommentar verdient auch der überraschende Schlussakkord. „leiden“ endet in Dur.
Ist das nicht seltsam? Das traurige Leiden und das Elend verlangen doch geradezu einen
Moll- Akkord. Die so genannte picardische Terz wählt Bach nicht ohne Ziel. Für ihn ist
klar: In Jesu Leiden liegt die Erlösung für uns Menschen, die Verherrlichung findet auch
hier statt, in der tiefsten Niedrigkeit. Bach ist damit nicht nur theologisch tiefgründig,
sondern geradezu ungeheuer romantisch. Spätestens bei F. Schubert erinnert uns die
Wendung nach Dur an das Unwirkliche, Traumhafte, das, was nicht von dieser Welt zu
sein scheint (s. „Winterreise“).
Hören bis NBA 3/EP7
7
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
8. Rezitativ: „Auf dass das Wort erfüllet werde“ (NBA 4/EP 8)
Im nachfolgenden Evangeliumsbericht sticht vor allem die Erzählung von dem
Schwertstreich des Petrus hervor. Ausladend zu Beginn ist die indirekte Rede Jesu „Ich
habe denn keine verloren, die du mir gegeben hast“.
Wieder wird der Focus auf einen Menschen gelenkt (wie es zuvor bei Judas der Fall war,
der Spot dreht sich). Beeindruckend, mit welcher großen Bewegung Petrus ausholt
(Anabasis), um mit seinem Schwert zuzuschlagen (T. 6 „und zog es aus“, Septakkord, T.
7 „und schlug“ großer Sprung; „Hohepriesters Knecht“, bislanger Spitzenton a und die
unglaubliche Wut, mit der Petrus zuschlägt: T. 8, Schlag 2: Sept- Non- Akkord; „Ohr ab“ =
Tritonus). Geradezu ernüchternd wie naiv der Bericht zu Ende geht: „Und der Knecht hieß
Malchus.“
Jesu Befehl, das Schwert wieder einzustecken geschieht mit einer ebenso ausladenden
Geste: der Quintsprung abwärts (T. 12) hat etwas Endgültiges, Beschwörendes (der
tiefste Ton der Partie des Jesus, eine echte Herausforderung für alle Baritons). Die
Metapher des „bitteren Kelchs“, die an die nicht vertonte Getsemane erinnert, wird von
Bach wieder einmal mit verminderten Intervallen hörbar gemacht (T. 14: b-e; b-cis; T. 15:
g-cis). Das Rezitativ endet seltsam offen, wie ein Halbschluss (also das Stehenbleiben
auf einer dominantischen Tonart) oder eine Frage. Die Antwort wird inhaltlich wie auch
musikalisch im abschließenden Choral gegeben. Das Ende des Rezitativs ist tatsächlich
die Hinführung zur neuen Tonart D- Moll des Chorals „Dein Will gescheh.“
9. Choral: „Dein Will gescheh“ (NBA 5/EP 9)
Es ist die siebte Strophe des Lutherliedes „Vater unser im Himmelreich“ (EG 344).
Augenfällige rhythmische Besonderheiten gibt es auf den ersten Blick keine, die
Mittelstimmen scheinen aber wiederum etwas bewegter gestaltet zu sein als die
Außenstimmen. Auffällig ist die Altführung in T. 2 (synkopisch) und die geduldige Führung
des Tenors in kleinen Achtelschrittchen in T. 5 bei den Worten „Geduld“. Natürlich haben
wir auf dem Wort „Leidenszeit“ einen überaus dissonanten Akkord (eine so genannte
„Doppeldominante“). Exakte dieselbe Akkordverbindung übrigens auch beim vorletzten
Wort „Willen“. Beides hängt zusammen „Leiden“ und „Willen“. Nett auch die Figur des
8
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Gehorsams m Tenor T. 7 und danach im Alt. Nach kommt es auf die Kleinigkeiten an.
Deswegen ist unsere Arbeit, Arbeit mit dem Seziermesser. Die Bitte der Gemeinde nach
Geduld bezieht sich nicht auf die verbleibenden anderthalb Stunden des Oratoriums,
sondern auf die eigene Kraft im Leiden, die sie oft genug so dringend braucht. Sie möchte
den Willen Gottes höher achten als ihren eigenen. Ein erster Appell an den Zuhörer am
Ende des ersten Aktes.
(hören NBA 4/EP 8 bis fine)
9
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Akt I: „Im Garten“ (NBA 1-5/EP 1-9)
Harmonisches Schema der T. 1-19:
1
g
t
2
g
D7/g
D
3
c/g
g
t
4
c/g
5
G79
6
c/g
7
D79/g
8
g
9
A79/g
10
D79
s
(D)
s
D
t
DD
D
11
D79
G79/d
(D)
12
G79
C7/g
(D)
13
C7
F7/c
(D)
14
F7
(D)
15
B7
D7
tP
16
A79/e
F/es
DD
←(D)
17
G/d
A78/cis
(D)
DD
18
g/d
D7
D
19
g
Satz 1: “Herr, unser Herrscher”: Aufbau
Teil A
1-18
Sinfonie
G- Moll
a
19-30
zweimalige
“Herr”Rufe
31-32
Ritornell
D- Dur
b
33-39
Imitation und
Kanon der
Außenstimmen
Teil B
a´
40-46
einmalige
“Herr”Rufe
G- Moll
c
47-57
Imitation
und
Zirkelkanon
d
58-78
“Zeig
uns”Imitation
Es- Dur
d´
78-95
Wdh. “Zeig
uns”Imitation,
Zirkelkanon
A- Dur
D- Dur
Teil A
1-18
Sinfonie
G- Moll
19-57
Hauptteil
da capo
Großform
Kleinform
t
Satz 1: T.1+2
$ $ €
€


€
&€
$
$                                
Musikalisches "Grundmaterial":

Satz 1: T.19+20
$$
Herr,
 
Herr,
Herr
Satz 1: T.21-23
 
$


$ &   &                           

un-ser Herr -
Satz 1: T.33-35
$$

- scher,
a
a
  



&

& 
 %
Herr, un- ser Herr -
- scher, un- ser


Herr-scher
Satz 1: T. 49-51
$
$      
de-sen Ruhm in al - len

 
Lan-
- den
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Akt II: „Hannas“ (NBA 6-14/EP 10-20)
1. Rezitativ: „Die Schar aber und der Oberhauptmann“ (NBA 6/EP 10)
Einstieg mir selbständiger Interpretation des ersten Rezitativs des zweiten Aktes.
Darstellung der Situation: Jesus wird gefangen genommen und zu Hannas, dem
Schwager des Hohenpriesters Kaiphas geführt. Dieser gibt den mörderischen Rat, es
wäre gut, dass „ein Mensch würde umbracht für das Volk.“
Dieser knappe Bericht musikalisch durch schmerzlich hervorstechende Dissonanzen und
Tonabstände bei genau diesen Worten ausgedeutet, die auf das tragische Geschehen
der Passion direkt Bezug nehmen.
T. 1: Motivischer Rückgriff auf Nr. 4/8 „Stecke dein Schwert in die Scheide“, allerdings
hier mit einer klaren Betonung auf dem Wort „Hauptmann“.
T. 3: traurige Schlusskadenz in F- Dur „nahmen Jesus“ (spielen)
T. 4: Tritonus- Sprung (diabolo in musica) „und banden ihn“
T. 6: verminderter Akkord bei „Schwäher“; die Verwandtschaft der beiden wird als
verhängnisvoll dargestellt (Erklärung verminderter Akkord)
T. 9: verminderter Akkord bei „riet“, der verhängnisvolle Ratschlag, TritonusVerwandtschaft zwischen den Worten „riet“ (b) und „gut“ (e), zwei Töne, die sich
eigentlich schwer miteinander tun.
T. 10: unerhörter Vorgang: in der Tonart D- Moll taucht ein exponiertes es auf. Wie geht
das denn? Antwort: der neapolitanische Sextakkord bei „umbracht“. Sextakkord auf der
erniedrigten zweiten Stufe, eine harmonische Verbindung, die Mozart gerne gebraucht.
T. 10: „Jesus- Spitzenton“ g´´ bei dem Schrei „umbracht“
T. 10: Tritonus- Sprung bei „umbracht für“ als Ausdruck des großen Schreckens
(hören des Rezitativs NBA 6/EP 10)
2. Arie: „Von den Stricken“ (NBA 7/EP 11)
Das „Erlebnis Arie“- zwei Erfahrungen:
Hörerfahrung: langweilig, endlos, immer derselbe Text, wahllos wiederholt, Stocken der
Handlung
1
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Musiziererfahrung: klangvoll, virtuos, Zeit zur Entfaltung der Stimme, Podium, um die
eigene Kunst zeigen zu können, Ausdruck des Gefühls („Ich singen nur Arien“).
Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte und die Aufgabe des Sängers/der Sängerin ist
seit jeher, die Arie (also „ihren/seinen Auftritt“) so mitreißend wie möglich zu gestalten.
Die Da- Capo- Anlage der Arien ist begründet in der barocken Sehnsucht nach
Symmetrie (s. Architektur, Gartenbau, Kunst). Kunst (und damit auch Musik) wird als
Welttheater verstanden, alles ist Teil eines großen Dramas mit zahllosen Darstellern,
Kostümen und Requisiten. Der neue Typus des vom Menschen gezüchteten Menschen
ist der Kastrat, der unvorstellbare stimmliche Leistungen vollbringen kann. Ausladende
Formteile werden somit als Schmuck verstanden und mit einer Menge „Zierrat“ versehen.
In der Oper war es üblich, den wiederholten Teil mit einer Unmenge von Verzierungen zu
versehen, die den Affekt des Stückes einerseits (also Trauer, Wut, Leidenschaft, Freude)
wie auch die stimmliche Perfektion des Sängers andererseits ausdrücken sollten.
Verzierungen dieser Art waren z.B. schnelle Noten (Koloraturen = Ausschmückungen),
Triller, extreme Tonsprünge, große dynamische Schwankungen (stufenloses Anschwellen
von unhörbarem Piano bis zu extremem Forte, das so genannte messa die voce). Die
Selbstdarstellung der Kastraten ist vergleichbar mit dem der Popstars unserer Zeit und
die Musik wie auch der Text gerieten darüber immer mehr in den Hintergrund. Im Bereich
der Kirchenmusik fand die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ebenfalls statt,
zumal es natürlich den Komponisten bislang ungeahnte Möglichkeiten offenbarte (der
Opernkomponist Händel, der aufgrund der Schließung seines Theaters in London einfach
die Oper in die Kirche verlegte und damit die Gattung des gro0en barocken Oratoriums
maßgeblich beeinflusste). Die Frage nach den Verzierungen in der Da- Capo- Arie von
Bach stellt sich natürlich, hatte Bach jedoch keinen Kontakt zu Kastraten (zumeist in
katholischen Bereichen; Bachs zweite Frau war selbst Sängerin und trat wiederholt in der
Kirche auf). Seine Sänger waren ja zumeist Schüler der angegliederten Thomasschule
und den kastrierten Stimmwundern bei weitem unterlegen. Ebenso steht für Bach die
Autorität des Textes außer Frage. Ihm geht es um ein musikalisches Evangelium, das
seine Schönheit in einer gewissen Strenge bewahrt und nicht in plumper Effekthascherei
(wir erinnern uns an seinen Einstellungsvertrag und der Klausel, keine „opernhaftige“
Musik zu schreiben).
2
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Bachs Arien sind inhaltliche wie musikalische Ruhepunkte, kleine und größere Perlen, die
ganz auf die meditatio beim Zuhörer ausgerichtet sind. Es geht um das Nachempfinden
(„Betrachte meine Seel“) und dem Mitleiden („Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin“),
die Arien sind das Sprechen der menschlichen Seele, die sich einer Reaktion auf das
Passionsgeschehen nicht entziehen kann und soll. Insofern passiert in den Arien die
größtmögliche
Identifikation
mit
der
Passionsgeschichte
neben
dem
bloßen
Evangeliumsbericht und der Aussage der allgemeinen christlichen Gemeinde. Schade,
wenn dann diese Stücke beim Zuhörer als Last empfunden werden. Bachs
Kompositionsprinzip ist bei den Arien nicht grundsätzlich verschieden von dem der
anderen Teile, das Prinzip „Lieben durch Verstehen“ kann also auch hier angewandt
werden. Als beruhigende Abschlussbemerkung sei angemerkt, dass bis auf eine Arie alle
überhaupt keine „klassische“ Da- Capo- Form aufweisen, diese Form ist in der
Komposition bereits enthalten, somit sind die Arien deutlich kürzer als in manchen
Kantaten oder auch in der Matthäus- Passion.
T. 1-8: „Ritornell“ (das instrumentale Vor- und Zwischenspiel der Arien des 16. und 17.
Jh.). Hier wird bereits das gesamte musikalische Grundmaterial vorgestellt (s. Exordium).
Dies alles geschieht in den knappen acht Takten und wird im Folgenden von Bach
ständig variiert (s. Variationstechnik v. Beethoven).
Genau betrachtet ergibt sich folgendes Material:
a) Kanon der beiden Oboen (T.1-4), Sinnbild für die Fesselung
b) Tänzelnde Bass- Figur (T. 1-3), die sich in T. 4 verdichtet zu
c) Achtel- zwei- Sechzehntelgruppe, die mehr Bewegung hinzubringt
d) Paariges Fortschreiten der Oboen im Terzabstand (T. 5)
Der Einsatz der Singstimme (T. 9) greift das Kanonmotiv der Oboen auf und gibt ihm nun
endgültig die Bedeutung der Worte „binden“ und „entbinden“, dabei ist die Verwandtschaft
der beiden Motive erst auf den zweiten Blick zu sehen und deutet auf eine andere Arie
voraus (s. Notenbeispiel 1).
In T. 39 ist das Ende des Hauptteils A der Arie erreicht und das Ritornell führt den
Hauptteil B ein. Davor hebt Bach aber noch durch eine geschickte Modulation in die
Tonart A- Moll das Wort „Heil“ hervor (T. 37), nicht ohne vorher durch Verzierungen (so
genannte Vorhalte, die Fesseln verdeutlicht zu haben.
3
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Hauptteil B ist wesentlich freier gestaltet, die Rückgriffe auf Material der Einleitung
werden zugunsten von geschmeidigen Sechzehntel- Figuren aufgegeben, sie stehen für
die allumfassende Vergebung Gottes (s. auch Oktavsprung in T. 48). Bach legt großen
Wert auf das Wort „völlig zu heilen“ (s. T. 59 ff).
Dass Ritornell ab T. 66 bringt wieder den bislang verbannten Oboenkanon der Einleitung
und der freie Da- Capo- Teil A´ schließt sich an. Er ist eine Variante des ersten Hauptteils
und greift wie erwartet auf bekanntes Material zurück (beachtenswert noch der
Septsprung T. 98 „meiner Sünden“ = exclamatio).
Hören der Arie NBA 7/EP 11
3. Rezitativ: „Simon Petrus aber folgete“ (NBA 8/EP 12) und
4. Arie: „Ich folge dir gleichfalls“ (NBA 9/EP 13)
Das Rezitativ greift auf berührende und schlichte Weise die Zurechtweisung des Jüngers
durch Jesus auf („Stecke dein Schwert in die Scheide“). Nachdem der Zuhörer einen
Moment voller ungläubigen Staunens das Geschehen im Garten verfolgt hat, ist es nun
der zurechtgewiesene Petrus, der mit einem Mal die Initiative ergreift und in schneller
Bewegung (Tonfolge nach oben) Jesus hinterher geht (bis zum „Jesus- Ton „g´´, den er
nicht etwa beim Wort „Jesus“ erreicht hat, sondern zwei Achtelnoten später!). Die
Nennung des namenlosen Jüngers fällt musikalisch gesehen kaum mehr ins Gewicht.
Die Arie „ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“ ist eine beliebte Arie beim
Vorsingen von jungen Sopränen an der Musikhochschule. Sie drückt Leichtfüßigkeit,
Leichtigkeit und übersprudelnde Freude aus- und das in der Johannes- Passion! So
interpretiert Bach die Nachfolge als Jünger Jesu. Ich werde erinnert an die Bibelstelle:
„Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Joch auf sich. Mein Joch ist sanft.“ Nachfolge
heißt für den Christen zuerst Freude. Ist das bei uns auch so (Zitat: „Chisten sollten
erlöster gucken“)? Zum ersten Mal herrscht der Dur- Klang vor (Dur- fröhlich). Das
Einstiegsintervall f-b leitet sich direkt aus dem vorangegangen Rezitativ ab. Die Arie steht
in einem beschwingten 3/8- Takt und wir werden sehen, wie Bach mit einem Kunstgriff,
diese Beschwingtheit noch erhöht. Das Thema der nachfolge lässt sich natürlich
kompositorisch prächtig umsetzen (Stichwort Kanon oder Fuge). Zuerst wird ein
wunderbares Flötenmotiv vorgestellt (spielen T. 1-4), das daraufhin im Continuo
4
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
fortgesetzt wird. Nachfolge geschieht auch in der langen Sechzehntelkette der folgenden
Takte, hören wir auf die ersten drei Töne eines jeden Taktes und bemerken wir, wie sie
sich ganz allmählich nach oben „schrauben“ (spielen T. 5 ff). Der Kunstgriff Bachs besteht
jedoch in einem „Nachhinken“ des Continuos (T. 1). Dies lässt sich jedoch aus dem
Klavierauszug schwer entnehmen, doch in vielen Takten fehlt die erste Note im Bass.
Dieser Effekt ist unglaublich, weil tatsächlich der Eindruck entsteht, die Continuo- Gruppe
hinke hinterher.
Der Einstieg der Sopranstimme wird gleich als Kanon durch die Flöten fortgesetzt (T. 17),
zuerst einmal nur mit dem Text der ersten Gedichtzeile „Ich folge dir gleichfalls mit
freudigen Schritten“. Nach einem kleinen Zwischenspiel wird dann der gesamte erste
Text vorgebracht: „… und lasse dich nicht, mein Leben, mein Licht.“ Bei Buchstabe C (T.
41) wird das Vorspiel in einer neuen Tonart gebracht und der Mittelteil der Arie setzt ein
mit dem Text „Befördre den Lauf“. Wunderschön die Lautmalerei, die Bach für den
Textabschnitt verwendet „höre nicht auf, an mir zu ziehen, zu bitten, zu schieben“ (T. 61
ff). Diese Figur nennt sich Gradatio und macht auf mich einen ungeheuer modernen
Eindruck (beinahe wie eine Jazzimprovisation). Besondere Beachtung verdienen die
lauten Exclamatio- Rufe auf die Worte „höre nicht auf“ (T. 86 ff).
Auch diese Ari schließt mit einem integrierten Da- Capo- Teil ab T. 113/Buchstabe I).
Hören NBA 9/EP 13
PAUSE
5. Rezitativ: „Derselbige Jünger “ (NBA 10/EP 14)
Die Takte 1-4 führen uns und Petrus in den Palast des Hohenpriesters, es findet also ein
Schauplatzwechsel statt, wir haben uns endgültig vom Garten verabschiedet. Noch
ahnen wir nicht, welche dramatische Wendung das Geschehen gleich für Petrus nehmen
wird. Er rückt erst mit T. 5 in unser Blickfeld: Er wird seinen Standort ändern müssen, um
bei Jesus zu sein, denn er steht draußen vor der Tür. Bach wird also sein harmonisches
Fundament ändern. Dies tut er, indem er von anfänglich F- Dur (T. 5 Standort des Petrus)
zu A- Moll moduliert (T. 11 Standort der Magd). Beachtenswert, wie Bach selbst eine
5
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
grammatikalische Kleinigkeit wie einen eingeschobenen Relativsatz im Deutschen („der
dem Hohepriester bekannt war“) in Musik umsetzt. So ein eingeschobener Satz ist nicht
betont, deswegen wechselt der Evangelist die Tonlage, die eigentliche Melodie geht über
die Töne e („Jünger“) über fis („hinaus“) zu g („redete“). Gleiches auch im Satz „Da
sprach die Magd, die Türhüterin, zu Petro“. Diese Frage erwischt Petrus eiskalt und er
leugnet, bekräftigend mit einem Vorhalt: „Ich bin´s nicht“. Als er zu den Knechten geht,
die sich am Feuer wärmen, sehen wir wieder Bachs Klangrede in Reinform („wärmeten“).
Die Rede Jesu drückt wiederum große Souveränität und aus und ist klangschön
komponiert (.z.B. T. 35: „was ich gesagte habe“, spielen).
Mit einem Mal bricht Hektik aus, die durch beinahe unkontrollierte Tonsprünge
gekennzeichnet wird (T. 37-41). Ein Knecht schlägt Jesus ins Gesicht, die Rede Jesu
wiederum büßt nichts von ihrer Ruhe und Kraft ein. Kennzeichnend sind die beiden Worte
„geredt“: in der vermeintlich üblen Rede als verminderte Sept (!) aufwärts (T. 43), in der
vermeintlich guten Rede als kleine Sept abwärts (T. 45). Der Schluss ist wiederum offen
komponiert und führt zum anschließenden Choral „Wer hat dich so geschlagen?“
6. Choral: „Wer hat dich so geschlagen? “ (NBA 11/EP 15)
Ich bin der Überzeugung, dass dieser Choral eine der einfühlsamsten Stellen der Passion
darstellt, auch wenn die Melodie eine durchaus weltliche Weise darstellt. Bach verwendet
die Melodie des Liedes „Innsbruck, ich muss dich lassen“ von Heinrich Isaac mit dem
Text des Paul Gerhardt- Liedes „O Welt, sieh hier dein Leben.“ Es geht um die Frage
nach Schuld und Vergebung, nach der Ursache des Leidens und Sterbens Jesu. Wie
sehr sich die Gemeinde unter dieses Leiden stellt, zeigt v.a. die zweite Strophe „Ich, ich
und meine Sünde, die sich wie Körnlein finden“. Der Focus wird weggelenkt vom
wütenden Knecht und hin auf das eigene Herz und Handeln.
Hören NBA 10+11/EP 14+15
7. Rezitativ: „Und Hannas sandte“ (NBA 12a/EP 16) und
8. Chor: „Bist du nicht“ (NBA 12b/EP 17)
6
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Das kurze, zum nachfolgenden Turba- Chor überleitende Rezitativ greift noch einmal die
Verzierung des Wortes „wärmete“ auf (T. 4), bevor dann der Sturm der Neugier auf
Petrus losbricht: „Bist du nicht seiner Jünger einer?“
Bach komponiert in 17 Takten eine Musik, wie sie kaum spöttischer sein kann. Die
unzähligen
Stimmen)
„Bist du nicht?“ – Rufe der Volksmenge werden colla voce (= mit den
vom
Orchester
mitgespielt.
Dadurch
entsteht
der
Eindruck
eines
Klanggerippes, aus welchem immer wieder Töne wie spitze Finger hervorragen.
Trotzdem gibt es ein musikalisches Thema, das zuerst der Bass vorbringt (T. 1:
Ausgangston e), danach der Tenor übernimmt (T. 2: Ausgangston a), dann der Alt (T. 6:
Ausgangston e), später der Sopran (T. 8: Ausgangston a). Wir haben hier den Beginn
einer klassischen Fuge. Der Schlussakkord E- Dur wird abrupt unterbrochen durch das
Continuo und seinem E- Dur- Septakkord, der die ernute Leugnung der Petrus einleitet.
9. Rezitativ: „Er leugnete aber“ (NBA 12c/EP 18)
Der Einsatz des Petrus ist höher, deutlicher geworden, er möchte auf keinen Fall diese
Anschuldigungen auf sich sitzen lassen. Die dritte Verleugnung ist, obwohl nur indirekter
Bericht des Evangelisten, am heftigsten (T. 7: Nonsprung). Das Krähen des Hahns ist
lediglich im Cello angedeutet (T. 8: aufsteigender Septakkord). Dieser Effekt ist Bach
nicht sonderlich wichtig, wohl aber das, was sich danach abspielt. Allerdings kommt ie
Reue des Petrus im Johannes- Evangelium nicht vor, so dass Bach einen Bericht aus
Matthäus einfügt. Dies zeigt, wie ausgesprochen wichtig Bach dieser Abschnitt war. Über
den „Jesus- Ton“ g´´ (T. 10) erreichen wir ein sechstaktiges lyrisches Intermezzo, das
Bach mit Adagio überschreibt. Er möchte damit, dass sich Charakter, Tempo und
Ausdruck deutlich vom bisherigen Evangeliumsbericht unterscheiden. Ein Blick genügt
und wir erkennen, dass Bach das Wort „weinte“ besonders wichtig ist. Hier weint mit
Petrus auch der Evangelist. Der Bass steigt chromatisch auf und nieder (chroma = Farbe;
Musik in Halbtonschritten), während der Sänger weit ausladende Linien singt, die meist
mit Haltebögen über die Taktschwerpunkte hinweg eine rhythmische Verschleppung
erfahren. Der Tenor beschreibt in T. 14 sogar einen passus duriusculus aus dem
Lehrbuch (d-ais), indem er einen chromatischen Gang über den Abstand eines Tritonus
intoniert. In derselben Tonart, in der das Rezitativ endet, beginnt auch die nachfolgende
7
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Arie, die mit zu den anspruchsvollsten Tenorarien aus der Feder Bachs zählt. Die Klippe
für jeden Sänger sind die großen Tonsprünge, die Ausdruck des Erschreckens und der
Verzweiflung sind.
10. Arie: „Ach mein Sinn“ (NBA 13/EP 19)
Bachs Einfallsreichtum ist unerschöpflich. Grundlage der zerklüfteten Arie ist ein
einfaches Bass- Motiv, das immer an wichtigen Stellen (z.B. bei neuen Textabschnitten)
für einen Sinnzusammenhang sorgt. Betrachten wir den chromatischen Bassabstieg in
den ersten drei Takten (fis-es-e-dis-d), dies ist ein so genannter Lamento- Bass, eine
klagende und drückende Figur, die vor allem im langsamen spanischen Schreittanz der
Sarabande vorkommt. Ihre Merkmale sind ein langsamer Dreier- Takt (siehe ¾- Takt) und
ein besonderer Schwerpunkt auf Schlag zwei des Taktes (s. T. 1, vorspielen). Bach
verwendet also dieses konventionelle Werkzeug, um der Traurigkeit des Petrus Ausdruck
zu verleihen. Die Sperrigkeit des Stückes ist auf den Text zurückzuführen, den Bach aus
einem zeitgenössischen Gedicht „Der weinende Petrus“ entnommen hat. Er ist dreigeteilt:
T. 1-46:
„Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin, wo sollt ich mich erquicken?“
T. 47-59:
„Bleib ich hier, oder wünsch ich mir Berg und Hügel auf dem Rücken?“ (lang anhaltende
Noten bei „bleib ich hier“)
T. 63-89:
„Bei der Welt ist gar kein Rat, und im Herzen stehn die Schmerzen meiner Missetat, weil
der Knecht den Herrn verleugnet hat.“
Lenken wir die Aufmerksamkeit noch auf die Worte „verleugnet“ (T. 83): dort finden wir
mit den Überbindungen eine Rückführung auf das lang anhaltende Weinen im vorigen
Rezitativ. Offensichtlicher wird der Rückgriff bei den letzten Tönen des Tenors (T. 87-89):
Diese Phrase orientiert sich genau an den Tönen des vorherigen Rezitativs (Nr. 12c/18 T.
15; siehe Notenbeispiel 2)
11. Choral: „Petrus, der nicht denkt zurück“ (NBA 14/EP 20)
8
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Der anschließende Choral, der ja auch den ersten Teil der Passion beendet, steht in der
Tonart A- Dur, der parallelen Tonart zur Arie davor. Dadurch kehrt nach dem
aufwühlenden Höhepunkt ein wenig Ruhe ein. Bach beschwichtigt dadurch auch den
konservativen Hörer nach der affektgeladenen „Bühnenmusik“ der Arie und gibt den Weg
frei für die Karfreitagspredigt. Der Blick von Jesus (T. 5) wird für Petrus beschuldigend,
entlarvend interpretiert; für den Gläubigen wird der Blick als heilsam, das Gewissen
rührend empfunden. So schließt Bach den Choral in der zweiten Hälfte auch nahezu
flehend und außerordentlich tröstlich.
Hören NBA 12a/EP 16 bis fine
9
Akt II: Hannas
Notenbeispiel 1
Arie Nr. 7/11, T. 1-2
Oboe II

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Arie Nr. 7/11, T. 9-11
Alt
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Von
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Strik -
Arie Nr. 30/58, T. 5
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bracht,
Notenbeispiel 2
Arie Nr. 13/19, T. 1-5
Violoncello
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Akt III: „Pilatus“ (NBA 15-24/EP 21-48)
1. Ouvertüre: „Christus, der uns selig macht“ (NBA 15/EP 21)
Wie ganz anders ist der Beginn des Parte seconda, also des zweiten Teils, im Vergleich
zum Beginn der gesamten Passion. Der Vorhang hebt sich und das Drama geht in die
entscheidende Phase. Vorab hält Bach mit diesem Choral das Motto für alle noch einmal
fest: „Christus, der uns selig macht“- dies ist seine unerschütterliche Wahrheit. Hierfür
braucht es keine dramatische Chorfuge und keinen ausgedehnten Orchestersatz, schon
gar keine überbordende Arie. Die Wahrheit der Bibel passt in 17 schlichte Takte, ja
vielleicht sogar in nur zwei hinein. Diese Wahrheit steht seit Anbeginn der Welt, sie ist
keine Erfindung der zeitgenössischen Schriftsteller und deswegen wählt Bach ganz
bewusst eine Tonart, die auf die alte Zeit, geradezu auf die Anfänge der abendländischen
Musik hinweist. „Christus, der uns selig macht“ ist ein altes lutherisches Kirchenlied von
Michael Weiße (um 1531) und seine Melodie steht in der Kirchentonart phrygisch auf e.
Erklärung: das Dur- Moll- tonale System, welches uns heute vertraut ist, ist noch gar nicht
so alt und konnte sich erst im 17. Jh. (also kurz zu Lebzeiten Bachs) gegen das
kirchentonale System durchsetzen. Im Mittelalter orientierte man sich an der
Musiküberlieferung aus dem antiken Griechenland, das 8 bis 12 unterschiedliche
Tonleitern kannte, denen man die Namen von griechischen Volksstämmen gab. So
kommt es zu Tonleitern mit den Namen dorisch, phrygisch, lydisch, ionisch. Aus zwei
dieser Tonleitern (äolisch und ionisch), die unserem heutigen Dur und Moll entsrechen,
wurde unser Tonsystem „reduziert“, zusammengefasst und übersichtlich gestaltet. Dank
eines mathematischen Rechenspiels eines A. W ERCKMEISTER 1686 etablierten sich 12
gleichwertige Tonarten in seiner „temperierten“ (d.h. ausgeglichenen) Stimmung, die
Bach umgehend nutzte, und ein dazugehöriges Lehrwerk in zwei Bänden verfasste, das
„Wohltemperierte
Klavier“
(1722
und
1744;
also
in
unmittelbarer
Nähe
zur
Entstehungszeit der Johannes- Passion). Die Emanzipation der Töne als gleichwertige
Partner findet ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluss in der so genannten „Zwölf-
1
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Ton-Musik“ der Neuen Wiener Schule, ca. 1910 um die Komponisten, A. Schönberg,
Alban Berg und Anton Webern.
Wir haben uns weit von unserer Passion entfernt. Als Zusammenfassung gilt: Für den
Choral „Christus, der uns selig macht“ wählt Bach eine alte Tonart, die vom „Aussterben
bedroht“ war. Die Wahrheit ist alt und unumstößlich. Die Ordnung verrät etwas von
Genauigkeit und Strenge, immer zwei Takte sind zu einer Einheit zusammengefasst. Nur
der letzte Abschnitt wird durch den Einschub eines dritten Taktes gestreckt. Durch dieses
klare und regelmäßige Ordnungssystem wird die klare und sachliche, beinahe schon
distanzierte Aussage unterstrichen. Trotzdem verzichtet Bach nicht auf unscheinbare
Kunstgriffe inmitten der formalen Strenge, zwei seien an dieser Stelle genannt:
1. Die Takte 7+8 entsprechen von der Melodie genau den beiden vorletzten Takten
(T.15+16). Wie unterschiedlich ist jedoch die Harmonisierung, wie unterscheiden
sich jedoch die Begleitakkorde! Wenn von Jesus die Rede ist, der wie ein
gemeiner „Dieb“ gefangen wird, jagt eine Dissonanz die nächste. Scharfe Akkorde
fehlen bei der Beschwörung der „Schrift“, also der Bibel, völlig. Ihre Aussage ist
klar und unverfälscht (spielen).
2. Der Takt 11 beschreibt das falsche Zeugnis der Ankläger, den Bruch des Gebotes
„Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, und so begeht Bach
auch in der Musik einen Regelverstoß. Dies wiegt besonders schwer, da es sich
um
einen
vierstimmigen
Choralsatz
handelt,
bei
dem
es
festgelegte
Kompositionsregeln gab, die für alle Komponisten galten. Bach nutzte diese Regen
und ihre Grenzen bis zur Neige aus, um besonderen Textstellen „Würze“ zu
geben. Der Regelverstoß, um den sich bei dem Wort „fälschlich“ handelt, ist die
chromatische Fortschreitung in den Stimmen. In einer Stimme allein wäre es schon
verboten, Bach tut dies in zwei Stimmen gleichzeitig (Bass: es-d-cis-d; Tenor: b-a).
Es handelt sich hier um so genannte „Querstände“.
Besondere Herausforderung birgt dieser Choral für den Chor im Sinne der richtigen
Wortbetonung. Bach musste durch seine strenge Zweitaktigkeit in Kauf nehmen, dass
manche Worte mit unbetonten Silben auf eine betonte Taktzeit kommen (T. 13: „verlacht“
und „verhöhnt“). Auf der einen Seite stört diese Unregelmäßigkeit den Fluss an genau der
2
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
richtigen Stelle, wo es um den Spott geht, auf der anderen Seite ist es Aufgabe des
Chores, sie so zu singen, dass sie nicht stümperhaft klingt. Ich bin sicher, Philippe
Herreweghe und das Collegium Vocale Gent machen dies ausgezeichnet.
Hören NBA 15/EP 21
2. Rezitativ: „Da führeten sie Jesum“ (NBA 16a/EP 22) und
3. Chor: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ (NBA 16b/EP 23)
Der Beginn des Schauprozesses gegen Jesus vor Pilatus ist gekennzeichnet durch
Bewegung: „Da führeten sie Jesum von Caipha vor das Richthaus“, inhaltlich wie
musikalisch liegt die Betonung auf dem Wort „vor“, handelt es sich doch um die
Bemühungen der Juden, das Reinheitsgebot auf alle Fälle zu halten. „Frühe“ erfährt von
Bach ebenso eine besondere Betonung. Im Allgemeinen hebt Bach im Folgenden die
üble Taktik der Verleumder und Ankläger hervor, indem er (wie bereits betrachtet,
regelwidrig) durch dissonanten Akkorde und Tonsprünge unterschiedliche Worte
hervorhebt:
T. 4: „Richthaus“ mit Tritonussprung d-gis und gis-d bei „auf dass“
T. 5: „unrein“ mit dissonantem Akkord
T. 8: „hinaus und sprach“: die Töne g-e-a-h bilden einen Chiasmus, also die Kreuzfigur.
Von Beginn seines Auftretens an wird klar, wie die Verhandlung enden wird. Noch
allerdings ist nichts entschieden, selbst die Zögerlichkeit des Pilatus ist durch die Pause
angedeutet.
T. 9: „Klage wider“: der verminderte Dreiklang abwärts mit Tritonusabstand d-gis zeigt die
Abgründigkeit ihrer Klage
T. 10: „Sie antworteten und sprachen zu ihm“: schnelles Tempo, Septsprung symbolisiert
die Erregung und der Tritonussprung g-cis die Falschheit der folgenden Aussage.
→ Bach entlarvt wie ein Detektiv bereits im Vorfeld die Lüge
Mit voller Wucht schlägt nun die Menge des Volkes zu: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“
beginnt zwar in allen Stimmen gleichzeitig, doch komponiert ist eine Fuge, eine
regelwidrige noch dazu.
3
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Die Fuge gilt als eine der besonderen Gattungen der Barockzeit, obwohl zu allen Zeiten
Fugen komponiert worden sind, sieht man die Fugen für Klavier oder Orgel von Bach als
den Höhepunkt dieser Gattung an. Auch die Komposition einer Fuge war strengen
Richtlinien unterworfen. Beispielsweise durfte zu Beginn einer Fuge erst die nächste
Stimme einsetzen, wenn die vorherige Stimme das Thema einmal vollständig vorgetragen
hatte. Das erleichterte natürlich auch das Hören. Übereinander gelegte Stimmeneinsätze
werden als „Engführungen“ bezeichnet.
Schauen wir also auf den Beginn unserer Fuge und beachten die Einsätze des Themas
„Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ (Bass T. 1-3). Es ist ein Thema, das wieder des Passus
duriusculus aufwärts beschreibt, die chromatische Linie, schmerzvoll und vehement
anklagend. In T. 3 setzt der Alt ein und zwei Viertel später der Sopran. Die Regel der
Fugenlehre ist also hier bereits über Bord geworfen. Noch etwas ist auffallend bei der
„Übeltäter- Fuge“: Zählen wir einmal gemeinsam die Themeneinsätze. Wir kommen auf
elf, der letzte Einsatz durch die lange Note a des Basses unübersehbar vorbereitet. Bach
möchte uns mit der Nase auf etwas stoßen: 11 ist die Zahl 12 – 1: Die Zahl der
Vollkommenheit (12 Apostel) wird unvollkommen. Ein Apostel fehlt und wird hier in
direktem Zusammenhang gebracht mit der falschen Anklage. Oder anders ausgedrückt:
Wenn es hier einen Übeltäter gibt, so ist das Judas. Ist das Spekulation? Ich denke nicht,
denn in T 13 beginnt ein neuer Textabschnitt „wir hätten ihn nicht überantwortet“, sehr
übertrieben dargestellt mit langen Sechzehntelketten, bevor der Chor endet mit den
heftigen Rufen „nicht, nicht, nicht“. Man hat den Eindruck, hier wird sich in Rage geredet.
4. Rezitativ: „Da sprach Pilatus zu ihnen“ (NBA 16c/EP 24)
5. Chor: „Wir dürfen niemand töten“ (NBA 16d/EP 25)
Die Antwort des Pilatus „So nehmet ihr ihn hin und richtet ihn nach eurem Gesetze“
betont das Wort „eure“ durch den verminderten Dreiklang abwärts und den
Tritonusabstand d-gis und entlarvt die Berufung auf das Gesetz der Juden als Heuchelei.
Der nachfolgende Chor hat zwei musikalische Bezugspunkte
4
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
1. Der vorausgegangene Chor (Kennzeichen: das chromatisch aufsteigende Thema,
das zuerst der Bass vorbringt, T. 1; die übergebundenen Achtel mit zwei
angehängten Sechzehntel)
2. Der
Chor
„Jesum
von
Nazareth“
(NBA
2b/EP
3),
Kennzeichen:
Sechzehntelbegleitfigur der Flöten und Violinen.
Bach setzt diesen Chor einen Ton höher an, als den vorausgegangenen „ÜbeltäterChor“. Die Vehemenz der Anklage nimmt zu. Absolut lächerlich und ein Zeichen für
Bachs Humor: Der Tenoreinsatz verspätet sich, er plappert einfach nur nach.
Hören NBA 16a-16d/EP 22-25
6. Rezitativ: „Auf dass erfüllet würde“ (NBA 16e/EP 26) und
7. Choral: „Ach großer König“ (NBA 17/EP 27)
Im Gespräch zwischen Pilatus und Jesus gibt es einige besondere Höhepunkte:
T. 3+4: „deutete“ und „Todes“ haben beide denselben Ton (= musikalische Vorausschau)
T. 4: „sterben“: verminderter Septsprung und ausgedehntes Melisma (d.h. Verzierung)
T. 6: „Richthaus“: Tritonussprung (s.o.)
T. 11: „andere von mir gesagt“: verminderter Dreiklang (musikalischer Zeigefinger auf die
Ankläger)
Die Rede Jesu von seinem Reich verdient besondere Aufmerksamkeit, da Bach sie
außerordentlich liebvoll ausgestaltet: Der Ton des Reiches Gottes ist in seinem Fall das
hohe e des Baritons, der Spitzenton der Jesus- Partie. Das Reich, von dem Jesus spricht
ist im Jenseits, nicht in dieser Welt, sehr im Widerspruch zu den Erwartungen, die die
Zeitgenossen an Jesus gestellt hatten. Besonders deutlich wird dies im letzten Takt beim
Oktavsprung „mein Reich“. Hier wird die Blickrichtung des Zuhörers von der Erde zum
Himmel gelenkt.
T. 18+19: „darob kämpfen“: ausgedehnte Tonmalerei. Bach verwendet an dieser Stelle
den traditionsreichen Ruf all´ arma (zu den Waffen!) des 17. Jh. der sich bis in unsere
Zeit durch die „Feuerwehrquart“ erhalten hat.
Bach unterbricht an dieser Stelle den Gerichtsprozess und fügt zwei Choralstrophen des
Liedes „Herzliebster Jesu“ ein, dessen Melodie wir bereits im Choral NBA 3/EP 7 kennen
gelernt haben. Bach fügt dem Choral eine ruhig fließende Achtelbewegung im Bass hinzu
5
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
und unterstreicht damit die Würde des Königs Jesus, um dessen Legitimation es im
darauf folgenden Gespräch geht.
Hören NBA 16e-17/EP 26-27 und mitsingen
8. Rezitativ: „Da sprach Pilatus zu ihm“ (NBA 18a/EP 28) und
9. Chor: „Nicht diesen“ (NBA 18b/EP 29) und
10. Rezitativ: „Barrabas aber war ein Mörder“ (NBA 18c/EP 30)
Bach zeichnet im Rezitativ tonartlich unterschiedliche Stationen nach:
Pilatus beginnt in F- Dur (T. 1); Jesus antwortet in G- Dur (T. 5), spricht von der Wahrheit
in D- Dur (T. 8) und beendet seine Rede in H- Moll (T. 10). Die ratlose Frage des Pilatus
„Was ist Wahrheit“ benutzt wieder die Tonart D- Dur, also Jesu Wahrheit (T. 11). Hilflos
deutet Pilatus den Juden an, dass er keine Schuld an Jesus findet (T. 14: A- Moll). Die
stereotype Antwort des Volkes „Nicht diesen“ steht in D- Moll. Das musikalische Material
der Sechzehntelbegleitung ist hinreichend bekannt (NBA 2b/EP 3, s.o.), bezeichnend,
dass dieses Mal, der Bass mit dem Ruf nach Barrabas zu spät kommt (T. 3).
Attacca (also sofort) setzt die Erklärung des Evangelisten ein, wer Barrabas überhaupt
ist. Deutlich werden die Signalworte „Barrabas“ und „Mörder“ (T. 2) hervorgehoben.
Die Geißelung Jesu ist besonders lautmalerisch gestaltet und hinterlässt beim Hörer
einen tiefen Eindruck. Bach lässt von zwei Knechten je 24 Geißelhiebe auf Jesus
niederprasseln, symbolhaft steht die Zahl zwölf für die Vollkommenheit, er wird also
salopp formuliert „fertig gemacht“.
Hören NBA 18a-c/EP 28-30 (Ansage: wir schließen als Hörbeispiel das anschließende
Arioso gleich an; Vorbemerkung: Das Arioso: „Betrachte meine Seel“ (NBA 19/EP 31)
bietet uns eine klangliche Überraschung an: Die Besetzung ist wie folgt: Viola d´ amore
I+II, Solo- Bass, dazu Laute und Bassono grosso, ein tiefes Fagott)
PAUSE
6
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
11. Arie: „Erwäge“ (NBA 20/EP 32)
Die große (und einzige) Da- Capo- Arie stellt eine Verbindung mit den beiden voran
gegangenen Musikteilen her. Zum einen übernimmt Bach die Instrumente des BassAriosos (wir haben es also erneut mit einer sehr „weichen“ Musik zu tun, zum anderen
weckt das rhythmische Motiv des Sechzehntels mit den beiden angehängten
Zweiundreißigstel Erinnerungen an die dramatische Geißelungsszene. Grundlage der
Arie sind die Worte „erwägen“ (eben erwähntes Motiv T. 1), Regenbogen (Continuo T. 1
Ende) und „Wasserwogen“ (Violen T. 22; punktierter Rhythmus). Die Disposition ergibt
sich wie folgt:
Teil A (T. 1-21), Teil B (T. 22-42), Teil A´(T. 1-21)
Hören NBA 20/EP 32
12. Rezitativ: „Und die Kriegsknechte“ (NBA 21a/EP 33) und
13. Chor: „Sei gegrüßet“ (NBA 21b/EP 34) und
14. Rezitativ: „Und gaben ihm Backenstreiche“ (NBA 21c/EP 35)
Der Bericht von der Dornenkrone mündet in der großen Verspottung der Menge „Sei
gegrüßet, lieber Judenkönig“. Bach komponiert den Hohn und den Spott in großartiger
Weise: Wieviel Verachtung liegt dem Thema, das der Sopran exponiert (T. 1): Die
Bewegung nach oben als Hinwendung zu Jesus, de absteigende Achtellinie als Beugen
des Oberkörpers, der Spitzenton g bei „lieber“. Das Orchester nimmt das Verbeugen auf
durch die Sechzehntelketten und die auf- und absteigenden Bassfiguren. Während zuerst
viele Stimmen einzeln spotten, vereinigen sie sich in T. 8 zu einem wuchtigen
einheitlichen „sei gegrüßet“.
Den Worten folgt die Tat, bevor Pilatus noch einmal versucht, Jesus frei zu bekommen.
Voller Schmerz intoniert er das ecce homo (T. 10), bevor die Raserei der Menge
weitergeht.
Hören NBA 21a-21c/EP 33-35
7
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
„Die Zielscheibe“
Der erste Ring
15. Chor: „Kreuzige“ (NBA 21d/EP 36)
Zwei Elemente sind in diesem tumultartigen Satz vorherrschend:
1. Haltetöne einer Stimme, die sich mit den Haltetönen einer anderen Stimmen
reiben (T. 1)
2. rhythmisch pointierte „Kreuzige“- Rufe in großen Tonsprüngen (ebd.)
Unzählige Male finden wir in diesem Satz den chiasmus, die Kreuzfigur
Hören NBA 21d/EP 36
Der zweite Ring
16. Rezitativ: „Pilatus sprach zu ihnen“ (NBA 21e/EP 37) und
17. Chor: „Wir haben ein Gesetz“ (NBA 21f/EP 38)
Der letzte Versuch, Jesus frei zu bekommen, scheitert. Die Juden wiederum berufen sich
auf ihr Gesetz, deswegen klingt der nachfolgende Chor „gesetzlich“. Den Instrumenten ist
keine Sonderrolle zugedacht, sie begleiten den Chor colla voce (s.o.) und untersteichen
so die Sprödigkeit der Aussage. Strenge entsteht durch die formale Anlage einer Fuge,
deren Thema beim Wort „sterben“ (T. 3) an die Haltetöne des „Kreuzige“- Chores erinnert
(nebenbei bilden auch hier die Töne eine Kreuzfigur). Auffallend ist, dass der Satz sich
selber in die Höhe putscht. Er beginnt in tiefer Lage und in F- Dur und endet in höherer
Lage und in A- Dur. Musikalisch wird so Jesu Anspruch, Gottes Sohn zu sein,
unterstrichen.
Hören NBA 21e/EP 37
Der dritte Ring
18. Rezitativ: „Da Pilatus das Wort hörete“ (NBA 21g/EP 39)
Die folgende Unterredung macht deutlich, in welchen unterschiedlichen Positionen Jesus
und Pilatus sind. Schon einig Male ist über die Tonarten der Rezitative gesprochen
worden. Hier wird besonders deutlich: Die staunende Frage „Von wannen bist du?“ wird
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
auch in den Tonarten beantwortet: Pilatus (D- Moll; T. 4); Jesus (Cis- Moll; T. 15), ein
Blick auf den Quintenzirkel macht deutlich: viel unterschiedlicher können Positionen nicht
sein. Die letzten Worte des Evangelisten drücken auf wunderbar lyrische Weise das
Mitleid wie auch die Hilflosigkeit des Pilatus aus.
Hören NBA 21g/EP 39
Der innerste Ring
19. Choral: „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ (NBA 22/EP 40)
Der in E- Dur stehende Choral ist bezieht sich in seiner Tonart auf die Rede Jesu in CisMoll. Er bildet einen Ruhepunkt und ist gleichzeitig der Wendepunkt des Geschehens, da
er an der Stelle steht, an welchem die Handlung umschlägt. Wenn Pilatus bisher noch
Jesus losgeben wollt, so ist er im Folgenden dem Drängen der Juden hilflos ausgeliefert.
Das Wort „Knechtschaft“ erfährt hier eine besondere Betonung, zum einen im Gedicht
von Christoph Heinrich Postel
Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein,
Müsst unsre Knechtschaft ewig sein,
zum anderen in der Vertonung von Bach. In T. 9 verdeutlichen die Haltebögen im Alt die
Fesseln (s. Notenbeispiel), zum anderen die parallele Bewegung von Tenor und Bass in
T. 11.
Im Folgenden beschreiten wir die „Ringe der Zielscheibe“ rückwärts, wobei Beziehungen
zwischen den einzelnen „Ringpaaren“ in Bezug auf Besetzung, Ausdruck oder Inhalt
deutlich werden.
Hören NBA 22/EP 40
Der dritte Ring
20. Rezitativ: „Die Juden aber schrieen und sprachen“ (NBA 23a/EP 41)
Das Rezitativ bildet die bloße Überleitung zum folgenden Chor, dem
9
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Zweiten Ring
21. Chor: „Lässest du diesen los“ (NBA 23b/EP 42) und
22. Rezitativ: „Da Pilatus das Wort hörete“ (NBA 23c/EP 43)
Dieser Chor korrespondiert in Kompositionstechnik, Motivik und Länge dem Chor „Wir
haben ein Gesetz“. Vergleichen wir das Fugenthema, so fällt auf, dass Bach es
rhythmisch geringfügig durch die Hinzunahme von zwei Sechzehntelfiguren verändert
hat. Dabei fällt die Betonung auf „diesen“, nämlich Jesus. Dieses Kompositionsverfahren
der neuen Textierung einer alten, meist weltlichen Musik, nennt sich Parodieverfahren. Es
war bei Komponisten der Barockzeit wie auch noch der Klassik besonders beliebt (Bsp.:
Das Weihnachtsoratorium besteht zu weiten Teilen aus Parodien, „Jauchzet frohlocket“
ist der Eingangschor der weltlichen Bach- Kantate „Tönet ihr Pauken“, BWV 214).
Nebenbei ist der Bezug auf den „Chor „Wir haben ein Gesetz“ auch textlicher Natur, wenn
es heißt „wer sich zum Könige macht, der ist wieder den Kaiser“. Wir haben es also beim
zweiten Ring mit „politischen“ Stücken zu tun.
Übrigens: Seit dem Choral „Durch dein Gefängnis“ bewegen wir uns ausschließlich in
Kreuztonarten, ein Zeichen dafür, dass die Kreuzigung nahe ist.
Im Rezitativ NBA 23c/EP 43 präsentiert Pilatus spöttisch gemeint, aber ernsthaft vertont
den Juden Jesus als „ihren“ König. Diese Aussage ist der Schwerpunkt des Reizitativs.
Hören NBA 23a-c/EP 41-43
Der erste Ring
23. Chor: „Weg, weg mit dem“ (NBA 23d/EP 44)
Dieser Chor korrespondiert in Motivik und Aussage dem „Kreuzige“- Chor (NBA 21d/EP
36). Nach dem anfänglichen Rufe „weg, weg“, die ein großes Durcheinander bilden,
vereinigen sich immer wieder zwei Stimmen im „Kreuzige“- Kanon (T. 4), der uns mit
seiner dissonanten Haltetonmotivik vertraut ist. In T. 21 vereinigen sich die Stimmen zu
Kanonpaaren und verleihen der Forderung mehr Gewicht und münden am Ende in den
einmütigen Schrei „Kreuzige ihn!“.
Hören NBA 23d/EP 44
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
24. Rezitativ: „Spricht Pilatus zu ihnen“ (NBA 23e/EP 45) und
25. Chor: „Wir haben keinen König“ (NBA 23f/EP 46) und
26. Rezitativ: „Da überantwortete er ihn“ (NBA 23g/EP 47)
Die letzte Frage Pilatus „Soll ich euren König kreuzigen“ spielt mit dem Spitzenton e auf
die Aussage Jesu nach seinem Königreich an (NBA 16e/EP 26). Sie ruft einen wilden
Proteststurm hervor: „Wir haben keinen König“. Wir kennen die instrumentale Begleitung
der Streicher bereits aus früheren Sätzen (NBA 2b/EP 3).
Das Rezitativ mit der Verkündigung des Todesurteils besticht durch die Verzierung des
Wortes „gekreuzigt“ und „Golgatha“. Der Spitzenton g erinnert an den Ton Jesu. Jetzt ist
er am Ort seiner Bestimmung angekommen.
Hören NBA 23e-g/EP 45-47
27. Arie + Chor: „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ (NBA 24/EP 48)
Mit dieser Arie für Solo- Bass und Chor schließt der überdimensionale 3. Akt der Passion.
Sie greift textlich den Ort Golgatha auf und verwendet hierfür einen Text aus der
Passionsdichtung des Hamburger Rates Hinrich Brockes. Ganz im Zentrum steht das
Motiv des Eilens, das als Kanon einer Tonleiter komponiert ist (T. 1 und 3). Sie stellt eine
Anabasis, eine aufstrebende Bewegung, dar. Ihr Ziel: Golgatha. Der Chor ist dreistimmig
besetzt (als Zeichen für die drei Kreuze?) und exponiert. Ähnlich wie im Eingangschor der
Matthäuspassion („Sehet, wen? Den Bräutigam“) gibt es Frage und Antwort, die zwischen
Chor und Solist aufgeteilt sind. Dreimal neun Frageeinsätze zählen wir im Chor, sie teilen
den Satz in eine gleichmäßige A-B-A´- Form ein. Die Grundtonart G- Moll erinnert
zusätzlich an den Eingangschor und schafft somit einen Rahmen innerhalb der gesamten
Passion.
Hören NBA 24/EP 48
11
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Akt IV: „Der Gekreuzigte“ (NBA 25a-37/EP 49-65)
1. Rezitativ: „Allda kreuzigten sie ihn“ (NBA 25a/EP 49)
Wir haben die Verhältnisse der Tonarten untereinander schon ein wenig besprochen. Mit
dem Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ als Mittelpunkt des 3. Aktes ergibt sich
eine Wende in den Tonarten der einzelnen Stücke. Vermehrt, ja beinahe ausschließlich
tauchen „Kreuztonarten“ auf (E- Dur, A- Dur, Cis- Moll, Fis- Moll) als Zeichen für die
unausweichliche Erhöhung Jesu am Kreuz. Eigenart der Kreuztonarten ist daneben aber
auch eine eher strahlende Farbe und leuchtende Kraft. Mit der Ankunft Jesu auf dem
Hügel Golgatha (NBA 23g/EP 47) ändert sich dies. Die Arie „Eilt, ihr angefochtnenen“
Seelen bildet das Bindeglied zwischen den Tonarten des 3. und den Tonarten des vierten
Aktes. Hier dominieren die B- Tonarten (G- Moll, Des- Dur, B- Dur, Es- Dur), ihr Charakter
ist eher weich und rund, traurig oder sogar warm. Nebenbei (wir werden noch darauf
kommen), ist eine B- Tonart und nicht etwa eine Kreuztonart das Zeichen für einen König.
Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Bach mit dem Bericht der Kreuzigung im
Rezitativ 25a/49 in einer B- Tonart beginnt. Verwunderlich ist allerdings die Tonart, die er
dazu wählt. Nach dem Schluss der langen G- Moll Arie setzt der Bericht von der
Hinrichtung in B- Moll ein. Diese beiden Tonarten zählen nicht unbedingt zu denen, die
am meisten miteinander verwandt sind. Man spricht von einer Terzverwandtschaft, oder
einer Mediante. B- Moll kam bislang in der Passion noch überhaupt nicht vor, der
Charakter ist dunkel und weich, nicht erschreckend, eher traurig. Musikalisch erleben wir
die Aufrichtung des Kreuzes (Quartsprung c-f, T. 1), sowie die Kreuzfigur (ges-des-c-f).
Das Auge des Betrachters wird nach oben gerichtet, Jesus ist der höchste unter allen drei
hingerichteten Menschen (siehe Spitzenton as, T. 3, wir behalten diesen Ton einmal in
Erinnerung).
Trotzdem
ist
das
„Hinrichtungsintervall“
des
Tritonus
bei
beiden
Schilderungen vorhanden.
In Takt 5 wird der Blick wieder auf Pilatus gerichtet, der sich für das Todesurteil
verantwortlich zeichnet. Seine neue Tonart ist Es- Dur: Er verfasst die Überschrift über
die Ursache des Todes Jesu und setzt sie auf das Kreuz, genau dorthin, wo Jesus ist
(siehe Spitzenton as, T. 7). Die Verbindung von dieser Schrift zu Jesus ist offensichtlich.
1
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
In zwei eingeschobenen Takten, die mit Adagio überschrieben sind, erfahren wir, was auf
dieser Inschrift steht. Diese eingeschobenen, lyrischen Passagen kennen wir (z.B. aus
der Petrus- Szene „und weinete“). Sie drücken immer etwas ganz besonderes aus. Bach
möchte, dass sie vom Interpreten in Aussage, Tempo und Artikulation entschieden
anders gestaltet werden. Zudem setzt Bach diese zwei Takte in die feierliche Tonart DesDur. Wie rezitierend singt Pilatus in der Stimme des Evangelisten: „Jesus von Nazareth“das ist eine bloße Beschreibung. Jetzt kommt eine Pause, danach „der Juden König“- das
ist eine Provokation, die durch eine einfache Pause wie durch das Hochziehen der
Augenbrauen betont wird. Bach findet wieder zur Ausgangstonart B- Moll zurück (T. 14),
setzt aber den wütenden Protest der Juden, die sich zu recht provoziert fühlen, in
leuchtendes B- Dur.
2. Chor: „Sei gegrüßet“ (NBA 25b/EP 50) und
3. Rezitativ: „Pilatus antwortet“ (NBA 25c/EP 51)
Wer findet die musikalische wie auch textliche Entsprechung dieses Chores im dritten Akt
der Passion wieder? Er entspricht dem Satz „Sei gegrüßet“ (NBA 21b/34). Musikalisch
gesehen ist es nahezu dasselbe Material, auch wenn er jetzt nicht als Kanon aufgebaut
ist, wie es zuvor der Fall war. Beide Sätze stehen in B- Dur und verwenden motivisch
dasselbe Material:
● Die Tonart wie auch die Taktart (6/4) sind gleich
● T. 1: Das Thema des Soprans ist exakt dasselbe wie „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig“.
Die halbe Note von „grü“ ist in zwei Viertel aufgeteilt, das ist textlich bedingt.
● T. 2: Die abwärtsgerichtete Sechzehntelbewegung in Flöten und Oboen
● T. 5: Die auf- und absteigende Bassfigur des Continuos
Trotz des gemeinsamen Beginns aller Stimmen (im Gegensatz zum imitatorischen
Einsatz des Chores „Sei gegrüßet“) hat man als Hörer hier nicht den Eindruck, als sei der
Ausdruck stärker. Die Kanonführung im ersten Satz hatte mehr Dynamik und unterstützte
die Bosheit der Ankläger noch mehr. Hier büßen die Juden etwas von ihrer Vehemenz
ein. Das hat nichts mit Bachs mangelnder Konzentration zu tun, sondern damit, dass dies
der letzte Auftritt der Juden ist, die ebenso „abgebaut“ werden (Kettling) wie zuvor Pilatus.
2
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Dieser hat anschließend seinen letzten Auftritt, in welchem er sich noch einmal wichtig
macht: Seine Musik schwingt sich noch einmal in die Höhe und betont die Worte „das
habe ich geschrieben“ mit einem Vorhalt. Diese künstlich hinzugefügte Verzierung
untermalt seine künstlich aufgesetzte Souveränität. Trotzdem setzt er mit seiner Aussage
den Schlusspunkt in der Auseinandersetzung um die Autorität Jesu in der Frage seiner
Königsherrschaft. Die abschließende Kadenz in B- Dur leitet über zur Antwort der
Gemeinde, dem Choral in Es- Dur.
4. Choral: „In meines Herzens Grunde“ (NBA 26/EP 52)
Bach nimmt mit der Gedichtstrophe von Valerius Herberger inhaltlich Bezug auf die von
Pilatus verfasset Überschrift am Kreuz Jesu. Der Choral wirkt tröstlich und besitzt eine
Leuchtkraft aus dem Innern heraus. Bach setzt den Choral relativ hoch (Es- Dur, dadurch
erscheint an wichtigen Stellen der Jesus- Ton g (Sopran T. 3: „dein“, Sopran T. 9:
„erschein“, Tenor T. 11: „meiner“). Bach macht deutlich: Jesus ist, wenn nicht sichtbar,
dann doch spürbar. Der Bass leitet die letzten Takte wortausdeutend („milde“, „geblut“)
mit außerordentlich kleinen Tonschritten ein. Das Leiden und Sterben Jesu ist noch nicht
zu Ende, deswegen schließt der Choral in unterer Lage.
Hören (NBA 25a-26/EP 49-52)
5. Rezitativ: „Die Kriegsknechte aber“ (NBA 27a/EP 53) und
6. Chor: „Lasset uns den nicht zerteilen“ (NBA 27b/EP 54)
Dem Bericht von der Teilung der Kleider der Gekreuzigten und über die Besonderheit des
Rockes Jesu wird bei Bach nicht sonderlich viel Bedeutung beigemessen. Interessante
Hinweise können die vier aufsteigenden Töne sein, wenn es um die vier Teile geht (T. 3)
oder die Beschreibung des Rockes, der in einem Stück gewirkt ist (große
Abwärtsbewegung T. 7+8). Größere Aufmerksamkeit widmet sich Bach dem „Spielstück“
„Lasset uns den nicht zerteilen“ (s. auch Inszenierung Niebeling: Wettstreit). Es ist Musik
wie aus einer Spieluhr, einfach, beinahe kindlich beginnen die Singstimmen mit ihrem
Kanon, einer gibt immer dem anderen Recht. Auffallend dabei sind die vielen
Repetitionstöne (d.h. Wiederholungstöne) und der synkopische zweite Takt des Themas,
sowie die schüttelnde Würfelbewegung in den Sechzehntelketten (Bass T. 4). Diese
3
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
schüttelnde Bewegung setzt sich in den Celli über das ganze Stück fort. Bach schafft
damit so etwas wie eine Rüpelszene inmitten eines tragischen Geschehens. Der Aufbau
dieses Fugensatzes lässt sich gut anhand der einzelnen Einsätze erkennen. Gehen wir
von Beginn an durch:
T. 1: Beginn Abschnitt A (Bass)
T. 8: Beginn Abschnitt B (Bass)
T. 15: Beginn Abschnitt C (Tenor)
T. 24: Beginn Abschnitt D (Sopran, diminuierter (d.h. verkleinerter) Beginn mit
Sechzehntel)
T. 38 Beginn Abschnitt E (Bass, diminuiert)
T. 50: Zusammenschluss von Sopran und Alt, T. 52 mit Tenor als „Trio“
Bach
wählt
etwas
weniger
offensichtlich,
eine
bestimmte
Taktart
für
diesen
(verhältnismäßig) langen Chor aus: den ¾- Takt. Das erscheint auf den ersten Blick
nichts Besonderes zu sein, ist aber eine bewusste Entscheidung von ihm (Bsp.:
Viervierteltakt).
Exkurs: Wir haben bereits über die Entstehung der Tonarten aus, mit griechischen
Namen bezeichneten“ Kirchentonleitern, gesprochen. Es ist klar, dass es auch nicht von
Anfang an 4/4-, 3/4- oder 6/8- Takte gab. Ursprünglich gab es (so wie es keine Noten
gab) keine Taktangabe. Der Rhythmus und die Dauer der jeweiligen Töne richteten sich
ganz nach der Betonung der Worte. In Zusammenhang mit der Entstehung der Notation
wurden auch Symbole für Rhythmus und Dauer festgelegt. Diese minimale Notation war
natürlich nur so lange ausreichend, bis die Stücke mehrstimmig und damit auch
komplizierter Wurde. Eine Zeit, die schwierige Rhythmen und komplexe Kompositionen
auf die Spitze trieb, war die Zeit der so genannten Ars Nova, bezeichnet nach dem
gleichnamigen Traktat von Philippe de Vitry, Paris 1322. Ars Nova (d.h. neue Kunst) ist
eine Epoche des Mittelalters, die v.a. von Frankreich aus zur Entstehung der
Mehrstimmigkeit in Europa beitrug. Ihre wichtigste Gattung ist die Motette, meistens
vielstimmige und z. T. äußerst komplexe Kompositionen, weil isometrisch. Isorhythmie
bezeichnet die komplexe Verteilung von rhythmischen Themen auf verschiedene
Gesangsstimmen. (Bsp.: Eine ausgedehnte Sechzehntelkette wird auf vier verschiedenen
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Stimmen verteilt, die sich damit regelrecht „verzahnen“). Es ist klar, dass es hierfür klare
Angaben in Takt und Rhythmus geben muss. Dies bedeutete eine deutliche
Weiterentwicklung der schriftlichen Notation durch die Ars Nova. Es wurden demnach
„Mensurzeichen“ eingeführt, die vergleichbar sind mit unseren Taktarten (s. Abbildung).
Dabei gelten die durch Drei teilbaren Mensuren als „gute“ Tempi (tempus perfectum; s.
Dreieinigkeit) und die durch Zwei teilbaren Mensuren als „schlechte“ Tempi (tempus
imperfectum).
Wenn Bach nun ein tempus perfectum für den Streit um den Rock Jesu wählt, dann
bedeutet das mehr als nur eine tänzerische Musik zum Würfelspiel. Bach symbolisiert
damit den perfekten, d.h. den unangetasteten und vollkommen Zustand dieses
Kleidungsstücks. Sein Rückgriff auf die Musik des Mittelalters verbindet sich mit der
modernen Anlage der Fuge.
Hören (NBA 27a+b/EP 53+54)
7. Rezitativ: „Auf dass erfüllet würde die Schrift“ (NBA 27c/EP 55) und
8. Choral: „Er nahm alles wohl in acht“ (NBA 28/EP 56)
Johannes legt in seinem Evangelium sehr viel Wert auf die Bezüge der JesusVerheißungen aus dem Alten Testament. So ist es zu verstehen, dass Bach auch hier
den Einwurf: „Sie haben meine Kleider unter sich geteilt“ als eingefügtes Adagio vertont.
Die Beschreibung der Personen unter dem Kreuz gerät sehr innig und lyrisch komponiert.
Zwei Dinge fallen bist zum Takt 12 auf:
1. Die Anzahl der Versetzungszeichen nehmen zu (das Augenmerk wird nun auf den
Gekreuzigten gelenkt, nachdem zuvor die Soldaten im Focus waren)
2. Bach nimmt Modulationen vor (d.h. er bleibt nicht im selben harmonischen
Zusammenhang, sondern ändert die Grundtonarten). Beispiel:
T. 2: A- Moll
T. 6: D- Moll
T. 8: E- Moll („Mutter“ auf dem Jesus- Ton g´´)
T. 12: H- Moll
Die Grundtöne dieser Tonarten a-d-e-h bilden den Chiasmus, die Kreuzfigur.
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Mit den Tonfiguren des Evangelisten (Tendenz nach unten T. 15) lenkt sich unser Blick
zu Maria und anschließend (Tendenz nach oben T. 17+18) zum Jünger, den Jesus lieb
hatte. Stockend durch Pausen intoniert der Jesus- Darsteller zweimal das TritonusIntervall d-gis (T. 16+18), das bislang immer für Verachtung und Boshaftigkeit stand
(„Richthaus“, „Judas“. Hier klingt es nach Fürsorge und Mitleid. Ein genialer Kunstgriff von
Bach, der zeigt, wie angewiesen Musik auf Zusammenhänge ist und wie sich erst aus
dem Zusammenhang heraus erschließt. Das Rezitativ endet in einem strahlenden A- Dur,
das der nachfolgende Choral aufgreift. Es ist die Melodie, die bereits mit dem Choral
„Petrus, der nicht denkt zurück“ den ersten Teil der Passion beschlossen hatte. Im
Unterschied zum eher nachdenklich gehaltenen Choral „Petrus“ drückt der Choral an
dieser Stelle große Zuversicht aus (alle Fermaten am Ende der Choralzeilen sind DurAkkorde!). Es ist der schlichteste Choral der Passion, wir sehen dies am Fehlen von
Zwischen- und Füllnoten. Wie Trompetensignale ertönen die Rufe „O Mensch, mache
Richtigkeit“ (für mich eine der bedeutsamsten Stellen der gesamten Passion), sie treffen
wie Pfeile ins Herz. Besondere Beachtung verdienen die Akkorde bei den Worten in den
Takten 12 und 13, der Übergang von „liebe“ zu „stirb“. Bach stellt hier das strahlende EDur neben einen C- Dur- Septakkord und trübt damit die Harmonie an der Stelle ein, wo
es um den eigenen Tod geht.
Hören (NBA 27c+28/EP 55+56)
9. Rezitativ: „Und von Stund an“ (NBA 29/EP 57)
10. Arie: „Es ist vollbracht“ (NBA 30/EP 58)
Mit einem Mal ändern sich die Familienverhältnisse: In das anfängliche A- Dur mischt sich
ein C des Tenors („Und von Stund an“) und leitet neue Tonartenverhältnisse ein. Auch
hier drückt der abwärts gerichtete Tritonus Zuneigung und Liebe aus (T. 2: g-cis).
Allmählich trübt sich die Stimmung: Das D- Dur aus T. 3 wird zu H- Moll (T. 11) und endet
auf Fis- Dur. In T. 4 betont Bach stark das Wort „alles“ durch das hohe a´´. Die Worte
Jesu „Mich dürstet“ kommen schwach und kraftlos. Die Hilfe, die Jesus durch das scharfe
Getränk zuteil kommen soll wird doppelt musikalisch gestützt. Der abwärts gerichtete
Tritonus ist hinlänglich bekannt (T. 9 Ende-10: „Isopen“ und T. 12: „Essig“), neu ist
6
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
jedoch, dass Bach an denselben Stellen auch einen Tritonus aufwärts im Continuo bringt:
T. 9 auf 10: g-cis und T. 11 auf 12: h-eis.
Die letzten Worte Jesu malen eine abwärts gerichtete Bewegung über eine Sext: die so
genannte Katabasis, Zeichen für das Sterben und das Ende.
Genau diese Figur wird in der nachfolgenden Arie aufgegriffen, die als Duett zwischen Alt
und Viola da gamba (= Bassbratsche auf den Knien, heute oft das Cello) gestaltet ist. Die
Gambe ergreift in die Stille hinein das Wort. Dies ist ein unglaublicher Effekt, zumal sie
mit dem Schlusston des Jesus beginnt: fis.
Wir haben es in der Arie mit einer der besonderen Kostbarkeiten in der Passion zu tun.
Bach schafft hier einen wunderbar verzierten, sehr edlen Klagegesang im Stil von
französischer Hofmusik (z.B. punktierte Rhythmen T. 2; Schreitrhythmus des Continuos).
Zu Beginn beobachten wir eine Climax, d.h. einer Figur, die mehrmals auf einer immer
höheren Tonstufe einsetzt (T. 1+2). Das Motiv der Gambe textiert dann die Altstimme mit
den Worten Jesu „Es ist vollbracht“, immer wieder hören wir es instrumental in der
Gambe. Nach einem kleinen Zwischenspiel (T. 10+11) bringt die Stimme einen neuen
Textabschnitt: „Die Trauernacht“ (wenn man so möchte: Teil B). Dieses Mal ist die Climax
nach unten gerichtet, die Textwiederholung bleibt auf dem langen C liegen. Der Alt
übernimmt den punktierten Rhythmus bei dem Satz „lässt nun die letzte Stunde zählen“
und überlässt der Gambe das Nachspiel dieses Teils.
Mit T. 20 beginnt etwas Unerhörtes: Tempo, Besetzung, Lautstärke, Taktart und Tonart
ändern sich völlig. Wir werfen hier einen kurzen Blick auf Ostern. Wieder im Tempus
perfectum und in der Tonart D- Dur malt uns Bach den Sieger Jesus Christus vor Augen.
Die italienische Bezeichnung für D ist „re“, das auch übersetzt werden kann mit „König“.
Lange, aufsteigende Sechzehntelfiguren im gesamten Orchester und in der Stimme
verdeutlichen den Triumphzug des auferstandenen Messias, bevor dann noch einmal
verkürzt der Klagegesang anhebt, wenn man so möchte ein Teil A´.
Hören (NBA 30/EP 58)
PAUSE
7
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
11. Rezitativ: „Und neigte das Haupt“ (NBA 31/EP 59) und
12. Arie mit Chor: „Mein teurer Heiland“ (NBA 32/EP 60)
In Fis- Moll endet der Auftrag Jesu nach den Worten „Es ist vollbracht“. In der Regel wird
an dieser Stelle in der Aufführung eine kurze Pause eingelegt, oder die Glocken beginnen
zu läuten.
Die nachfolgende Bass- Arie liefert dem geduldigen Zuhörer nach beinahe zwei Stunden
doch noch einmal ein paar Überraschung aus Bachs Kompositionswerkstatt. Das SoloCello konzertiert mit dem Solo- Bass, der in der Bach so eigenen instrumentalen Weise
komponiert ist (d.h. die Unterscheidung zwischen der instrumentalen und vokalen Stimme
fällt schwer, oder anders formuliert: Bach nimmt mitunter nicht immer Rücksicht auf die
Sanglichkeit einer Stimme.). So ist es mit dem Solo- Bass. Er muss große Tonsprünge
bewältigen und eine Menge Verzierungen (v.a. auf gänzlich unbetonten Silben) machen.
(z. B. „Heiland“ T. 3). Diese instrumentale Heiterkeit spiegelt sich im Dreiermetrum eines
Tanzes wieder und passt so gar nicht zu den drei wichtigen Fragen, die der Sänger
vorbringt:
„Bin ich vom Sterben frei gemacht?“
„Kann ich das Himmelreich ererben?“
„Ist aller Welt Erlösung da?“
Vielleicht erinnern wir uns an die Inszenierung der Arie im Film: Der mönchische Sänger,
der ein Selbstgespräch führt und die Hände ringt. Es sind die Fragen, die Martin Luther
umgetrieben haben. Wie bekomme ich Erlösung? Die Fragen werden durch das Sterben
Jesu beantwortet, er sagt „stillschweigend: Ja“, wie der Sänger bestätigt. Besondere
Aufmerksamkeit verdient das Wort „Erlösung“ (T. 26ff), das eine lange Verzierung erhält
und das Wort „Haupt“ (T. 39), bei welchem man eigentlich eine abwärtsgerichtete
Bewegung vermuten würde, die jedoch stolz nach oben gerichtet ist. Die Antwort auf die
Fragen des Solo- Basses werden aber schon durch den unmerklichen Choreinsatz in T. 4
eingeleitet und vorweggenommen. Die Melodie stimmt mit der Melodie des vorigen
Chorals überein (NBA 28/EP 56) und unterlegt die Worte „Jesu, der du warest tot, lebest
nun ohn Ende“. Der Auferstehungsgedanke ist also auch hier schon präsent. Nicht allein
durch das Sterben, sondern auch durch die Auferweckung Jesu ist ewiges Leben
möglich. Hören (NBA 31+32/EP 59+60)
8
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
13. Rezitativ: „Und siehe da“ (NBA 33/EP 61) und
14. Arioso: „Mein Herz“ (NBA 34/EP 62)
Einstieg mit Gruppenarbeit: „Wie komponiert Bach den eingefügten Text aus Matthäus?“
T. 1: „Einstiegsquint“: Aufmerksamkeit erregendes Intervall mit schnellen Noten
T. 2: „Vorhang“ mit Spitzennote a, der Riss beginnt ganz oben
T. 3: „von obenan bis unten aus“: gezackter Septakkord abwärts
Lange Rissbewegung im Cello
T. 4: „erbebte“: tremolo (= zittern, vormachen)
T. 5: große Tonsprünge bei den zerrissenen Felsen und offenen Gräbern
T. 6: „und stunden auf“: große Aufwärtsbewegung mit Spitzenton a
→ einer der dramatischen Höhepunkte im Bericht des Evangelisten
Das musikalische Material wird im nachfolgenden Arioso des Tenors weitgehend
beibehalten. Dazu kommen lang Haltetöne der Holzbläser (im Klavierauszug in der
rechten Hand dargestellt). Dadurch entsteht beim Hörer der Eindruck eines begleiteten
Rezitativs (recitativo accompagnato), wie aus der Matthäus- Passion oder einer Oper.
Das Tremolo des vorigen Rezitativs wird in den Violinen rhythmisiert und symbolisiert das
Beben
des
eigene
Herzens
angesichts
des
„größten
Dramas
aller
Zeiten“
(Kettling/Sayers). Die Vorhangmusik erscheint wieder (T. 5), eine neue Musik untermalt
die Spaltung des Felsens (T. 6), die Spaltung der Gräber wird durch die Umkehrung des
Vorhangmotivs untermalt. Das Arioso endet mit einer offenen Frage auf dem Spitzenton
g, die erst in der nachfolgenden Arie beantwortet wird. Beide Stücke hängen tonartlich
zusammen (das Ende C- Dur wird zur Dominanttonart von F- Moll).
Bach erinnert mit dieser lautmalerischen Musik an ein Rezitativ aus der „Schöpfung“ von
Joseph Haydn, in welchem die Erschaffung aller Tiere in Tönen dargestellt wird (Löwe,
Würmer, Kühe, Hirsch…)
Hören (NBA 33+34/EP 61+62)
15. Arie: „Zerfließe“ (NBA 35/EP 63)
Die Besetzung dieser Sopran- Arie erinnert an die Arie „Ich folge dir gleichfalls mit
freudigen Schritten“, bei welcher ebenfalls die Flöte dabei war. Hier kommt die Oboe
dazu. Die Form der Arie ist eine freie A-B-A´- Form, in welcher die Motive des Weinens,
9
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Klagens
und
der
fallenden
Tränen
gut
hörbar
gemacht
werden.
Besondere
Aufmerksamkeit verdienen die Worte „dem Höchsten“ (T. 33, 35, 113) und der B- Teil, der
in Takt 58 beginnt. Hier wird noch nicht gleich vom Sopran die Wahrheit darüber verraten,
was mit Jesus passiert ist. Wenn er in T. 67 mit den Worten beginnt: „dein Jesus“, dann
fügt Bach Pausen ein, bevor sich der Text wiederholt „dein Jesus ist tot“. Das Wort „tot“
an dieser Stelle aber durch einen Sprung und eine anschließende Fermate für alle
Stimmen deutlich betont. An dieser Stelle schweigt alle Musik für einen kurzen
Augenblick.
Das Wort
„tot“
wird
im
Übrigen
durch
drei
besondere
barocke
Verzierungsmöglichkeiten hervorgehoben:
T. 70: Sprung (s. o.)
T. 80: Lautstärkevibrato, also ein Vibrato, das nicht die Tonhöhe, sondern die Intensität
des Tones verändert
T. 88: Vorhalt (Appoggiatur)
Hören (NBA 35/EP 63)
16. Rezitativ: „Die Juden aber“ (NBA 36/EP 64) und
17. Choral: „O hilf, Christe“ (NBA 37/EP 65)
Im nachfolgenden, langen Bericht herrscht sachliche Nüchternheit vor. Beachtung
verdient der eingeschobene Nebensatz „denn desselbigen Sabbath Tag war sehr groß“,
den Bach wieder auf einer tieferen Tonhöhe beginnen lässt.
T. 17: „Speer“: dissonanter Akkord mit großem Sprung der Singstimme
T. 23: „Denn“: Betonung und Einleitung der nachfolgenden Schriftworte, die wieder als
Ariose Teile (Adagio) vom Evangelistenbericht abgehoben sind.
T. 29: „gestochen“: „Speerton“ es (s. T. 17) und Tritonussprung es-a
Die Melodie des Chorals kommt uns bekannt vor, denn sie eröffnete mit dem Text
„Christus, der uns selig macht“ den Akt III („Pilatus“). Allerdings setzt Bach nun die
Melodie um einen Ton nach oben. Die Erhöhung Jesu ist geschehen. Veränderung in den
Stimmen Alt, Tenor und Bass nimmt Bach kaum vor. Er bildet damit eine Brücke zum
Beginn des 3. Aktes, in welchem das Leiden Jesu tatsächlich begann und nun sein Ende
gefunden hat. Hören (NBA 36+37/EP 64+65)
10
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Akt IV: „Der Gekreuzigte“ (NBA 25a-37/EP 49-65)
Tempus- Arten, Mensurzeichen der Ars Nova (Philippe de Vitry, Paris 1320-1380)
9/8
3/4
tempus
perfectum
tempus
perfectum
6/8
2/4
tempus
imperfectum
tempus
imperfectum
heute:
alla breve
heute:
4/4
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Akt V: „Grablegung“ (NBA 38-40/EP 66-68)
1. Rezitativ: „Darnach bat Pilatum“ (NBA 38/EP 66)
Ruhe- das ist die Überschrift über die letzten Teile der Johannes- Passion. Was wurde in
den letzten Stunden alles unternommen, um Jesus freizulassen? Welche Bilder haben
sich vor unserem inneren Auge aufgetan? Welche inneren und äußeren Kämpfe haben
wir evtl. mitgemacht? Jetzt sind diese Kämpfe zu einem Ende gekommen. Bach gliedert
die abschließende Erzählung von der Grablegung Jesu durch Joseph von Arimathia,
einem heimlichen Jünger, ausgesprochen ruhig und fließend. Dramatik gibt es im Vortrag
nun nicht mehr. Auch in den Tonarten sind wir in sicherem „Fahrwasser“ angekommen
(es gibt keine Untiefen mehr). Die Tonarten helfen uns, das Rezitativ in drei beinahe
gleich große Abschnitte, zu teilen.
Teil A (T. 1-8): F- Dur: Die Bitte des Joseph an Pilatus. Beeindruckend die Vertonung,
dass Joseph ein „heimlicher Jünger war aus Angst vor den Juden“. Es ist eine der
seltenen Stellen, in denen Bach eine Lautstärkeangabe macht, nämlich piano, um diesen
eingeschobenen Satz hervorzuheben. In T. 5 werden wir Zeuge der Bewegung, wie der
Leichnam abgenommen wird (Septakkord abwärts as-f-d-h). Bedeutsam in diesem
Zusammenhang die anschließende Aufwärtsbewegung zum „Jesus- Ton“ g´´. Die
Verbindung des Wortes „möchte“ (as) zu „Jesus“ ist unübersehbar. Wir können den Satz
auch so formulieren: Joseph möchte Jesus. Die Takte 7-8 fehlen in unserer Aufnahme,
weil es sich um eine andere Fassung handelt.
Teil B (T. 9-17): C- Moll: Der Blick wird nun auf Nikodemus gelenkt, der ebenfalls ein
heimlicher Jünger Jesu war. Die nächtliche Szene zwischen Nikodemus und Jesus
(Johannes 3) wird durch zwei besondere Intervalle gekennzeichnet: T. 10 (verminderte
Septe abwärts es-fis bei „vormals“) und T. 11 (kleine Septe aufwärts d-c bei „zu Jesu).
Der Tritonus g-cis beim Wort „Aloen“ (T. 12) verdeutlicht die ganz besondere Bedeutung
dieser Heilpflanze, ebenso wie das hohe a´´ (T. 13) das Wort „hundert“ verdeutlicht (ich
nehme an, es bedeutet einfach eine große Menge).
„DA nahmen sie den Leichnam Jesu“ endet in T. 14 wieder auf dem „Jesus- Ton“ g´´.
1
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Teil C (T. 17-25): F- Dur: Die Erinnerung an die Kreuzigungsstätte greift noch einmal das
schmerzvolle Intervall des Tritonus auf (T.18 auf 19: c-fis) und ruft uns dann das Bild des
Gartens in Erinnerung, ein Bild, das wir vom Beginn der Passion bereits kennen. Dort
heißt es (NBA 2a/EP 2): „Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron, da war
ein Garten, darein ging Jesus und seine Jünger“. Dorothy Sayers spricht vom „perfekten
Drama“, es greift solche kleinen Motive auf. Es beginnt für Jesus in einem Garten und
endet dort (vorläufig). Die Aufwärtsbewegung der Töne bei der Erwähnung des Gartens
ist in beiden Rezitativen gleich.
T. 22 und 23 sind eine Climax (eine Wiederholungsfigur), denn Takt 23 hat denselben
Rhythmus und dieselbe Melodie auf einer anderen Stufe. Bach betont damit die
Begründung von Johannes, warum Jesus gleich begraben werden musste: „um des
Rüsttags willen der Juden.“ Das Rezitativ endet in C- Moll, so dass der tonartliche
Rahmen des Rezitativs geschlossen ist: F- Dur – C- Moll – F- Dur – C- Moll
Hören (NBA 38/EP 66)
2. Chor: „Ruht wohl“ (NBA 39/EP 67) und
3. Choral: „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ (NBA 40/EP 68)
Der Schlusschor der Johannes- Passion ist nicht annähernd so komplex wie der
Eingangschor „Herr, unser Herrscher“. Sein Aufbau ist stets klar und leicht
nachzuvollziehen. Wir haben es hier mit einer Sarabande zu tun, einem alten spanischen
Schreittanz (s. Arie „Ach, mein Sinn“, NBA 13/EP 19), deren charakterliches Merkmal die
Betonung kurz-lang ist, in diesem Fall auftaktig empfunden („ruht wohl“), die
Hervorhebung des Wortes „wohl“ ist unübersehbar. Gehen wir aber der Reihe nach durch
das Stück:
Hauptteil A
T. 1-12: instrumentales Vorspiel, das Ritornell, dessen Anfangsmotiv unzählige Male im
Satz vorkommt.
T. 12-32: erster Chorteil, beginnend in C- Moll und endend auf G- Dur (der
Dominanttonart). Bezeichnend in der Musik (s. Sopran) sind die vielen kleinen
Seufzerfiguren, meistens Achtelnoten mit Bindebogen (z.B. T. 13), die so genannten
suspiratio. Der Jesus- Ton g taucht viele Male auf (s. Sopran T. 12 ff).
2
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
T. 32-48: zweiter Chorteil, beginnend und endet in der Ausgangstonart C- Moll. Dem
Chorbass kommt in den Takten 40 und 42 eine besondere Aufgabe zu, indem er mit
seinen hinunterfallenden Achtelketten über eine Oktave die Handlung der Grablegung
beschreibt.
Hauptteil B
T. 48-60: instrumentales Zwischenspiel, Wiederholung des Ritornells vom Anfang.
T. 60-72: dritter Chorteil mit neuem Text „Das Grab, so euch bestimmet ist…“ in
unbestimmter Tonart. Der Chor setzt auf einem Sekundakkord ein (F- Dur mit e im Bass)
und verwischt so die Bestimmung des „Grabes“, von der im Text die Rede ist. Ein
Sekundakkord hat die Angewohnheit, aufgelöst werden zu müssen. Das heißt, man kann
nicht lange in dieser angespannten Situation bleiben. Bei Bach bleibt man drei Takte lang
in diesem schwebenden Zustand, bevor man in T. 64 B- Dur erreicht hat. Drei Takte
entsprechen
den
drei
Tagen,
in
denen
Jesus
im
Grab
gelegen
hat.
Die
Aufwärtsbewegung des Soprans deutet die Auferstehung bereits deutlich an.
Eine neue Instrumentierung (die Holzbläser werden von Bach aus dem Satz
herausgenommen) verleiht dieser Stelle einen mystischen und schwebenden Charakter.
Der Teil schließt in As- Dur, dem Gegenklang von C- Moll.
Hauptteil A
T. 73-96: vierter Chorteil mit instrumentalem Vorspiel (verkürztes Ritornell), beginnend in
C- Moll und endend in G- Dur, wieder Hinzunahme der Holzbläser
T. 97-112: fünfter Chorteil, beginnend und endend in C- Moll
Hauptteil B´
T. 112-124: sechster Chorteil mit dem Text „Das Grab, so euch bestimmet ist“, wiederum
in schwebender Tonart, nach drei Takten stellt sich F- Moll, also die Subdominante als
Grundtonart heraus. Charakteristisches Merkmal ist neben der erneuten Aussparung der
Holzbläser,
das
Schweigen
des
Chorbasses.
Es
entsteht
ein
kleiner
kammermusikalischer Abschnitt zwischen Frauenstimmen und Tenor. Der BachForscher Friedrich Smend hat über das Fehlen des Chor- Basses in anderem
3
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Zusammenhang gesagt, dass Bach damit versucht, die Unschuld darzustellen.1
Besondere Aufgabe kommen den Celli an zwei Stellen vor (T. 116 und 120), in denen sie
die Grablegung figürlich darstellen.
Durch die Wiederholung des Hauptteils A entsteht die Form eines Chor- Rondos (Rondo:
Reihungsform, sozusagen mit einem leicht eingängigen „Refrain“, der sich immer
wiederholt).
(siehe Abbildungsverzeichnis)
Man vermutet, dass der Schlusschoral ursprünglich nicht zur ersten Fassung der
Johannes- Passion gehörte. Eigentlich ist sie nach dem Schlusschor beendet. Doch Bach
fügte diesen Choral an, um der Leipziger Kirchengemeinde entgegen zu kommen. Auf
den ersten Blick hat dieser Choral nämlich gar nichts mit dem Leiden Jesu zu tun. Erst in
der letzten Strophe kommt die Sprache auf Jesus, nachdem vorher das Bild vom armen
Lazarus bemüht wird. Trotzdem nimmt Bach mit diesem Choral die Auferstehung in seine
Passion hinein und wir werden sehen, wenn wir uns mit der Passion v.a. des 20. Jh.
beschäftigen, dies ist nicht ganz selbstverständlich. Die flehentlichen Rufe „Herr Jesu
Christ, erhöre mich“ verleihen dem Choral seine große Stärke, die übergeht in den Jubel
der auferstandenen Gemeinde „dich will ich preisen ewiglich. Bach komponiert hier die
Vereinigung von der Gemeinde mit dem König Jesus. Wir haben über die Tonarten
gesprochen und verschiedentlich Halt gemacht an den Stellen, an denen sie etwas zu
bedeuten hatten. Auch über Zahlensymbolik haben wir uns schon unterhalten. Die drei Bs
der Es- Dur- Tonart stehen für den auferstandenen König und entfalten eine warme und
helle Pracht.
Hören (NBA 39+40/EP 67+68)
Rezeptionsgeschichte
Über Reaktionen der Leipziger Hörer auf die Johannes- Passion ist uns nichts bekannt.
Sie dürfte allerdings nicht ohne Protest geblieben sein, da Bach sonst wohl kaum den
Eingangs-
sowie
den
Schlusschor
unserer
Fassung
ein
Jahr
später
durch
Choralbearbeitungen ersetzt hat. Bach musste sich nach kirchlichen aber auch nach
personellen Gegebenheiten bei seinen Aufführungen richten. Die Solisten waren Schüler
1
nach: Alfred Dürr: Johann- Sebastian Bach, Die Johannespassion, Bärenreiter 1988
4
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
der Tomasschule, die instrumentale Begleitung hing davon ab, wie viele Musiker der
Stadt gerade verfügbar waren. Der Chor umfasste für eine normale Aufführung, ebenfalls
Schüler der Thomasschule“ etwa 12 Sänger.
Mit einem ästhetischen und literarischen Stilwandel nach Bachs Tod 1750 distanzierte
man sich deutlich von der blumigen Metaphorik v.a. in den Dichtungen der Passionen.
Carl Philipp Emanuel Bach führte noch Teile der Matthäus- Passion zusammen mit
eigenen Kompositionen in Hamburg auf, eine längere „Lebensdauer“ war den Chorälen
beschieden. Die große Wende vollzog sich erst in Berlin durch Mendelssohns Aufführung
der Matthäus- Passion an der Berliner Singakademie 1829. Doch bereits in dieser viel
beachteten Aufführung ist zu sehen: das ehemals gottesdienstlich gedachte Werk von
Bach erfährt seine Wiederbelebung in einem Konzertsaal (s. FORUM). Über viele
Jahrzehnte wurden die Passionen nur als ästhetische Kunstwerke angesehen und
demnach auch nach eigenem Willen der Dirigenten und Interpreten gestrichen und
abgeändert. Selbst Mendelssohns Aufführung war keine komplette sondern eine
abgespeckte. Grundlage war die Angst, die Passionen seinen zu langatmig und zu
schwer verständlich. Erst 1912 und 1914 wurden Johannes- und Matthäus- Passionen
erstmalig vollständig und ohne Kürzungen musiziert. Bedeutsam ist auch die Frage der
Ästhetik. Natürlich sind menschliche Hörgewohnheiten einem gesellschaftlichen und
modischen Wandel unterworfen. Mendelssohn hatte über 200 Ausführende bei seinen
Aufführungen dabei, die v.a. die Chöre sehr packend und dramatisch gestalteten. Gerne
wurden auch die Choräle sehr langsam und gedehnt musiziert, weil sie die besten
Erinnerungen bei den Zuhörern wachriefen, sie waren schließlich die bekanntesten
Stücke. Auf Applaus wurde zur Zeit Bachs selbstverständlich verzichtet, da es ja eine
Aufführung innerhalb einer Karfreitagsvesper war. Auch dies hat sich im Laufe der Jahre
verändert. Heute wird immer wieder im Programmheft darum gebeten, auf Applaus zu
verzichten, um damit die Anteilnahme am Geschehen der Passion auszudrücken. Anfang
der 1980er Jahre setzten die ersten szenischen oder tänzerischen Inszenierungen der
Bach- Passionen ein (John Neumaier, Hamburg; Vittorio Biaggi, Palermo 1985 und Bernd
Schindowski, Gelsenkirchen 1991) und trugen mit zur Reduzierung der Stücke auf ihren
ästhetischen Gehalt als Kunstwerk bei. In Holland werden immer wieder die Passionen
unter großem Publikumsandrang in Kirchen aufgeführt, wobei jeder der Anwesenden bei
5
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
einer Art großem Mitmachkonzert an den Stellen singen darf, die ihm liegen. Das ist wohl
der stärkste Gegensatz zu denjenigen Künstlern, die sich um einen Originalklang
bemühen, wie auch die Künstler unserer CD- Einspielungen.
Abschluss: Gesprächsrunde über das Erleben der Johannes- Passion
6
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Akt V: „Grablegung“ (NBA 38-40/EP 66-68)
Conclusio: “Ruht wohl”: Aufbau des Chor- Rondos
Großform
Kleinform
Teil A
1-12
Ritornell
C- Moll
a
12-32
“Ruht
wohl”
C- Moll
G- Dur
Teil B
a´
32-48
“Ruht
wohl”
C- Moll
48-60
Ritornell
b
60-72
“Das
Grab”
As- Dur
Teil A
73-76
Ritornell
a
76-96
“Ruht
wohl”
C- Moll
G- Dur
Teil B´
a´
97-112
“Ruht
wohl”
C- Moll
b´
112-124
“Das
Grab”
Es- Dur
Teil A
a
12-32
“Ruht
wohl”
C- Moll
G- Dur
a´
32-48
“Ruht
wohl”
C- Moll
48-60
Ritornell
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Einheit II:
Die Entwicklung der musikalischen Passion nach 1750
1. Das 18. Jahrhundert
Das 18. Jh. steht im Wesentlichen unter dem Stichwort „Säkularisierung“. Die Absicht
hinter
der
Neukomposition
von
„Passionsoratorien“,
wie
sie
genannt
werden,
unterscheidet sich grundsätzlich von der J.S. Bachs. Sie geht einher mit Gedankengut
der Aufklärung und möchte nicht mehr primär Verkündigung sein im Sinne der barocken
Predigt [s. auch Einheit I: docere – movere – delectare – persuadere (belehren –
bewegen – erfreuen – überzeugen)]. Vielmehr glaubt man an eine allgemeine läuternde
Wirkung, die von der Erhabenheit und dem Ethos der Kunstwerke auf alle Menschen
ausgehen. Das Oratorium wird gleichsam zum Wegweiser aus der allgemeinen
Oberflächlichkeit und Sittenlosigkeit. Es motiviert die Komponisten und Dichter also ein
sozialer
Besserungsaspekt.
Manches
Mal
wird
mit
dem
Eintrittsgeld
für
die
Passionsaufführungen oder dem Verkauf der Texthefte ein Armen- oder Waisenhaus
unterstützt. Carl Philipp Emmanuel Bachs eigene so genannte Spinnhaus- Passion
(Hamburg 1768) erklang wie der Name sagt im „Spinnhaus“, einem Gefängnis zum
Zwecke der Besserung seiner Insassen. Gerade die Hamburger Situation beleuchtet die
Entwicklung der Passion exemplarisch. Jedes Jahr wurde im Wechsel an einer der
Hauptkirchen eine Passion aufgeführt (immer ein Evangelium nach dem andern). C. Ph.
E. Bach verfährt da äußerst kräfteschonend, indem er immer Teile von alten Passionen
für eine neue Aufführung übernimmt mit dem Wissen, in den jeweiligen Stadtteilen hören
immer andere Leute zu („Passionsrecycling“), er vertont manches Mal nur die Chöre neu,
ein anderes Mal nimmt er andere Choräle hinzu oder setzt Passagen aus den Passionen
seines Vaters ein. Die Passionsaufführungen werden zur alltäglichen Arbeit eines Kantors
und Musikdirektors. In Nebenkirchen oder auch Konzertsälen, die bekanntlich kein so
konservatives Publikum führen wie die Hauptkirchen, wird immer wieder auch mutig
experimentiert, so z.B. Georg Philipp Telemann, der Amtsvorgänger von C. Ph. E. Bach
(Seliges Erwägen, 1722).
1
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Inhaltlich unterliegt die Passionskomposition dabei folgender Wandlung: die empfindsame
Schilderung des Leidens Jesu steht weit mehr im Vordergrund als der biblische
Passionstext. Dabei geht es nicht um das Leiden des Erlösers, sondern um das Leiden
des
gütigen,
weisen
und
vorbildlichen
Menschenfreundes.
Die
beliebteste
Passionsvertonung des 18. Jh. wird die Passions- Kantate Der Tod Jesu von KarlHeinrich Graun (1755) nach einem Text von Karl Wilhelm Ramler. Religion wird
volkstümlich als Kunst verstanden, sie soll bestenfalls zur Andacht anregen und „die
Seele bewegen“. Herder sagt darüber: „Es geht um die behutsame Anwendung der Regel
des Verstandes in den Sachen des Glaubens und der Gottseligkeit“. Der Mensch als
Individuum spielt eine immer wichtige Rolle. Er ist dabei auf sich (das Geschöpf) gerichtet
und verliert die Anbindung an Gott (seinen Schöpfer). Musikalisch gesehen geschieht
eine deutliche Anlehnung an die Oper, der Stoff wird dramatisch ausgestaltet, auf das
Bibelwort wird gänzlich verzichtet. Die Person Jesus kommt überhaupt nicht vor (als
Charakter und in wörtlicher Rede), das Geschehen wird aus der Retrospektive des Petrus
berichtet. Die ursprüngliche Vorlage des Librettos lieferte der Italiener Pietro Metastasio,
der zu vielen Mozart- Opern ebenfalls das Libretto schrieb. Seine Vorlage La passione
wird im 18. Jh. überall in Europa unzählige Male vertont. Sogar in Leipzig wird eine
Komposition nach dieser Vorlage aufgeführt, und zwar von Bachs Nachfolger im Amt,
Johann Gottlob Harrer.
Die Passionsgeschichte wird also zunehmend auf ihren dramatischen Gehalt reduziert,
auf die Deutung der Worte (wie bei Bach) meistens verzichtet. In dieser Tradition stehen
auch die Werke Joseph Haydns, die den Passionsstoff aufgreifen: Die sieben letzten
Worte unseres Erlösers am Kreuz: Sieben Sonaten mit einer Einleitung und am Schluss
ein Erdbeben, aus der Tradition der Summa passionis (1787) so wie die Orchesterfinfonie
La Passione nach Vorbild von Metastasio (1768).
Allgemein beobachtet erleben wir gegen Ende des 18. Jh. und zu Beginn des 19. Jh.
einen langsamen Niedergang der kirchenmusikalischen Grundlagen. Wenn Mozart,
Beethoven und Schubert Bachsche Werke studieren, dann nur um sich kompositorische
Grundlagen anzueignen, eine Pflege des barocken Erbes findet aber zumeist nicht statt.
Vielerorts (auch in Leipzig ab 1766!) wird bereits wieder die gesprochene Passion
eingeführt, in Magdeburg sogar der Vortrag in verteilten Rollen verboten. In pointierter
2
“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Weise
drückt
das
zurückgehende
Interesse
an
Passionskompositionen
der
Liturgiehistoriker Paul Graff 1939 aus: „Wenn die Passion zur lehrreichen Geschichte
wird, ist es in den Augen der Aufklärung unsinnig, diese Belehrungen durch
Gesänge zu unterbrechen“.
2. Das 19. Jahrhundert
Grund für das Zurückgehen der (meist protestantischen) Kirchenmusik ist unter anderem
das Verschwinden der Kantoreien und das gleichzeitig stark wachsende Interesse an
bürgerlichen Chorvereinigungen („Berliner Singakademie“, Musikfest Düsseldorf usw.).
Deutschsprachige Neuschöpfungen für den Gottesdienst nach dem Vorbild Luther/Walter
sind z.B. aus der Kirche St. Maria Magdalena in Karlsbad/Böhmen erhalten (1760 und
1840), ebenso gibt es zwei um 1800 entstandene Passionen im Archiv der
franziskanischen Mission in Kalifornien. Auch im spanischen Raum werden einige
Passionen für den Gottesdienst komponiert.
Beiden Konfessionen eigen ist eine allmähliche Rückbesinnung auf die Geschichte der
Passion des 16. Jh. Im katholischen Raum steht hierfür der Begriff „Cäcilianismus“,
ausgehend von der Gründung des Allg. Cäcilienvereins in Regensburg (1868), einer
Rückbesinnung auf das kirchemusikalische Schaffen von Palestrina, O. di Lasso und des
Gregorianischen Chorals (s. Rheinberger, Bruckner). Im evangelischen Raum wendet
man sich vermehrt Schütz und Bach zu („Schütz- Renaissance“ in der Mitte des 19. Jh.
mit Herausgabe einer Gesamtausgabe).
1829 erfolgt wie bereits besprochen die viel beachtete Wiederaufführung der MatthäusPassion durch F. Mendelssohn in Berlin und 1885 die Aufführung der Matthäus- Passion
von H. Schütz und der Veröffentlichung eines berühmten Aufsatzes über das Werk von
Heinrich Schütz durch Friedrich Spitta.
Allgemein (und nicht zuletzt durch die Mendelssohn- Aufführung der Matthäus- Passion)
löst sich die Passionsvertonung vom Gottesdienst und wird zu einem Stück
überkonfessioneller Konzertmusik. Dazu gehört nicht zuletzt auch Beethovens PassionsOratorium Christus am Oelberge, das am 05. April 1803 zusammen mit der zweiten
Sinfonie und dem Klavierkonzert C- Moll im Theater an der Wien uraufgeführt wird.
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
Beethoven selbst empfand die literarische Vorlage des Wiener Singspiel- und
Komödiendichter Franz Xaver Huber als „opernmäßig“ und „äußert schlecht“.
3. Das 20. Jahrhundert
Zu Beginn des 20. Jh. entstehen schnell zwei wichtige Stücke in der Passionsgeschichte,
die in Stil und Kompositionsart eher zurück gewandt sind:
1926: Markus- Passion für Doppelchor a capella von Kurt Thomas (Schüler von Arnold
Mendelssohn und spätromantisch).
1932: Choralpassion für 5stimmigen gemischten Chor von Hugo Distler, die wohl nach
einem Besuch der Johannes- Passion in Lübeck und dem tiefen Eindruck auf den
Komponisten entstanden ist. Er lässt die Solisten (inkl. Evangelisten) unbegleitet
einstimmig singen und nimmt dabei die Schütz- Passionen zum direkten Vorbild.
Beide Komponisten schreiben anschließend ebenfalls eine Weihnachts- und eine
Auferstehungshistorie und bleiben damit in der Schütz- Tradition (s. Notenbeispiel).
Nach dem zweiten Weltkrieg entstehen im Zusammenhang mit der Rückbesinnung auf
die reformatorischen Wurzeln der Ev. Kirche einerseits und mit der neuerlichen
Aufwertung von Ausbildung und Berufsstand der hauptamtlichen Kirchenmusiker
andererseits und dem Wirtschaftswunder auf der dritten Seite bedeutende Werke in der
Gattung Passionsoratorium. Jedenfalls besinnt man sich auf die Impulse, die zwischen
den Kriegen von Thomas und Distler ausgegangen waren (s. o.) und so entstehen in den
nächsten
20
Jahren
um
die
60
neue
Werke.
Dies
ergibt
sich
aus
den
Aufzeichnungsberichten der Zeitschrift Musik und Kirche. Die früheste Passion stammt
von dem damaligen und langjährigen Dresdner Kreuzkantor Rudolf Mauersberger. Das
Hauptwerk und damit auch eines der Hauptwerke der evangelischen Kirchenmusik des
20. Jh. ist der Passionsbericht des Matthäus von Ernst Pepping für Doppelchor (1949).
Pepping vertont erstmals wieder einen vollständigen Bibeltext und unterbricht diesen
durch die Hinzunahme von Choralstrophen nach dem Vorbild Bachs und unterlegt
manche Chorpassagen mit Abschnitten des lateinischen Glaubensbekenntnisses.
Ein zentrales Werk des 20. Jh. und gleichzeitig eine nichtliturgische Komposition ist das
Oratorium Golgotha des Schweizer Komponisten Frank Martin mit französischem Text
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
aus dem Jahr 1948. Martin kürzt auf der einen Seite den Evangeliumsbericht und fügt der
Passionsgeschichte andererseits biblische „Vorgeschichten“ an, z.B. der Einzug Jesu in
Jerusalem, die Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten im Tempel und das
letzte Abendmahl. Eingeschoben sind daneben Texte, die eine etwas völlig Neues in der
Gattungsgeschichte bringen, da sie Passagen aus den Schriften des Kirchenvaters
Augustinus enthalten (aus Confessiones und aus Augustinus zugeschriebenen Schriften,
von denen bereits Schütz Ausschnitte vertont hatte). Als biblische Figuren treten bei
Martin nur Jesus, der Hohepriester und Pilatus solistisch hervor. Der Evangelistenbericht
wird unterschiedlich von Solostimmen, Stimmpaaren oder auch chorisch vorgetragen.
Weitgehend eliminiert sind die Aussagen der Juden (der Eindruck des Holocaust liegt
noch nicht weit genug zurück). In der Wahl der kompositorischen Mittel geht Martin sehr
sparsam vor. Er schätzt große Farbigkeit des Orchesters und eher verhaltenen Ausdruck.
Selten setzt er auf oberflächliche Effekte, sondern beschränkt sich auf einfache
akkordische Begleitung im Orchestersatz.
Martin wurde 1890 in Genf als Kind eines Pfarrers geboren und besuchte nach eigenen
Aussagen als Zwölfjähriger eine Aufführung der Matthäus- Passion von Bach, die ihn tief
beeindruckte. Seine ersten Gehversuche als Komponist orientieren sich an der
Zwöltonlehre der Neuen Wiener Schule um Arnold Schönberg, er führt jedoch den
konsequenten Weg der Selbstständigkeit der Töne nicht im Schönbergschen Sinne
weiter, sondern verlässt in seinen Kompositionen nie die sichere tonale Basis. Zu seinen
berühmtesten Werken gehört die doppelchörige Messe für Chor a capella. Von Martin
existieren interessante Aussagen über das Verhältnis von Komponist zu geistlicher
Musik, die auch ein gesellschaftliches Bild zeichnen „Gerade aufgrund des Umstandes,
dass eine allgemeine religiöse Übereinstimmung heute nicht mehr existiert, steht der
Künstler, der ein religiöses Werk schaffen will, seinerseits vor der Unmöglichkeit, eine
Basis für eine wirkliche und generelle Übereinstimmung mit dem Hörer zu finden“, schrieb
Martin 1946, zwei Jahre vor der Komposition von Golgotha. Den Anstoß zur Komposition
des Werkes gab Martin das Bild von Rembrandt „Die drei Kreuze“. Dabei war Martin sich
bewusst, dass es eine Anmaßung bedeutete, „eine Passion zu schreiben, nach
denjenigen, die uns J.S. Bach hinterlassen hat. Bach ist gestern heute und immer. Sein
Werk war Kirchenmusik, geschrieben für seine Kirche. So drücken seine Passionen vor
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
allem die Gefühle der Gläubigen angesichts der Passion aus. Das „Golgotha“, das ich
schreiben will, versucht das Geschehen an sich darzustellen, und überlässt es dem
Hörer, daraus Schlüsse zu ziehen. Das Oratorium kann wohl in einer Kirche aufgeführt
werden, aber es wird keine Kirchenmusik sein.“
Hören: Golgotha Nr. 3
Als herausragende Passionskomposition des 20. Jh. gilt allerdings die Lukas- Passion
von Krzysztof Penderecki aus dem Jahr 1966. Sie macht den bislang eher regional
bekannten polnischen Komponisten mit einem Schlag weltberühmt. Penderecki gilt als
einer der innovativsten und kreativsten Komponisten des 20. Jh. und ist maßgeblich dafür
beteiligt, dass viele etablierte „Klassik“- Hörer den Zugang zu moderner E- Musik
gefunden haben. Penderecki kann einen beeindruckenden Lebenslauf vorweisen.
Zahlreiche
seiner
Kompositionen
gewannen
die
bedeutendsten
internationalen
Kompositionspreise, er ist Ehrendoktor ganzer 17 Universitäten auf der ganzen Welt
gewesen. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehören Die Psalmen Davids,
Threnos, Flourescences und Atmosphère. Es sind alles große Klangemälde. Penderecki
experimentiert mit den Grenzen der Instrumente und der menschlichen Stimme. So auch
seine Lukas- Passion. Sie war eine Auftragskomposition des Westdeutschen Rundfunks
zur 700 Jahr- Feier des Doms in Münster. Penderecki gedachte in seinem Werk daneben
aber auch des 1000. Jahrestages der Christianisierung Polens im selben Jahr 1966.
„Mein Ziel“, so Penderecki, war die Abkehr von einer statischen Schilderung, von einer
reinen Nacherzählung des Evangeliums. Die Passion ist von ihrem Ansatz her ein
dynamisches, manchmal sogar grausames Erlebnis.“ Penderecki besetzte die ukasPassion mit einem Knabenchor, drei gemischten Chören, drei Solostimmen, einem
Sprecher und einem Sinfonieorchester. Textgrundlage ist der lateinische Text des
Lukasevangeliums und lateinische Hymnen und Psalmen der Passionszeit. Das Stück
dauert ca. 80 min und besteht aus 24 Teilen. Das musikalische Material besteht im
Wesentlichen aus zwei Zwölftontreihen, Penderecki zitiert aber wiederholt Bach, z.B.
durch B-A-C-H- Formeln. „Es ist mir egal, wie man die Lukas-Passion bezeichnet, ob nun
als traditionell oder avantgardistisch. Für mich ist sie einfach authentisch. Und das muss
genügen. Es reicht dabei nicht aus, nur gewisse religiöse Überzeugungen zu haben, und
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“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007
den Wunsch, ihnen Ausdruck zu verleihen. Ich habe nichts dagegen, wenn meine Musik
als Glaubensbekenntnis angesehen wird.“
Hören: Penderecki
Weitere Komponisten:
1969: Olivier Messiaen, La transfiguration des Notre- Seigneur Jésus- Christ
1975: Kurt Fiebig, Ein Lamm geht hin, eine Chorpassion
1985: Oskar Gottlieb Blarr, Jesus- Passion (hebräisch und deutsch)
1985: Maurizio Kagel: St. Bach- Passion
1985: Arvo Pärt: Johannes- Passion
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