“Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 J. S. Bach: Johannes- Passion Eine musikalische Analyse Dipl. mus. Frank Laffin 1 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Einheit I: Die Entstehung der Johannes- Passion und ihre musikalischen Vorgänger 1. Die „musikalische“ Passion in der Geschichte Passion (lat. passio, Leiden, Erdulden, Schwäche) ist „der Bericht vom Leiden und Sterben Jesu, wie ihn die Evangelisten Matthäus (26, 27), Markus (14, 15), Lukas (22, 23) und Johannes (18, 19) in unterschiedlicher Redaktion übermitteln. Die Passion bildet einen zentralen Text für die Heilsgeschichte: Im Sühneopfer am Kreuz, das in den Einsetzungsworten beim Abendmahl angekündigt wird, erfüllt der Messias seine göttliche Mission für das Heil der Menschen und offenbart sich als Gottes Sohn.“ (aus: MGG, S. 1453) 1.1. Die einstimmige Passion Die Lesung der Passion im Rahmen der Karwochenliturgie diente in der Frühzeit des Christentums der geistlichen Belehrung. Vereinzelt gibt es Hinweise auf eine bevorzugte und hervorgehobene Ausführung der Passionstexte im Vergleich zu andern Evangelientexten. Augustinus spricht von einer „feierlichen Lesung“ („solemniter legitur passio, solemniter celebratur“). In dieser Zeit der Kirchenväter haben Passionserzählungen wie bildliche P. Darstellungen (Bildbeispiel „Deesis“, Ende 12. Jh.) überwiegend erzählenden Charakter. Die Passionsfrömmigkeit der Bettelorden im 13. Jh. Trägt bereits mystische Züge (vorbereitet durch Bernhard von Clairvaux und begünstigt durch ein Interesse an Heiligen Stätten, wo das Schicksal des leidenden und sterbenden Christus nachempfunden wurde), in der gotischen Bildkunst wird der „Schmerzensmann“ dargestellt (Bildbeispiel „Schmerzensmann“, Elsass 1450), der zur compassio, d.h. zum Mitleiden und zur imitatio christi (Nachfolge) auffordert. Zahlreiche volkssprachliche Übersetzungen und Nachdichtungen der Passion in Versen wie in Prosa leiten zu den Passionsspielen über, die in ihrer aufwändigen Gestaltung den 1 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Bildern in zeitgenössischen Büchern vergleichbar werden (Bildbeispiel „Buchillustration Lukas“, England ca. 1415). In Zusammenhang mit der bildhaften Ausgestaltung des Passionsgeschehens ist zu sehen, dass im Laufe des 15. Jh. die Zahl der ausführenden Personen zunimmt, war der Vortrag der Passionsgeschichte bislang nur einem Kantor (Sänger) vorbehalten. Dieser trug den Text (z.B. das Johannes- Evangelium nach Papst Leo I. (440-461) stets am Karfreitag, ebenso in evangelischer Tradition) aus einer Handschrift, einem Pracht Codex oder dem eigens für ihn bestimmten Cantorinum vor. Der Vortrag unterliegt den Regeln eines so genannten Rezitationstons (genannt Tenor). Die frühesten Zeugnisse aus dem 12. Jh. belegen eine melodische Abstufung im Vortrag, oder anders ausgedrückt: einen wechselnden Tenor. Hierbei wird zwischen den auftretenden Figuren der Passionsgeschichte unterschieden. Es gibt eine mittlere Tonhöhe für die Narratio (die Erzählung), eine tiefere Tonlage für die Worte Christi und eine höhere Tonlage für die Worte der anderen Charaktere (Judas, Petrus, Pilatus, die so genannten Soliloquenten und die Volksmenge, die so genannten Turbae). (→ CorbieHandschrift, Laaber)1 Es liegt nun nahe, die Unterscheidung der Rezitationstöne auf mehrere Vortragende aufzuteilen. Die Bestrebung dafür ist, einerseits den Evangelistentext einheitlich zu rezitieren, andrerseits die Jesus- Worte hervorzuheben, so dass sich mit den übrigen Textabschnitten insgesamt drei vorherrschende Rezitationsebenen ergeben. Den Vortragenden wurden nun „Vortragshilfen“ an die Hand gegeben, so genannte litterae, also Buchstabenkürzel. Dies sind sowohl (relativ zu verstehende) Tonhöhenangaben (wie m = mediocriter, in mittlerer Lage; i = iusum, in tiefer Lage; a = altius, in höherer Lage, usw.) als auch Ausdrucksbezeichnungen (wie c = celeriter, schnell; t = tenere, langsam und verhalten; f = fortiter, kräftig, usw.). Häufig überlieferte litterae verteilt auf die unterschiedlichen Partien der Passion siehe Beispiel aus MGG. Es zeigt sich, dass die meisten Buchstaben den Jesus- Worten zugeordnet sind, deren Inhalt und Ausdruck einprägsam mit gesenkter Stimme und zurückgenommenem Vortrag dargestellt werden. Als übliche Rezitationstöne haben sich die so genannten „römischen Rezitationstöne“ durchgesetzt (Jesus f, Narratio c´, Turbae f´). Nachdem ursprünglich der Vortrag der Passion einem Diakon zugewiesen war, erfolgt nun die Aufteilung auf drei 1 G. Massenkeil: Oratorium und Passion Bd. 1, Laaber 1998 2 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Diakone, von denen der zentral stehende die Rolle der Jesus- Worte übernahm. Als weiterer Schritt zur Verlebendigung des Vortrags werden in einzelnen Fällen mehrere Sänger zum (nach wie vor einstimmigen) Vortrag der Turbae (des Volkes) hinzugenommen, eine entsprechende Vorschrift findet sich bereits in einer Handschrift von 1348 aus Polen). 1.2. Die mehrstimmige Passion Terminologie Otto Kade (1893): ● „dramatische Passion“ = nur die direkten Reden werden mehrstimmig vertont v.a. die Turbae; auch „Choralpassion“ (oder „responsoriale Passion“ = ebenfalls nur die Turbae sind mehrstimmig) ● „motettische Passion“ (folgt der Gattung der Motette) = auch die erzählenden Passagen werden polyphon gesetzt; auch „Figuralpassion“ (oder „durchkomponierte Passion“) ● „Passionsharmonie“ = Zusammenstellung von Texten aus mehreren Evangelien ● „oratorische oder konzertante Passion“ = mit neu komponierten Erzählerpassagen, die sich nicht länger am Rezitationston orientieren; der Oper und dem Oratorium folgend; ebenso Hinzunahme von Neudichtungen (Arien und Ariosi) und instrumentalen Vor- und Zwischenspielen. Die Anfänge der Mehrstimmigkeit und die katholische Passion Mit der Aufteilung der Passionserzählung auf mehrere Sänger ergab sich zumindest theoretisch die Möglichkeit eines mehrstimmigen Gesangs. Die früheste Form der Mehrstimmigkeit ist vermutlich eine improvisierte Mehrstimmigkeit einfachster Art unter Berücksichtigung des Quint – Quart – Abstandes der drei verschiedenen Rezitationstöne (f - c´ - f´). Als Beispiel dafür gilt der um 1450 geschriebene Traktat aus der Pfarrkirche in Füssen (siehe Bild und Notenbeispiel). Es gibt folgende Beschreibung der Vortragsweise: „Wenn es zu dem fürchterlichen, lärmenden Ansturm und Tumult der Juden kommt, dann muss man gemeinsam fortfahren.“ Beachtenswert ist der Umstand, dass die Mehrstimmigkeit offenbar ausschließlich den Reden der Juden vorbehalten war. Die 3 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Wissenschaft geht deshalb von einer direkten Verbindung mit den damaligen Judenverfolgungen aus. Weitere Zeugnisse früher notierter Mehrstimmigkeit fehlen. Das am meisten verbreitete Stück unter den frühen Passionen ist die „Passionsmotette“ des Antoine de Langueval (um 1507), der Textzusammenstellung nach aus allen vier Evangelien und durchweg mehrstimmig (zwei- bis vierstimmig) komponiert. Allerdings bleibt der liturgische Passionston durchweg in einer der vier Stimmen erkennbar. Die Turbae sind meist vierstimmig, die Solistenpartien (einschließlich der Jesus- Worte) gewöhnlich zweistimmig. Zum Vergleich: Johannes- Passion von Balthasar Resinarius Harzer (1543), ebenfalls ein fest an den Lektionston gebundenes, ausgesprochen frühes Werk. Es ist eine „summa passiones“, d.h. eine Passion in Kurzform, die nur die wichtigsten Stellen behandelt. Notenbeispiel (secunda pars): T. 1-10: Polyphoner Beginn der Narratio in allen Stimmen, erkennbar die natürliche Mehrstimmigkeit der Rezitationstöne f und c. T. 10-17: Homophoner Einschub beim Text „sie nahmen Jesus fest“; erste musikalische Tonmalerei bei den Worten „zu Hannas“ (T. 15); gegenläufige Viertelbewegung. T. 18-28: Dreistimmige Erzählung des Geschehens vor dem Hohenpriester; deutlich erkennbar der Rezitationston c der Narratio im Bass. T. 29-30: Ausdünnung des Satzes als Überleitung zur zweistimmigen Rede von Jesus T. 31-59: Rede Jesu auf den Rezitationston f; beachte: der Bass ist die eigentlich wichtige Stimme, auch wenn der Alt „solistischer“ erscheint. (→ gemeinsam musizieren) Bedeutende Werke der liturgischen mehrstimmigen Passion in den katholischen Gebieten des 16. und 17 Jh. sind die Passion Alessandro Scarlattis (Italien um 1680) und die vier Passionen Orlando di Lassos (München um 1580). Bemerkenswert bei Scarlattis Passion ist die Besetzung (2 Vl., Va. und Bc), sowie die große Geschlossenheit des Werkes durch einen einheitlichen Beginn und Schluss. Beide Teile (Exordium und Conclusio) stehen in derselben Tonart und sind mit Largo überschrieben (siehe Notenbeispiel und Faksimile, evtl. musizieren T. 1-28), eine Station auf dem Weg zur auskomponierten und instrumental begleiteten Passion. Orlando di Lasso komponierte ganze vier Passionen, 4 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 die bis weit ins 18. Jh. tradiert wurden. Seine Johannes- Passion ist ein streng liturgisches Werk, das über weite Strecken den choralen Passions- oder Rezitationston beibehält. Auch hier werden wörtliche Reden meist als Duo komponiert (siehe Notenbeispiel und Faksimile XXVII; Nr.1 und 3-6; evtl. musizieren). Die protestantische Passion Die Anfänge der protestantischen Passion sind gleichbedeutend mit den Anfängen der deutschsprachigen Passionen. Hier gibt es zwei wesentliche Entstehungszweige, die für Komponisten des 16. Jh. von Bedeutung waren. Der norddeutsche Reformator Johannes Bugenhagen bot 1526 eine Passionsharmonie an, die gesprochen und nicht gesungen werden sollte. Martin Luther geißelte in seiner Abhandlung zur „Deutschen Messe“ das „vier Passion singen“ als „gauckelwerck“ und hielt sich damit an Johann Walters Vorschlag, des Passionstextes eines Evangeliums einen Anfangs- (Bitt) und Schlussvers (Dank) hinzuzufügen. [Johann Walter (1496-1570), musikalischer Berater Luthers und Begründer der eigenständigen deutschsprachigen Kirchenmusik für den lutherischen Gottesdienst durch das Geistliche Gesangbüchlein (1524)] (siehe Bildbeispiel „Gesangbuch“, Laaber, S. 54) Komponisten in diesem Sinne waren der Ansbacher Hofkapellmeister John Meiland (ca. 1543-1577), und die erstmals gedruckten Kompositionen von Melchior Vulpius in Weimar (1570-1615), Thomas Mancinus in Wolfenbüttel (1550-1612), Otto Siegrfied Harnisch in Göttingen (1568-1623) und von Chr. Schultze in Delitzsch. Sie alle waren aber nur Autoren in Bezug auf die Chöre, die Einzelgesänge hatten sie lediglich übernommen (inkl. Rezitationstöne). Mancinus überschreibt seine Passion von 1620: „Mit Personen. In welchem der Text, so der Evangelista und die anderen Personen singen, choraliter (d.h. nach dem Choralston); der ander Text aber, der den ganzen chorus praesentiret, mit 4 Stimmen figuraliter (d.h. mehrstimmig) gesetzt ist.“ (MGG, S. 1471) In Leipzig gilt dieser altprotestantische Modus noch bis 1716. Der einzige Musiker, der sich ohne Einschränkung als „Komponist“ einer ganzen Passion bezeichnen konnte, war Heinrich Schütz, denn in seinen drei Werken nach Matthäus, Johannes und Lukas (alle 1666), sind auch die Sologesänge original und sogar in unterschiedlichen Tonarten. Sie lassen zwar im Lektionston des Evangelisten das Vorbild 5 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 von Johann Walter noch erahnen, fügen aber bereits dramatische Elemente durch eindringlich geschilderte Situationsbeschreibungen und eine Vielzahl an musikalischrhetorischen Figuren ein. Zudem schafft Schütz mit seiner Komposition der „Sieben Worte Jesu am Kreuz“ einen neuartigen Typus von Passionsmusik (siehe Bildbeispiel „Schütz“, Laaber, S. 186). Seine drei Passionen sind für den Gottesdienst in der Dresdner Schlosskapelle bestimmt, sie entsprechen durch ihre rein vokale Besetzung dem bislang üblichen Passionsvortrag ohne instrumentale Begleitung. „Kein anderer Komponist hat die zentralen neutestamentlichen Historien in ihrer Gesamtheit und jeweiligen Tradition kompositorisch so reflektiert und mit der ganzen Kraft seiner Kunst durchdrungen wie Schütz. Und wie kein anderer Komponist seiner Zeit hat er sich bei der Vertonung auf den reinen Bibeltext konzentriert.“ (G. Massenkeil, Laaber 1998) (→ gem. musizieren aus Schütz S. 16; Beispiel für dramatische Kraft) Hamburg an der Wende vom 17. zum 18. Jh. Mitte des 17. Jh. wirkt in Hamburg der Stadtkantor Thomas Selle, der als letzter bedeutender Komponist eine Johannes- Passion im konzertanten Stil zur Aufführung bringt. Die verschiedenen Solisten werden von je einem Instrumentenpaar begleitet (zwei Violinen für die Jesusworte, zwei Fagotti für die Evangelistenpartie, zwei Cornetti und Pasaune für Pilatus). Nach Selle lässt sich allerdings eine gewisse Stagnation im Schaffen neuer Passionsvertonungen feststellen. Beide Nachfolger von Selle geben keine neuen Impulse mehr auf diesem Gebiet. Sie kommen erst wieder aus einer ganz anderen Richtung. Die neue Gattung, die Komponisten in Hamburg in den Bann zieht, ist die deutsche Oper (Eröffnung des ersten Opernhauses in Deutschland 1678). Sie scheint sich literarisch wie musikalisch attraktiv auf Komponisten aus nah und fern auszuwirken. Unübersehbar ist geistesgeschichtlich gesehen der Einfluss der Aufklärung. Vor diesem Hintergrund sind zwei bedeutende Ereignisse unmittelbar mit der Weiterentwicklung der Passion verbunden. Die erste neuartige (weil oratorische) Passion ist eine anonyme Johannes- Passion von 1704, die lange Händel zugeschrieben wurde. Sie weist ein eigenes Libretto auf und ist damit durchwoben von einem neu gedichteten Text eigener Wertigkeit. Er besteht aus 13 Gedichten für acht Arien, vier Duette und einen Schlußchor, die die einzelnen 6 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Leidensstationen kommentieren. Ein Arientext „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ erscheint später, der Melodie des Chorals „Machs mit mir Gott, nach deiner Güt“ unterlegt in der Johannes- Passion von J.S. Bach. Die Vertonung der Narratio wird jetzt zum ersten Mal ausdrücklich Rezitativ genannt und die Worte der Personen Ariosi. Sie erden von einem vierstimmigen Streichersatz akkordisch begleitet (Klang- und Notenbeispiel „Mich dürstet“, Laaber, S. 199). Zudem enthält das Libretto keine Choräle. Die Ablösung vom lutherischen Gottesdienst ist unübersehbar. Sie erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt durch das zweite Hamburger „Ereignis“ im Jahr 1704: die (vermutlich außerkirchliche) Aufführung von Reinhard Keisers „Der blutige und sterbende Jesus“ nach einem Libretto von Christian Friedrich Hunold, genannt Menantes, der vor allem als Textdichter weltlicher Kantaten von J.S. Bach bedeutsam war. Keiser selbst war bekannter Hamburger Opernkomponist, die Musik zu diesem „Passions- Oratorium“ ist allerdings verschollen. Das Neue daran ist die konsequente Versifizierung des Evangelientextes. Hunold selbst rechtfertigt dies 1706 wie folgt: […] Allein so hat man gemeinet, dieses Leiden, welches wir ohne diß nicht lebhafft gnung in unsere Hertzen bilden können, bey dieser heiligen Zeit nachdrücklicher vorzustellen, wenn man es durchaus in Versen und sonder Evangelisten, gleich wie die italiänische so genannte Oratorien, abfaste, so dass alles auf einander aus sich selber fliesset.“ Der Bericht des Evangelisten fehlt also völlig, und der komplette Evangelientext ist in Versform und wörtlicher Rede abgefasst. Der Hamburger Jurist und Ratsherr Berthold Hinrich Brockes (1680-1747) verfasst mit seinem Werk „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Heiland“ von 1712 ebenfalls ein in Verse gefasstes Passions- Libretto, das allerdings die Partie des Evangelisten beibehält und sogar wieder (vier) Choralstrophen als „Rede der Christlichen Kirche“ (→ s. Bach) einfügt. Mit dieser Einbeziehung reagiert Brockes wohl auf die Kritik, die der Hunold- Text bei der Hamburger Geistlichkeit hervorgerufen hatte. Es beginnt ein wahrhafter Triumphzug der so genannten Brockes- Passion, die von Komponisten wie G. F. Händel (1716), J. Mattheson (1718) und G. Ph. Telemann (1722) vertont wird. Von Telemann selbst (Bild) sind 46 unterschiedliche Passionen bekannt, da er sich selbst als Hauptkantor aller fünf Hamburger Kirchen einen Schwerpunkt setzte, über 46 Jahre hinweg immer eine neue Passion zu schreiben. Für die Aufführungen standen ihm stets hochqualifizierte Sänger des Opernhauses zur Verfügung, da dies während der 7 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Fastenzeit geschlossen war. Neben diesen zahlreichen Passionen sind weitere drei Passions- Oratorien wie auch andere biblische Stoffe überliefert (Die gekreuzigte Liebe, 1731; Betrachtung der neunten Stunde am Todestag Jesu, 1755; Der Tod Jesu, n.n.). Sie sind das Zentrum seines kirchenmusikalischen Schaffens. Er verbindet im Oratoriumstext den wörtlichen Evangelistenbericht mit „poetischen Erwägungen“ und „erbaulichen Betrachtungen“ und lässt bis zu 50 zusätzliche, allegorische Figuren auftreten (Glaube, Liebe, Freude, Eifer, Klugheit, Aufmerksamkeit, Verachtung, ja sogar „blinder Religionseifer“). Die Partie des Evangelisten ist stets als Rezitativ, die der Jesus- Worte als Ariosi mit Streicherbegleitung und die anderen Solisten als Da Capo- Arien. 2. Die Entstehung der Johannes- Passion von J.S. Bach Leipzig zur Zeit von J.S. Bach In der Musikgeschichte Leipzigs gibt es vor Bach nur sehr wenige Spuren, die auf die spätere Oratorienpflege des Thomaskantors hinweisen. 1717 oder 1718 wird hier die Brockes- Passion von Telemann aufgeführt, allerdings nicht an einer der beiden evangelischen Hauptkirchen der Stadt, St. Thomas und St. Nikolai, wo ein solches Werk wie bereits an den Hamburger Hauptkirchen auf lutherischen Widerstand gestoßen wäre, sondern an der (1699 eingeweihten) Neukirche, deren Musikdirektor Telemann von 1701 bis 1705 gewesen war. Diese Passionsaufführung gefiel wohl den Leipzigern so, dass 1721 von Bachs Vorgänger Johann Kuhnau in der Thomaskirche eine Markus- Passion aufgeführt wurde. Von 1723 an konnte aufgrund einer speziellen Stiftung auch an der Nikolaikirche eine Karfreitagsvesper abgehalten, in deren Zentrum die Predigt stand, umrahmt von zwei Teilen einer anspruchsvollen Passionsaufführung. Da die benötigte Anzahl von Instrumentalisten und Sängern nicht gleichzeitig an beiden Hauptkirchen eingesetzt werden konnte, einigte man sich dahingehend die Karfreitagsvesper, die um 14 Uhr begann, abwechselnd im Jahresrhythmus in den beiden Kirchen aufzuführen. Diese Situation fand Bach bei seinem Amtsantritt vor und schon zur Karfreitagsvesper am 7. April 1724 führte er in der Nikolaikirche seine Johannes- Passion auf. Nach dem neusten Stand der Forschungen leitete Bach beim Vespergottesdienst an Karfreitagen 8 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 jedes Jahr im Wechsel zwischen den beiden Hauptkirchen eine Passion. Dies ergibt für seine frühe Amtszeit folgende Reihenfolge: 1724 – Johannes- Passion 1. Fs. (BWV 245), Nikolaikirche 1725 – Johannes- Passion 2. Fs., Thomaskirche 1726 – Markus- Passion von R. Keiser mit Adaptionen von Bach, Nikolaikirche 1727 – Matthäus- Passion 1.Fs. (BWV 244), Thomaskirche 1728 – Johannes- Passion 3. Fs., Nikolaikirche 1729 – Matthäus- Passion 1. Fs., Thomaskirche 1730 – Lukas- Passion eines uns unbekannten Komponisten mit Adaptionen von Bach (BWV 246), Nikolaikirche 2 1731 – Markus- Passion (BWV 247), Thomaskirche Die privaten Aufzeichnungen des Mesners der Thomaskirche, Johann Christoph Rost über die Gottesdienstgestaltung dieser Jahre sind erhalten. Sie vermitteln eine korrekte Vorstellung von den halbliturgischen Aufführungen von Bachs Passionen: „In der Neuen Kirche wird am Charfreytage auch eine Vesper gehalten, welche 3 Uhr angehet. Anno 1721 ward am Charfreytag in der vesper die Passion zum 1stmahl musicirt, np. 1. Viertl auf 2. wurde gelautet mit dem ganzen gaelaute, als ausgelautet, wurd auf dem Chor, das Lied gesung. Da Jesus an dem Creutze stund p. dann ging gleich die Musicirt Passion an, und ward vor der Predigt halb gesungen, die Helfte schloß sich mit dem verß, o. Lmb Gottes unschuldig, damit ging der Prister auf die Cantzel. Auf d. Cantzel ward a. H. Jesu Christ dich zu uns wend gesungen. Dann ging die andre Helffte d. Music an, als solche aus, ward die Motete Ecce quomodo moritur justus p. gesungen, als dann der Passions vers intoniret und Collect gesprohen. Als dann Nun dancket alle gott gesungen. 1722 eben also. Anno 1723 ward zum ersten mahl die Vesper zu St. Nicolai gehalten, die Predigt hielt d. H. Superintendent H.D. Deyling, welche Fr. Koppin gestiftet. Anno 1724 wurd die Passion zu St. Nicolai zum ersten mahl Musiciret p. Zu St. Thom. Aber wurden nur Lieder gesungen, wie vor diesem gebräuchlich.“ (zitiert nach Martin Petzold 1985, S. 22) Die Vertrautheit Bachs mit der Hamburger Passionsentwicklung ist unübersehbar: 2 G. Scholz: Bachs Passionen, Beck 2000 9 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 a) Bach verwendet in der Johannes- Passion Texte aus der Brockes- Passion von Telemann. b) 1713 führt Bach bereits die Markus- Passion von R. Keiser in Weimar auf und ergänzt sie durch eigene Zusätze. Diese Fassung erklingt 1726 ebenfalls in Leizig. c) Bach führt diese Keiser- Passion in den Jahren 1743-48 erneut in Leipzig auf und verändert sie erheblich, indem er drei Keiser- Arien durch sieben Händel- Arien aus dessen Brockes- Passion ersetzt. (→ pasticcio) Die Textgestalt und die musikalische Umsetzung Für Bach wie für die konservative Leipziger Kirchengemeinde steht allerdings die Unantastbarkeit des Bibelwortes Luthers außer Frage. Dieser Standpunkt differiert im Vergleich zu anderen protestantischer Zentren (s. Hamburg). Bachs Passionen stehen in Bezug auf die Vertonung des Bibelwortes in der Tradition der Passionen von Heinrich Schütz. Doch sind seine Wortausdeutungen und das allgemeine Wort- Ton- Verhältnis viel komplexer als die von Schütz. Eine wesentliche Neuerung sind die evangelischen Kirchenlieder, die auf die reformatorische Gottesdienstordnung von Martin Luther („Deutsche Messe“, 1526) zurückgehen. In der althergebrachten katholischen Messfeier war der Gemeinde nur eine geringe Beteiligung möglich, im Hauptteil der Messe, dem Canon messae, hatten sie sogar ganz zu schweigen. In bewusstem Gegensatz dazu bot die evangelische Kirche den Gläubigen im Gesang der Kirchenlieder eine Identifikation mit dem liturgischen Geschehen an (s. Martin Luthers Aussagen über Musik, z.B. „eine schöne herrliche Gabe Gottes und nahe der Musik“). Bachs Einbindung der der bekannten Kirchenlieder hatte daher zwei Wirkungen: Der Bibeltext regte zum persönlichen Bekenntnis an und die Texte der bekannten und oft gesungenen Kirchenliedstrophen wurde durch ihre Platzierung in einen direkten Zusammenhang mit der jeweiligen Passionsaussage gestellt. Die Neudichtungen und poetischen Texte der Passionen sind aus der Predigt abzuleiten, hatten ja die Predigten im Gottesdienst nicht nur belehrende Funktion, sondern auch die Aufgabe, persönliche und emotionale Regungen bei den Zuhörern zu bewirken. Seit 1985 ist erwiesen, über welche Predigtsammlungen Bach und seine Dichter verfügten und aus denen sie als Laien theologisch vertretbare Wendungen und Sprachbilder nehmen konnten, die auch von der 10 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Leipziger Obrigkeit akzeptiert wurden. Wir haben also bei Bach eine dreifache Schichtung textlicher Elemente: a) Die biblische Erzählung bildet den Kern der Passion („biblisch“) b) In den Strophen der Choräle (d.h. der Kirchenlieder) kommt die Schar der Gläubigen als eine „mündige“ Gemeinde zu Wort („reformatorisch“, „evangelisch“). c) Was die Gemeinde bekennt, wird vom Einzelnen in Arien und Ariosi bedacht und reflektiert („mystisch“, „pietistisch“). Die Predigten vor allem der protestantischen Konfession waren im 17. und 18. Jh. stark von der zeitgenössischen Rhetorik beeinflusst. Hierbei orientierten sich humanistische Denkmuster vor allem an der Rhetorik der Antike, z.B. dem Sprachgebrauch von Cicero und Quintilian. Man versuchte, diese Sprache in die der Zeit zu übertragen. Dabei wurden der Rhetorik vier Hauptaufgaben zugemessen: docere – movere – delectare – persuadere (belehren – bewegen – erfreuen – überzeugen). Diese Auffassung von Sprach hatte starken Einfluss auf die zeitgenössische Musik. Musik wurde als „Klangrede“ verstanden. Begriffe aus Sprache und Rhetorik wurden mit derselben Bedeutung in der Musik übernommen (z. B. Exordium und Conclusio). Ein Vortragsstil, der Effekte beim Hörer erzielen wollte (im Sinne von „bewegen, erfreuen und überzeugen“), also ein „überzeugender“ Vortrag, bemühte sich um den Einsatz von „Figuren“, welche die Bedeutung einzelner Aussagen illustrierten. Solche Figuren wurden aus der literarischen Rhetorik in die Kompositionslehre übertragen und mit meist griechischen Fachausdrücken belegt. Dies waren v. a. - Figuren der Bildhaftigkeit: Anabasis, Katabasis, Circulatio - Wiederholungsfiguren: Klimax - Pausenfiguren: Apokope, Abruptio, Suspiratio - Intervallfiguren: Exclamatio, Passus duriusculus, Interrogatio - Satzfiguren: Katachresis, Parrhesia (s. Notenbeispiele) 11 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Es ist nachvollziehbar, dass der kompositorische Schauplatz des Einsatzes solcher „musikalisch- rhetorischer“ Figuren vorerst die Oper war. In ihr werden große Gefühle effektvoll musikalisch ausgedrückt, von rasender Rache bis zum schmerzlichen Liebeskummer. Solche allzu dramatischen Expressionen waren von jeher der der Kirchenmusik und ihrer Oberen suspekt. Auf der anderen Seite kann sich eine Kompositionspraxis, die an zeitgenössische Hörgewohnheiten appelliert, nicht völlig der Ästhetik der jeweiligen Zeit verschließen. Bach stand also stilistisch zwischen zwei Positionen (kirchliche Zurückhaltung gegenüber einem Zuviel an Gefühl und Neuerungen, man hatte Bach in seinem Anstellungsvertrag verpflichtet, nicht „opernhaftige“ Musik zu komponieren vs. ausdrucksstarke Vermittlung einer erregenden Botschaft) und nähert sich auf zwei Wegen beiden Parteien an: Wenn Bach in seinen Passionen Rezitative und Arien einbezieht, dann belegt dies eine Nähe zur Oper oder zum Oratorium (einer nichtszenischen Oper), wenn er das evangelische Kirchenlied einbezieht, dann nähert er sich der Forderung der Geistlichkeit. Insgesamt betrachtet, verwischt also die stilistische Trennung zwischen Kirchen-, Theater- und Kammermusik, ohne dass man bei Bach von einer „Verweltlichung“ der geistlichen Musik sprechen sollte. Die stilistische Vielfalt in den Passionen in Zusammenhang mit dem unleugbaren Gefühl der Zusammengehörigkeit, hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass diese Werke seit ihrer Wiederentdeckung bekannt und hochgeschätzt geblieben sind. 12 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Bachs Johannes- Passion steht in der Rezeptionsgeschichte (d.h. in der Aufnahme bei Publikum) allerdings auffällig im Schatten der größeren Matthäus- Passion. Die Gründe dafür sind zahlreich: - seit Felix Mendelssohn- Bartholdys glanzvoller Wiederaufführung der Matthäus- Passion in Berlin (1829) kommt dem Werk in Europa eine nahezu ununterbrochene Begeisterung entgegen. - Die Johannes- Passion gilt nicht zuletzt aufgrund ihrer zahlreichen Bearbeitungen als „work in progress“, quasi Gebrauchsmusik, die sich der veränderten Ästhetik und Gottesdienstordnungen unterwerfen musste. Nach heutigem Stand der Forschung geht man von vier unterschiedlichen Fassungen aus, die für Aufführungen in den Jahren 1724, 1725, 1732 und 1748 bereit gestellt wurden. Eine Aufsehen erregende Wiederaufführung im 19. Jh., wie jener der Matthäus- Passion durch Mendelssohn, fehlt völlig. - Kritikern fällt schon seit jeher eine gewisse ästhetische Heterogenität auf, der im Text begründet ist. Jesus ist im Johannes- Evangelium (s. auch Textbetrachtung Kettling) stets der Gottessohn, als König, andererseits aber auch als gedemütigter Schmerzensmann dargestellt. Das Evangelium konzentriert sich stark auf das zentrale Ereignis, den Prozeß Jesu vor Pilatus; die Herrlichkeit Christi ist auch hier immer präsent. Damit bietet die Johannes- Passion eine „mitleidenden“ Gemeinde weniger Identifikationsmöglichkeiten als die ausladende Matthäus- Passion. Der unbekannte Textdichter konnte auch nicht die packenden Direktheit erzielen, welche den Text von Picander in der Matthäus- Passion auszeichnet. So wurde schon über den Text des Arioso „Betrachte meine Seel“ als „blühender Unsinn“ gesprochen. Allerdings ist der Einsatz des Chores in den Turba- Stellen dem in der Matthäus- Passion an Zahl wie an Dramatik weit überlegen. Die Auseinandersetzung Pilatus – Juden wird besonders packend dargestellt und übt heute noch eine große Anziehungskraft aus. 13 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Der Bibeltext ist durchgehend durch Secco- Rezitative (Rezitative mit akkordischer Begleitung des Basso Continuo) beziehungsweise Turba- Chöre vertont. Auf den ersten Blick scheinen diese „einfachen“ Rezitative kompositorisch weniger ausgefeilt als die der Matthäus- Passion. Bei näherer Betrachtung erweist sich dies jedoch nicht als richtig. Zwar verzichtet Bach auf die Hervorhebung der Jesus- Worte durch hinzugefügte Streicher, er wechselt aber in schneller Folge Tonarten, Modulationsabschnitte, Stufenmelodik und große Intervallsprünge, dissonante und konsonante Akkordbegleitungen, rhythmische Beschleunigungen und Tempi. Deswegen kommt den Secco- Rezitativen eine besondere Bedeutung zu (nicht zuletzt für die Interpreten). Notenbeispiel (aus den Auszügen): „Der verminderte Dreiklang“ – der Wille Gottes und die richterliche Anordnung des Pilatus. NBA 4/EP Nr. 8, T. 15: „Vater gegeben hat“; verminderter Dreiklang g – e – cis NBA 16a/EP Nr. 22, T. 9: „Klage wider diesen Menschen?“; verm. Dreiklang d – h – gis NBA 16e/EP Nr. 26, T. 11: „andere von mir gesagt“; verm. Dreiklang d – h – gis NBA 18a/EP Nr. 28, T. 16: „ich euch einen losgebe“; verm. Dreiklang d – h – gis Es ist mit diesen drei Tönen also eine Art Leitmotiv gegeben, das sich immer auf das Verfahren gegen Jesus bezieht. Somit schafft Bach hier einen theologischen Bezug zwischen dem Willen Gottes („den mir mein Vater gegeben hat“) und der richterlichen Anordnung durch Pilatus. Die Gliederung der Johannes- Passion Den liturgischen Ablauf der Karfreitagsvesper in Leipzig beachtend, ergibt sich eine große Zweiteilung der Johannes- Passion um die Predigt herum. Genä0ß der mittelalterlichen Tradition ist dann das Passions- Geschehen neben Einleitungs- und Schlusschor in fünf „Akte“ aufgeteilt. Akt I: Verrat des Judas und Gefangennahme Akt II: Verhör vor dem Hohepriester und Verleugnung des Petrus Akt III: Verhör vor Pilatus und Todesurteil Akt IV: Kreuzigung und Tod Akt VI: Grablegung 14 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Dennoch lässt sich ein inhaltlicher Höhepunkt feststellen, der im Prozess Jesu liegt. Bach unterbricht dabei die Gerichtszene und fügt den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ ein. Gerade an dieser Stelle des dramatischen Geschehens, als Pilatus Jesus freigeben wollt, die jedoch aus politischen Gründen nicht wagt, wird im Sinne der Erlösungstat Christi die Bedeutung des gefangenen Gottessohns für die Befreiung der Christenheit ausgedrückt. Hier hat der Choral eine aussagekräftige Achsenfunktion. Um ihn herum gruppieren sich symmetrisch die einander musikalisch wie thematisch entsprechenden Turba- Chöre (s. auch schematische Darstellung). Weitere Versuche, augenfällige Symmetrien in der Johannes- Passion zu entdecken, müssen scheitern (im Vergleich zur h- Moll- Messe), attestierte ihr bereits der erste große Bach- Forscher Philipp Spitta 1880: „Ihr hoher, bleibender Wert liegt sicher nicht in der Gesamtgestaltung. Als Ganzes hat sie etwas trübeinförmiges und nahezu verschwommenes.“ Ein anderer Kritiker kommt zu dem Urteil: „… die Unregelmäßigkeit, mit der die Kirchenliedstrophen, die zwei Ariosi und die acht Arien… über das Werk verteilt sind, macht deutlich, dass hier eine regelhaft architektonische Gesamtstruktur nicht geplant war.“ (nach Friedrich Blume aus: Julia Bungardt: „Zum Problem der Großform in Bachs Johannes- Passion) 15 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Akt I: „Im Garten“ (NBA 1-5/EP 1-9) 1. „Die Ouvertüre“: Herr, unser Herrscher Einstieg: Berichten des eigenen Erlebens so genannter „musikalischer Schlüsselerlebnisse“ Bereits in den ersten Takten der Johannes- Passion schwingt das ganze Drama von Jesu Passion mit. Es ist eine seltsam ambivalente Musik: große Geschlossenheit und Einheit vs. filigrane musikalische Gedanken; augenfällige Bewegung vs. lähmende Statik, jubelnde Freude vs. verborgener Schrecken, Herrlichkeit Gottes vs. Sterben und Tod. „Herr, Herr, Herr“ – mit diesem emphatischen Ruf beginnt der Chor die JohannesPassion, der Vorhang reißt auf und der Zuhörer tut einen Blick auf die „Himmelsbühne“. Gleich von Anfang an wird die Dreizahl beschworen, die uns in diesem Satz weitgehend beschäftigen wird: drei Rufe, drei große Abschnitte, drei musikalische Bausteine (ein Hinweis auf die Dreieinigkeit? Die Ausleger und Wissenschaftler sind sich darüber nicht einig, andere Deutungen liegen näher, doch dazu später mehr). Bach schafft hier Musik von ungeheurer Dynamik und Bewegtheit („es groovt“). Über einem beharrlichen Bassfundament (dem so genannten Orgelpunkt) eine ständig kreisende Sechzehntelbewegung (meist in den Violinen, oft in der Viola, zeitweise ins Continuo abwandernd), darüber die paarweise Anordnung von dissonanten Haltetönen der Flöten und Oboen. Dies ist das musikalisch- motivische Material, aus welchem Bach seine Einleitung gestaltet. T. 1-18 ist so etwas wie ein instrumentales Vorspiel, oder im Zusammenhang der Aufführungspraxis des 18. Jh. die Sinfonia eines Oratoriums. Harmonisch beschreitet Bach (gelinde ausgedrückt) abenteuerliche Wege, ein gefundenes Fressen für den Harmonielehre- Unterricht an der Hochschule. Harmonisches Schema der Takte 1-19: 1 g t 2 g D7/g D 3 c/g g t 4 c/g 5 G79 6 c/g 7 D79/g 8 g 9 A79/g 10 D79 s (D) s D t DD D 11 D79 G79/d (D) 12 G79 C7/g (D) 13 C7 F7/c (D) 14 F7 (D) 15 B7 D7 tP 16 A79/e F/es DD ←(D) 17 G/d A78/cis (D) DD 18 g/d D7 D 19 g t 1 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Bach bleibt harmonisch „ständig in Bewegung, er verlässt sogar innerhalb der ersten beiden Takte die Grundtonart und „weicht aus“. Mit schmerzerfüllten Akkorden macht er deutlich: der Weg Jesu ist vorherbestimmt, er führt aus der Herrlichkeit Gottes hinab zum Kreuz, auch wenn der Chor anschließend nahezu ausschließlich von der Herrlichkeit Gottes singen wird, der Fatalismus ist musikalisch vorher schon längst ausgedeutet. Textlich steht die Glorifikation Jesu im Mittelpunkt, die Musik Bachs vermittelt uns eher einen „tristen Eindruck“.1 In der barocken Tonartentheorie jedoch drückt die Tonart GMoll „mäßiges Klagen und temperierte Fröhlichkeit“ aus (Mattheson, ebd.). Musikalisch vorweggenommen ist das Kreuz Jesu ebenfalls bereits ab Takt 1 (s. Notenbeispiel). Die Haltetöne der Holzbläser ergeben zusammen die musikalischrhetorische Figur eines Kreuzes. Wir werden solcher „Augenmusik“ noch oft in der Passion begegnen, sie sei an dieser Stelle nur erwähnt. Diese Haltetöne musizieren einen regelrechten Klagegesang, der sich über der perpetuum- mobile- Figur der Streicher erhebt. Das Fundament des Basses greift eine solche rhetorische Figur kurz vor Einsatz des Chores auf (T. 16-18), indem er chromatisch (d.h. in Halbtönen) den Weg nach unten beschreibt (e – es – d – cis), ebenfalls ein Symbol für die Unausweichlichkeit des Weges Jesu, dessen Ringen darum textlich in der Johannes- Passion ausgespart wird. Die Szene im Garten Gethsemane („Mein Vater, ist´s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“) stammt aus dem Matthäusevangelium (26, 36ff). Musikalisch nimmt sie Bach jedoch in seine Einleitung zur Passion hinein. Der Teil A der Großform Kreuz und Herrlichkeit gehören für Bach in seiner Passion zusammen, dies zeigt sich an der überaus intensiven Ausgestaltung der drei „H“- Worte („Herr“, „Herrscher“, „herrlich“) und des vierten Wortes „verherrlicht“, sowie des Satzes „dessen Ruhm in allen Landen“. Im Vokalpart des ersten Abschnittes a entwickelt Bach eine Reihe unterschiedlicher, aber untereinander in mehrfacher Beziehung stehender Themengebilde (s. Notenbeispiele): 1 G. Scholz: Bachs Passionen, Beck 2000 2 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 1. „Herr“: Drei Akkordblöcke (T.19+20), die jeweils in Gegenbewegung von Sopran und Bass einen Quintraum durchschreiten (Quinte = Vollkommenheit). 2. „Unser Herrscher“: Sechzehntelfiguration (wie die Streicher), T. 21 ff, bezeichnend sind die tonleiterartigen Anstiege der ersten Sechzehntelnoten (Sopran T. 21-23: g-a-b-c-d), die ebenfalls wieder den Quintraum durchsteigen Die Akkordblöcke erklingen alsbald verändert auf den schwächeren Zählzeiten 2 und 4 (T. 23+24; die Wirkung ist synkopisch) und bilden den Ausgangspunkt für ein neues Thema, das nach einem zweitaktigen Zwischenspiel einen neuen Abschnitt b prägt: 3. „Herr, unser Herrscher“ (T. 33 ff) ein imitatorisch geprägter, später als Kanon der Außenstimmen (T. 37) fortgeführter Themeneinschub. Charakteristisch ist das durchschreiten des Oktavraums als exclamatio (= Ausruf) T. 45+46: Seufzermelodik als Ausdruck der Trauer T. 46+47: „Herr“- Ausrufe auf demselben Ton d uns Imitation Der große A- Teil geht mit einem kleinen dritten Abschnitt (c) zu Ende, der als Zirkelkanon komponiert ist. 4. „dessen Ruhm in allen Landen“ (T. 49 ff): canon perpetuus (Gottes Ruhm bleibt ewig) und groß angelegte Schlusskadenz zur Ausgangstonart G- Moll. (Teil A hören, T.1-58) Der Teil B der Großform Das Thema, das vorher mit den Worten „Herr unser Herrscher“ unterlegt war, bringt nun einen anderen Text („Zeig uns durch deine Passion“ und „dass du, der wahre Gottes Sohn“). Dieser „neu-alte“ Gedanke exponiert beinahe unmerklich und aus der Tiefe heraus das enggeführte Motiv „zu aller Zeit“ (T. 66+67). Auch hier wird der Oktavabstand durchschritten, bevor die Musik zum in tiefster Lage beinahe zum Erliegen kommt (T. 69). Beinahe nur deswegen, weil die motorische Sechzehntelbewegung der Streicher weiterläuft und der Chorklang keine Ruhe gefunden hat (Sekundakkord). Die Musik treibt weiter und erinnert mit ihrer schnellen Bewegung nunmehr an den Anfang des Chores (T. 21 „Herrscher“). Immer wieder tauchen im Folgenden Entsprechungen aus Teil A der Großform auf, z.B. T. 79 (Wiederkehr des Themas), T. 82 (Wiederkehr von T. 66). Ein 3 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 nicht ganz so stark empfundener Ruhepunkt ist bei T. 86 erreicht („Niedrigkeit“), bevor dann zum großen Schlussjubel angesetzt wird. Durch die Da Capo- Form ergibt sich folgende schematische Gliederung: Satz 1: “Herr, unser Herrscher”: Aufbau Teil A 1-18 Sinfonie a 19-30 zweimalige “Herr”Rufe G- Moll 31-32 Ritornell Teil B b 33-39 Imitation und Kanon der Außenstimmen D- Dur a´ 40-46 einmalige “Herr”Rufe c 47-57 Imitation und Zirkelkanon G- Moll d 58-78 “Zeig uns”Imitation Es- Dur Teil A d´ 78-95 Wdh. “Zeig uns”Imitation, Zirkelkanon A- Dur D- Dur 1-18 Sinfonie 19-57 Hauptteil da capo G- Moll (Teil B und da capo hören, T.59-fine), Raum für Fragen, evtl. singen T. 34-46 im Alt 2. Rezitativ: „Jesus ging mit seinen Jüngern“ (NBA 2a/EP 2) Die Passionserzählung nach Johannes beginnt im Gegensatz zu der in der MatthäusPassion mit der Szene der Gefangennahme Jesu. Der sachliche Bericht wird nur sparsam musikalisch interpretiert, dafür umso intensiver und genial vom Komponisten. Die wesentlichen Tonarten dieses Rezitativs haben eher düsteren Charakter (C- Moll, FMoll, G- Moll), wir erinnern uns an die Tonarten der Einleitung. Die ersten acht Takte des Rezitativs lassen Viertaktgruppen sich einfach aufteilen. Die in zwei erste deutlich voneinander Viertaktgruppe (T. 1-4) unterscheidbare enthält eine Situationsbeschreibung. Sie verläuft in großer Ruhe und ohne harmonische Veränderung in C- Moll, vorzugsweise in Achteln und überwiegend in Sekund- oder Terzschritten. Die Schilderung, wie Jesus mit seinen Jüngern „wandert“ strahlt Bedächtigkeit und Ruhe aus, noch keine Gefahr scheint im Verzug zu sein. Dabei beginnt der Solo- Tenor in beachtlicher Höhenlage. Beides Mal erklingt beim Wort „Jesus“ der Spitzenton der ersten Takte (g´´). Mit der zweiten Viertaktgruppe ändert sich schlagartig das Bild („Theaterspot“): Jetzt gerät Judas ins Blickfeld des Betrachters. Die Harmonik wird reicher, das Tempo steigert sich, die Pausen nehmen zu, ebenso die Sechzehntelnoten (um 100%!), die Musik moduliert nach F- Moll (T. 9), es kommen neue, bislang ausgesparte Intervalle hinzu, die Sext. Der vielleicht genialste Kunstgriff Bachs besteht 4 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 jedoch in den beiden Anfängen der Viertaktgruppen. Augenscheinlich sind sie verwandt: wir haben zwei fallende Terzen und daraufhin Wiederholungstöne (spielen T. 1 und 5), doch wie unterschiedlich ist ihre Wirkung: T. 1: Molldreiklang über dem Grundton C (hohe Lage) T. 5: verminderter Dreiklang über einem Septakkord (tiefe Lage) Die erste Nennung des Namens „Judas“ wird gleich zu einem barocken Spektakel. Für die Hörer der damaligen Zeit war klar: Bach verwendet eine rhetorische Figur, die so genannte parrhesia, eine Figur der kompositorischen Regelwidrigkeit. Sie ist Ausdruck des Falschen, Schlechten und des Traurigen. Ähnliche Figuren verwendet Bach auch in T. 8 („Judas“) und T. 10 („Hohepriester“)- es wird gleichermaßen zu Judas´ Markenzeichen. Als es durch die Mitnahme von Fackeln und Lampen hell im Garten wird, deutet Bach dies mit einer aufsteigenden Melodik an (T. 12+13), allerdings nicht mit einem Schlage, sondern erst ganz allmählich. Die Erwähnung des Namens „Jesus“ bringt nun wieder Ruhe in die vorherige Aufregung. Er ergreift nunmehr die Initiative und das Tempo verzögert sich bei seinem ersten Einsatz „Wen suchet ihr?“ (T. 17). Doch schon zuvor hat sich auf zwei Arten die Initiative Jesu bemerkbar gemacht. Einmal ist die offensichtlich durch die aufsteigende Melodie „ging er hinaus“ (T. 15), wieder mit Spitzenton g´´´. Ein anderes Mal ist es eher versteckt. Der Bass des Continuos beschreibt eine langsam aufsteigende Bewegung ab T. 14: d-es-e-f-fis. Diese Bewegung bereitet die alle Souveränität ausstrahlende Frage Jesu, unterstützt durch den öffnenden Sextakkord des Continuos: „Wen suchet ihr?“ Die Antwort der Häscher fällt vehement und unsicher zugleich aus: 3. Chor: „Jesum von Nazareth“ (NBA 2b/EP 3) Fünfmal wird der Name Jesu genannt. Wie seltsam ist allerdings die Betonung! Immer wird der Name auf einem unbetonten Taktteil gerufen. Dadurch entsteht nicht etwa Gewalt sondern Verunsicherung, es ist, als würde die Antwort auf die Frage Jesu nur stockend gegeben, auf jeden Fall richtiggehend „verspätet“ oder „verschluckt“, vielleicht auch einfach nur erschreckt. 5 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Musikalisch am hervorstechendsten ist sicherlich die schnelle Achtelfigur der Geigen und Flöten. Sie kennzeichnet natürlich ebenfalls das Erschrecken der Häscher (s. auch tremolo). Hier werfen wir aber gleich auch einen interessanten Blick in Bachs Kompositionswerkstatt. Vergleichen wir einmal diese Sechzehntelfigur mit der Figur in den Sätzen 2d (EP 5), 16 d (EP 25), 18b (EP 29) und 23 f (EP 46). Was fällt uns auf? Bach verwendet denselben musikalischen Gedanken mehrfach und transponiert ihn gegebenen Falls in die entsprechende Tonart. Das Grundmodell findet sich in Satz 2b (EP 3; spielen). Es ist ein Viertaktmotiv, das eine so genannte „Quintfallsequenz“ enthält, mit einer abschließenden Kaskade und einer Viertelnote als Schlusston. Auf diese Weise schafft Bach eine einfache und leicht zu behaltende Verbindung zwischen einzelnen Sätzen. Bach verwendet noch eine andere Kompositionstechnik, um eine Verbindung zwischen verschiedenen Turbae- Chören herzustellen. Dazu an anderer Stelle mehr (hören NBA 2b/EP 3). 4. Rezitativ: „Jesus spricht zu ihnen“ (NBA 2c/EP 4) und 5. Chor: „Jesum von Nazareth“ (NBA 2d/EP 5) und 6. Rezitativ: „Jesus antwortete“ (NBA 2e/EP 6) Die Antwort Jesu fällt souverän und gefestigt aus. In ihr spiegelt sich ein ganz gewaltiger heilsgeschichtlicher Zusammenhang (s. die alttestamentliche Gottesoffenbarung „Ich bin, der ich bin“). Musikalisch ist dies mit einer bekräftigenden und klaren Abschlusskadenz (Dominante – Tonika) ausgedrückt („authentischer Schluss“). „Judas aber“ wird wieder mit seinem Motiv des verminderten Dreiklangs eingeführt, in T. 3 allerdings in versteckter Form, lauten die Töne h-d-f. Nach Jesu Antwort „Ich bin´s“ wird das Erschrecken der Schergen lautmalerisch dargestellt: die kleinen Notenwerte nehmen zu, die Melodiebewegung ändert sich abrupt, die Töne fallen regelrecht zu Boden, dargestellt durch die rhetorische Figur einer Katabasis (abwärtsgerichtete Terzenkette es-c-as-es). Jesus fragt erneut „Wen suchet ihr?“ Die Antwort der Schergen entspricht der ersten in ihrer musikalischen Ausgestaltung (allerdings in einer neuen Tonart C- Moll), beachtenswert ist die Verzierung, die den Alt in T. 4 deutlich hervorhebt und ihn leicht „nervös“ klingen lässt (Humor bei Bach). 6 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Jesus antwortet auch hier gewohnt souverän. Der Evangelist beginnt wieder auf dem „Jesus- Spitzenton“ g´´ und durchschreitet den Tonraum einer Oktave. Ein weiteres Indiz für Bachs Humor ist die hinzugenommene Sept (T. 3) bei „suchet ihr den mich“, ungläubiges Fragen lässt den Zuhörer aufhorchen und betont gleichzeitig die außerordentliche Bedeutung Jesu (nicht sein Jünger sind von Interesse). 7. Choral: „O große Lieb“ (NBA 3/EP 7) Der vierstimmige Choral bezieht sich bereits auf das kommende Martyrium Jesu, die Rede ist von der „Marterstraße“ und passend dazu malt Bach diesen Weg besonders schmerzhaft aus (Rückblick Tonsatzunterricht). Besonderes Augenmerk lenken wir bei solchen „simplen“ Choralstrophen auf die Bewegung, v.a. der Mittelstimmen. Sie gestaltet Bach in der Regel besonders reich. Z.B.: T. 5: Chromatische Führung im Bass g-ges-f-e und Sopran es-d-des-c (passus duriusculus- der sehr harte Schritt). Der Tenor „schreit“ geradezu auf bei dem Wort „Marter“. Signalworte für den aufmerksamen Musikwissenschaftler sind dann natürlich auch Worte wie „Lust und Freuden“, die ein Lautmalerei geradezu provozieren. Wer kann beschreiben, wie Bach hier komponiert? (Seufzermelodik im Alt und Sechzehntelverzierung in der Schlusskadenz). Bach wechslet ganz plötzlich für die letzten Worte das Register/die Lage (Oktavsprung in drei Stimmen gleichzeitig (hätte man uns verboten), dies hängt natürlich mit der Führung des Cantus firmus zusammen, beschreibt aber einmal mehr den weiten Weg Jesu Christi von oben nach unten ins Leiden. Dies ist besonders eindrucksvoll auf den Worten „du“ und „leiden“ Mit vielen Dissonanzen komponiert. Einen Kommentar verdient auch der überraschende Schlussakkord. „leiden“ endet in Dur. Ist das nicht seltsam? Das traurige Leiden und das Elend verlangen doch geradezu einen Moll- Akkord. Die so genannte picardische Terz wählt Bach nicht ohne Ziel. Für ihn ist klar: In Jesu Leiden liegt die Erlösung für uns Menschen, die Verherrlichung findet auch hier statt, in der tiefsten Niedrigkeit. Bach ist damit nicht nur theologisch tiefgründig, sondern geradezu ungeheuer romantisch. Spätestens bei F. Schubert erinnert uns die Wendung nach Dur an das Unwirkliche, Traumhafte, das, was nicht von dieser Welt zu sein scheint (s. „Winterreise“). Hören bis NBA 3/EP7 7 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 8. Rezitativ: „Auf dass das Wort erfüllet werde“ (NBA 4/EP 8) Im nachfolgenden Evangeliumsbericht sticht vor allem die Erzählung von dem Schwertstreich des Petrus hervor. Ausladend zu Beginn ist die indirekte Rede Jesu „Ich habe denn keine verloren, die du mir gegeben hast“. Wieder wird der Focus auf einen Menschen gelenkt (wie es zuvor bei Judas der Fall war, der Spot dreht sich). Beeindruckend, mit welcher großen Bewegung Petrus ausholt (Anabasis), um mit seinem Schwert zuzuschlagen (T. 6 „und zog es aus“, Septakkord, T. 7 „und schlug“ großer Sprung; „Hohepriesters Knecht“, bislanger Spitzenton a und die unglaubliche Wut, mit der Petrus zuschlägt: T. 8, Schlag 2: Sept- Non- Akkord; „Ohr ab“ = Tritonus). Geradezu ernüchternd wie naiv der Bericht zu Ende geht: „Und der Knecht hieß Malchus.“ Jesu Befehl, das Schwert wieder einzustecken geschieht mit einer ebenso ausladenden Geste: der Quintsprung abwärts (T. 12) hat etwas Endgültiges, Beschwörendes (der tiefste Ton der Partie des Jesus, eine echte Herausforderung für alle Baritons). Die Metapher des „bitteren Kelchs“, die an die nicht vertonte Getsemane erinnert, wird von Bach wieder einmal mit verminderten Intervallen hörbar gemacht (T. 14: b-e; b-cis; T. 15: g-cis). Das Rezitativ endet seltsam offen, wie ein Halbschluss (also das Stehenbleiben auf einer dominantischen Tonart) oder eine Frage. Die Antwort wird inhaltlich wie auch musikalisch im abschließenden Choral gegeben. Das Ende des Rezitativs ist tatsächlich die Hinführung zur neuen Tonart D- Moll des Chorals „Dein Will gescheh.“ 9. Choral: „Dein Will gescheh“ (NBA 5/EP 9) Es ist die siebte Strophe des Lutherliedes „Vater unser im Himmelreich“ (EG 344). Augenfällige rhythmische Besonderheiten gibt es auf den ersten Blick keine, die Mittelstimmen scheinen aber wiederum etwas bewegter gestaltet zu sein als die Außenstimmen. Auffällig ist die Altführung in T. 2 (synkopisch) und die geduldige Führung des Tenors in kleinen Achtelschrittchen in T. 5 bei den Worten „Geduld“. Natürlich haben wir auf dem Wort „Leidenszeit“ einen überaus dissonanten Akkord (eine so genannte „Doppeldominante“). Exakte dieselbe Akkordverbindung übrigens auch beim vorletzten Wort „Willen“. Beides hängt zusammen „Leiden“ und „Willen“. Nett auch die Figur des 8 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Gehorsams m Tenor T. 7 und danach im Alt. Nach kommt es auf die Kleinigkeiten an. Deswegen ist unsere Arbeit, Arbeit mit dem Seziermesser. Die Bitte der Gemeinde nach Geduld bezieht sich nicht auf die verbleibenden anderthalb Stunden des Oratoriums, sondern auf die eigene Kraft im Leiden, die sie oft genug so dringend braucht. Sie möchte den Willen Gottes höher achten als ihren eigenen. Ein erster Appell an den Zuhörer am Ende des ersten Aktes. (hören NBA 4/EP 8 bis fine) 9 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Akt I: „Im Garten“ (NBA 1-5/EP 1-9) Harmonisches Schema der T. 1-19: 1 g t 2 g D7/g D 3 c/g g t 4 c/g 5 G79 6 c/g 7 D79/g 8 g 9 A79/g 10 D79 s (D) s D t DD D 11 D79 G79/d (D) 12 G79 C7/g (D) 13 C7 F7/c (D) 14 F7 (D) 15 B7 D7 tP 16 A79/e F/es DD ←(D) 17 G/d A78/cis (D) DD 18 g/d D7 D 19 g Satz 1: “Herr, unser Herrscher”: Aufbau Teil A 1-18 Sinfonie G- Moll a 19-30 zweimalige “Herr”Rufe 31-32 Ritornell D- Dur b 33-39 Imitation und Kanon der Außenstimmen Teil B a´ 40-46 einmalige “Herr”Rufe G- Moll c 47-57 Imitation und Zirkelkanon d 58-78 “Zeig uns”Imitation Es- Dur d´ 78-95 Wdh. “Zeig uns”Imitation, Zirkelkanon A- Dur D- Dur Teil A 1-18 Sinfonie G- Moll 19-57 Hauptteil da capo Großform Kleinform t Satz 1: T.1+2 $ $ & $ $ Musikalisches "Grundmaterial": Satz 1: T.19+20 $$ Herr, Herr, Herr Satz 1: T.21-23 $ $ & & un-ser Herr - Satz 1: T.33-35 $$ - scher, a a & & % Herr, un- ser Herr - - scher, un- ser Herr-scher Satz 1: T. 49-51 $ $ de-sen Ruhm in al - len Lan- - den “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Akt II: „Hannas“ (NBA 6-14/EP 10-20) 1. Rezitativ: „Die Schar aber und der Oberhauptmann“ (NBA 6/EP 10) Einstieg mir selbständiger Interpretation des ersten Rezitativs des zweiten Aktes. Darstellung der Situation: Jesus wird gefangen genommen und zu Hannas, dem Schwager des Hohenpriesters Kaiphas geführt. Dieser gibt den mörderischen Rat, es wäre gut, dass „ein Mensch würde umbracht für das Volk.“ Dieser knappe Bericht musikalisch durch schmerzlich hervorstechende Dissonanzen und Tonabstände bei genau diesen Worten ausgedeutet, die auf das tragische Geschehen der Passion direkt Bezug nehmen. T. 1: Motivischer Rückgriff auf Nr. 4/8 „Stecke dein Schwert in die Scheide“, allerdings hier mit einer klaren Betonung auf dem Wort „Hauptmann“. T. 3: traurige Schlusskadenz in F- Dur „nahmen Jesus“ (spielen) T. 4: Tritonus- Sprung (diabolo in musica) „und banden ihn“ T. 6: verminderter Akkord bei „Schwäher“; die Verwandtschaft der beiden wird als verhängnisvoll dargestellt (Erklärung verminderter Akkord) T. 9: verminderter Akkord bei „riet“, der verhängnisvolle Ratschlag, TritonusVerwandtschaft zwischen den Worten „riet“ (b) und „gut“ (e), zwei Töne, die sich eigentlich schwer miteinander tun. T. 10: unerhörter Vorgang: in der Tonart D- Moll taucht ein exponiertes es auf. Wie geht das denn? Antwort: der neapolitanische Sextakkord bei „umbracht“. Sextakkord auf der erniedrigten zweiten Stufe, eine harmonische Verbindung, die Mozart gerne gebraucht. T. 10: „Jesus- Spitzenton“ g´´ bei dem Schrei „umbracht“ T. 10: Tritonus- Sprung bei „umbracht für“ als Ausdruck des großen Schreckens (hören des Rezitativs NBA 6/EP 10) 2. Arie: „Von den Stricken“ (NBA 7/EP 11) Das „Erlebnis Arie“- zwei Erfahrungen: Hörerfahrung: langweilig, endlos, immer derselbe Text, wahllos wiederholt, Stocken der Handlung 1 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Musiziererfahrung: klangvoll, virtuos, Zeit zur Entfaltung der Stimme, Podium, um die eigene Kunst zeigen zu können, Ausdruck des Gefühls („Ich singen nur Arien“). Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte und die Aufgabe des Sängers/der Sängerin ist seit jeher, die Arie (also „ihren/seinen Auftritt“) so mitreißend wie möglich zu gestalten. Die Da- Capo- Anlage der Arien ist begründet in der barocken Sehnsucht nach Symmetrie (s. Architektur, Gartenbau, Kunst). Kunst (und damit auch Musik) wird als Welttheater verstanden, alles ist Teil eines großen Dramas mit zahllosen Darstellern, Kostümen und Requisiten. Der neue Typus des vom Menschen gezüchteten Menschen ist der Kastrat, der unvorstellbare stimmliche Leistungen vollbringen kann. Ausladende Formteile werden somit als Schmuck verstanden und mit einer Menge „Zierrat“ versehen. In der Oper war es üblich, den wiederholten Teil mit einer Unmenge von Verzierungen zu versehen, die den Affekt des Stückes einerseits (also Trauer, Wut, Leidenschaft, Freude) wie auch die stimmliche Perfektion des Sängers andererseits ausdrücken sollten. Verzierungen dieser Art waren z.B. schnelle Noten (Koloraturen = Ausschmückungen), Triller, extreme Tonsprünge, große dynamische Schwankungen (stufenloses Anschwellen von unhörbarem Piano bis zu extremem Forte, das so genannte messa die voce). Die Selbstdarstellung der Kastraten ist vergleichbar mit dem der Popstars unserer Zeit und die Musik wie auch der Text gerieten darüber immer mehr in den Hintergrund. Im Bereich der Kirchenmusik fand die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ebenfalls statt, zumal es natürlich den Komponisten bislang ungeahnte Möglichkeiten offenbarte (der Opernkomponist Händel, der aufgrund der Schließung seines Theaters in London einfach die Oper in die Kirche verlegte und damit die Gattung des gro0en barocken Oratoriums maßgeblich beeinflusste). Die Frage nach den Verzierungen in der Da- Capo- Arie von Bach stellt sich natürlich, hatte Bach jedoch keinen Kontakt zu Kastraten (zumeist in katholischen Bereichen; Bachs zweite Frau war selbst Sängerin und trat wiederholt in der Kirche auf). Seine Sänger waren ja zumeist Schüler der angegliederten Thomasschule und den kastrierten Stimmwundern bei weitem unterlegen. Ebenso steht für Bach die Autorität des Textes außer Frage. Ihm geht es um ein musikalisches Evangelium, das seine Schönheit in einer gewissen Strenge bewahrt und nicht in plumper Effekthascherei (wir erinnern uns an seinen Einstellungsvertrag und der Klausel, keine „opernhaftige“ Musik zu schreiben). 2 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Bachs Arien sind inhaltliche wie musikalische Ruhepunkte, kleine und größere Perlen, die ganz auf die meditatio beim Zuhörer ausgerichtet sind. Es geht um das Nachempfinden („Betrachte meine Seel“) und dem Mitleiden („Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin“), die Arien sind das Sprechen der menschlichen Seele, die sich einer Reaktion auf das Passionsgeschehen nicht entziehen kann und soll. Insofern passiert in den Arien die größtmögliche Identifikation mit der Passionsgeschichte neben dem bloßen Evangeliumsbericht und der Aussage der allgemeinen christlichen Gemeinde. Schade, wenn dann diese Stücke beim Zuhörer als Last empfunden werden. Bachs Kompositionsprinzip ist bei den Arien nicht grundsätzlich verschieden von dem der anderen Teile, das Prinzip „Lieben durch Verstehen“ kann also auch hier angewandt werden. Als beruhigende Abschlussbemerkung sei angemerkt, dass bis auf eine Arie alle überhaupt keine „klassische“ Da- Capo- Form aufweisen, diese Form ist in der Komposition bereits enthalten, somit sind die Arien deutlich kürzer als in manchen Kantaten oder auch in der Matthäus- Passion. T. 1-8: „Ritornell“ (das instrumentale Vor- und Zwischenspiel der Arien des 16. und 17. Jh.). Hier wird bereits das gesamte musikalische Grundmaterial vorgestellt (s. Exordium). Dies alles geschieht in den knappen acht Takten und wird im Folgenden von Bach ständig variiert (s. Variationstechnik v. Beethoven). Genau betrachtet ergibt sich folgendes Material: a) Kanon der beiden Oboen (T.1-4), Sinnbild für die Fesselung b) Tänzelnde Bass- Figur (T. 1-3), die sich in T. 4 verdichtet zu c) Achtel- zwei- Sechzehntelgruppe, die mehr Bewegung hinzubringt d) Paariges Fortschreiten der Oboen im Terzabstand (T. 5) Der Einsatz der Singstimme (T. 9) greift das Kanonmotiv der Oboen auf und gibt ihm nun endgültig die Bedeutung der Worte „binden“ und „entbinden“, dabei ist die Verwandtschaft der beiden Motive erst auf den zweiten Blick zu sehen und deutet auf eine andere Arie voraus (s. Notenbeispiel 1). In T. 39 ist das Ende des Hauptteils A der Arie erreicht und das Ritornell führt den Hauptteil B ein. Davor hebt Bach aber noch durch eine geschickte Modulation in die Tonart A- Moll das Wort „Heil“ hervor (T. 37), nicht ohne vorher durch Verzierungen (so genannte Vorhalte, die Fesseln verdeutlicht zu haben. 3 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Hauptteil B ist wesentlich freier gestaltet, die Rückgriffe auf Material der Einleitung werden zugunsten von geschmeidigen Sechzehntel- Figuren aufgegeben, sie stehen für die allumfassende Vergebung Gottes (s. auch Oktavsprung in T. 48). Bach legt großen Wert auf das Wort „völlig zu heilen“ (s. T. 59 ff). Dass Ritornell ab T. 66 bringt wieder den bislang verbannten Oboenkanon der Einleitung und der freie Da- Capo- Teil A´ schließt sich an. Er ist eine Variante des ersten Hauptteils und greift wie erwartet auf bekanntes Material zurück (beachtenswert noch der Septsprung T. 98 „meiner Sünden“ = exclamatio). Hören der Arie NBA 7/EP 11 3. Rezitativ: „Simon Petrus aber folgete“ (NBA 8/EP 12) und 4. Arie: „Ich folge dir gleichfalls“ (NBA 9/EP 13) Das Rezitativ greift auf berührende und schlichte Weise die Zurechtweisung des Jüngers durch Jesus auf („Stecke dein Schwert in die Scheide“). Nachdem der Zuhörer einen Moment voller ungläubigen Staunens das Geschehen im Garten verfolgt hat, ist es nun der zurechtgewiesene Petrus, der mit einem Mal die Initiative ergreift und in schneller Bewegung (Tonfolge nach oben) Jesus hinterher geht (bis zum „Jesus- Ton „g´´, den er nicht etwa beim Wort „Jesus“ erreicht hat, sondern zwei Achtelnoten später!). Die Nennung des namenlosen Jüngers fällt musikalisch gesehen kaum mehr ins Gewicht. Die Arie „ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“ ist eine beliebte Arie beim Vorsingen von jungen Sopränen an der Musikhochschule. Sie drückt Leichtfüßigkeit, Leichtigkeit und übersprudelnde Freude aus- und das in der Johannes- Passion! So interpretiert Bach die Nachfolge als Jünger Jesu. Ich werde erinnert an die Bibelstelle: „Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Joch auf sich. Mein Joch ist sanft.“ Nachfolge heißt für den Christen zuerst Freude. Ist das bei uns auch so (Zitat: „Chisten sollten erlöster gucken“)? Zum ersten Mal herrscht der Dur- Klang vor (Dur- fröhlich). Das Einstiegsintervall f-b leitet sich direkt aus dem vorangegangen Rezitativ ab. Die Arie steht in einem beschwingten 3/8- Takt und wir werden sehen, wie Bach mit einem Kunstgriff, diese Beschwingtheit noch erhöht. Das Thema der nachfolge lässt sich natürlich kompositorisch prächtig umsetzen (Stichwort Kanon oder Fuge). Zuerst wird ein wunderbares Flötenmotiv vorgestellt (spielen T. 1-4), das daraufhin im Continuo 4 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 fortgesetzt wird. Nachfolge geschieht auch in der langen Sechzehntelkette der folgenden Takte, hören wir auf die ersten drei Töne eines jeden Taktes und bemerken wir, wie sie sich ganz allmählich nach oben „schrauben“ (spielen T. 5 ff). Der Kunstgriff Bachs besteht jedoch in einem „Nachhinken“ des Continuos (T. 1). Dies lässt sich jedoch aus dem Klavierauszug schwer entnehmen, doch in vielen Takten fehlt die erste Note im Bass. Dieser Effekt ist unglaublich, weil tatsächlich der Eindruck entsteht, die Continuo- Gruppe hinke hinterher. Der Einstieg der Sopranstimme wird gleich als Kanon durch die Flöten fortgesetzt (T. 17), zuerst einmal nur mit dem Text der ersten Gedichtzeile „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“. Nach einem kleinen Zwischenspiel wird dann der gesamte erste Text vorgebracht: „… und lasse dich nicht, mein Leben, mein Licht.“ Bei Buchstabe C (T. 41) wird das Vorspiel in einer neuen Tonart gebracht und der Mittelteil der Arie setzt ein mit dem Text „Befördre den Lauf“. Wunderschön die Lautmalerei, die Bach für den Textabschnitt verwendet „höre nicht auf, an mir zu ziehen, zu bitten, zu schieben“ (T. 61 ff). Diese Figur nennt sich Gradatio und macht auf mich einen ungeheuer modernen Eindruck (beinahe wie eine Jazzimprovisation). Besondere Beachtung verdienen die lauten Exclamatio- Rufe auf die Worte „höre nicht auf“ (T. 86 ff). Auch diese Ari schließt mit einem integrierten Da- Capo- Teil ab T. 113/Buchstabe I). Hören NBA 9/EP 13 PAUSE 5. Rezitativ: „Derselbige Jünger “ (NBA 10/EP 14) Die Takte 1-4 führen uns und Petrus in den Palast des Hohenpriesters, es findet also ein Schauplatzwechsel statt, wir haben uns endgültig vom Garten verabschiedet. Noch ahnen wir nicht, welche dramatische Wendung das Geschehen gleich für Petrus nehmen wird. Er rückt erst mit T. 5 in unser Blickfeld: Er wird seinen Standort ändern müssen, um bei Jesus zu sein, denn er steht draußen vor der Tür. Bach wird also sein harmonisches Fundament ändern. Dies tut er, indem er von anfänglich F- Dur (T. 5 Standort des Petrus) zu A- Moll moduliert (T. 11 Standort der Magd). Beachtenswert, wie Bach selbst eine 5 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 grammatikalische Kleinigkeit wie einen eingeschobenen Relativsatz im Deutschen („der dem Hohepriester bekannt war“) in Musik umsetzt. So ein eingeschobener Satz ist nicht betont, deswegen wechselt der Evangelist die Tonlage, die eigentliche Melodie geht über die Töne e („Jünger“) über fis („hinaus“) zu g („redete“). Gleiches auch im Satz „Da sprach die Magd, die Türhüterin, zu Petro“. Diese Frage erwischt Petrus eiskalt und er leugnet, bekräftigend mit einem Vorhalt: „Ich bin´s nicht“. Als er zu den Knechten geht, die sich am Feuer wärmen, sehen wir wieder Bachs Klangrede in Reinform („wärmeten“). Die Rede Jesu drückt wiederum große Souveränität und aus und ist klangschön komponiert (.z.B. T. 35: „was ich gesagte habe“, spielen). Mit einem Mal bricht Hektik aus, die durch beinahe unkontrollierte Tonsprünge gekennzeichnet wird (T. 37-41). Ein Knecht schlägt Jesus ins Gesicht, die Rede Jesu wiederum büßt nichts von ihrer Ruhe und Kraft ein. Kennzeichnend sind die beiden Worte „geredt“: in der vermeintlich üblen Rede als verminderte Sept (!) aufwärts (T. 43), in der vermeintlich guten Rede als kleine Sept abwärts (T. 45). Der Schluss ist wiederum offen komponiert und führt zum anschließenden Choral „Wer hat dich so geschlagen?“ 6. Choral: „Wer hat dich so geschlagen? “ (NBA 11/EP 15) Ich bin der Überzeugung, dass dieser Choral eine der einfühlsamsten Stellen der Passion darstellt, auch wenn die Melodie eine durchaus weltliche Weise darstellt. Bach verwendet die Melodie des Liedes „Innsbruck, ich muss dich lassen“ von Heinrich Isaac mit dem Text des Paul Gerhardt- Liedes „O Welt, sieh hier dein Leben.“ Es geht um die Frage nach Schuld und Vergebung, nach der Ursache des Leidens und Sterbens Jesu. Wie sehr sich die Gemeinde unter dieses Leiden stellt, zeigt v.a. die zweite Strophe „Ich, ich und meine Sünde, die sich wie Körnlein finden“. Der Focus wird weggelenkt vom wütenden Knecht und hin auf das eigene Herz und Handeln. Hören NBA 10+11/EP 14+15 7. Rezitativ: „Und Hannas sandte“ (NBA 12a/EP 16) und 8. Chor: „Bist du nicht“ (NBA 12b/EP 17) 6 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Das kurze, zum nachfolgenden Turba- Chor überleitende Rezitativ greift noch einmal die Verzierung des Wortes „wärmete“ auf (T. 4), bevor dann der Sturm der Neugier auf Petrus losbricht: „Bist du nicht seiner Jünger einer?“ Bach komponiert in 17 Takten eine Musik, wie sie kaum spöttischer sein kann. Die unzähligen Stimmen) „Bist du nicht?“ – Rufe der Volksmenge werden colla voce (= mit den vom Orchester mitgespielt. Dadurch entsteht der Eindruck eines Klanggerippes, aus welchem immer wieder Töne wie spitze Finger hervorragen. Trotzdem gibt es ein musikalisches Thema, das zuerst der Bass vorbringt (T. 1: Ausgangston e), danach der Tenor übernimmt (T. 2: Ausgangston a), dann der Alt (T. 6: Ausgangston e), später der Sopran (T. 8: Ausgangston a). Wir haben hier den Beginn einer klassischen Fuge. Der Schlussakkord E- Dur wird abrupt unterbrochen durch das Continuo und seinem E- Dur- Septakkord, der die ernute Leugnung der Petrus einleitet. 9. Rezitativ: „Er leugnete aber“ (NBA 12c/EP 18) Der Einsatz des Petrus ist höher, deutlicher geworden, er möchte auf keinen Fall diese Anschuldigungen auf sich sitzen lassen. Die dritte Verleugnung ist, obwohl nur indirekter Bericht des Evangelisten, am heftigsten (T. 7: Nonsprung). Das Krähen des Hahns ist lediglich im Cello angedeutet (T. 8: aufsteigender Septakkord). Dieser Effekt ist Bach nicht sonderlich wichtig, wohl aber das, was sich danach abspielt. Allerdings kommt ie Reue des Petrus im Johannes- Evangelium nicht vor, so dass Bach einen Bericht aus Matthäus einfügt. Dies zeigt, wie ausgesprochen wichtig Bach dieser Abschnitt war. Über den „Jesus- Ton“ g´´ (T. 10) erreichen wir ein sechstaktiges lyrisches Intermezzo, das Bach mit Adagio überschreibt. Er möchte damit, dass sich Charakter, Tempo und Ausdruck deutlich vom bisherigen Evangeliumsbericht unterscheiden. Ein Blick genügt und wir erkennen, dass Bach das Wort „weinte“ besonders wichtig ist. Hier weint mit Petrus auch der Evangelist. Der Bass steigt chromatisch auf und nieder (chroma = Farbe; Musik in Halbtonschritten), während der Sänger weit ausladende Linien singt, die meist mit Haltebögen über die Taktschwerpunkte hinweg eine rhythmische Verschleppung erfahren. Der Tenor beschreibt in T. 14 sogar einen passus duriusculus aus dem Lehrbuch (d-ais), indem er einen chromatischen Gang über den Abstand eines Tritonus intoniert. In derselben Tonart, in der das Rezitativ endet, beginnt auch die nachfolgende 7 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Arie, die mit zu den anspruchsvollsten Tenorarien aus der Feder Bachs zählt. Die Klippe für jeden Sänger sind die großen Tonsprünge, die Ausdruck des Erschreckens und der Verzweiflung sind. 10. Arie: „Ach mein Sinn“ (NBA 13/EP 19) Bachs Einfallsreichtum ist unerschöpflich. Grundlage der zerklüfteten Arie ist ein einfaches Bass- Motiv, das immer an wichtigen Stellen (z.B. bei neuen Textabschnitten) für einen Sinnzusammenhang sorgt. Betrachten wir den chromatischen Bassabstieg in den ersten drei Takten (fis-es-e-dis-d), dies ist ein so genannter Lamento- Bass, eine klagende und drückende Figur, die vor allem im langsamen spanischen Schreittanz der Sarabande vorkommt. Ihre Merkmale sind ein langsamer Dreier- Takt (siehe ¾- Takt) und ein besonderer Schwerpunkt auf Schlag zwei des Taktes (s. T. 1, vorspielen). Bach verwendet also dieses konventionelle Werkzeug, um der Traurigkeit des Petrus Ausdruck zu verleihen. Die Sperrigkeit des Stückes ist auf den Text zurückzuführen, den Bach aus einem zeitgenössischen Gedicht „Der weinende Petrus“ entnommen hat. Er ist dreigeteilt: T. 1-46: „Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin, wo sollt ich mich erquicken?“ T. 47-59: „Bleib ich hier, oder wünsch ich mir Berg und Hügel auf dem Rücken?“ (lang anhaltende Noten bei „bleib ich hier“) T. 63-89: „Bei der Welt ist gar kein Rat, und im Herzen stehn die Schmerzen meiner Missetat, weil der Knecht den Herrn verleugnet hat.“ Lenken wir die Aufmerksamkeit noch auf die Worte „verleugnet“ (T. 83): dort finden wir mit den Überbindungen eine Rückführung auf das lang anhaltende Weinen im vorigen Rezitativ. Offensichtlicher wird der Rückgriff bei den letzten Tönen des Tenors (T. 87-89): Diese Phrase orientiert sich genau an den Tönen des vorherigen Rezitativs (Nr. 12c/18 T. 15; siehe Notenbeispiel 2) 11. Choral: „Petrus, der nicht denkt zurück“ (NBA 14/EP 20) 8 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Der anschließende Choral, der ja auch den ersten Teil der Passion beendet, steht in der Tonart A- Dur, der parallelen Tonart zur Arie davor. Dadurch kehrt nach dem aufwühlenden Höhepunkt ein wenig Ruhe ein. Bach beschwichtigt dadurch auch den konservativen Hörer nach der affektgeladenen „Bühnenmusik“ der Arie und gibt den Weg frei für die Karfreitagspredigt. Der Blick von Jesus (T. 5) wird für Petrus beschuldigend, entlarvend interpretiert; für den Gläubigen wird der Blick als heilsam, das Gewissen rührend empfunden. So schließt Bach den Choral in der zweiten Hälfte auch nahezu flehend und außerordentlich tröstlich. Hören NBA 12a/EP 16 bis fine 9 Akt II: Hannas Notenbeispiel 1 Arie Nr. 7/11, T. 1-2 Oboe II $ & Arie Nr. 7/11, T. 9-11 Alt $ Von den a & Strik - Arie Nr. 30/58, T. 5 Alt && a f Es ist voll - bracht, Notenbeispiel 2 Arie Nr. 13/19, T. 1-5 Violoncello &&& & % & % “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Akt III: „Pilatus“ (NBA 15-24/EP 21-48) 1. Ouvertüre: „Christus, der uns selig macht“ (NBA 15/EP 21) Wie ganz anders ist der Beginn des Parte seconda, also des zweiten Teils, im Vergleich zum Beginn der gesamten Passion. Der Vorhang hebt sich und das Drama geht in die entscheidende Phase. Vorab hält Bach mit diesem Choral das Motto für alle noch einmal fest: „Christus, der uns selig macht“- dies ist seine unerschütterliche Wahrheit. Hierfür braucht es keine dramatische Chorfuge und keinen ausgedehnten Orchestersatz, schon gar keine überbordende Arie. Die Wahrheit der Bibel passt in 17 schlichte Takte, ja vielleicht sogar in nur zwei hinein. Diese Wahrheit steht seit Anbeginn der Welt, sie ist keine Erfindung der zeitgenössischen Schriftsteller und deswegen wählt Bach ganz bewusst eine Tonart, die auf die alte Zeit, geradezu auf die Anfänge der abendländischen Musik hinweist. „Christus, der uns selig macht“ ist ein altes lutherisches Kirchenlied von Michael Weiße (um 1531) und seine Melodie steht in der Kirchentonart phrygisch auf e. Erklärung: das Dur- Moll- tonale System, welches uns heute vertraut ist, ist noch gar nicht so alt und konnte sich erst im 17. Jh. (also kurz zu Lebzeiten Bachs) gegen das kirchentonale System durchsetzen. Im Mittelalter orientierte man sich an der Musiküberlieferung aus dem antiken Griechenland, das 8 bis 12 unterschiedliche Tonleitern kannte, denen man die Namen von griechischen Volksstämmen gab. So kommt es zu Tonleitern mit den Namen dorisch, phrygisch, lydisch, ionisch. Aus zwei dieser Tonleitern (äolisch und ionisch), die unserem heutigen Dur und Moll entsrechen, wurde unser Tonsystem „reduziert“, zusammengefasst und übersichtlich gestaltet. Dank eines mathematischen Rechenspiels eines A. W ERCKMEISTER 1686 etablierten sich 12 gleichwertige Tonarten in seiner „temperierten“ (d.h. ausgeglichenen) Stimmung, die Bach umgehend nutzte, und ein dazugehöriges Lehrwerk in zwei Bänden verfasste, das „Wohltemperierte Klavier“ (1722 und 1744; also in unmittelbarer Nähe zur Entstehungszeit der Johannes- Passion). Die Emanzipation der Töne als gleichwertige Partner findet ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluss in der so genannten „Zwölf- 1 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Ton-Musik“ der Neuen Wiener Schule, ca. 1910 um die Komponisten, A. Schönberg, Alban Berg und Anton Webern. Wir haben uns weit von unserer Passion entfernt. Als Zusammenfassung gilt: Für den Choral „Christus, der uns selig macht“ wählt Bach eine alte Tonart, die vom „Aussterben bedroht“ war. Die Wahrheit ist alt und unumstößlich. Die Ordnung verrät etwas von Genauigkeit und Strenge, immer zwei Takte sind zu einer Einheit zusammengefasst. Nur der letzte Abschnitt wird durch den Einschub eines dritten Taktes gestreckt. Durch dieses klare und regelmäßige Ordnungssystem wird die klare und sachliche, beinahe schon distanzierte Aussage unterstrichen. Trotzdem verzichtet Bach nicht auf unscheinbare Kunstgriffe inmitten der formalen Strenge, zwei seien an dieser Stelle genannt: 1. Die Takte 7+8 entsprechen von der Melodie genau den beiden vorletzten Takten (T.15+16). Wie unterschiedlich ist jedoch die Harmonisierung, wie unterscheiden sich jedoch die Begleitakkorde! Wenn von Jesus die Rede ist, der wie ein gemeiner „Dieb“ gefangen wird, jagt eine Dissonanz die nächste. Scharfe Akkorde fehlen bei der Beschwörung der „Schrift“, also der Bibel, völlig. Ihre Aussage ist klar und unverfälscht (spielen). 2. Der Takt 11 beschreibt das falsche Zeugnis der Ankläger, den Bruch des Gebotes „Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, und so begeht Bach auch in der Musik einen Regelverstoß. Dies wiegt besonders schwer, da es sich um einen vierstimmigen Choralsatz handelt, bei dem es festgelegte Kompositionsregeln gab, die für alle Komponisten galten. Bach nutzte diese Regen und ihre Grenzen bis zur Neige aus, um besonderen Textstellen „Würze“ zu geben. Der Regelverstoß, um den sich bei dem Wort „fälschlich“ handelt, ist die chromatische Fortschreitung in den Stimmen. In einer Stimme allein wäre es schon verboten, Bach tut dies in zwei Stimmen gleichzeitig (Bass: es-d-cis-d; Tenor: b-a). Es handelt sich hier um so genannte „Querstände“. Besondere Herausforderung birgt dieser Choral für den Chor im Sinne der richtigen Wortbetonung. Bach musste durch seine strenge Zweitaktigkeit in Kauf nehmen, dass manche Worte mit unbetonten Silben auf eine betonte Taktzeit kommen (T. 13: „verlacht“ und „verhöhnt“). Auf der einen Seite stört diese Unregelmäßigkeit den Fluss an genau der 2 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 richtigen Stelle, wo es um den Spott geht, auf der anderen Seite ist es Aufgabe des Chores, sie so zu singen, dass sie nicht stümperhaft klingt. Ich bin sicher, Philippe Herreweghe und das Collegium Vocale Gent machen dies ausgezeichnet. Hören NBA 15/EP 21 2. Rezitativ: „Da führeten sie Jesum“ (NBA 16a/EP 22) und 3. Chor: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ (NBA 16b/EP 23) Der Beginn des Schauprozesses gegen Jesus vor Pilatus ist gekennzeichnet durch Bewegung: „Da führeten sie Jesum von Caipha vor das Richthaus“, inhaltlich wie musikalisch liegt die Betonung auf dem Wort „vor“, handelt es sich doch um die Bemühungen der Juden, das Reinheitsgebot auf alle Fälle zu halten. „Frühe“ erfährt von Bach ebenso eine besondere Betonung. Im Allgemeinen hebt Bach im Folgenden die üble Taktik der Verleumder und Ankläger hervor, indem er (wie bereits betrachtet, regelwidrig) durch dissonanten Akkorde und Tonsprünge unterschiedliche Worte hervorhebt: T. 4: „Richthaus“ mit Tritonussprung d-gis und gis-d bei „auf dass“ T. 5: „unrein“ mit dissonantem Akkord T. 8: „hinaus und sprach“: die Töne g-e-a-h bilden einen Chiasmus, also die Kreuzfigur. Von Beginn seines Auftretens an wird klar, wie die Verhandlung enden wird. Noch allerdings ist nichts entschieden, selbst die Zögerlichkeit des Pilatus ist durch die Pause angedeutet. T. 9: „Klage wider“: der verminderte Dreiklang abwärts mit Tritonusabstand d-gis zeigt die Abgründigkeit ihrer Klage T. 10: „Sie antworteten und sprachen zu ihm“: schnelles Tempo, Septsprung symbolisiert die Erregung und der Tritonussprung g-cis die Falschheit der folgenden Aussage. → Bach entlarvt wie ein Detektiv bereits im Vorfeld die Lüge Mit voller Wucht schlägt nun die Menge des Volkes zu: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ beginnt zwar in allen Stimmen gleichzeitig, doch komponiert ist eine Fuge, eine regelwidrige noch dazu. 3 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Die Fuge gilt als eine der besonderen Gattungen der Barockzeit, obwohl zu allen Zeiten Fugen komponiert worden sind, sieht man die Fugen für Klavier oder Orgel von Bach als den Höhepunkt dieser Gattung an. Auch die Komposition einer Fuge war strengen Richtlinien unterworfen. Beispielsweise durfte zu Beginn einer Fuge erst die nächste Stimme einsetzen, wenn die vorherige Stimme das Thema einmal vollständig vorgetragen hatte. Das erleichterte natürlich auch das Hören. Übereinander gelegte Stimmeneinsätze werden als „Engführungen“ bezeichnet. Schauen wir also auf den Beginn unserer Fuge und beachten die Einsätze des Themas „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ (Bass T. 1-3). Es ist ein Thema, das wieder des Passus duriusculus aufwärts beschreibt, die chromatische Linie, schmerzvoll und vehement anklagend. In T. 3 setzt der Alt ein und zwei Viertel später der Sopran. Die Regel der Fugenlehre ist also hier bereits über Bord geworfen. Noch etwas ist auffallend bei der „Übeltäter- Fuge“: Zählen wir einmal gemeinsam die Themeneinsätze. Wir kommen auf elf, der letzte Einsatz durch die lange Note a des Basses unübersehbar vorbereitet. Bach möchte uns mit der Nase auf etwas stoßen: 11 ist die Zahl 12 – 1: Die Zahl der Vollkommenheit (12 Apostel) wird unvollkommen. Ein Apostel fehlt und wird hier in direktem Zusammenhang gebracht mit der falschen Anklage. Oder anders ausgedrückt: Wenn es hier einen Übeltäter gibt, so ist das Judas. Ist das Spekulation? Ich denke nicht, denn in T 13 beginnt ein neuer Textabschnitt „wir hätten ihn nicht überantwortet“, sehr übertrieben dargestellt mit langen Sechzehntelketten, bevor der Chor endet mit den heftigen Rufen „nicht, nicht, nicht“. Man hat den Eindruck, hier wird sich in Rage geredet. 4. Rezitativ: „Da sprach Pilatus zu ihnen“ (NBA 16c/EP 24) 5. Chor: „Wir dürfen niemand töten“ (NBA 16d/EP 25) Die Antwort des Pilatus „So nehmet ihr ihn hin und richtet ihn nach eurem Gesetze“ betont das Wort „eure“ durch den verminderten Dreiklang abwärts und den Tritonusabstand d-gis und entlarvt die Berufung auf das Gesetz der Juden als Heuchelei. Der nachfolgende Chor hat zwei musikalische Bezugspunkte 4 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 1. Der vorausgegangene Chor (Kennzeichen: das chromatisch aufsteigende Thema, das zuerst der Bass vorbringt, T. 1; die übergebundenen Achtel mit zwei angehängten Sechzehntel) 2. Der Chor „Jesum von Nazareth“ (NBA 2b/EP 3), Kennzeichen: Sechzehntelbegleitfigur der Flöten und Violinen. Bach setzt diesen Chor einen Ton höher an, als den vorausgegangenen „ÜbeltäterChor“. Die Vehemenz der Anklage nimmt zu. Absolut lächerlich und ein Zeichen für Bachs Humor: Der Tenoreinsatz verspätet sich, er plappert einfach nur nach. Hören NBA 16a-16d/EP 22-25 6. Rezitativ: „Auf dass erfüllet würde“ (NBA 16e/EP 26) und 7. Choral: „Ach großer König“ (NBA 17/EP 27) Im Gespräch zwischen Pilatus und Jesus gibt es einige besondere Höhepunkte: T. 3+4: „deutete“ und „Todes“ haben beide denselben Ton (= musikalische Vorausschau) T. 4: „sterben“: verminderter Septsprung und ausgedehntes Melisma (d.h. Verzierung) T. 6: „Richthaus“: Tritonussprung (s.o.) T. 11: „andere von mir gesagt“: verminderter Dreiklang (musikalischer Zeigefinger auf die Ankläger) Die Rede Jesu von seinem Reich verdient besondere Aufmerksamkeit, da Bach sie außerordentlich liebvoll ausgestaltet: Der Ton des Reiches Gottes ist in seinem Fall das hohe e des Baritons, der Spitzenton der Jesus- Partie. Das Reich, von dem Jesus spricht ist im Jenseits, nicht in dieser Welt, sehr im Widerspruch zu den Erwartungen, die die Zeitgenossen an Jesus gestellt hatten. Besonders deutlich wird dies im letzten Takt beim Oktavsprung „mein Reich“. Hier wird die Blickrichtung des Zuhörers von der Erde zum Himmel gelenkt. T. 18+19: „darob kämpfen“: ausgedehnte Tonmalerei. Bach verwendet an dieser Stelle den traditionsreichen Ruf all´ arma (zu den Waffen!) des 17. Jh. der sich bis in unsere Zeit durch die „Feuerwehrquart“ erhalten hat. Bach unterbricht an dieser Stelle den Gerichtsprozess und fügt zwei Choralstrophen des Liedes „Herzliebster Jesu“ ein, dessen Melodie wir bereits im Choral NBA 3/EP 7 kennen gelernt haben. Bach fügt dem Choral eine ruhig fließende Achtelbewegung im Bass hinzu 5 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 und unterstreicht damit die Würde des Königs Jesus, um dessen Legitimation es im darauf folgenden Gespräch geht. Hören NBA 16e-17/EP 26-27 und mitsingen 8. Rezitativ: „Da sprach Pilatus zu ihm“ (NBA 18a/EP 28) und 9. Chor: „Nicht diesen“ (NBA 18b/EP 29) und 10. Rezitativ: „Barrabas aber war ein Mörder“ (NBA 18c/EP 30) Bach zeichnet im Rezitativ tonartlich unterschiedliche Stationen nach: Pilatus beginnt in F- Dur (T. 1); Jesus antwortet in G- Dur (T. 5), spricht von der Wahrheit in D- Dur (T. 8) und beendet seine Rede in H- Moll (T. 10). Die ratlose Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit“ benutzt wieder die Tonart D- Dur, also Jesu Wahrheit (T. 11). Hilflos deutet Pilatus den Juden an, dass er keine Schuld an Jesus findet (T. 14: A- Moll). Die stereotype Antwort des Volkes „Nicht diesen“ steht in D- Moll. Das musikalische Material der Sechzehntelbegleitung ist hinreichend bekannt (NBA 2b/EP 3, s.o.), bezeichnend, dass dieses Mal, der Bass mit dem Ruf nach Barrabas zu spät kommt (T. 3). Attacca (also sofort) setzt die Erklärung des Evangelisten ein, wer Barrabas überhaupt ist. Deutlich werden die Signalworte „Barrabas“ und „Mörder“ (T. 2) hervorgehoben. Die Geißelung Jesu ist besonders lautmalerisch gestaltet und hinterlässt beim Hörer einen tiefen Eindruck. Bach lässt von zwei Knechten je 24 Geißelhiebe auf Jesus niederprasseln, symbolhaft steht die Zahl zwölf für die Vollkommenheit, er wird also salopp formuliert „fertig gemacht“. Hören NBA 18a-c/EP 28-30 (Ansage: wir schließen als Hörbeispiel das anschließende Arioso gleich an; Vorbemerkung: Das Arioso: „Betrachte meine Seel“ (NBA 19/EP 31) bietet uns eine klangliche Überraschung an: Die Besetzung ist wie folgt: Viola d´ amore I+II, Solo- Bass, dazu Laute und Bassono grosso, ein tiefes Fagott) PAUSE 6 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 11. Arie: „Erwäge“ (NBA 20/EP 32) Die große (und einzige) Da- Capo- Arie stellt eine Verbindung mit den beiden voran gegangenen Musikteilen her. Zum einen übernimmt Bach die Instrumente des BassAriosos (wir haben es also erneut mit einer sehr „weichen“ Musik zu tun, zum anderen weckt das rhythmische Motiv des Sechzehntels mit den beiden angehängten Zweiundreißigstel Erinnerungen an die dramatische Geißelungsszene. Grundlage der Arie sind die Worte „erwägen“ (eben erwähntes Motiv T. 1), Regenbogen (Continuo T. 1 Ende) und „Wasserwogen“ (Violen T. 22; punktierter Rhythmus). Die Disposition ergibt sich wie folgt: Teil A (T. 1-21), Teil B (T. 22-42), Teil A´(T. 1-21) Hören NBA 20/EP 32 12. Rezitativ: „Und die Kriegsknechte“ (NBA 21a/EP 33) und 13. Chor: „Sei gegrüßet“ (NBA 21b/EP 34) und 14. Rezitativ: „Und gaben ihm Backenstreiche“ (NBA 21c/EP 35) Der Bericht von der Dornenkrone mündet in der großen Verspottung der Menge „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig“. Bach komponiert den Hohn und den Spott in großartiger Weise: Wieviel Verachtung liegt dem Thema, das der Sopran exponiert (T. 1): Die Bewegung nach oben als Hinwendung zu Jesus, de absteigende Achtellinie als Beugen des Oberkörpers, der Spitzenton g bei „lieber“. Das Orchester nimmt das Verbeugen auf durch die Sechzehntelketten und die auf- und absteigenden Bassfiguren. Während zuerst viele Stimmen einzeln spotten, vereinigen sie sich in T. 8 zu einem wuchtigen einheitlichen „sei gegrüßet“. Den Worten folgt die Tat, bevor Pilatus noch einmal versucht, Jesus frei zu bekommen. Voller Schmerz intoniert er das ecce homo (T. 10), bevor die Raserei der Menge weitergeht. Hören NBA 21a-21c/EP 33-35 7 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 „Die Zielscheibe“ Der erste Ring 15. Chor: „Kreuzige“ (NBA 21d/EP 36) Zwei Elemente sind in diesem tumultartigen Satz vorherrschend: 1. Haltetöne einer Stimme, die sich mit den Haltetönen einer anderen Stimmen reiben (T. 1) 2. rhythmisch pointierte „Kreuzige“- Rufe in großen Tonsprüngen (ebd.) Unzählige Male finden wir in diesem Satz den chiasmus, die Kreuzfigur Hören NBA 21d/EP 36 Der zweite Ring 16. Rezitativ: „Pilatus sprach zu ihnen“ (NBA 21e/EP 37) und 17. Chor: „Wir haben ein Gesetz“ (NBA 21f/EP 38) Der letzte Versuch, Jesus frei zu bekommen, scheitert. Die Juden wiederum berufen sich auf ihr Gesetz, deswegen klingt der nachfolgende Chor „gesetzlich“. Den Instrumenten ist keine Sonderrolle zugedacht, sie begleiten den Chor colla voce (s.o.) und untersteichen so die Sprödigkeit der Aussage. Strenge entsteht durch die formale Anlage einer Fuge, deren Thema beim Wort „sterben“ (T. 3) an die Haltetöne des „Kreuzige“- Chores erinnert (nebenbei bilden auch hier die Töne eine Kreuzfigur). Auffallend ist, dass der Satz sich selber in die Höhe putscht. Er beginnt in tiefer Lage und in F- Dur und endet in höherer Lage und in A- Dur. Musikalisch wird so Jesu Anspruch, Gottes Sohn zu sein, unterstrichen. Hören NBA 21e/EP 37 Der dritte Ring 18. Rezitativ: „Da Pilatus das Wort hörete“ (NBA 21g/EP 39) Die folgende Unterredung macht deutlich, in welchen unterschiedlichen Positionen Jesus und Pilatus sind. Schon einig Male ist über die Tonarten der Rezitative gesprochen worden. Hier wird besonders deutlich: Die staunende Frage „Von wannen bist du?“ wird 8 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 auch in den Tonarten beantwortet: Pilatus (D- Moll; T. 4); Jesus (Cis- Moll; T. 15), ein Blick auf den Quintenzirkel macht deutlich: viel unterschiedlicher können Positionen nicht sein. Die letzten Worte des Evangelisten drücken auf wunderbar lyrische Weise das Mitleid wie auch die Hilflosigkeit des Pilatus aus. Hören NBA 21g/EP 39 Der innerste Ring 19. Choral: „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ (NBA 22/EP 40) Der in E- Dur stehende Choral ist bezieht sich in seiner Tonart auf die Rede Jesu in CisMoll. Er bildet einen Ruhepunkt und ist gleichzeitig der Wendepunkt des Geschehens, da er an der Stelle steht, an welchem die Handlung umschlägt. Wenn Pilatus bisher noch Jesus losgeben wollt, so ist er im Folgenden dem Drängen der Juden hilflos ausgeliefert. Das Wort „Knechtschaft“ erfährt hier eine besondere Betonung, zum einen im Gedicht von Christoph Heinrich Postel Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein, Müsst unsre Knechtschaft ewig sein, zum anderen in der Vertonung von Bach. In T. 9 verdeutlichen die Haltebögen im Alt die Fesseln (s. Notenbeispiel), zum anderen die parallele Bewegung von Tenor und Bass in T. 11. Im Folgenden beschreiten wir die „Ringe der Zielscheibe“ rückwärts, wobei Beziehungen zwischen den einzelnen „Ringpaaren“ in Bezug auf Besetzung, Ausdruck oder Inhalt deutlich werden. Hören NBA 22/EP 40 Der dritte Ring 20. Rezitativ: „Die Juden aber schrieen und sprachen“ (NBA 23a/EP 41) Das Rezitativ bildet die bloße Überleitung zum folgenden Chor, dem 9 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Zweiten Ring 21. Chor: „Lässest du diesen los“ (NBA 23b/EP 42) und 22. Rezitativ: „Da Pilatus das Wort hörete“ (NBA 23c/EP 43) Dieser Chor korrespondiert in Kompositionstechnik, Motivik und Länge dem Chor „Wir haben ein Gesetz“. Vergleichen wir das Fugenthema, so fällt auf, dass Bach es rhythmisch geringfügig durch die Hinzunahme von zwei Sechzehntelfiguren verändert hat. Dabei fällt die Betonung auf „diesen“, nämlich Jesus. Dieses Kompositionsverfahren der neuen Textierung einer alten, meist weltlichen Musik, nennt sich Parodieverfahren. Es war bei Komponisten der Barockzeit wie auch noch der Klassik besonders beliebt (Bsp.: Das Weihnachtsoratorium besteht zu weiten Teilen aus Parodien, „Jauchzet frohlocket“ ist der Eingangschor der weltlichen Bach- Kantate „Tönet ihr Pauken“, BWV 214). Nebenbei ist der Bezug auf den „Chor „Wir haben ein Gesetz“ auch textlicher Natur, wenn es heißt „wer sich zum Könige macht, der ist wieder den Kaiser“. Wir haben es also beim zweiten Ring mit „politischen“ Stücken zu tun. Übrigens: Seit dem Choral „Durch dein Gefängnis“ bewegen wir uns ausschließlich in Kreuztonarten, ein Zeichen dafür, dass die Kreuzigung nahe ist. Im Rezitativ NBA 23c/EP 43 präsentiert Pilatus spöttisch gemeint, aber ernsthaft vertont den Juden Jesus als „ihren“ König. Diese Aussage ist der Schwerpunkt des Reizitativs. Hören NBA 23a-c/EP 41-43 Der erste Ring 23. Chor: „Weg, weg mit dem“ (NBA 23d/EP 44) Dieser Chor korrespondiert in Motivik und Aussage dem „Kreuzige“- Chor (NBA 21d/EP 36). Nach dem anfänglichen Rufe „weg, weg“, die ein großes Durcheinander bilden, vereinigen sich immer wieder zwei Stimmen im „Kreuzige“- Kanon (T. 4), der uns mit seiner dissonanten Haltetonmotivik vertraut ist. In T. 21 vereinigen sich die Stimmen zu Kanonpaaren und verleihen der Forderung mehr Gewicht und münden am Ende in den einmütigen Schrei „Kreuzige ihn!“. Hören NBA 23d/EP 44 10 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 24. Rezitativ: „Spricht Pilatus zu ihnen“ (NBA 23e/EP 45) und 25. Chor: „Wir haben keinen König“ (NBA 23f/EP 46) und 26. Rezitativ: „Da überantwortete er ihn“ (NBA 23g/EP 47) Die letzte Frage Pilatus „Soll ich euren König kreuzigen“ spielt mit dem Spitzenton e auf die Aussage Jesu nach seinem Königreich an (NBA 16e/EP 26). Sie ruft einen wilden Proteststurm hervor: „Wir haben keinen König“. Wir kennen die instrumentale Begleitung der Streicher bereits aus früheren Sätzen (NBA 2b/EP 3). Das Rezitativ mit der Verkündigung des Todesurteils besticht durch die Verzierung des Wortes „gekreuzigt“ und „Golgatha“. Der Spitzenton g erinnert an den Ton Jesu. Jetzt ist er am Ort seiner Bestimmung angekommen. Hören NBA 23e-g/EP 45-47 27. Arie + Chor: „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ (NBA 24/EP 48) Mit dieser Arie für Solo- Bass und Chor schließt der überdimensionale 3. Akt der Passion. Sie greift textlich den Ort Golgatha auf und verwendet hierfür einen Text aus der Passionsdichtung des Hamburger Rates Hinrich Brockes. Ganz im Zentrum steht das Motiv des Eilens, das als Kanon einer Tonleiter komponiert ist (T. 1 und 3). Sie stellt eine Anabasis, eine aufstrebende Bewegung, dar. Ihr Ziel: Golgatha. Der Chor ist dreistimmig besetzt (als Zeichen für die drei Kreuze?) und exponiert. Ähnlich wie im Eingangschor der Matthäuspassion („Sehet, wen? Den Bräutigam“) gibt es Frage und Antwort, die zwischen Chor und Solist aufgeteilt sind. Dreimal neun Frageeinsätze zählen wir im Chor, sie teilen den Satz in eine gleichmäßige A-B-A´- Form ein. Die Grundtonart G- Moll erinnert zusätzlich an den Eingangschor und schafft somit einen Rahmen innerhalb der gesamten Passion. Hören NBA 24/EP 48 11 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Akt IV: „Der Gekreuzigte“ (NBA 25a-37/EP 49-65) 1. Rezitativ: „Allda kreuzigten sie ihn“ (NBA 25a/EP 49) Wir haben die Verhältnisse der Tonarten untereinander schon ein wenig besprochen. Mit dem Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ als Mittelpunkt des 3. Aktes ergibt sich eine Wende in den Tonarten der einzelnen Stücke. Vermehrt, ja beinahe ausschließlich tauchen „Kreuztonarten“ auf (E- Dur, A- Dur, Cis- Moll, Fis- Moll) als Zeichen für die unausweichliche Erhöhung Jesu am Kreuz. Eigenart der Kreuztonarten ist daneben aber auch eine eher strahlende Farbe und leuchtende Kraft. Mit der Ankunft Jesu auf dem Hügel Golgatha (NBA 23g/EP 47) ändert sich dies. Die Arie „Eilt, ihr angefochtnenen“ Seelen bildet das Bindeglied zwischen den Tonarten des 3. und den Tonarten des vierten Aktes. Hier dominieren die B- Tonarten (G- Moll, Des- Dur, B- Dur, Es- Dur), ihr Charakter ist eher weich und rund, traurig oder sogar warm. Nebenbei (wir werden noch darauf kommen), ist eine B- Tonart und nicht etwa eine Kreuztonart das Zeichen für einen König. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Bach mit dem Bericht der Kreuzigung im Rezitativ 25a/49 in einer B- Tonart beginnt. Verwunderlich ist allerdings die Tonart, die er dazu wählt. Nach dem Schluss der langen G- Moll Arie setzt der Bericht von der Hinrichtung in B- Moll ein. Diese beiden Tonarten zählen nicht unbedingt zu denen, die am meisten miteinander verwandt sind. Man spricht von einer Terzverwandtschaft, oder einer Mediante. B- Moll kam bislang in der Passion noch überhaupt nicht vor, der Charakter ist dunkel und weich, nicht erschreckend, eher traurig. Musikalisch erleben wir die Aufrichtung des Kreuzes (Quartsprung c-f, T. 1), sowie die Kreuzfigur (ges-des-c-f). Das Auge des Betrachters wird nach oben gerichtet, Jesus ist der höchste unter allen drei hingerichteten Menschen (siehe Spitzenton as, T. 3, wir behalten diesen Ton einmal in Erinnerung). Trotzdem ist das „Hinrichtungsintervall“ des Tritonus bei beiden Schilderungen vorhanden. In Takt 5 wird der Blick wieder auf Pilatus gerichtet, der sich für das Todesurteil verantwortlich zeichnet. Seine neue Tonart ist Es- Dur: Er verfasst die Überschrift über die Ursache des Todes Jesu und setzt sie auf das Kreuz, genau dorthin, wo Jesus ist (siehe Spitzenton as, T. 7). Die Verbindung von dieser Schrift zu Jesus ist offensichtlich. 1 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 In zwei eingeschobenen Takten, die mit Adagio überschrieben sind, erfahren wir, was auf dieser Inschrift steht. Diese eingeschobenen, lyrischen Passagen kennen wir (z.B. aus der Petrus- Szene „und weinete“). Sie drücken immer etwas ganz besonderes aus. Bach möchte, dass sie vom Interpreten in Aussage, Tempo und Artikulation entschieden anders gestaltet werden. Zudem setzt Bach diese zwei Takte in die feierliche Tonart DesDur. Wie rezitierend singt Pilatus in der Stimme des Evangelisten: „Jesus von Nazareth“das ist eine bloße Beschreibung. Jetzt kommt eine Pause, danach „der Juden König“- das ist eine Provokation, die durch eine einfache Pause wie durch das Hochziehen der Augenbrauen betont wird. Bach findet wieder zur Ausgangstonart B- Moll zurück (T. 14), setzt aber den wütenden Protest der Juden, die sich zu recht provoziert fühlen, in leuchtendes B- Dur. 2. Chor: „Sei gegrüßet“ (NBA 25b/EP 50) und 3. Rezitativ: „Pilatus antwortet“ (NBA 25c/EP 51) Wer findet die musikalische wie auch textliche Entsprechung dieses Chores im dritten Akt der Passion wieder? Er entspricht dem Satz „Sei gegrüßet“ (NBA 21b/34). Musikalisch gesehen ist es nahezu dasselbe Material, auch wenn er jetzt nicht als Kanon aufgebaut ist, wie es zuvor der Fall war. Beide Sätze stehen in B- Dur und verwenden motivisch dasselbe Material: ● Die Tonart wie auch die Taktart (6/4) sind gleich ● T. 1: Das Thema des Soprans ist exakt dasselbe wie „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig“. Die halbe Note von „grü“ ist in zwei Viertel aufgeteilt, das ist textlich bedingt. ● T. 2: Die abwärtsgerichtete Sechzehntelbewegung in Flöten und Oboen ● T. 5: Die auf- und absteigende Bassfigur des Continuos Trotz des gemeinsamen Beginns aller Stimmen (im Gegensatz zum imitatorischen Einsatz des Chores „Sei gegrüßet“) hat man als Hörer hier nicht den Eindruck, als sei der Ausdruck stärker. Die Kanonführung im ersten Satz hatte mehr Dynamik und unterstützte die Bosheit der Ankläger noch mehr. Hier büßen die Juden etwas von ihrer Vehemenz ein. Das hat nichts mit Bachs mangelnder Konzentration zu tun, sondern damit, dass dies der letzte Auftritt der Juden ist, die ebenso „abgebaut“ werden (Kettling) wie zuvor Pilatus. 2 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Dieser hat anschließend seinen letzten Auftritt, in welchem er sich noch einmal wichtig macht: Seine Musik schwingt sich noch einmal in die Höhe und betont die Worte „das habe ich geschrieben“ mit einem Vorhalt. Diese künstlich hinzugefügte Verzierung untermalt seine künstlich aufgesetzte Souveränität. Trotzdem setzt er mit seiner Aussage den Schlusspunkt in der Auseinandersetzung um die Autorität Jesu in der Frage seiner Königsherrschaft. Die abschließende Kadenz in B- Dur leitet über zur Antwort der Gemeinde, dem Choral in Es- Dur. 4. Choral: „In meines Herzens Grunde“ (NBA 26/EP 52) Bach nimmt mit der Gedichtstrophe von Valerius Herberger inhaltlich Bezug auf die von Pilatus verfasset Überschrift am Kreuz Jesu. Der Choral wirkt tröstlich und besitzt eine Leuchtkraft aus dem Innern heraus. Bach setzt den Choral relativ hoch (Es- Dur, dadurch erscheint an wichtigen Stellen der Jesus- Ton g (Sopran T. 3: „dein“, Sopran T. 9: „erschein“, Tenor T. 11: „meiner“). Bach macht deutlich: Jesus ist, wenn nicht sichtbar, dann doch spürbar. Der Bass leitet die letzten Takte wortausdeutend („milde“, „geblut“) mit außerordentlich kleinen Tonschritten ein. Das Leiden und Sterben Jesu ist noch nicht zu Ende, deswegen schließt der Choral in unterer Lage. Hören (NBA 25a-26/EP 49-52) 5. Rezitativ: „Die Kriegsknechte aber“ (NBA 27a/EP 53) und 6. Chor: „Lasset uns den nicht zerteilen“ (NBA 27b/EP 54) Dem Bericht von der Teilung der Kleider der Gekreuzigten und über die Besonderheit des Rockes Jesu wird bei Bach nicht sonderlich viel Bedeutung beigemessen. Interessante Hinweise können die vier aufsteigenden Töne sein, wenn es um die vier Teile geht (T. 3) oder die Beschreibung des Rockes, der in einem Stück gewirkt ist (große Abwärtsbewegung T. 7+8). Größere Aufmerksamkeit widmet sich Bach dem „Spielstück“ „Lasset uns den nicht zerteilen“ (s. auch Inszenierung Niebeling: Wettstreit). Es ist Musik wie aus einer Spieluhr, einfach, beinahe kindlich beginnen die Singstimmen mit ihrem Kanon, einer gibt immer dem anderen Recht. Auffallend dabei sind die vielen Repetitionstöne (d.h. Wiederholungstöne) und der synkopische zweite Takt des Themas, sowie die schüttelnde Würfelbewegung in den Sechzehntelketten (Bass T. 4). Diese 3 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 schüttelnde Bewegung setzt sich in den Celli über das ganze Stück fort. Bach schafft damit so etwas wie eine Rüpelszene inmitten eines tragischen Geschehens. Der Aufbau dieses Fugensatzes lässt sich gut anhand der einzelnen Einsätze erkennen. Gehen wir von Beginn an durch: T. 1: Beginn Abschnitt A (Bass) T. 8: Beginn Abschnitt B (Bass) T. 15: Beginn Abschnitt C (Tenor) T. 24: Beginn Abschnitt D (Sopran, diminuierter (d.h. verkleinerter) Beginn mit Sechzehntel) T. 38 Beginn Abschnitt E (Bass, diminuiert) T. 50: Zusammenschluss von Sopran und Alt, T. 52 mit Tenor als „Trio“ Bach wählt etwas weniger offensichtlich, eine bestimmte Taktart für diesen (verhältnismäßig) langen Chor aus: den ¾- Takt. Das erscheint auf den ersten Blick nichts Besonderes zu sein, ist aber eine bewusste Entscheidung von ihm (Bsp.: Viervierteltakt). Exkurs: Wir haben bereits über die Entstehung der Tonarten aus, mit griechischen Namen bezeichneten“ Kirchentonleitern, gesprochen. Es ist klar, dass es auch nicht von Anfang an 4/4-, 3/4- oder 6/8- Takte gab. Ursprünglich gab es (so wie es keine Noten gab) keine Taktangabe. Der Rhythmus und die Dauer der jeweiligen Töne richteten sich ganz nach der Betonung der Worte. In Zusammenhang mit der Entstehung der Notation wurden auch Symbole für Rhythmus und Dauer festgelegt. Diese minimale Notation war natürlich nur so lange ausreichend, bis die Stücke mehrstimmig und damit auch komplizierter Wurde. Eine Zeit, die schwierige Rhythmen und komplexe Kompositionen auf die Spitze trieb, war die Zeit der so genannten Ars Nova, bezeichnet nach dem gleichnamigen Traktat von Philippe de Vitry, Paris 1322. Ars Nova (d.h. neue Kunst) ist eine Epoche des Mittelalters, die v.a. von Frankreich aus zur Entstehung der Mehrstimmigkeit in Europa beitrug. Ihre wichtigste Gattung ist die Motette, meistens vielstimmige und z. T. äußerst komplexe Kompositionen, weil isometrisch. Isorhythmie bezeichnet die komplexe Verteilung von rhythmischen Themen auf verschiedene Gesangsstimmen. (Bsp.: Eine ausgedehnte Sechzehntelkette wird auf vier verschiedenen 4 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Stimmen verteilt, die sich damit regelrecht „verzahnen“). Es ist klar, dass es hierfür klare Angaben in Takt und Rhythmus geben muss. Dies bedeutete eine deutliche Weiterentwicklung der schriftlichen Notation durch die Ars Nova. Es wurden demnach „Mensurzeichen“ eingeführt, die vergleichbar sind mit unseren Taktarten (s. Abbildung). Dabei gelten die durch Drei teilbaren Mensuren als „gute“ Tempi (tempus perfectum; s. Dreieinigkeit) und die durch Zwei teilbaren Mensuren als „schlechte“ Tempi (tempus imperfectum). Wenn Bach nun ein tempus perfectum für den Streit um den Rock Jesu wählt, dann bedeutet das mehr als nur eine tänzerische Musik zum Würfelspiel. Bach symbolisiert damit den perfekten, d.h. den unangetasteten und vollkommen Zustand dieses Kleidungsstücks. Sein Rückgriff auf die Musik des Mittelalters verbindet sich mit der modernen Anlage der Fuge. Hören (NBA 27a+b/EP 53+54) 7. Rezitativ: „Auf dass erfüllet würde die Schrift“ (NBA 27c/EP 55) und 8. Choral: „Er nahm alles wohl in acht“ (NBA 28/EP 56) Johannes legt in seinem Evangelium sehr viel Wert auf die Bezüge der JesusVerheißungen aus dem Alten Testament. So ist es zu verstehen, dass Bach auch hier den Einwurf: „Sie haben meine Kleider unter sich geteilt“ als eingefügtes Adagio vertont. Die Beschreibung der Personen unter dem Kreuz gerät sehr innig und lyrisch komponiert. Zwei Dinge fallen bist zum Takt 12 auf: 1. Die Anzahl der Versetzungszeichen nehmen zu (das Augenmerk wird nun auf den Gekreuzigten gelenkt, nachdem zuvor die Soldaten im Focus waren) 2. Bach nimmt Modulationen vor (d.h. er bleibt nicht im selben harmonischen Zusammenhang, sondern ändert die Grundtonarten). Beispiel: T. 2: A- Moll T. 6: D- Moll T. 8: E- Moll („Mutter“ auf dem Jesus- Ton g´´) T. 12: H- Moll Die Grundtöne dieser Tonarten a-d-e-h bilden den Chiasmus, die Kreuzfigur. 5 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Mit den Tonfiguren des Evangelisten (Tendenz nach unten T. 15) lenkt sich unser Blick zu Maria und anschließend (Tendenz nach oben T. 17+18) zum Jünger, den Jesus lieb hatte. Stockend durch Pausen intoniert der Jesus- Darsteller zweimal das TritonusIntervall d-gis (T. 16+18), das bislang immer für Verachtung und Boshaftigkeit stand („Richthaus“, „Judas“. Hier klingt es nach Fürsorge und Mitleid. Ein genialer Kunstgriff von Bach, der zeigt, wie angewiesen Musik auf Zusammenhänge ist und wie sich erst aus dem Zusammenhang heraus erschließt. Das Rezitativ endet in einem strahlenden A- Dur, das der nachfolgende Choral aufgreift. Es ist die Melodie, die bereits mit dem Choral „Petrus, der nicht denkt zurück“ den ersten Teil der Passion beschlossen hatte. Im Unterschied zum eher nachdenklich gehaltenen Choral „Petrus“ drückt der Choral an dieser Stelle große Zuversicht aus (alle Fermaten am Ende der Choralzeilen sind DurAkkorde!). Es ist der schlichteste Choral der Passion, wir sehen dies am Fehlen von Zwischen- und Füllnoten. Wie Trompetensignale ertönen die Rufe „O Mensch, mache Richtigkeit“ (für mich eine der bedeutsamsten Stellen der gesamten Passion), sie treffen wie Pfeile ins Herz. Besondere Beachtung verdienen die Akkorde bei den Worten in den Takten 12 und 13, der Übergang von „liebe“ zu „stirb“. Bach stellt hier das strahlende EDur neben einen C- Dur- Septakkord und trübt damit die Harmonie an der Stelle ein, wo es um den eigenen Tod geht. Hören (NBA 27c+28/EP 55+56) 9. Rezitativ: „Und von Stund an“ (NBA 29/EP 57) 10. Arie: „Es ist vollbracht“ (NBA 30/EP 58) Mit einem Mal ändern sich die Familienverhältnisse: In das anfängliche A- Dur mischt sich ein C des Tenors („Und von Stund an“) und leitet neue Tonartenverhältnisse ein. Auch hier drückt der abwärts gerichtete Tritonus Zuneigung und Liebe aus (T. 2: g-cis). Allmählich trübt sich die Stimmung: Das D- Dur aus T. 3 wird zu H- Moll (T. 11) und endet auf Fis- Dur. In T. 4 betont Bach stark das Wort „alles“ durch das hohe a´´. Die Worte Jesu „Mich dürstet“ kommen schwach und kraftlos. Die Hilfe, die Jesus durch das scharfe Getränk zuteil kommen soll wird doppelt musikalisch gestützt. Der abwärts gerichtete Tritonus ist hinlänglich bekannt (T. 9 Ende-10: „Isopen“ und T. 12: „Essig“), neu ist 6 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 jedoch, dass Bach an denselben Stellen auch einen Tritonus aufwärts im Continuo bringt: T. 9 auf 10: g-cis und T. 11 auf 12: h-eis. Die letzten Worte Jesu malen eine abwärts gerichtete Bewegung über eine Sext: die so genannte Katabasis, Zeichen für das Sterben und das Ende. Genau diese Figur wird in der nachfolgenden Arie aufgegriffen, die als Duett zwischen Alt und Viola da gamba (= Bassbratsche auf den Knien, heute oft das Cello) gestaltet ist. Die Gambe ergreift in die Stille hinein das Wort. Dies ist ein unglaublicher Effekt, zumal sie mit dem Schlusston des Jesus beginnt: fis. Wir haben es in der Arie mit einer der besonderen Kostbarkeiten in der Passion zu tun. Bach schafft hier einen wunderbar verzierten, sehr edlen Klagegesang im Stil von französischer Hofmusik (z.B. punktierte Rhythmen T. 2; Schreitrhythmus des Continuos). Zu Beginn beobachten wir eine Climax, d.h. einer Figur, die mehrmals auf einer immer höheren Tonstufe einsetzt (T. 1+2). Das Motiv der Gambe textiert dann die Altstimme mit den Worten Jesu „Es ist vollbracht“, immer wieder hören wir es instrumental in der Gambe. Nach einem kleinen Zwischenspiel (T. 10+11) bringt die Stimme einen neuen Textabschnitt: „Die Trauernacht“ (wenn man so möchte: Teil B). Dieses Mal ist die Climax nach unten gerichtet, die Textwiederholung bleibt auf dem langen C liegen. Der Alt übernimmt den punktierten Rhythmus bei dem Satz „lässt nun die letzte Stunde zählen“ und überlässt der Gambe das Nachspiel dieses Teils. Mit T. 20 beginnt etwas Unerhörtes: Tempo, Besetzung, Lautstärke, Taktart und Tonart ändern sich völlig. Wir werfen hier einen kurzen Blick auf Ostern. Wieder im Tempus perfectum und in der Tonart D- Dur malt uns Bach den Sieger Jesus Christus vor Augen. Die italienische Bezeichnung für D ist „re“, das auch übersetzt werden kann mit „König“. Lange, aufsteigende Sechzehntelfiguren im gesamten Orchester und in der Stimme verdeutlichen den Triumphzug des auferstandenen Messias, bevor dann noch einmal verkürzt der Klagegesang anhebt, wenn man so möchte ein Teil A´. Hören (NBA 30/EP 58) PAUSE 7 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 11. Rezitativ: „Und neigte das Haupt“ (NBA 31/EP 59) und 12. Arie mit Chor: „Mein teurer Heiland“ (NBA 32/EP 60) In Fis- Moll endet der Auftrag Jesu nach den Worten „Es ist vollbracht“. In der Regel wird an dieser Stelle in der Aufführung eine kurze Pause eingelegt, oder die Glocken beginnen zu läuten. Die nachfolgende Bass- Arie liefert dem geduldigen Zuhörer nach beinahe zwei Stunden doch noch einmal ein paar Überraschung aus Bachs Kompositionswerkstatt. Das SoloCello konzertiert mit dem Solo- Bass, der in der Bach so eigenen instrumentalen Weise komponiert ist (d.h. die Unterscheidung zwischen der instrumentalen und vokalen Stimme fällt schwer, oder anders formuliert: Bach nimmt mitunter nicht immer Rücksicht auf die Sanglichkeit einer Stimme.). So ist es mit dem Solo- Bass. Er muss große Tonsprünge bewältigen und eine Menge Verzierungen (v.a. auf gänzlich unbetonten Silben) machen. (z. B. „Heiland“ T. 3). Diese instrumentale Heiterkeit spiegelt sich im Dreiermetrum eines Tanzes wieder und passt so gar nicht zu den drei wichtigen Fragen, die der Sänger vorbringt: „Bin ich vom Sterben frei gemacht?“ „Kann ich das Himmelreich ererben?“ „Ist aller Welt Erlösung da?“ Vielleicht erinnern wir uns an die Inszenierung der Arie im Film: Der mönchische Sänger, der ein Selbstgespräch führt und die Hände ringt. Es sind die Fragen, die Martin Luther umgetrieben haben. Wie bekomme ich Erlösung? Die Fragen werden durch das Sterben Jesu beantwortet, er sagt „stillschweigend: Ja“, wie der Sänger bestätigt. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Wort „Erlösung“ (T. 26ff), das eine lange Verzierung erhält und das Wort „Haupt“ (T. 39), bei welchem man eigentlich eine abwärtsgerichtete Bewegung vermuten würde, die jedoch stolz nach oben gerichtet ist. Die Antwort auf die Fragen des Solo- Basses werden aber schon durch den unmerklichen Choreinsatz in T. 4 eingeleitet und vorweggenommen. Die Melodie stimmt mit der Melodie des vorigen Chorals überein (NBA 28/EP 56) und unterlegt die Worte „Jesu, der du warest tot, lebest nun ohn Ende“. Der Auferstehungsgedanke ist also auch hier schon präsent. Nicht allein durch das Sterben, sondern auch durch die Auferweckung Jesu ist ewiges Leben möglich. Hören (NBA 31+32/EP 59+60) 8 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 13. Rezitativ: „Und siehe da“ (NBA 33/EP 61) und 14. Arioso: „Mein Herz“ (NBA 34/EP 62) Einstieg mit Gruppenarbeit: „Wie komponiert Bach den eingefügten Text aus Matthäus?“ T. 1: „Einstiegsquint“: Aufmerksamkeit erregendes Intervall mit schnellen Noten T. 2: „Vorhang“ mit Spitzennote a, der Riss beginnt ganz oben T. 3: „von obenan bis unten aus“: gezackter Septakkord abwärts Lange Rissbewegung im Cello T. 4: „erbebte“: tremolo (= zittern, vormachen) T. 5: große Tonsprünge bei den zerrissenen Felsen und offenen Gräbern T. 6: „und stunden auf“: große Aufwärtsbewegung mit Spitzenton a → einer der dramatischen Höhepunkte im Bericht des Evangelisten Das musikalische Material wird im nachfolgenden Arioso des Tenors weitgehend beibehalten. Dazu kommen lang Haltetöne der Holzbläser (im Klavierauszug in der rechten Hand dargestellt). Dadurch entsteht beim Hörer der Eindruck eines begleiteten Rezitativs (recitativo accompagnato), wie aus der Matthäus- Passion oder einer Oper. Das Tremolo des vorigen Rezitativs wird in den Violinen rhythmisiert und symbolisiert das Beben des eigene Herzens angesichts des „größten Dramas aller Zeiten“ (Kettling/Sayers). Die Vorhangmusik erscheint wieder (T. 5), eine neue Musik untermalt die Spaltung des Felsens (T. 6), die Spaltung der Gräber wird durch die Umkehrung des Vorhangmotivs untermalt. Das Arioso endet mit einer offenen Frage auf dem Spitzenton g, die erst in der nachfolgenden Arie beantwortet wird. Beide Stücke hängen tonartlich zusammen (das Ende C- Dur wird zur Dominanttonart von F- Moll). Bach erinnert mit dieser lautmalerischen Musik an ein Rezitativ aus der „Schöpfung“ von Joseph Haydn, in welchem die Erschaffung aller Tiere in Tönen dargestellt wird (Löwe, Würmer, Kühe, Hirsch…) Hören (NBA 33+34/EP 61+62) 15. Arie: „Zerfließe“ (NBA 35/EP 63) Die Besetzung dieser Sopran- Arie erinnert an die Arie „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“, bei welcher ebenfalls die Flöte dabei war. Hier kommt die Oboe dazu. Die Form der Arie ist eine freie A-B-A´- Form, in welcher die Motive des Weinens, 9 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Klagens und der fallenden Tränen gut hörbar gemacht werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Worte „dem Höchsten“ (T. 33, 35, 113) und der B- Teil, der in Takt 58 beginnt. Hier wird noch nicht gleich vom Sopran die Wahrheit darüber verraten, was mit Jesus passiert ist. Wenn er in T. 67 mit den Worten beginnt: „dein Jesus“, dann fügt Bach Pausen ein, bevor sich der Text wiederholt „dein Jesus ist tot“. Das Wort „tot“ an dieser Stelle aber durch einen Sprung und eine anschließende Fermate für alle Stimmen deutlich betont. An dieser Stelle schweigt alle Musik für einen kurzen Augenblick. Das Wort „tot“ wird im Übrigen durch drei besondere barocke Verzierungsmöglichkeiten hervorgehoben: T. 70: Sprung (s. o.) T. 80: Lautstärkevibrato, also ein Vibrato, das nicht die Tonhöhe, sondern die Intensität des Tones verändert T. 88: Vorhalt (Appoggiatur) Hören (NBA 35/EP 63) 16. Rezitativ: „Die Juden aber“ (NBA 36/EP 64) und 17. Choral: „O hilf, Christe“ (NBA 37/EP 65) Im nachfolgenden, langen Bericht herrscht sachliche Nüchternheit vor. Beachtung verdient der eingeschobene Nebensatz „denn desselbigen Sabbath Tag war sehr groß“, den Bach wieder auf einer tieferen Tonhöhe beginnen lässt. T. 17: „Speer“: dissonanter Akkord mit großem Sprung der Singstimme T. 23: „Denn“: Betonung und Einleitung der nachfolgenden Schriftworte, die wieder als Ariose Teile (Adagio) vom Evangelistenbericht abgehoben sind. T. 29: „gestochen“: „Speerton“ es (s. T. 17) und Tritonussprung es-a Die Melodie des Chorals kommt uns bekannt vor, denn sie eröffnete mit dem Text „Christus, der uns selig macht“ den Akt III („Pilatus“). Allerdings setzt Bach nun die Melodie um einen Ton nach oben. Die Erhöhung Jesu ist geschehen. Veränderung in den Stimmen Alt, Tenor und Bass nimmt Bach kaum vor. Er bildet damit eine Brücke zum Beginn des 3. Aktes, in welchem das Leiden Jesu tatsächlich begann und nun sein Ende gefunden hat. Hören (NBA 36+37/EP 64+65) 10 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Akt IV: „Der Gekreuzigte“ (NBA 25a-37/EP 49-65) Tempus- Arten, Mensurzeichen der Ars Nova (Philippe de Vitry, Paris 1320-1380) 9/8 3/4 tempus perfectum tempus perfectum 6/8 2/4 tempus imperfectum tempus imperfectum heute: alla breve heute: 4/4 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Akt V: „Grablegung“ (NBA 38-40/EP 66-68) 1. Rezitativ: „Darnach bat Pilatum“ (NBA 38/EP 66) Ruhe- das ist die Überschrift über die letzten Teile der Johannes- Passion. Was wurde in den letzten Stunden alles unternommen, um Jesus freizulassen? Welche Bilder haben sich vor unserem inneren Auge aufgetan? Welche inneren und äußeren Kämpfe haben wir evtl. mitgemacht? Jetzt sind diese Kämpfe zu einem Ende gekommen. Bach gliedert die abschließende Erzählung von der Grablegung Jesu durch Joseph von Arimathia, einem heimlichen Jünger, ausgesprochen ruhig und fließend. Dramatik gibt es im Vortrag nun nicht mehr. Auch in den Tonarten sind wir in sicherem „Fahrwasser“ angekommen (es gibt keine Untiefen mehr). Die Tonarten helfen uns, das Rezitativ in drei beinahe gleich große Abschnitte, zu teilen. Teil A (T. 1-8): F- Dur: Die Bitte des Joseph an Pilatus. Beeindruckend die Vertonung, dass Joseph ein „heimlicher Jünger war aus Angst vor den Juden“. Es ist eine der seltenen Stellen, in denen Bach eine Lautstärkeangabe macht, nämlich piano, um diesen eingeschobenen Satz hervorzuheben. In T. 5 werden wir Zeuge der Bewegung, wie der Leichnam abgenommen wird (Septakkord abwärts as-f-d-h). Bedeutsam in diesem Zusammenhang die anschließende Aufwärtsbewegung zum „Jesus- Ton“ g´´. Die Verbindung des Wortes „möchte“ (as) zu „Jesus“ ist unübersehbar. Wir können den Satz auch so formulieren: Joseph möchte Jesus. Die Takte 7-8 fehlen in unserer Aufnahme, weil es sich um eine andere Fassung handelt. Teil B (T. 9-17): C- Moll: Der Blick wird nun auf Nikodemus gelenkt, der ebenfalls ein heimlicher Jünger Jesu war. Die nächtliche Szene zwischen Nikodemus und Jesus (Johannes 3) wird durch zwei besondere Intervalle gekennzeichnet: T. 10 (verminderte Septe abwärts es-fis bei „vormals“) und T. 11 (kleine Septe aufwärts d-c bei „zu Jesu). Der Tritonus g-cis beim Wort „Aloen“ (T. 12) verdeutlicht die ganz besondere Bedeutung dieser Heilpflanze, ebenso wie das hohe a´´ (T. 13) das Wort „hundert“ verdeutlicht (ich nehme an, es bedeutet einfach eine große Menge). „DA nahmen sie den Leichnam Jesu“ endet in T. 14 wieder auf dem „Jesus- Ton“ g´´. 1 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Teil C (T. 17-25): F- Dur: Die Erinnerung an die Kreuzigungsstätte greift noch einmal das schmerzvolle Intervall des Tritonus auf (T.18 auf 19: c-fis) und ruft uns dann das Bild des Gartens in Erinnerung, ein Bild, das wir vom Beginn der Passion bereits kennen. Dort heißt es (NBA 2a/EP 2): „Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron, da war ein Garten, darein ging Jesus und seine Jünger“. Dorothy Sayers spricht vom „perfekten Drama“, es greift solche kleinen Motive auf. Es beginnt für Jesus in einem Garten und endet dort (vorläufig). Die Aufwärtsbewegung der Töne bei der Erwähnung des Gartens ist in beiden Rezitativen gleich. T. 22 und 23 sind eine Climax (eine Wiederholungsfigur), denn Takt 23 hat denselben Rhythmus und dieselbe Melodie auf einer anderen Stufe. Bach betont damit die Begründung von Johannes, warum Jesus gleich begraben werden musste: „um des Rüsttags willen der Juden.“ Das Rezitativ endet in C- Moll, so dass der tonartliche Rahmen des Rezitativs geschlossen ist: F- Dur – C- Moll – F- Dur – C- Moll Hören (NBA 38/EP 66) 2. Chor: „Ruht wohl“ (NBA 39/EP 67) und 3. Choral: „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ (NBA 40/EP 68) Der Schlusschor der Johannes- Passion ist nicht annähernd so komplex wie der Eingangschor „Herr, unser Herrscher“. Sein Aufbau ist stets klar und leicht nachzuvollziehen. Wir haben es hier mit einer Sarabande zu tun, einem alten spanischen Schreittanz (s. Arie „Ach, mein Sinn“, NBA 13/EP 19), deren charakterliches Merkmal die Betonung kurz-lang ist, in diesem Fall auftaktig empfunden („ruht wohl“), die Hervorhebung des Wortes „wohl“ ist unübersehbar. Gehen wir aber der Reihe nach durch das Stück: Hauptteil A T. 1-12: instrumentales Vorspiel, das Ritornell, dessen Anfangsmotiv unzählige Male im Satz vorkommt. T. 12-32: erster Chorteil, beginnend in C- Moll und endend auf G- Dur (der Dominanttonart). Bezeichnend in der Musik (s. Sopran) sind die vielen kleinen Seufzerfiguren, meistens Achtelnoten mit Bindebogen (z.B. T. 13), die so genannten suspiratio. Der Jesus- Ton g taucht viele Male auf (s. Sopran T. 12 ff). 2 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 T. 32-48: zweiter Chorteil, beginnend und endet in der Ausgangstonart C- Moll. Dem Chorbass kommt in den Takten 40 und 42 eine besondere Aufgabe zu, indem er mit seinen hinunterfallenden Achtelketten über eine Oktave die Handlung der Grablegung beschreibt. Hauptteil B T. 48-60: instrumentales Zwischenspiel, Wiederholung des Ritornells vom Anfang. T. 60-72: dritter Chorteil mit neuem Text „Das Grab, so euch bestimmet ist…“ in unbestimmter Tonart. Der Chor setzt auf einem Sekundakkord ein (F- Dur mit e im Bass) und verwischt so die Bestimmung des „Grabes“, von der im Text die Rede ist. Ein Sekundakkord hat die Angewohnheit, aufgelöst werden zu müssen. Das heißt, man kann nicht lange in dieser angespannten Situation bleiben. Bei Bach bleibt man drei Takte lang in diesem schwebenden Zustand, bevor man in T. 64 B- Dur erreicht hat. Drei Takte entsprechen den drei Tagen, in denen Jesus im Grab gelegen hat. Die Aufwärtsbewegung des Soprans deutet die Auferstehung bereits deutlich an. Eine neue Instrumentierung (die Holzbläser werden von Bach aus dem Satz herausgenommen) verleiht dieser Stelle einen mystischen und schwebenden Charakter. Der Teil schließt in As- Dur, dem Gegenklang von C- Moll. Hauptteil A T. 73-96: vierter Chorteil mit instrumentalem Vorspiel (verkürztes Ritornell), beginnend in C- Moll und endend in G- Dur, wieder Hinzunahme der Holzbläser T. 97-112: fünfter Chorteil, beginnend und endend in C- Moll Hauptteil B´ T. 112-124: sechster Chorteil mit dem Text „Das Grab, so euch bestimmet ist“, wiederum in schwebender Tonart, nach drei Takten stellt sich F- Moll, also die Subdominante als Grundtonart heraus. Charakteristisches Merkmal ist neben der erneuten Aussparung der Holzbläser, das Schweigen des Chorbasses. Es entsteht ein kleiner kammermusikalischer Abschnitt zwischen Frauenstimmen und Tenor. Der BachForscher Friedrich Smend hat über das Fehlen des Chor- Basses in anderem 3 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Zusammenhang gesagt, dass Bach damit versucht, die Unschuld darzustellen.1 Besondere Aufgabe kommen den Celli an zwei Stellen vor (T. 116 und 120), in denen sie die Grablegung figürlich darstellen. Durch die Wiederholung des Hauptteils A entsteht die Form eines Chor- Rondos (Rondo: Reihungsform, sozusagen mit einem leicht eingängigen „Refrain“, der sich immer wiederholt). (siehe Abbildungsverzeichnis) Man vermutet, dass der Schlusschoral ursprünglich nicht zur ersten Fassung der Johannes- Passion gehörte. Eigentlich ist sie nach dem Schlusschor beendet. Doch Bach fügte diesen Choral an, um der Leipziger Kirchengemeinde entgegen zu kommen. Auf den ersten Blick hat dieser Choral nämlich gar nichts mit dem Leiden Jesu zu tun. Erst in der letzten Strophe kommt die Sprache auf Jesus, nachdem vorher das Bild vom armen Lazarus bemüht wird. Trotzdem nimmt Bach mit diesem Choral die Auferstehung in seine Passion hinein und wir werden sehen, wenn wir uns mit der Passion v.a. des 20. Jh. beschäftigen, dies ist nicht ganz selbstverständlich. Die flehentlichen Rufe „Herr Jesu Christ, erhöre mich“ verleihen dem Choral seine große Stärke, die übergeht in den Jubel der auferstandenen Gemeinde „dich will ich preisen ewiglich. Bach komponiert hier die Vereinigung von der Gemeinde mit dem König Jesus. Wir haben über die Tonarten gesprochen und verschiedentlich Halt gemacht an den Stellen, an denen sie etwas zu bedeuten hatten. Auch über Zahlensymbolik haben wir uns schon unterhalten. Die drei Bs der Es- Dur- Tonart stehen für den auferstandenen König und entfalten eine warme und helle Pracht. Hören (NBA 39+40/EP 67+68) Rezeptionsgeschichte Über Reaktionen der Leipziger Hörer auf die Johannes- Passion ist uns nichts bekannt. Sie dürfte allerdings nicht ohne Protest geblieben sein, da Bach sonst wohl kaum den Eingangs- sowie den Schlusschor unserer Fassung ein Jahr später durch Choralbearbeitungen ersetzt hat. Bach musste sich nach kirchlichen aber auch nach personellen Gegebenheiten bei seinen Aufführungen richten. Die Solisten waren Schüler 1 nach: Alfred Dürr: Johann- Sebastian Bach, Die Johannespassion, Bärenreiter 1988 4 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 der Tomasschule, die instrumentale Begleitung hing davon ab, wie viele Musiker der Stadt gerade verfügbar waren. Der Chor umfasste für eine normale Aufführung, ebenfalls Schüler der Thomasschule“ etwa 12 Sänger. Mit einem ästhetischen und literarischen Stilwandel nach Bachs Tod 1750 distanzierte man sich deutlich von der blumigen Metaphorik v.a. in den Dichtungen der Passionen. Carl Philipp Emanuel Bach führte noch Teile der Matthäus- Passion zusammen mit eigenen Kompositionen in Hamburg auf, eine längere „Lebensdauer“ war den Chorälen beschieden. Die große Wende vollzog sich erst in Berlin durch Mendelssohns Aufführung der Matthäus- Passion an der Berliner Singakademie 1829. Doch bereits in dieser viel beachteten Aufführung ist zu sehen: das ehemals gottesdienstlich gedachte Werk von Bach erfährt seine Wiederbelebung in einem Konzertsaal (s. FORUM). Über viele Jahrzehnte wurden die Passionen nur als ästhetische Kunstwerke angesehen und demnach auch nach eigenem Willen der Dirigenten und Interpreten gestrichen und abgeändert. Selbst Mendelssohns Aufführung war keine komplette sondern eine abgespeckte. Grundlage war die Angst, die Passionen seinen zu langatmig und zu schwer verständlich. Erst 1912 und 1914 wurden Johannes- und Matthäus- Passionen erstmalig vollständig und ohne Kürzungen musiziert. Bedeutsam ist auch die Frage der Ästhetik. Natürlich sind menschliche Hörgewohnheiten einem gesellschaftlichen und modischen Wandel unterworfen. Mendelssohn hatte über 200 Ausführende bei seinen Aufführungen dabei, die v.a. die Chöre sehr packend und dramatisch gestalteten. Gerne wurden auch die Choräle sehr langsam und gedehnt musiziert, weil sie die besten Erinnerungen bei den Zuhörern wachriefen, sie waren schließlich die bekanntesten Stücke. Auf Applaus wurde zur Zeit Bachs selbstverständlich verzichtet, da es ja eine Aufführung innerhalb einer Karfreitagsvesper war. Auch dies hat sich im Laufe der Jahre verändert. Heute wird immer wieder im Programmheft darum gebeten, auf Applaus zu verzichten, um damit die Anteilnahme am Geschehen der Passion auszudrücken. Anfang der 1980er Jahre setzten die ersten szenischen oder tänzerischen Inszenierungen der Bach- Passionen ein (John Neumaier, Hamburg; Vittorio Biaggi, Palermo 1985 und Bernd Schindowski, Gelsenkirchen 1991) und trugen mit zur Reduzierung der Stücke auf ihren ästhetischen Gehalt als Kunstwerk bei. In Holland werden immer wieder die Passionen unter großem Publikumsandrang in Kirchen aufgeführt, wobei jeder der Anwesenden bei 5 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 einer Art großem Mitmachkonzert an den Stellen singen darf, die ihm liegen. Das ist wohl der stärkste Gegensatz zu denjenigen Künstlern, die sich um einen Originalklang bemühen, wie auch die Künstler unserer CD- Einspielungen. Abschluss: Gesprächsrunde über das Erleben der Johannes- Passion 6 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Akt V: „Grablegung“ (NBA 38-40/EP 66-68) Conclusio: “Ruht wohl”: Aufbau des Chor- Rondos Großform Kleinform Teil A 1-12 Ritornell C- Moll a 12-32 “Ruht wohl” C- Moll G- Dur Teil B a´ 32-48 “Ruht wohl” C- Moll 48-60 Ritornell b 60-72 “Das Grab” As- Dur Teil A 73-76 Ritornell a 76-96 “Ruht wohl” C- Moll G- Dur Teil B´ a´ 97-112 “Ruht wohl” C- Moll b´ 112-124 “Das Grab” Es- Dur Teil A a 12-32 “Ruht wohl” C- Moll G- Dur a´ 32-48 “Ruht wohl” C- Moll 48-60 Ritornell “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Einheit II: Die Entwicklung der musikalischen Passion nach 1750 1. Das 18. Jahrhundert Das 18. Jh. steht im Wesentlichen unter dem Stichwort „Säkularisierung“. Die Absicht hinter der Neukomposition von „Passionsoratorien“, wie sie genannt werden, unterscheidet sich grundsätzlich von der J.S. Bachs. Sie geht einher mit Gedankengut der Aufklärung und möchte nicht mehr primär Verkündigung sein im Sinne der barocken Predigt [s. auch Einheit I: docere – movere – delectare – persuadere (belehren – bewegen – erfreuen – überzeugen)]. Vielmehr glaubt man an eine allgemeine läuternde Wirkung, die von der Erhabenheit und dem Ethos der Kunstwerke auf alle Menschen ausgehen. Das Oratorium wird gleichsam zum Wegweiser aus der allgemeinen Oberflächlichkeit und Sittenlosigkeit. Es motiviert die Komponisten und Dichter also ein sozialer Besserungsaspekt. Manches Mal wird mit dem Eintrittsgeld für die Passionsaufführungen oder dem Verkauf der Texthefte ein Armen- oder Waisenhaus unterstützt. Carl Philipp Emmanuel Bachs eigene so genannte Spinnhaus- Passion (Hamburg 1768) erklang wie der Name sagt im „Spinnhaus“, einem Gefängnis zum Zwecke der Besserung seiner Insassen. Gerade die Hamburger Situation beleuchtet die Entwicklung der Passion exemplarisch. Jedes Jahr wurde im Wechsel an einer der Hauptkirchen eine Passion aufgeführt (immer ein Evangelium nach dem andern). C. Ph. E. Bach verfährt da äußerst kräfteschonend, indem er immer Teile von alten Passionen für eine neue Aufführung übernimmt mit dem Wissen, in den jeweiligen Stadtteilen hören immer andere Leute zu („Passionsrecycling“), er vertont manches Mal nur die Chöre neu, ein anderes Mal nimmt er andere Choräle hinzu oder setzt Passagen aus den Passionen seines Vaters ein. Die Passionsaufführungen werden zur alltäglichen Arbeit eines Kantors und Musikdirektors. In Nebenkirchen oder auch Konzertsälen, die bekanntlich kein so konservatives Publikum führen wie die Hauptkirchen, wird immer wieder auch mutig experimentiert, so z.B. Georg Philipp Telemann, der Amtsvorgänger von C. Ph. E. Bach (Seliges Erwägen, 1722). 1 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Inhaltlich unterliegt die Passionskomposition dabei folgender Wandlung: die empfindsame Schilderung des Leidens Jesu steht weit mehr im Vordergrund als der biblische Passionstext. Dabei geht es nicht um das Leiden des Erlösers, sondern um das Leiden des gütigen, weisen und vorbildlichen Menschenfreundes. Die beliebteste Passionsvertonung des 18. Jh. wird die Passions- Kantate Der Tod Jesu von KarlHeinrich Graun (1755) nach einem Text von Karl Wilhelm Ramler. Religion wird volkstümlich als Kunst verstanden, sie soll bestenfalls zur Andacht anregen und „die Seele bewegen“. Herder sagt darüber: „Es geht um die behutsame Anwendung der Regel des Verstandes in den Sachen des Glaubens und der Gottseligkeit“. Der Mensch als Individuum spielt eine immer wichtige Rolle. Er ist dabei auf sich (das Geschöpf) gerichtet und verliert die Anbindung an Gott (seinen Schöpfer). Musikalisch gesehen geschieht eine deutliche Anlehnung an die Oper, der Stoff wird dramatisch ausgestaltet, auf das Bibelwort wird gänzlich verzichtet. Die Person Jesus kommt überhaupt nicht vor (als Charakter und in wörtlicher Rede), das Geschehen wird aus der Retrospektive des Petrus berichtet. Die ursprüngliche Vorlage des Librettos lieferte der Italiener Pietro Metastasio, der zu vielen Mozart- Opern ebenfalls das Libretto schrieb. Seine Vorlage La passione wird im 18. Jh. überall in Europa unzählige Male vertont. Sogar in Leipzig wird eine Komposition nach dieser Vorlage aufgeführt, und zwar von Bachs Nachfolger im Amt, Johann Gottlob Harrer. Die Passionsgeschichte wird also zunehmend auf ihren dramatischen Gehalt reduziert, auf die Deutung der Worte (wie bei Bach) meistens verzichtet. In dieser Tradition stehen auch die Werke Joseph Haydns, die den Passionsstoff aufgreifen: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz: Sieben Sonaten mit einer Einleitung und am Schluss ein Erdbeben, aus der Tradition der Summa passionis (1787) so wie die Orchesterfinfonie La Passione nach Vorbild von Metastasio (1768). Allgemein beobachtet erleben wir gegen Ende des 18. Jh. und zu Beginn des 19. Jh. einen langsamen Niedergang der kirchenmusikalischen Grundlagen. Wenn Mozart, Beethoven und Schubert Bachsche Werke studieren, dann nur um sich kompositorische Grundlagen anzueignen, eine Pflege des barocken Erbes findet aber zumeist nicht statt. Vielerorts (auch in Leipzig ab 1766!) wird bereits wieder die gesprochene Passion eingeführt, in Magdeburg sogar der Vortrag in verteilten Rollen verboten. In pointierter 2 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Weise drückt das zurückgehende Interesse an Passionskompositionen der Liturgiehistoriker Paul Graff 1939 aus: „Wenn die Passion zur lehrreichen Geschichte wird, ist es in den Augen der Aufklärung unsinnig, diese Belehrungen durch Gesänge zu unterbrechen“. 2. Das 19. Jahrhundert Grund für das Zurückgehen der (meist protestantischen) Kirchenmusik ist unter anderem das Verschwinden der Kantoreien und das gleichzeitig stark wachsende Interesse an bürgerlichen Chorvereinigungen („Berliner Singakademie“, Musikfest Düsseldorf usw.). Deutschsprachige Neuschöpfungen für den Gottesdienst nach dem Vorbild Luther/Walter sind z.B. aus der Kirche St. Maria Magdalena in Karlsbad/Böhmen erhalten (1760 und 1840), ebenso gibt es zwei um 1800 entstandene Passionen im Archiv der franziskanischen Mission in Kalifornien. Auch im spanischen Raum werden einige Passionen für den Gottesdienst komponiert. Beiden Konfessionen eigen ist eine allmähliche Rückbesinnung auf die Geschichte der Passion des 16. Jh. Im katholischen Raum steht hierfür der Begriff „Cäcilianismus“, ausgehend von der Gründung des Allg. Cäcilienvereins in Regensburg (1868), einer Rückbesinnung auf das kirchemusikalische Schaffen von Palestrina, O. di Lasso und des Gregorianischen Chorals (s. Rheinberger, Bruckner). Im evangelischen Raum wendet man sich vermehrt Schütz und Bach zu („Schütz- Renaissance“ in der Mitte des 19. Jh. mit Herausgabe einer Gesamtausgabe). 1829 erfolgt wie bereits besprochen die viel beachtete Wiederaufführung der MatthäusPassion durch F. Mendelssohn in Berlin und 1885 die Aufführung der Matthäus- Passion von H. Schütz und der Veröffentlichung eines berühmten Aufsatzes über das Werk von Heinrich Schütz durch Friedrich Spitta. Allgemein (und nicht zuletzt durch die Mendelssohn- Aufführung der Matthäus- Passion) löst sich die Passionsvertonung vom Gottesdienst und wird zu einem Stück überkonfessioneller Konzertmusik. Dazu gehört nicht zuletzt auch Beethovens PassionsOratorium Christus am Oelberge, das am 05. April 1803 zusammen mit der zweiten Sinfonie und dem Klavierkonzert C- Moll im Theater an der Wien uraufgeführt wird. 3 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 Beethoven selbst empfand die literarische Vorlage des Wiener Singspiel- und Komödiendichter Franz Xaver Huber als „opernmäßig“ und „äußert schlecht“. 3. Das 20. Jahrhundert Zu Beginn des 20. Jh. entstehen schnell zwei wichtige Stücke in der Passionsgeschichte, die in Stil und Kompositionsart eher zurück gewandt sind: 1926: Markus- Passion für Doppelchor a capella von Kurt Thomas (Schüler von Arnold Mendelssohn und spätromantisch). 1932: Choralpassion für 5stimmigen gemischten Chor von Hugo Distler, die wohl nach einem Besuch der Johannes- Passion in Lübeck und dem tiefen Eindruck auf den Komponisten entstanden ist. Er lässt die Solisten (inkl. Evangelisten) unbegleitet einstimmig singen und nimmt dabei die Schütz- Passionen zum direkten Vorbild. Beide Komponisten schreiben anschließend ebenfalls eine Weihnachts- und eine Auferstehungshistorie und bleiben damit in der Schütz- Tradition (s. Notenbeispiel). Nach dem zweiten Weltkrieg entstehen im Zusammenhang mit der Rückbesinnung auf die reformatorischen Wurzeln der Ev. Kirche einerseits und mit der neuerlichen Aufwertung von Ausbildung und Berufsstand der hauptamtlichen Kirchenmusiker andererseits und dem Wirtschaftswunder auf der dritten Seite bedeutende Werke in der Gattung Passionsoratorium. Jedenfalls besinnt man sich auf die Impulse, die zwischen den Kriegen von Thomas und Distler ausgegangen waren (s. o.) und so entstehen in den nächsten 20 Jahren um die 60 neue Werke. Dies ergibt sich aus den Aufzeichnungsberichten der Zeitschrift Musik und Kirche. Die früheste Passion stammt von dem damaligen und langjährigen Dresdner Kreuzkantor Rudolf Mauersberger. Das Hauptwerk und damit auch eines der Hauptwerke der evangelischen Kirchenmusik des 20. Jh. ist der Passionsbericht des Matthäus von Ernst Pepping für Doppelchor (1949). Pepping vertont erstmals wieder einen vollständigen Bibeltext und unterbricht diesen durch die Hinzunahme von Choralstrophen nach dem Vorbild Bachs und unterlegt manche Chorpassagen mit Abschnitten des lateinischen Glaubensbekenntnisses. Ein zentrales Werk des 20. Jh. und gleichzeitig eine nichtliturgische Komposition ist das Oratorium Golgotha des Schweizer Komponisten Frank Martin mit französischem Text 4 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 aus dem Jahr 1948. Martin kürzt auf der einen Seite den Evangeliumsbericht und fügt der Passionsgeschichte andererseits biblische „Vorgeschichten“ an, z.B. der Einzug Jesu in Jerusalem, die Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten im Tempel und das letzte Abendmahl. Eingeschoben sind daneben Texte, die eine etwas völlig Neues in der Gattungsgeschichte bringen, da sie Passagen aus den Schriften des Kirchenvaters Augustinus enthalten (aus Confessiones und aus Augustinus zugeschriebenen Schriften, von denen bereits Schütz Ausschnitte vertont hatte). Als biblische Figuren treten bei Martin nur Jesus, der Hohepriester und Pilatus solistisch hervor. Der Evangelistenbericht wird unterschiedlich von Solostimmen, Stimmpaaren oder auch chorisch vorgetragen. Weitgehend eliminiert sind die Aussagen der Juden (der Eindruck des Holocaust liegt noch nicht weit genug zurück). In der Wahl der kompositorischen Mittel geht Martin sehr sparsam vor. Er schätzt große Farbigkeit des Orchesters und eher verhaltenen Ausdruck. Selten setzt er auf oberflächliche Effekte, sondern beschränkt sich auf einfache akkordische Begleitung im Orchestersatz. Martin wurde 1890 in Genf als Kind eines Pfarrers geboren und besuchte nach eigenen Aussagen als Zwölfjähriger eine Aufführung der Matthäus- Passion von Bach, die ihn tief beeindruckte. Seine ersten Gehversuche als Komponist orientieren sich an der Zwöltonlehre der Neuen Wiener Schule um Arnold Schönberg, er führt jedoch den konsequenten Weg der Selbstständigkeit der Töne nicht im Schönbergschen Sinne weiter, sondern verlässt in seinen Kompositionen nie die sichere tonale Basis. Zu seinen berühmtesten Werken gehört die doppelchörige Messe für Chor a capella. Von Martin existieren interessante Aussagen über das Verhältnis von Komponist zu geistlicher Musik, die auch ein gesellschaftliches Bild zeichnen „Gerade aufgrund des Umstandes, dass eine allgemeine religiöse Übereinstimmung heute nicht mehr existiert, steht der Künstler, der ein religiöses Werk schaffen will, seinerseits vor der Unmöglichkeit, eine Basis für eine wirkliche und generelle Übereinstimmung mit dem Hörer zu finden“, schrieb Martin 1946, zwei Jahre vor der Komposition von Golgotha. Den Anstoß zur Komposition des Werkes gab Martin das Bild von Rembrandt „Die drei Kreuze“. Dabei war Martin sich bewusst, dass es eine Anmaßung bedeutete, „eine Passion zu schreiben, nach denjenigen, die uns J.S. Bach hinterlassen hat. Bach ist gestern heute und immer. Sein Werk war Kirchenmusik, geschrieben für seine Kirche. So drücken seine Passionen vor 5 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 allem die Gefühle der Gläubigen angesichts der Passion aus. Das „Golgotha“, das ich schreiben will, versucht das Geschehen an sich darzustellen, und überlässt es dem Hörer, daraus Schlüsse zu ziehen. Das Oratorium kann wohl in einer Kirche aufgeführt werden, aber es wird keine Kirchenmusik sein.“ Hören: Golgotha Nr. 3 Als herausragende Passionskomposition des 20. Jh. gilt allerdings die Lukas- Passion von Krzysztof Penderecki aus dem Jahr 1966. Sie macht den bislang eher regional bekannten polnischen Komponisten mit einem Schlag weltberühmt. Penderecki gilt als einer der innovativsten und kreativsten Komponisten des 20. Jh. und ist maßgeblich dafür beteiligt, dass viele etablierte „Klassik“- Hörer den Zugang zu moderner E- Musik gefunden haben. Penderecki kann einen beeindruckenden Lebenslauf vorweisen. Zahlreiche seiner Kompositionen gewannen die bedeutendsten internationalen Kompositionspreise, er ist Ehrendoktor ganzer 17 Universitäten auf der ganzen Welt gewesen. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehören Die Psalmen Davids, Threnos, Flourescences und Atmosphère. Es sind alles große Klangemälde. Penderecki experimentiert mit den Grenzen der Instrumente und der menschlichen Stimme. So auch seine Lukas- Passion. Sie war eine Auftragskomposition des Westdeutschen Rundfunks zur 700 Jahr- Feier des Doms in Münster. Penderecki gedachte in seinem Werk daneben aber auch des 1000. Jahrestages der Christianisierung Polens im selben Jahr 1966. „Mein Ziel“, so Penderecki, war die Abkehr von einer statischen Schilderung, von einer reinen Nacherzählung des Evangeliums. Die Passion ist von ihrem Ansatz her ein dynamisches, manchmal sogar grausames Erlebnis.“ Penderecki besetzte die ukasPassion mit einem Knabenchor, drei gemischten Chören, drei Solostimmen, einem Sprecher und einem Sinfonieorchester. Textgrundlage ist der lateinische Text des Lukasevangeliums und lateinische Hymnen und Psalmen der Passionszeit. Das Stück dauert ca. 80 min und besteht aus 24 Teilen. Das musikalische Material besteht im Wesentlichen aus zwei Zwölftontreihen, Penderecki zitiert aber wiederholt Bach, z.B. durch B-A-C-H- Formeln. „Es ist mir egal, wie man die Lukas-Passion bezeichnet, ob nun als traditionell oder avantgardistisch. Für mich ist sie einfach authentisch. Und das muss genügen. Es reicht dabei nicht aus, nur gewisse religiöse Überzeugungen zu haben, und 6 “Bibel und Musik” – Die Johannes- Passion von J. S. Bach, Schwäbisch Gmünd 2007 den Wunsch, ihnen Ausdruck zu verleihen. Ich habe nichts dagegen, wenn meine Musik als Glaubensbekenntnis angesehen wird.“ Hören: Penderecki Weitere Komponisten: 1969: Olivier Messiaen, La transfiguration des Notre- Seigneur Jésus- Christ 1975: Kurt Fiebig, Ein Lamm geht hin, eine Chorpassion 1985: Oskar Gottlieb Blarr, Jesus- Passion (hebräisch und deutsch) 1985: Maurizio Kagel: St. Bach- Passion 1985: Arvo Pärt: Johannes- Passion 7