„Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt“ (Hannah Arendt) Hannah Arendt ............................................................................................................ 1 Intuition....................................................................................................................... 1 Moralphilosophische Prüfung..................................................................................... 2 Weitergehende Prüfung, die der gegenwärtigen Lage geschuldet ist......................... 4 Literatur....................................................................................................................... 7 Hannah Arendt Der Titel meines Vortrags ist ein Zitat von Hannah Arendt. Dieses Zitat bei einem Vortrag zu wählen, der sich mit Flucht und Vertreibung befasst, liegt in der Stadt, die sich Hannah-Arendt-Stadt nennt, sicher sehr nahe. Arendt war selbst eine von den Betroffenen und in der Lage, in der sich heute viele Menschen auf der ganzen Welt befinden. Sie schrieb 1943: „Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen.“ (Arendt 1989, 7) So geht es den Menschen, die heute zu uns kommen, auch. Sie sind keine Dissidenten. „Sie sind ohne eigenes Verschulden in eine Lage gekommen, in der sie auf Hilfe anderer angewiesen sind.“ (Hoesch 2016, 17) Sie wollen nichts anderes als leben und dies unter Bedingungen, unter denen sich würdevoll leben lässt. Intuition Wie gehen nun Philosophen mit dem Thema um? Ich bin gebeten worden, dieses Thema aus der Perspektive der Moralphilosophie zu entfalten. In der Moralphilosophie kennt man die Erkenntnisweise der Intuition. Sie alle würden sicher intuitiv sagen, dass es richtig ist, Hilfsbedürftigen, also denen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind, zu helfen. Das bedarf keiner weiteren Begründung. Es gibt Philosophen, die betonen, dass das ein „allgemein anerkannter moralischer Grundsatz“ sei. (Hoesch 2016, 17) So hoch muss man das gar nicht hängen. Das ist einfach „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt“ (Hannah Arendt) 2 selbstverständlich, dass man helfen muss. Genauso verhält es sich mit folgenden moralischen Pflichten: Dass man Versprechen halten muss, begründet sich aus sich selbst. Ebenso, dass man angerichteten Schaden wiedergutmacht. Und dass man demjenigen gegenüber dankbar sein soll, der mir Gutes getan hat, halten wir ebenfalls intuitiv für richtig. Sie sehen, es gibt Vieles auf dem Gebiet des moralischen Handelns, was uns intuitiv klar ist und als richtig angesehen wird; was also keiner weiteren Begründung bedarf. Philosophiehistorisch lässt sich der Begriff der Intuition weit zurückverfolgen bis hin zu Aristoteles und Descartes. Die Intuition ist für Descartes die einzig sichere Erkenntnisweise. Aber ist sie das wirklich? Können wir uns in unserer intuitiven Erkenntnis nicht doch täuschen? Müssen wir nicht ein wenig kritischer sein und das Ergebnis unserer Intuitionen noch einmal überprüfen? Eine solche Überprüfung nenne ich Intuition 21. Mit der Intuition 2 überprüft man ein intuitives Urteil. Der Unterschied zwischen Intuition 1 und Intuition 2 ist folgender: „Intuitive Prozesse sind typischerweise charakterisiert als schnell, automatisch, mühelos und emotional. Reflektierte Prozesse hingegen sind typischerweise langsamer, stärker kontrolliert, mühevoller und überlegter.” (Rand u.a. 2013, 2) Bei Untersuchungen fand man bei der ersten Intuition oder beim schnellen Denken andere Ergebnisse als bei der zweiten Intuition oder beim langsamen Denken. Das ist Anlass für uns mittels Intuition 2 zu überprüfen, ob man denen, die unter Flucht und Vertreibung leiden, tatsächlich bedingungslos helfen muss, was ja unser Ergebnis von Intuition 1 war. Moralphilosophische Prüfung Wie stellt man eine moralphilosophische Prüfung mittels der Intuition 2 an? Das wird jetzt etwas schwieriger. Unsere Überlegungen beginnen mit der Frage, wem gegenüber wir überhaupt moralische Pflichten haben. Den Angehörigen unserer Familie 1 Diese Benennung Intuition 1 und Intuition 2 erfolgt nach Daniel Kahneman (2012). Er nennt das allerdings „Schnelles Denken“ und „Langsames Denken“. „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt“ (Hannah Arendt) 3 gegenüber? Da wird wohl niemand „Nein“ sagen. Haben wir sie gegenüber den Nachbarn in unserem Haus oder in unserer Straße? Das wird wohl auch jeder bejahen. Zweifel beginnen, wenn wir nach den Menschen in unserem Land fragen und noch viel größere Zweifel haben wir, wenn wir danach fragen, ob wir gegenüber den Menschen aus anderen Ländern moralische Pflichten haben. Haben wir also auch Pflichten gegenüber denjenigen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind und aus anderen Ländern zu uns kommen? Diese Frage wird immer wieder und nicht nur von Moralphilosophen gestellt. Philosophen beziehen sich bei ihrer Argumentation in der Regel auf anerkannt unstrittige Philosophen, um von da aus weiter zu denken. Das machen wohl nicht nur Philosophen, denn wir alle stehen auf den Schultern von Riesen. Mehr als alle anderen Philosophen dient Immanuel Kant als Referenz. Mit der Bezugnahme auf Kant wird es gleich komplizierter, aber ich kann Ihnen das nicht ersparen, wenn wir zu einer begründeten Antwort auf die Frage kommen wollen, ob wir denen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind, helfen müssen. – Nach Kant ist der Mensch zum einen ein Wesen, das sich frei entscheiden kann, so oder anders zu handeln, also zu helfen oder nicht zu helfen. Zum anderen ist der Mensch ein Wesen, das die ganze Menschheit in seiner Person enthält. (Vgl. Metaphysik der Sitten, Ethische Elementarenlehre, § 3) Diese Formulierung stellt uns vor Rätsel. Was bedeutet sie? Kant erläutert das folgendermaßen: Der Mensch hat nicht nur Pflichten gegen andere, sondern auch Pflichten gegen sich selbst. Wenn er diesen Pflichten sowohl gegen sich selbst als auch gegenüber anderen nachkommt, müssen die Handlungen mit der Würde der ganzen Menschheit übereinstimmen. (Vgl. Kant 1924, 155) Wann ist das der Fall? Zunächst einmal die negative Bestimmung. Sie stimmen dann nicht mit der Würde der ganzen Menschheit überein, wenn Menschen sich beispielsweise unterwürfig oder devot, Kant sagt kriecherisch, gegenüber anderen verhalten. Dann verhalten sie sich unwürdig gegen sich selbst. Die Menschen sollen sich aber nicht unwürdig gegen sich selbst verhalten, denn wenn sie das tun, verhalten sie sich auch unwürdig gegenüber der ganzen Menschheit, weil jeder einzelne Mensch selbst Teil dieser ganzen Menschheit ist, also auch der jeweils Handelnde selbst. Die von Kant gemeinte Menschheit umfasst die Menschen qua Menschsein, unabhängig von spezifischen Qualitäten, die „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt“ (Hannah Arendt) 4 jeder Mensch außerdem noch hat, z.B. besser als andere handwerklich zu arbeiten oder besser als andere empirische Forschung betreiben zu können oder eben aus einem ganz bestimmten anderen Land zu kommen. Der Kategorische Imperativ von Kant und damit die moralischen Pflichten sind bezogen auf den Menschen als Menschen, unabhängig von seinen sonstigen Qualitäten. Hegel hat das sehr schön formuliert, wenn er sagt: Alle Menschen sind sich darin gleich, dass sie verschieden sind. Das Sichunterscheiden ist das Sichgleichsetzen mit dem anderen. Diese Unterschiede sind auch und vor allem die kulturellen Unterschiede. Und gerade darin sind sich alle Menschen gleich, dass sie kulturell unterschiedlich sind. Wenn von der Würde der ganzen Menschheit die Rede ist, bedarf der Begriff der Würde im philosophischen Kontext einer Klärung. Die Diskussion darüber, was Menschenwürde ist, ist in der Philosophie eine weit gefächerte. So schwer brauchen wir es uns hier aber gar nicht zu machen, denn Kant meint mit Würdeverletzung ganz einfach die Nichterfüllung einer moralischen Pflicht sich selbst und anderen gegenüber. Gemeint sind beispielsweise die moralischen Pflichten, die ich eingangs genannt habe, also unter anderen die Pflicht, Hilfsbedürftigen zu helfen. Dabei ist der Begriff der Hilfsbedürftigkeit weit zu fassen. Jedenfalls sind diejenigen hilfsbedürftig, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind. Hannah Arendt berichtet davon, dass ihr auf ihrer Flucht diese Hilfe zuteilwurde. Seien es die Angebote von Unterkunft, Bleibe und Verpflegung gewesen, die sie bekam. Seien es Geldzuwendungen, sei es die Arbeitsbeschaffung oder die Unterstützung beim Erlernen der für sie fremden Sprache in den USA. Alle, von denen Arendt berichtet, haben also die Würde, von der Kant spricht, geachtet. Sie achteten in der Person von Hannah Arendt die Würde der ganzen Menschheit. Weitergehende Prüfung, die der gegenwärtigen Lage geschuldet ist Aber es stellen sich für uns heute noch weitere darüber hinausgehende Fragen. Hannah Arendt war eine einzelne Person. Doch wir haben es heute mit vielen, vielen Menschen zu tun, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind und zu uns kommen. „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt“ (Hannah Arendt) 5 Sollten oder manche sagen auch müssen wir da nicht eine Auswahl treffen, weil wir sonst überfordert sind, unsere Aufnahmekapazität aber beschränkt ist? Es gibt darum den Vorschlag, einen sozial oder ökonomisch qualifizierenden Trichter einzuführen, also beispielsweise nur „gut ausgebildete Leistungsträger“ oder „auch junge und gesunde Beschäftigte für den Niedriglohnbereich“ ins Land zu lassen (Thor 2016, 137), wie es jetzt wieder verstärkt von interessierter Seite gefordert wird. Wenn wir diesen Trichter anwenden würden, dann hätten wir ein „sozio-ökonomisch optimierendes Einwanderungsrecht“ (Thor 2016, 137) und würden damit gegen unsere grundlegenden moralischen Pflichten verstoßen, denn – ich sage es hier noch einmal – die von Kant gemeinte Menschheit umfasst die Menschen qua Menschsein. Die Menschheit wird nicht aufgrund bestimmter Qualitäten einzelner Menschen in eine Hierarchie gegliedert. Wir sehen den Menschen als Menschen, und sehen nicht nur denjenigen als Menschen an, der eine für uns nützliche bestimmte Qualität hat. Damit ist aber die Frage nicht aus der Welt, ob eine zu große Aufnahme der durch Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen nicht einen Kollaps unseres Gemeinwesens bedeuten würde. „Befragen wir hier nochmals Kant, so betont dieser, man müsse an einem als ‚wahr‘ erachteten Prinzip auch dann festhalten, wenn es eine faktische Gefährdung impliziere.“ (Thor 2016, 141) Viele fragen sich aber, ob wir nicht unsere ganze Rechtsordnung gefährdeten, wenn wir zu viele Menschen aufnehmen. Hier „ließe sich entgegnen, dass ebendiese (Rechts-)Ordnung bereits als formal gescheitert angesehen werden muss, wenn sie ihre eigenen Grundsätze nur deshalb verwirft, weil deren Umsetzung gefährdet scheint.“ (Thor 2016, 141) Das eben ist es, was uns zu denken geben muss. Wir haben bestimmte moralische und Rechtsgrundsätze, auf die wir uns verlassen können müssen, wenn das Gemeinwesen funktionieren soll. Jeder Mensch kann auch anders handeln als er gerade handelt. Wir haben schon gehört, dass der Mensch das Wesen ist, das frei entscheiden kann, so oder anders zu handeln. Wenn dieses Handeln allerdings nicht den Erwartungen des Gegenübers entsprechen, muss die Handlungskoordination fehlschlagen. Wenn wechselseitige Erwartungen nicht erfüllt werden, muss unser gemeinsames soziales Handeln schief gehen. Wir erwarten von anderen Menschen und ebenso von uns selbst, dass wir die moralischen Pflichten erfüllen. Das bringt Verlässlichkeit in „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt“ (Hannah Arendt) 6 unseren Alltag. Handeln wir aber nicht unseren eigenen Grundsätzen entsprechend, sprechen wir von abweichendem Verhalten. Die moralischen Grundsätze dürfen nicht verworfen werden, wenn dem bestimmte Gegebenheiten oder vermeintliche Gegebenheiten entgegen stehen. Das bringt die Gefahr des Dammbruchs mit sich. Dann sind auch bei schon geringeren und beliebigen Anlässen Ausnahmen zulässig. Und so geht das immer weiter. Dann erscheinen später auch bei geringsten Anlässen, wenn es einem denn gerade passt, Ausnahmen von unseren Grundsätzen gerechtfertigt. Damit wäre unsere Moralordnung gescheitert. Was bleibt noch zu klären? Die Frage, welches Quantum für uns zu viele sind, bleibt offen. Sie kann nur beantwortet werden, indem man sie offen lässt und wir die Menschen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind, bei uns aufnehmen und ihnen helfen. Ob unser Gemeinwesen überlastet ist, lässt sich nicht im Voraus bestimmen, sondern es stellt sich immer erst ex post heraus. „Die politisch gebotene Flüchtlingsaufnahme kann nicht vorab begrenzt werden.“ (Thor 2016, 147) Sie ist ein „work in progress“. Das mag man bedauern, aber es ist ein Faktum und außerdem – wie ich gezeigt habe – moralisch geboten. Und ferner sei daran erinnert, dass wir nach dem Krieg 12 Millionen Vertriebene aufgenommen haben und das in einem kriegszerstörten Land, in dem die Möglichkeiten der Aufnahme im Gegensatz zu heute äußerst begrenzt waren. (Vgl. Pfannkuche 2016, 20) „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt“ (Hannah Arendt) 7 Literatur Arendt, Hannah: Zur Zeit. Politische Essays, München 1889 Hoesch, Matthias: Allgemeine Hilfspflicht, territoriale Gerechtigkeit und Wiedergutmachung: Drei Kriterien für eine faire Verteilung von Flüchtlingen – und wann sie irrelevant werden, in: Thomas Grundmann und Achim Stephan (Hg.): „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ Philosophische Essays, Stuttgart 2016, S. 15-29. Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012 Kant, Immanuel: Eine Vorlesung Kants über Ethik. Im Auftrage der Kantgesellschaft herausgegeben von Paul Menzer, Berlin 1924 Pfannkuche, Walter: Verfolgung, Hunger, Krieg. Die Pflicht zur Hilfe für Menschen in Not, in: Information Philosophie, 44. Jg. (2/2016), S. 20-31. Rand, David G./Peysakhovich, Alexander/Kraft-Todd, Gordon T./ Newman, George E./ Wurzbacher, Owen/ Nowak, Martin A./ Greene, Joshua D.: Social heuristics shape intuitive cooperation, in: Nature Communications (2014) 5:3677. http://ssrn.com/abstract=2222683, letzter Zugriff: 25. Juni 2016. Thor, Patrick: Wir. Ein gemeinsames Wesen, in: Thomas Grundmann und Achim Stephan (Hg.): „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ Philosophische Essays, Stuttgart 2016, S. 133-149.