AWO Seniorenzentrum Wolfratshausen Konzept zur Betreuung, Begleitung und Pflege von demenziell erkrankten Menschen Stand 01.03.16 1 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2. Zielsetzung 3. Rahmenbedingungen 3.1. Zielgruppe 3.2. Aufnahmekriterien 3.3. Personal 3.3.1. Dienstzeiten 3.3.2. Anforderungsprofil 3.3.3. Sozialdienst 3.3.4. Multiprofessionelles Team 3.4. Bauliche Rahmenbedingungen 3.5. Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung 4. Schwerpunkte 4.1. Therapeutische Methoden 4.2. Maßnahmen zur Betreuung, Begleitung und Struktur im Alltag 4.2.1. Das 4 Säulen Modell 4.2.1.1. Bewegung 4.2.1.2. Alltag 4.2.1.3. Licht & Farbe 4.2.1.4. Ethische Entscheidungskultur 4.3. Pflege und Betreuung 4.4. Angehörige 4.5. Kooperation mit Ärzten 4.6. Kooperation mit Hochschulen und Fachhochschulen 4.7. Kooperation mit Hospizvereinen und dem SAPV Team 2 1. Einleitung Die Zahl der an Demenz erkrankten Menschen in Deutschland wird sich von derzeit rund 1.4 Millionen auf mehr als 2.3 Millionen im Jahr 2030 erhöhen Nachdem sich die Wahrscheinlichkeit im Alter an Demenz zu erkranken signifikant erhöht, wird sich die Nachfrage und der Bedarf an stationären Einrichtungen für diese Zielgruppe beträchtlich erhöhen. Gefordert ist eine qualitativ hochwertige Betreuung und Versorgung altgewordener Menschen, die ein Altern in Würde ermöglicht. Zudem gilt es, den besonderen Bedürfnissen junger Menschen mit Demenz und Betroffenen mit Migrationshintergrund gerecht zu werden. Somit entstehen neue Herausforderungen bezüglich des Lebensumfeldes in Bezug auf Alter und kultureller Vielfalt. Dieses Konzept dient als Grundlage für die individuelle Betreuung, Begleitung und Pflege von demenziell erkrankten Menschen. Die professionelle Versorgung basiert stets auf dem anerkannten und aktuellen Stand der Wissenschaft. Das gesamte Haus wird geschlossen geführt, wobei Ausgangsbereiche mit Hilfe durchdachter Licht- und Farbgestaltung nicht im Fokus der Wahrnehmung stehen. Zur Einrichtungskultur gehören neben der besonderen Offenheit gegenüber den Gewohnheiten unserer Bewohnerinnen und Bewohner auch größtmögliche Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, Freiheit und Normalität im Alltag. Angeboten werden Kurzzeit-, Verhinderung-, Tages-, Nacht- und Wochenendpflege. Ergänzt wird unser Angebot durch das Beratungszentrum Demenz, welches ein offenes Informationsangebot für Angehörige und Interessierte darstellt. 2. Zielsetzung Demenziell erkrankte Menschen sehen die Welt mit ihren eigenen Augen und können sich aufgrund ihrer Erkrankung nur begrenzt den jeweiligen Situationen anpassen. Das individuelle Wohlfühlen der Menschen und eine Atmosphäre, die von Vertrauen und Sicherheit geprägt ist, sind die Voraussetzung für die Versorgung. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen steht im Zentrum unserer Bemühungen. Wir orientieren uns an seinen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen. Störungen, Veränderungen und Meinungen des demenziell erkranken Menschen werden respektiert und toleriert. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter handeln aus ihrem Fachwissen heraus professionell und kompetent. Wir sind bemüht, den Menschen ein Maximum an Lebensqualität, Normalität und Freiheit zu gewähren. 3. Rahmenbedingungen 3.1 Zielgruppe Die Zielgruppe sind demenziell veränderte Menschen mit mittlerer bis schwerer Demenz, die bei der Aufnahme nicht bettlägerig sind. Die demenziellen Erkrankungen beinhalten die Störung des Gedächtnisses, das Nachlassen der geistigen Leistungsfähigkeit mit gleichzeitiger Zunahme der emotionalen Fähigkeiten und 3 Empfindungen, Beeinträchtigungen in der Alltagsbewältigung sowie Defizite in der Sprache, der Kommunikationsfähigkeit, im Handeln und in der Orientierung. Eine Einschränkung des Gesichtsfeldes und das Fehleinschätzen von Entfernungen wie auch optische Täuschungen erhöhen das Sturzrisiko. Insgesamt können sich Veränderungen in der gesamten Wahrnehmung, des Empfindens und der Stimmungslage ergeben. 3.2 Aufnahmekriterien In den Seniorenzentren des AWO Bezirksverbands Oberbayern e.V. werden die Bewohnerinnen und Bewohner durch Angehörige, Betreuer, Haus- und Fachärzte, Beratungsstellen und die Sozialdienste der Krankenhäuser vermittelt. Nicht in allen Fällen liegt ein fachärztliches Gutachten vor. Um eine adäquate bedarfsgerechte Versorgung zum Wohle der Bewohnerinnen und Bewohner zu gewährleisten ist es von Vorteil, wenn gerade die Eingangsdiagnose nur durch den Facharzt gestellt wird. Grundlage bildet die Diagnose nach dem ICD 10 Standard. Soweit möglich wird die Diagnose durch Testergebnisse wie Barthel-Index, MMST oder Demtect u.ä. vervollständigt. Aufgenommen werden Personen mit Demenz vom Alzheimer Typ sowie weitere demenzielle Erkrankungen nach: ICD Gruppe F00.0 bis F00.9, ggf. die entsprechende G-Gruppierung. Demenzen von F02 und F03 bedürfen der genauen Abklärung und differenzierter Einschätzung im Einzelfall. Dies ist auch bei den Demenzen mit Lewy Körper Erkrankung zu beachten. MMST unter 18 Punkten. Verhaltensauffälligkeiten nach der Cohen-Mansfield-Skala (soweit vorhanden). Hausbesuche und „Schnuppertage“ vor dem Einzug sind eine Möglichkeit, bereits im Vorfeld einschätzen zu können, ob unsere Einrichtung der passenden Wohnform entspricht. 3.3 Personal 3.3.1 Dienstzeiten Die Dienstzeiten orientieren sich an den besonderen Bedürfnissen, der veränderten Wahrnehmung in Bezug auf das Lebensumfeld und den Alltag sowie den Erfordernissen der Zielgruppe. Aufgrund eines erhöhten Bewegungsdranges benötigen einige Menschen mit Demenz ein Mehr an Betreuung in den Nachtstunden. Es ist erforderlich, neben dem Alltag auch in den Morgen- und Abendstunden strukturierte Betreuungsmaßnahmen anzubieten. Die personellen Ressourcen müssen dieser Anforderung stets angepasst werden. 4 3.3.2 Anforderungsprofil Kenntnisse über die Bewohnerinnen und Bewohner und deren Verhalten, ermöglichen es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf Verhaltensweisen einzugehen, adäquat zu reagieren und Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Pflege in der Gerontopsychiatrie ist immer individuelle Beziehungspflege und fordert besondere Fähigkeiten des gesamten Personals. Persönliche Anforderungen dabei sind: Freiwilligkeit Bereitschaft, sich auf das Klientel einzulassen Bereitschaft, das eigene Verhalten zu reflektieren Bereitschaft, Nähe zuzulassen Flexibilität Kreativität Kommunikationsfähigkeit Geduld Höflichkeit Fähigkeit zur Empathie 3.3.3 Sozialdienst Der Sozialdienst agiert als eigenes Fachteam für den Bereich soziale Betreuung. Er bietet spezielle Gruppenangebote und Einzelbetreuungen an, greift deeskalierend in Krisensituationen ein und steht Angehörigen bei Fragen oder Problemen zur Verfügung. Im Rahmen des Pflege- und Betreuungsprozesses erstellt er eine Pflegeplanung in Absprache mit der Bezugspflegefachkraft. Der Sozialdienst ist im Wesentlichen für die Umsetzung des 3 Säulen Modells verantwortlich. Hierbei gilt es, die 3 Bereiche Bewegung, Alltag und Licht & Farbe zielführend und nahe an den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner im Heimalltag zu integrieren. 3.3.4 Multiprofessionelles Team Für die Befriedigung der Bedürfnisse und individuellen Bedarfe der Bewohnerinnen und Bewohner bedarf es eines multiprofessionellen Teams bestehend aus: • • • • • • • • • • • einer Leitung des Wohnbereiches mit entsprechender Leitungsqualifikation und gerontopsychiatrischer Fachkompetenz Pflegefachkräfte mit gerontopsychiatrischer Weiterbildung Altenpflegerinnen und Altenpfleger, Gesundheits- und Krankenpfleger Heilerziehungspflegerinnen und –pfleger Dipl. Sozialpädagogen (FH), bzw. Bachelor oder Master Pflegehilfskräfte Hauswirtschaftspersonal Hauswirtschaftliche Servicekräfte Hausmeister Betreuungsassistentinnen und Betreuungsassistenten Ethikberaterin im Gesundheitswesen 5 Weiterhin werden Praktikumsplätze angeboten für die Bereiche: • Gerontopsychiatrische Weiterbildung • Fachhochschulstudenten für Sozialpädagogik • Betreuungsassistentinnen und -assistenten • Ausbildungsplätze zur Altenpflegerin und zum Altenpfleger • Validationsausbildung • etc. Um eine qualitativ hochwertige Betreuung sicherstellen zu können, bedarf es regelmäßiger Fort- und Weiterbildung des Personals. Eine Demenzerkrankung, einhergehend mit den kognitiven Veränderungen und den vielfältigen Verhaltensauffälligkeiten, erfordert ein hohes fachliches Wissen und die Umsetzung dieser Kenntnisse in pflegerisch-therapeutisches Handeln. Für eine qualitativ hochwertige Versorgung demenziell erkrankter Menschen benötigt das Personal in einer gerontopsychiatrischen Einrichtung: • Fachwissen über häufige gerontopsychiatrische Krankheitsbilder. • Emotionales Verständnis für das Wesen der Demenzerkrankung. • Kenntnisse zu verschiedenen Behandlungskonzepten und deren Umsetzungsmöglichkeiten in der Pflege- und Betreuungssituation. • Praxisbegleitung und Supervision. • Eine Grundbereitschaft, sich kontinuierlich fort- und weiter zu bilden. • Das Fortbildungskonzept orientiert sich an diesen Anforderungen. 3.4 Baulich Rahmenbedingungen Zwischenmenschliche Kontakte haben einen starken Einfluss auf das Verhalten demenziell erkrankter Menschen. Weglaufen, Schreien, Aggression, Angst und Wahn treten dann verstärkt auf, wenn sich der Mensch alleine fühlt. Die Schaffung von Begegnungsräumen fördert soziale Kontakte, befriedigt das Bedürfnis nach sozialer Nähe und schafft eine Atmosphäre des Wohlbefindens. Die Möblierung sollte „heimelig“ sein. Durch Sofas, Schränke und Vitrinen kann dies erreicht werden. Eine in den Aufenthaltsbereich integrierte Wohnküche, verschiedene Sitzinseln, ebenso ein Gruppenarbeitsraum vermeiden Stress, Langeweile und Desorientierung. Demenziell erkrankte Menschen reagieren mit Unruhe, Angst und Verzweiflung, wenn sie das eingesperrt Sein realisieren. Vor diesem Hintergrund wurden räumliche Strukturen geschaffen, die die Wahrnehmung vor dem geschlossenen Charakter des Hauses ablenken. Umherwandern ist eine typische Verhaltensweise für Menschen mit Demenz. Wandermöglichkeiten sollen ein Verirren vermeiden und dem demenziell erkrankten Menschen ein ungefährdetes selbständiges Bewegen erlauben. Dies wird durch unser nach innen „offenes“ Haus mit dem direkten barrierefreien Zugang zum wunderschönen großen Garen ermöglicht. 6 Der Garten ist besonders sinnesanregend und erlebnisorientiert gestaltet. Wasser, Wasserspiele, Brunnen, Tiere, Windspiele, Klangstraßen und Sitzinseln laden zum Verweilen ein. Ebenso erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner die Möglichkeit zur eigenen Gestaltung, wie etwa die Tierversorgung, das Säen, Pflanzen und Gießen. Der Fluss des Lebens symbolisiert den Kreislauf des Lebens, erinnert an verstorbene Bewohnerinnen und Bewohner und zeigt auf, dass niemand vergessen wird. 3.5 Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung Die hier beschriebenen Qualitätsmerkmale beziehen sich auf die besonderen Anforderungen, die sich aus der gerontopsychiatrischen Betreuung ergeben. Im Übrigen gelten die allgemeingültigen Qualitätskriterien des AWO Bezirksverbands Oberbayern e.V. 4. Schwerpunkte 4.1 Kommunikations- und Betreuungsmethoden Gefühle von Verlassenheit oder des nicht ausreichend eingebunden Seins können für Demenzkranke existentielle Bedrohungen darstellen. Das Zusammensein mit anderen Bewohnern, besonders aber die Nähe zu ihrer Bezugspflegeperson, geben Sicherheit und Geborgenheit. Ein positives soziales Umfeld, das sich an den individuellen Bedürfnissen der Bewohnerin / des Bewohners orientiert, ist die Grundvoraussetzung für ein angstfreies Leben. Im Umgang mit Demenzkranken muss die Ursache für eventuelles Problemverhalten untersucht und nach Gründen für die Entstehung gesucht werden. Über- bzw. Unterstimulierung muss vermieden werden. Pflegende benötigen methodisches Wissen, um im täglichen Umgang mit Menschen mit einer Demenz angemessen handeln und reagieren zu können. Therapeutische Methoden wie die Validation, das psychobiographische Pflegemodell und die personenzentrierte Pflege spielen dabei die wichtigste Rolle. Integrative Validation nach Nicole Richard: Validation ist eine Methode, um mit desorientierten, sehr alten Menschen zu kommunizieren. Diese Technik hilft Stress abzubauen und ermöglicht diesem Personenkreis Würde und Glück wiederzuerlangen, bzw. beizubehalten. Validation beruht auf einem empathischen Ansatz und einer ganzheitlichen Erfassung des Individuums. In dem man in die „Schuhe des anderen schlüpft“ und mit seinen Augen sieht, kann man in die Welt des desorientierten Menschen vordringen und Gründe für bestimmte Verhaltensweisen besser verstehen und somit auch besser reagieren. Integrative Validation bestätigt und benennt die Gefühle und Antriebe des Menschen, erklärt sie für gültig und richtungsweisend. Somit fühlt sich der Mensch mit Demenz verstanden, ernst genommen und findet sich in seiner Identität wieder. 7 Personenzentrierter Ansatz nach Tom Kitwood: In Pflege und Sozialdienst werden Kommunikationskonzepte angewendet, die ihren Fokus auf dem Erhalt der Identität und einem respektvollem Umgang legen. Kitwood misst dem „Personsein“ des Menschen eine besondere Bedeutung zu. Dies definiert er wie folgt: „Personsein ist ein Status, der dem einzelnen Menschen im Kontext von Beziehung und sozialem Sein von anderen verliehen wird. Er impliziert Anerkennung, Respekt und Vertrauen.“ Ein weiterer Ansatz ist die Einsicht, dass die gesamten Verhaltensweisen des an Demenz erkrankten Menschen einem tieferen Sinn zugrunde liegen. Somit darf jenes Handeln weder verurteilt, noch unterbunden oder ignoriert werden. Daraus ergeben sich „Türen - öffnende“ Handlungsempfehlungen: Akzeptiere den Menschen so wie er ist. Lasse den Menschen seinen eigenen Willen behaupten und seine Gefühle ausdrücken. Biete dem Menschen Nähe und Wertschätzung. Gib ihm die Möglichkeit, Selbstachtung zu erleben. Fördere seine sozialen Kontakte. Biete dem Menschen die Möglichkeit, vertrauten Beschäftigungen nachzugehen und sein Leben so normal wie möglich zu gestalten. Stimuliere seine Sinne und lass ihn genießen und entspannen. Arbeite mit Humor. Schaffe eine sichere und fördernde Umgebung. Psychobiographisches Pflegemodell nach Erwin Böhm: Böhm prägte den Begriff des Normalitätsprinzips. Aufgrund von Sozialisation, Erfahrungen und der eigenen Lebensgeschichte haben wir uns für einen sehr persönlichen Lebensstil entschieden. Daraus ergeben sich unser normales Handeln und Verhalten, unsere Ernährung, Kleidung, unsere sozialen Kontakte und unsere Wünsche nach Beschäftigung. Das Normalitätsprinzip nach Böhm nimmt an, dass Menschen mit einer Demenz verstärkt auf die Normen und Handlungsweisen aus der früheren Lebenszeit zurückgreifen. Böhm geht in seinem Modell davon aus, dass Körper, Seele, Geist, soziales Umfeld und persönliche Geschichte in einem ständigen Zusammenhang stehen; sie bedingen einander und wirken aufeinander ein, auch in der Demenz. Somit ergibt sich für uns die Erklärung, in der Begleitung unserer Bewohnerinnen und Bewohner immer wieder aufs Neue flexibel auf die Bedürfnisse einzugehen und eigene Konzepte immer wieder neu zu hinterfragen. Von besonderer Bedeutung sind nach Böhm die 7 Stufen, den Menschen mit Demenz zu erreichen: 8 Die Sozialisation zu berücksichtigen, den Mutterwitz (sprechen, wie einem der „Schnabel gewachsen“ ist) anzuwenden, seelische und soziale Grundbedürfnisse aus der Biographie heraus zu befriedigen, Prägungen und Rituale einzuhalten, Triebe zu fördern (wie etwas der Wunsch nach sinnhaften Tun), Intuition nutzen und letztlich in die Urkommunikation treten (Erreichbarkeit nur noch über die Sinne). 4.2 Maßnahmen zur Betreuung, Begleitung und Struktur im Alltag 4.2.1 Das 4 Säulen Modell: Bewegung, Alltag, Licht & Farbe, ethische Entscheidungskultur Das 4 Säulen Modell basiert auf dem Grundgedanken, den Menschen mit Demenz in seinem Tun und in seiner Person anzuerkennen, wertzuschätzen und ihm Vertrauen in Bezug auf den tieferen Sinn seines Handelns zu schenken. Selbstbestimmung und Normalität in Form von sinnstiftenden Tun oder gewähltem Nicht – Tun unter Berücksichtigung der biographischen Daten ermöglichen dabei die bedürfnisorientierte und individuelle Betreuung und Begleitung unserer Bewohnerinnen und Bewohner. Eine Tagesgestaltung, die die besondere Situation demenziell erkrankter Menschen unterstützt, wirkt sich fördernd auf die Lebensqualität der Betroffenen aus. Wichtig ist hierbei, dass die Bewohnerinnen und Bewohner keine Über- oder Unterstimulation erfahren. Stress und Überforderung müssen vermieden werden. Reizquellen, die demenziell erkrankte Menschen häufig überfordern, sind z.B. Radio, Fernsehen, Telefonläuten, lautes Sprechen oder Rufen. Klare, sich wiederholende Abläufe in Bezug auf Zeit, Ort, Personen und Inhalte geben Sicherheit und Stabilität. Neben der Kontinuität im Alltagsleben finden Angebote der besonderen Dementenbetreuung während des ganzen Tages statt. Für individuelle Gewohnheiten wie z.B. für Früh- und Spätaufsteher oder nachtaktive Menschen gibt es spezielle Betreuungsangebote. Es ist erforderlich, den Betroffenen auch in den späten Abendstunden strukturierte Betreuungsangebote anzubieten. Eine Abendgestaltung mit der Möglichkeit zu essen und zu trinken sowie eine individuelle Betreuung unterstützen eine beruhigende Atmosphäre. Dies wirkt sich entspannend auf die Bewohnerinnen und Bewohner aus. Die Angebote orientieren sich am augenblicklichen Leistungsvermögen der Betroffenen und erfüllen das Bedürfnis nach Entspannung, Spaß und Freude. Ziel dieses flexibel anzuwendenden dynamischen Konzeptes ist es, die Angebote des Sozialdienstes stets der Bedürfnislage der Zielgruppe anzupassen. Dieser situationsorientierte Ansatz verlangt von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hohe Flexibilität und Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf die Wünsche und Bedürfnisse. Es gilt diese zu erkennen, aufzugreifen und gemeinsam im Alltag um zu setzten. Unser Wunsch ist es, mit nicht-medikamentösen Maßnahmen Lebensqualität zu steigern, den Alltag zu strukturieren, mit bewussten Maßnahmen Eskalation in Form von herausforderndem Verhalten vorzubeugen, Sicherheit zu gewährleisten und Wohlbefinden zu ermöglichen. 9 4.2.1.1 Bewegung Bewegung und körperliche Anstrengung sind Grundvoraussetzung für physisches und psychisches Wohlbefinden. Sie führen nachweislich zu einer Ausschüttung von Endorphinen. Diese Glückshormone reduzieren Stress und Ängste nicht nur bei gesunden Menschen, sie wirken sich auch bei demenziell erkrankten Menschen positiv auf die Stimmungslage aus. Dabei wird nach dem Prinzip der Motogeragogik vorgegangen, das den Menschen ganzheitlich in seiner Persönlichkeitsentwicklung und Persönlichkeitsförderung stabilisiert und unterstützt. Dies muss gerade bei Menschen mit Demenz, die einen Teil ihrer Lebensgeschichte nicht mehr nach Wunsch abrufen können, ein besonderes Augenmerk im Bereich der sozialen Betreuung sein. Ziel ist es deshalb, den Menschen nach seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen physische und mentale Beweglichkeit zu ermöglichen und diese zu fördern. Ganz natürlich wirken sich regelmäßige Bewegung, Sonnenlicht und verbesserte Sauerstoffzufuhr sehr positiv auf den Tag-Nacht-Rhythmus aus. Daraus resultieren ein gesunder Nachtschlaf und gleichzeitig die Agilität am Tage, um am sozialen Leben teilhaben zu können. Neben dem essentiellen Bedürfnis nach Struktur und geregeltem Tagesablauf nehmen wir im Rahmen der sogenannten Hinlauftendenz auch den Wunsch nach mehr Bewegungsfreiheit außerhalb der Einrichtung wahr. Einer Hinlaufgefährdung wird somit präventiv entgegengewirkt. Eine kontinuierliche und gezielte Bewegung erhält die Funktionstüchtigkeit des Bewegungs- und Haltungsapparates und dient somit auch der Sturzprophylaxe. Indirekt erhalten die Maßnahmen auf diese Weise auch die Freiheit und Mobilität, die gerade für Menschen mit Demenz aufgrund ihres „Wanderdranges“ eine besondere Rolle spielen. Folgende Maßnahmen finden im Hause Anwendung: Kraft - und Balance – Training Gezielte Sturzprävention: Da unser Körper nach dem einfachen Prinzip funktioniert, dass nur die Partien und Funktionen aufrecht erhalten bleiben, die auch trainiert werden, trainieren wir ganz gezielt alle Bereiche des Körpers, die sich auf Muskelkraft sowie Stand- und Gangsicherheit beziehen. Walken Das Walken bietet sich gerade für jene an, die sich im „Wanderstadium“ der Demenz befinden und einen großen Laufdrang verspüren. Aufgrund der oft guten körperlichen Verfassung ist dies ein Angebot, das auch für Menschen mit Demenz mit frühem Beginn sehr gut geeignet ist. 10 Spaziergänge Unser großzügig angelegter Garten, der speziell für Menschen mit gerontopsychiatrischen Ansprüchen gestaltet wurde, lädt zu Spaziergängen der besonderen Art ein. Neben dem großen Tiergehege mit zahlreichen heimischen Tieren, dem sinnlichen Erleben von Kräutern, Blumen, Streuobst uvm. bietet unser Garten viel Platz zum Laufen, Wandeln oder Arbeiten. Stadtbummel Regelmäßig findet in Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Helfern ein Stadtbummel in die Altstadt Wolfratshausens statt. Je nach Wunsch kann dies ein Kirchenbesuch, ein Bummel im Schuhgeschäft oder ein Weißwurstfrühstück im alteingesessenen Gasthof sein. Hierbei zählen neben der Bewegung das gemeinschaftliche Erleben und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Tanzmatinee Einmal im Monat findet eine Tanzmatinee statt. Bei Livemusik, einem Gläschen Sekt und ehrenamtlichen Helferinnen erleben unsere Bewohnerinnen und Bewohner Gemeinschaft, Nähe, Freude und Bewegung. Tägliche motogeragogische Angebote Die klassischen methodischen Angebote wie Sitztanz, Tischball, Volkstänze u.ä. in Verbindung mit biografischer Orientierung und Gesprächsanteilen, visuellen, akustischen, taktilen, olfaktorischen und gustatorischen Anregungen im Sinne einer ganzheitlichen Aktivierung finden täglich in den Wohnbereichen statt. Hier ist es auch möglich, bewegungseingeschränkte Personen mit einzubeziehen, die an aktiveren Angeboten nicht mehr teilnehmen können. 4.2.1.2 Alltag In starker Anlehnung an die Konzepte von Kitwood und Böhm möchten wir unseren Bewohnerinnen und Bewohnern einen selbstbestimmten Tagesablauf ermöglichen. Betreuungs- und Beschäftigungsangebote orientieren sich dabei an Gewohnheiten, Ritualen, Hobbys und Bedürfnissen der Zielgruppe. Normalität in Bezug auf die Angebote steht dabei im Vordergrund. Neben ritualisierten Angeboten wie etwa der betreuten Frühstücksrunde, die einen strukturierten und geselligen Start in den Tag ermöglicht, finden weitere Angebote, wie etwa der Singkreis oder kreatives Gestalten in Gruppen statt. Diese können nur von einem begrenzten Anteil wahrgenommen werden, da eine eingeschränkte Wahrnehmung, vermindertes Hör- oder Sehvermögen sowie Defizite in Kommunikation und geistiger Leistungsfähigkeit viele Menschen aus Gruppenangeboten ausschließt. Ein Teil der Gruppenangebote findet terminiert statt. Dies entspricht auch den bisherigen Gewohnheiten des Menschen, bestimmte Termine regelmäßig wahrzunehmen. 11 Der wesentliche Gedanke unseres 3 Säulen Modells ist jedoch, den Menschen „dort abzuholen, wo er gerade steht“. Genauso wie dem Wunsch nach Rückzug muss dem Wunsch nach sinnstiftender Beschäftigung nachgegangen werden. Diese Wünsche kommen vom Bewohner und dürfen nicht vom Personal vorgegeben werden, müssen aber erkannt werden. Die Angebote des Sozialdienstes bestehen deshalb zum großen Teil aus Einzel- und Kleingruppenangeboten, die stark auf die Bewältigung des Alltags ausgerichtet sind. Vom Putzen der Schuhe über das Schneeräumen der Gartenwege oder das Zubereiten eines Obstsalates kann dies alle Bereiche des sozialen Lebens betreffen. Unterschieden werden müssen hierbei der Grad der Erkrankung, das Alter der Betroffenen und die kulturelle Herkunft. Die ganzheitliche Betreuung, die stets bemüht ist, den Menschen über alle Sinne zu erreichen, beschränkt sich im Stadium der Immobilität auf aroma- und musiktherapeutische Angebote, auf Snoezelen und besonders auf die körperliche Anwesenheit und Nähe. Besonders zu berücksichtigen ist auch die Zielgruppe der präsenilen Alzheimer Demenz. Angebote sowie Lebensumfeld gilt es auf das Alter auszurichten und besondere Bedürfnisse zu erkennen. Musik, Kleidung, Ernährung, Hobbys und Sprache unterscheiden sich in Stil und Priorität von betagteren Bewohnerinnen und Bewohnern. Familiärer Hintergrund, Sexualität und Libido müssen in einem dem Alter entsprechendem Kontext berücksichtigt werden. Das gleiche gilt für Menschen mit Migrationshintergrund. Hier spielt weniger das Alter als vielmehr unterschiedliche Gewohnheiten und Rituale und unter Umständen auch die Sprachbarriere eine große Rolle. Unser Wunsch, eine biographisch orientierte Alltagsgestaltung, Betreuung und Pflege zu ermöglichen, stellt uns vor viele ganz unterschiedliche Herausforderungen. Nachtigallennester zum Nachtisch für Menschen aus dem Irak, Verlegung der Essenszeiten im Ramadan auf die Zeit nach Sonnenuntergang bei Muslimen, Ermöglichung ritueller Waschungen, Rücksichtnahme auf „sittliche“ Kleidung, völlig unterschiedliche Tischsitten und vieles mehr gilt es im Alltag zu berücksichtigen. Die Kommunikation mit fremdsprachigen Bewohnerinnen und Bewohnern ermöglichen wir mit hierfür angefertigten Sprach- und Bildkarten. Sie dienen der Kommunikation mit nicht-deutschsprachigen Bewohnern in einer bestimmten Sprache. Sie verfügen über die wichtigsten Wörter des täglichen Lebens und dienen dem minimalistischem Austausch, bzw. dem Abfragen von Bedürfnissen in der Muttersprache. Die Antworten werden aus Mimik, Gestik und der Sprachmelodie erschlossen oder ergeben sich aus der Reaktion des Bewohners. 12 4.2.1.3 Licht & Farbe Licht hat in der Versorgung der demenziell erkrankten Menschen eine entscheidende Bedeutung. Dunkelheit erzeugt Angst. Deshalb achten wir auf ausreichende Beleuchtung, Vermeidung von grellen und schattenwerfenden Lichtquellen und die Nutzung natürlicher Lichtquellen. Die Beleuchtung in den öffentlichen Bereichen orientiert sich am tageslichtähnlichen Vollspektrumlicht mit hohem Indirektanteil. In den Wohnbereichen wird das Licht im circadianem Rhythmus gesteuert, d.h. über einen veränderbaren Blauanteil im Licht wird der Tagesverlauf im Raum nachempfunden. Dies wirkt sich positiv und fördernd auf den Tag- Nacht- Rhythmus aus. • Licht steuert den Biorhythmus und das Wohlbefinden. • Licht reizt die Sinne und kann als wichtigster Dialogpartner der Dingwelt angesehen werden. • Licht gibt Orientierung im Labyrinth des Vergessens. • Licht erzeugt Sicherheit und vermindert das Sturzrisiko. • Licht ist arbeitsunterstützend für die Pflegenden. Die Farbe dient der Orientierung und dem Wohlbefinden. Kräftige warme Farben in Verbindung mit Farbinseln haben eine beruhigende Wirkung. Die Farbgebung zwischen Möbeln und dem Hintergrund soll kontrastreich sein, um Fehldeutungen und Verwirrung entgegen zu wirken. Im Rahmen der sozialen Betreuung wird zudem Farbbestrahlung als nichtmedikamentöse Maßnahme zum Erhalt des Wohlbefindens, zur Regulierung des TagNachtrhythmus, zur Beruhigung oder zur Anregung angewendet. 4.2.1.4 Ethische Entscheidungskultur Ethik ist die Lehre vom richtigen Handeln und Wollen. Im Hinblick auf den größtmöglichen Erhalt von Autonomie, Selbstbestimmtheit, Freiheit im Handeln und in der Erfüllung von Bedürfnissen nutzen wir bei Fragen des Alltags oder ethischen Konflikten die Methoden ethischer Entscheidungsfindung. Darüber hinaus bedarf das komplexe soziale Netzwerk im Haus (Angehörige, Betreuer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Ärzte, Ehrenamtliche, usw.) einer besonders sensiblen Gesprächs- und Entscheidungskultur. Ethik dient im Hause zum einen der Beratung bei ethischen Einzelfallentscheidungen in Form von Fallbesprechungen. Zum anderen bietet sie uns die Möglichkeit, eine ethische Grundhaltung oder Positionierung in besonderen Fragen zu entwickeln. Die Entstehung einer ethischen Gesprächskultur ermöglicht zudem eine gezielte Koordination des Fortund Weiterbildungsangebotes zu ethischen Themen. Insgesamt leistet die Ethikberatung einen Beitrag zur moralischen Weiterentwicklung des Hauses und gewährleistet so unsere moralische Integrität. Sie verbessert und erleichtert die Kommunikation mit sämtlichen Schnittstellen und bietet Pflegenden Rückhalt in wichtigen Entscheidungen. 13 Die Ethikberatung wird über eine zertifizierte Ethikberaterin moderiert. Sie findet in Fallbesprechungen und übergeordnet im hausinternen Ethikrat statt. Ständige Mitglieder des Ethikrats: Einrichtungsleitung, Ethikberaterin, Pflegedienstleitung, Sozialpädagogin, Pflegefachkraft, externe Seelsorgerin und Hospizbegleiterin, 1 fallbezogene Bezugspflegefachkraft, evtl. Angehörige. 4.3 Pflege und Betreuung Mit fortschreitender Erkrankung werden die Betroffenen mit einer Demenzerkrankung abhängiger von anderen Personen. Diese leiten, unterstützen und übernehmen zunehmend alltägliche Handlungen, z.B. bei der Nahrungsaufnahme, beim Trinken, beim Waschen und beim Anziehen. Die Betreuung und Pflege demenziell erkrankter Menschen baut dabei immer auf einer intensiven Beziehungsarbeit zwischen dem Betroffenen und dem Betreuer auf. Die Basis hierfür bildet das Pflegekonzept des AWO Bezirksverbands Oberbayern e.V. 4.4 Angehörige Angehörige sind Teil des Heimalltags und gestalten diesen mit. Sie werden in alle, die Bewohnerinnen und Bewohner betreffenden Entscheidungen einbezogen. Wichtig ist, mit den Angehörigen bereits vor dem Einzug über die besondere Betreuung bei demenziell Erkrankten zu sprechen. Angeboten werden regelmäßige Themenabende für Angehörige, Betreuer und Interessierte zu den Themen: • Demenz erfahren. • Demenzielle Erkrankungen, Krankheitsverlauf und Therapien. • Beratungsangebote. Bewohnervertretungen und Angehörigenbeiräte werden als Heimbeirat benannt und sind für uns wichtiger Partner im Heimalltag. Regelmäßige Treffen ermöglichen es, die Betreuung und Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner transparent zu gestalten und Verständnis für besondere Versorgungsformen zu schaffen. 4.5 Kooperation mit Ärzten Ziel ist es, die ärztliche Versorgung über die Hausärzte, die Fachärzte und die Kliniken des Bezirks Oberbayern sicher zu stellen. Diese enge Zusammenarbeit zur Diagnose und zum Screening der Demenz ist notwendig. Zur Sicherstellung der qualifizierten Betreuung finden nach der Aufnahme zwischen den beteiligten Ärzten und den verantwortlichen Pflegekräften regelmäßig interdisziplinäre Fallbesprechungen statt. 4.6 Kooperationen mit Hochschulen und Fachhochschulen 14 Wir arbeiten mit Fachhochschulen und Universitäten im Rahmen des Wissenstransfers zusammen. Bei praxisbezogenen Forschungsprojekten bieten wir die Zusammenarbeit an und unterstützen Zulassungs- und Abschlussarbeiten sowie Promotionen. Auf diese Weise partizipieren wir nicht nur in Bezug auf das Grundlagenwissen sondern auch hinsichtlich innovativer wissenschaftlicher Erkenntnisse. 4.7 Kooperation mit dem Hospizverein und dem SAPV Team Zur Sicherstellung einer durch Hospizhelfer erweiterten Betreuung und Begleitung unserer Bewohnerinnen und Bewohner im palliativen Stadium kooperieren wir mit dem Christophorus Hospizverein Bad Tölz-Wolfratshausen e.V. Zudem bietet das Team der OPAL Oberland Hospiz- und Palliativversorgung GmbH spezialisierte Begleitung in besonders herausfordernden Situationen an. Kontakt: Gabi Strauhal Leiterin des Sozialdienstes [email protected] Dieter Käufer Heimleiter [email protected] Hausanschrift AWO Seniorenzentrum Wolfratshausen Paradiesweg 18 D-82515 Wolfratshausen Tel.: 08171 / 4325 – 0 Fax.: 08171 / 4325 - 11 [email protected] www.sz-wolfratshausen.awo-obb.de 15