Im Mittelpunkt dieser CD steht die Franko-Italienerin Christine de Pizan, eine ungemein interessante, vielseitige und kreative Persönlichkeit, die um 1400 in Paris ein Leben im Zeichen der launischen Schicksalsgöttin Fortuna, voller Höhen und Tiefen, lebte. Christine de Pizan, heute zuallererst bekannt als Verfasserin des Buchs von der Stadt der Frauen (1405), war Autorin und auch ‚Verlegerin’ ihrer eigenen Schriften, aber (eben) keine Komponistin. Die Anregung dazu, ihre Lebensgeschichte musikalisch zu illustrieren, erhielten wir daraus, daß zumindest eine ihrer Balladen, Dueil engoisseus, ein Gedicht über Einsamkeit und Melancholie, von ihrem Zeitgenossen, dem flämischen Komponisten Gilles de Binchois (ca 1400-1460) vertont worden ist. Vermutlich gab es aber noch zahlreiche andere, heute nicht mehr erhaltene Vertonungen. Deshalb haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, einige ihrer Chansons und Balladen als Kontrafakta zu vertonen, das heisst mit zeitgenössischen Melodien zu unterlegen. Dieses Vorgehen – aus vorhandenen Elementen, Text und/ oder Melodie, ein neues Werk zu erschaffen – war in der Musik des Mittelalters und der Renaissance durchaus üblich. In einem nächsten Schritt stellten wir uns vor, dass Christine selbst ihre Balladen – von italienisch: ballata, „Tanzlied“ – schon teilweise musikalisch konzipiert hat, denn sie waren für ein adliges Publikum im Umkreis der französischen Königin Isabelle de Bavière – der gebürtigen Wittelsbacherin Elisabeth von Bayern– bestimmt. Die Grenzen zwischen Text und Musik, gerade bei dieser literarischen Form, waren äußerst durchlässig. Christine gilt bei aller Fortschrittlichkeit ihrer Gedankenwelt und obwohl sie auf beliebte poetische Formen ihrer eigenen Zeit wie Ballade, Rondeau und Virelai zurückgriff, doch als eine der letzten Verfechterinnen des Ideals der mittelalterlichen Hohen Minne, wie sie uns die Troubadours überliefert haben. Deshalb haben wir einige ihrer Liebesgedichte mit Melodien unterlegt, die etwa hundert Jahre vor ihrer Zeit populär und die ihr vielleicht noch vertraut waren. Die Arbeit an dieser CD war für das Ensemble war eine große Herausforderung, denn es handelte sich nicht nur um das Einsingen von Musik, musikalische Arrangements und um die Gestaltung des VOCAMEtypischen Klangbildes, sondern auch um die Zusammenstellung eines Textcorpus, das einen repräsentativen Einblick in das poetische Werk der Christine de Pizan vermittelt. Dies geschah in enger Zusammenarbeit mit der Christine de Pizan-Spezialistin Margarete Zimmermann und der Romanistin Gisela Seitschek. Michael Popp