Vitruv Die Ausbildung des Baumeisters 1. Des Architekten Wissen

Werbung
Vitruv
Die Ausbildung des Baumeisters
1. Des Architekten Wissen umfasst mehrfache wissenschaftliche und mannigfaltige
elementare Kenntnisse. Seiner Prüfung und Beurteilung unterliegen alle Werke, die
von den übrigen Künsten geschaffen werden. Dieses (Wissen) erwächst aus fabrica
(Hand-werk) und ratiocinatio (geistiger Arbeit). Fabrica ist die fortgesetzte und immer
wieder (berufsmäßig) überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum
Ziel eine Formgebung hat, die mit den Händen aus Werkstoff, je nachdem aus
welchem Stoff das Werk besteht, durchgeführt wird. Ratiocinatio ist, was bei
handwerklich hergestellten Dingen aufzeigen und deutlich machen kann, in welchem
Verhältnis ihnen handwerkliche Geschicklichkeit und planvolle Berechnung
innewohnt. 2. Daher konnten Architekten, die unter Verzicht auf wissenschaftliche
Bildung bestrebt waren, nur mit den Händen geübt zu sein, nicht erreichen, dass sie
über eine ihren Bemühungen entsprechende Meisterschaft verfügten. Die aber, die
sich nur auf die Kenntnis der Berechnung symmetrischer Verhältnisse und
wissenschaftliche Ausbildung verließen, scheinen lediglich einem Schatten, nicht der
Sache nachgejagt zu sein. Die aber, die sich beides gründlich angeeignet haben,
haben, da mit dem ganzen Rüstzeug ihres Berufes ausgestattet, schneller mit Erfolg
ihr Ziel erreicht. 3. Wie nämlich auf allen Gebieten, so gibt es ganz besonders auch
in der Baukunst folgende zwei Dinge: was angedeutet wird und was andeutet.
Angedeutet wird der beabsichtigte Gegenstand (das Ziel), von dem man spricht.
Diesen aber deutet an die mit wissenschaftlichen Methoden entwickelte Darstellung.
Deshalb muss der, der sich als Architekt ausgeben will, in beidem geübt sein. Daher
muss er begabt sein und fähig und bereit zu wissenschaftlich-theoretischer Schulung.
Denn weder kann Begabung ohne Schulung noch Schulung ohne Begabung einen
vollendeten Meister hervorbringen. Und er muss im schriftlichen Ausdruck gewandt
sein, des Zeichenstiftes kundig, in der Geometrie ausgebildet sein, mancherlei
geschichtliche Ereignisse kennen, fleißig Philosophen gehört haben, etwas von
Musik verstehen, nicht unbewandert in der Heilkunde sein, juristische
Entscheidungen kennen, Kenntnisse in der Sternkunde und vom gesetzmäßigen
Ablauf der Himmelserscheinungen besitzen.
4. Die Gründe hierfür sind folgende: Schreibgewandt muss der Architekt sein, damit
er durch schriftliche Erläuterungen (zu seinem Werk) ein dauerndes Andenken
begründen kann. Zweitens muss er den Zeichenstift zu führen wissen, damit er um
so leichter durch perspektivische Zeichnungen das beabsichtigte Aussehn seines
Werkes darstellen kann. Die Geometrie aber bietet der Architektur mehrere Hilfen:
und zwar vermittelt sie zuerst nach dem Gebrauch des Lineals den Gebrauch des
Zirkels, wodurch sie ganz besonders das Aufzeichnen von Gebäuden auf dem
Zeichenbrett und das Ausrichten rechter Winkel, waagerechter Flächen und gerader
Linien erleichtert. Ferner wird, wenn man die Optik beherrscht, von bestimmten
Stellen des Himmels das Licht richtig in die Gebäude geleitet. Durch die Arithmetik
aber werden die Gesamtkosten der Gebäude errechnet, die Maßeinteilungen
entwickelt, und die schwierigen Fragen der symmetrischen Verhältnisse werden auf
geometrische Weise und mit geometrischen Methoden gelöst. 5. Mancherlei
geschichtliche Ereignisse aber muss der Architekt kennen, weil die Architekten oft
an ihren Bauten viel Schmuck anbringen, über deren Bedeutung sie denen, die
danach fragen, warum sie ihn angebracht haben, Rechenschaft ablegen müssen. Z.
B. wenn einer mit langen Obergewändern bekleidete weibliche Marmorstatuen, die
Karyatiden heißen, an Stelle von Säulen an seinem Bau aufgestellt und darüber
Kragsteine und Kranzgesimse gelegt hat, wird er denen, die danach fragen,
folgendermaßen dafür Rechenschaft ablegen. Karya, eine peloponnesische Stadt,
stand mit ihrer Gesinnung auf Seiten der persischen Feinde gegen Griechenland. Als
die Griechen später durch ihren Sieg ruhmreich vom Kriege befreit waren, erklärten
sie auf gemeinsamen Beschluss den Karyaten den Krieg. Und so führten sie nach
Einnahme der Stadt, Ermordung der Männer und völliger Zerstörung der Gemeinde
deren Frauen in die Knechtschaft ab und gestatteten ihnen nicht, ihre langen
Gewänder und Schmuckstücke, wie Frauen sie tragen, abzulegen, damit sie nicht in
dem einmaligen Triumphzuge vorgeführt würden, sondern in einem ewigen
Triumphzug, einem Musterbild der Knechtschaft, mit schwerer Schande belastet für
ihre Bürgerschaft zu büßen schienen. Daher schufen die damaligen Architekten
Nachbilder von ihnen, die an öffentlichen Gebäuden zum Tragen einer Last
aufgestellt waren, damit auch der Nachwelt die Bestrafung des Vergehens der
Karyaten als bekannt überliefert werde. 6. Ebenso haben die Lakedämonier, als sie
unter Führung des Pausanias, des Sohnes des Agesilas, in der Schlacht bei Platää
mit ihrer kleinen Schar die unendliche Masse des Perserheeres überwunden hatten,
nach einem glorreichen Triumph, in dem die erbeuteten Waffen und sonstige Beute
mitgeführt wurden, aus der Beute als Mahnmal des Ruhms und der Tapferkeit der
Bürger die persische Halle als Siegeszeichen für die Nachwelt errichtet. Und sie
stellten dort Nachbildungen der Gefangenen – ihr Übermut wurde mit verdienter
Schmach bestraft – in ausländischer Tracht auf, die das Dach trugen, damit die
Feinde aus Furcht vor dem Erfolg ihrer Tapferkeit sich entsetzten und die Bürger
beim Anblick dieses Wahrzeichens der Tapferkeit, aufgerichtet durch den Ruhm, zur
Verteidigung der Freiheit bereit wären. Und so haben viele seitdem Perserstatuen
aufgestellt, die Gebälk und dessen Schmuck tragen, und sie haben so aus diesem
geschichtlichen Stoff in erhöhtem Maße ihren Werken hervorragende Abwechslung
verliehen. Ebenso gibt es andere geschichtliche Begebenheiten gleicher Art, die die
Architekten im Kopfe haben müssen. 7. Die Philosophie aber bringt den vollendeten
Architekten mit hoher Gesinnung hervor und lässt ihn nicht anmaßend, sondern eher
umgänglich, billig denkend und zuverlässig, und, was das Wichtigste ist, ohne
Habgier sein. Kein Werk kann nämlich in der Tat ohne Zuverlässigkeit und Lauterkeit
der Gesinnung geschaffen werden. Er soll nicht begehrlich und nicht dauernd darauf
aus sein, Geschenke zu bekommen, sondern er soll mit charakterlichem Ernst
dadurch seine Würde wahren, dass er in gutem Ruf steht. Auch das nämlich schreibt
die Philosophie vor. Außerdem gibt die Philosophie Aufklärung über das Wesen der
Dinge. Griechisch heißt dieser Zweig der Philosophie Physiologie. Auch diese muss
er eifrig studiert haben, weil sie viele verschiedene naturwissenschaftliche Fragen
behandelt, z. B. auch bei Wasserleitungen. Beim Einlauf ändern sich nämlich sowohl
an den Biegungen wie bei sonst ebenem Lauf an den Steigungen die
Druckverhältnisse, deren schädliche Wirkungen nur der beseitigen kann, der aus der
Philosophie die Grundgesetze der Natur kennt. Ferner wird der, der die Schriften des
Ktesibios, des Archimedes und anderer, die Lehrschriften derselben Art verfasst
haben, liest, sie nur verstehen, wenn er in diesen Dingen von Philosophen
unterrichtet ist. 8. Von der Musik muss er etwas verstehen, damit er über die Theorie
des Klanges und die mathematischen Verhältnisse der Töne Bescheid weiß und
außerdem die Spannung bei Ballisten, Katapulten und Skorpionen richtig herstellen
kann. An den Hauptbalken sind nämlich rechts und links Bohrungen in den Rahmen
der Spannsehnenbündel, durch die mit Haspeln und Hebeln aus Därmen geflochtene
Seile gespannt werden, die erst verkeilt und angebunden werden, wenn sie
bestimmte, gleichmäßige Töne an das Ohr des Erbauers dringen lassen. Denn die
beiden Bügelarme, die in diese Spannstränge eingeschlossen werden, müssen,
wenn sie losgelassen werden, beide gleichmäßig und gleich stark einen Stoß
hervorbringen. Wenn sie nicht den gleichen Ton geben, werden sie keine gerade
Flugbahn des Geschosses zulassen. 9. Ferner werden in den Theatern eherne
Gefäße, die in Nischen unter den Sitzreihen nach mathematischer Berechnung
entsprechend der Verschiedenheit der Töne aufgestellt werden – die Griechen
nennen sie Echeia (Schallgefäße) -, nach den musikalischen Akkorden (lat.
Concentus = Zusammenklang) angeordnet, verteilt im Theaterrund (nach Quarten,
Quinten, Oktaven bis zur Doppeloktave), damit die Stimme des Schauspielers, wenn
sie als übereinstimmender Klang in den verteilten Gefäßen durch Berührung anstößt,
verstärkt unter Anschwellen klarer und angenehmer zu den Ohren der Zuschauer
gelangt. Auch Wasserorgeln und diesen ähnliche Instrumente wird niemand ohne
Kenntnis der in der Musik waltenden Gesetze bauen können. 10. Die Wissenschaft
der Medizin aber muss er kennen wegen der (durch die) Neigung des Himmels (zu
den Polen bedingten verschiedenen Witterungsverhältnisse), die die Griechen
Klimata nennen, und wegen nützlicher (und schädlicher) Eigenschaften der Luft und
der Gegenden, welche gesund oder krankheiterregend sind, und des Wassers. Denn
wenn man das nicht berücksichtigt, können keine gesunden Wohnungen gebaut
werden. Auch die Rechtsvorschriften muss er kennen, die bei Häusern, die Wand an
Wand liegen, hinsichtlich der Mauern, am Umgang hinsichtlich der Dachrinnen, der
Kloaken und der Anlage der Fenster zu beachten sind. Ebenso müssen die
Rechtsverhältnisse hinsichtlich der Wasserzuleitung und der übrigen Dinge
derselben Art den Architekten bekannt sein, damit sie schon vor Baubeginn des
Hauses Vorsorge treffen, dass nicht nach Fertigstellung des Baues den
Hausbesitzern Streitigkeiten hinterlassen werden. Auch bei der Abfassung der
Bauverträge soll er mit Klugheit dem Bauherrn und dem Bauunternehmer Sicherheit
verschaffen können. Denn wenn der Vertrag sachkundig abgefasst ist, werden beide
Parteien ohne Nachteil von ihren gegenseitigen Verpflichtungen entbunden werden.
Aus der Sternkunde aber erwächst die Kenntnis von Ost und West, von Süd und
Nord, auch von der Gesetzmäßigkeit (der Bewegung) des Himmelsgewölbes, der
Tag- und Nachtgleichen, der Sonnenwenden und des Laufs der Gestirne. 11. Da
also diese Wissenschaft so umfassend ist, weil sie mit verschiedenen
wissenschaftlichen Kenntnissen in großer Zahl ausgestattet ist und ein Übermaß
davon in sich vereinigt, glaube ich, dass niemand sich mit Fug und Recht ohne lange
Ausbildung Architekt nennen kann, sondern nur die, die von frühester Jugend an
dadurch, dass sie auf dieser Stufenleiter der Wissenschaften emporgestiegen sind,
durch die Kenntnisse sehr vieler Wissenschaften und Künste gefördert schließlich zur
höchsten Stufe, der Architektur, gelangt sind. 12. Aber vielleicht wird es Leuten, die
nicht wissenschaftlich gebildet sind, wunderbar erscheinen, dass ein Mensch eine so
große Zahl wissenschaftlicher Lehren in sich aufnehmen und im Gedächtnis
festhalten kann. Wenn sie aber bemerkt haben, dass alle Wissenschaftszweige unter
sich sachlich miteinander in Verbindung stehen und etwas Gemeinsames haben,
werden sie leicht glauben, dass es doch möglich ist. Enzyklopädische Bildung ist
nämlich als ein einheitlicher Körper aus diesen Gliedern zusammengesetzt. Daher
stellen die, die vom zarten Jugendalter an in verschiedenen Wissenschaftszweigen
unterrichtet werden, fest, dass die Grundzüge in allen Wissenschaften gleich sind
und alle Wissenschaftsgebiete miteinander in Verbindung stehen, und sie erfassen
daher alles leichter. Deshalb sagt einer von den alten Architekten, Pytheos, der in
Priene den Bau des Minervatempels vortrefflich als Architekt geleitet hat, in seinen
Schriften, ein Architekt müsse in allen Zweigen der Kunst und Wissenschaft mehr
leisten können als die, die einzelne Gebiete durch ihren Fleiß und ihre Tätigkeit zu
höchstem Glanz geführt haben. 13. Das aber wird durch die Wirklichkeit nicht
bestätigt. Ein Architekt muss nicht und kann auch nicht ein Sprachkundiger sein, wie
es Aristarchos gewesen ist, aber er darf nicht ohne grammatische Bildung sein, ein
Musiker wie Aristoxenos, aber er darf nicht ohne jede musikalischen Kenntnisse sein,
ein Maler wie Apelles, aber er darf nicht unerfahren sein im Führen des Zeichenstifts,
ein Bildhauer wie Myron oder Polykleitos, aber er darf der Bildhauerkunst nicht
unkundig sein, schließlich ein Arzt wie Hippokrates, aber er darf in der Heilkunde
nicht unbewandert sein, und er braucht nicht auf den übrigen Gebieten von Kunst
und Wissenschaft eine Kapazität zu sein, aber darf doch nicht ohne alle Kenntnis in
ihnen sein. Niemand kann nämlich auf so verschiedenen Gebieten die besonderen
Feinheiten erreichen, weil es ihm kaum möglich ist, ihre theoretischen Grundsätze
kennen zu lernen und voll und ganz zu erfassen. 14. Jedoch können nicht nur die
Architekten nicht den höchsten Erfolg auf allen Gebieten erreichen, sondern sogar
die, die für sich die Besonderheiten der Kunstgattungen beherrschen, bringen es
nicht fertig, dass sie alle die höchste Spitze des Ruhms erlangen. Also: wenn auf den
einzelnen Gebieten der Kunst nur vereinzelt Künstler (nicht einmal alle, sondern in
der ganzen Länge der Zeit nur wenige) Berühmtheit erlangt haben, wie kann da der
Architekt, der auf mehreren Gebieten der Kunst erfahren sein muss, nicht nur dies an
sich schon Wunderbare und Große zuwege bringen, dass er an nichts von diesem
Mangel hat, sondern dass er sogar alle Künstler übertrifft, die auf ihren
Einzelgebieten Beharrlichkeit gepaart mit Fleiß an den Tag gelegt haben? 15. Also
scheint in diesem Punkte Pytheos geirrt zu haben, weil er nicht bemerkt hat, dass die
einzelnen Künste sich aus zwei Faktoren zusammensetzen, aus Ausführung und
ihrer Konzeption, wovon das erstere, nämlich die Ausführung der Arbeit, eine eigene
Sache derer ist, die auf speziellen Gebieten ausgebildet sind, das zweite aber
Gemeingut aller wissenschaftlich Gebildeten ist, das ist die bewusste vernünftige
(theoretische) Überlegung, wie sich z. B. Ärzte und Musiker mit dem Zeitmaß des
Pulsschlages und der Bewegung der Füße beschäftigen. Wenn es aber nötig sein
sollte, eine Wunde zu heilen oder einen Kranken aus der Gefahr zu befreien, dann
wird nicht der Musiker herbeikommen, sondern das wird die besondere Tätigkeit des
Arztes sein. Ebenso wird auf einem Musikinstrument nicht der Arzt, sondern der
Musiker so spielen, dass die Ohren eine süße Annehmlichkeit durch die gespielten
Weisen empfinden. 16. Analog erörtern mit den Astrologen die Musiker gemeinsam
die Wechselbeziehung der Sterne und der musikalischen Konsonanzen, der Quarten
und Quinten, in Quadraten und Dreiecken und die Geometer die Natur des Sehens,
die von den Griechen Logos opticos genannt wird (?), und den übrigen
Wissenschaftsgebieten sind viele oder gar alle Dinge gemeinsam, soweit es um die
Erörterung theoretischer Grundsätze geht. Die Ausführung der Werke aber, die mit
der Hand oder durch technische Bearbeitung zu vollendeter Feinheit gebracht
werden, ist Sache derer, die auf einem Gebiete der Kunst zur Ausführung
ausgebildet sind. Also scheint mehr als genug erreicht zu haben, wer von den
einzelnen Wissenschaftsgebieten Teilgebiete und ihre Methoden nur einigermaßen
kennt, und zwar diejenigen, die für die Baukunst nötig sind, damit es ihm, wenn er
über diese Dinge und Kunsterzeugnisse ein Urteil abzugeben und sie zu prüfen hat,
nicht an Befähigung fehlt. 17. Die aber, denen die Natur soviel Talent, Scharfsinn
und Gedächtnis verliehen hat, dass sie Geometrie, Sternkunde, Musik und die
übrigen Wissenschaften voll und ganz beherrschen, wachsen über den Beruf des
Architekten hinaus und werden Mathematiker. Daher können sie sich leicht mit
Fachleuten in diesen Wissenschaften in Streitgespräche einlassen, weil sie mit mehr
Waffen der Wissenschaften ausgerüstet sind. Solche Leute aber findet man selten,
wie es z. B. vor Zeiten Aristarchos aus Samos, Philolaos und Archytas aus Tarent,
Apollonios aus Pergae, Eratosthenes aus Kyrene, Archimedes und Skopinas aus
Syrakus gewesen sind, die der Nachwelt viele mechanische Werke und Uhren
hinterlassen haben, die durch Berechnung und auf Grund der Naturgesetze erfunden
und entwickelt sind. 18. Da es also die Schöpferkraft der Natur nicht Völkern in ihrer
Gesamtheit ohne Unterschied, sondern nur wenigen Menschen zugesteht, dass sie
derartige Begabung besitzen, der Architekt von Beruf aber in allen
Wissenschaftszweigen geschult sein muss, und da die Fassungskraft mit Rücksicht
auf den Umfang des Stoffes es nur gestattet, dass er über das notwendige Maß
hinaus nicht die höchsten, sondern nur mittelmäßige Kenntnisse in den
Wissenschaften besitzt, bitte ich Dich, Caesar, und die Leser dieser Bücher um
Nachsicht, wenn etwas zu wenig nach den Regeln der Sprachkunst dargelegt ist.
Denn nicht als bedeutender Philosoph, nicht als beredter Redner und nicht als
Schriftsteller, der in den besten Methoden seiner Kunst geübt ist, sondern nur als ein
Architekt, der mit diesen Wissenschaften (ein bisschen) vertraut ist, habe ich mich
daran gemacht, dies zu schreiben. Hinsichtlich aber dessen, was die Baukunst
vermag, und hinsichtlich der theoretischen Grundsätze, die in ihr gelten, verspreche
ich, dass ich in diesen Büchern, wie ich hoffe, nicht nur allen, die sich mit Bauen
beschäftigen, sondern auch allen Gebildeten dies mit größter Sachkunde ohne
Zweifel bieten werde.
1) Vitruvius: (De architectura) Vitruvii De architectura libri decem = Zehn Bücher
über Architektur / übers. Und mit Anm. vers. Von Curt Fensterbusch.
Primus Verlag, Darmstadt, 1996, S. 23f.
Herunterladen