Es gibt auf dieser Welt keine endgültige Sicherheit

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12 | B E R L I N E R G E S P R Ä C H E
LEBENSHILFE-ZEITUNG
1/2015
In unserer LHZ-Serie „Berliner Gespräche“ führen ReporterTandems, ein Mensch mit, einer ohne Behinderung, gemeinsame
Interviews. Die Interview-Partner kommen aus der Politik, der
Wirtschaft, aus der Kultur oder dem Sport. Für diese Kooperation
hat die LHZ Schauspieler aus dem integrativen Theater Thikwa in
Dieses Mal sprachen wir
mit Andreas Nachama. Er
leitet ein großes Museum
in Berlin. Dort werden
die schrecklichen Taten
der Nazis gezeigt.
Berlin gewonnen. Dazu gehören Peter Pankow (von links), Nico Altmann, Katharina Maasberg, Torsten Holzapfel, Anne-Sophie Mosch,
Robert Janning und Martina Nitz. Wir bereiten die Gespräche
immer in der Gruppe vor. Zunächst holen wir Informationen aus
dem Internet, dann überlegen wir uns die Fragen.
„Es gibt auf dieser Welt keine
endgültige Sicherheit“
Herr Nachama, Sie sind ein vielbeschäftigter Mensch. Als Jude dürfen
Sie am Sabbat – also von Freitagabend
bis Samstagabend – nicht arbeiten.
Halten Sie sich daran?
Ja, schon. Ich arbeite zwar am
Sabbat als Rabbiner, aber das ist heilige Arbeit und damit erlaubt. Ich
mache eben nichts von der Arbeit,
die ich unter der Woche für die Topographie erledige.
Juden sollen ja nur koschere Speisen
und Getränke zu sich nehmen? Was
bedeutet „koscher“ eigentlich?
Koscher bedeutet wörtlich „rein“.
Die Bibel nennt uns Tiere, die nicht
koscher sind, zum Beispiel Schweine
oder Fische ohne Schuppen und
Flossen wie der Aal. Diese Tiere essen
wir Juden grundsätzlich nicht. Für
anderes Fleisch gibt es ein Verfahren,
das Rabbiner bereits vor mehr als
2000 Jahren anwandten. Das ist eine
Art Fleischbeschau, wie wir es heute
von den Gesundheitsämtern kennen.
Für mich ist daher Rindfleisch aus
dem Supermarkt völlig okay. Das
esse ich. Ich versuche aber, meinen
Fleischkonsum auf etwa einmal pro
Woche zu beschränken. Viele Juden
sind sogar Vegetarier.
Könnten Sie uns Ihr Lieblingsgericht
verraten?
Spaghetti oder andere Nudeln mit
vegetarischen Soßen, sehr gerne auch
mit Lachs.
Foto: Peer Brocke
Der gebürtige Berliner Andreas Nachama (Jahrgang 1951) ist Rabbiner, Historiker und Direktor der Stiftung Topographie des Terrors. Mit über einer Million Besuchern
Sie sind Rabbiner. Was genau macht
ht
ein Rabbiner?
Das ist die jüdische Ausgabe eines
Pfarrers. Er betreut und leitet eine
Gemeinde und predigt im Gottesdienst. Wie ein evangelischer Pfarrer
darf ein Rabbiner heiraten und muss
nicht wie die katholischen Kirchenmänner im Zölibat leben.
Sprechen Sie hebräisch und jiddisch?
Jiddisch verstehe ich, aber ich
spreche es nicht. Hebräisch ist die
Gottesdienstsprache – die kann ich
schon ganz gut.
Wie haben Sie das geteilte Berlin
empfunden und dann den Mauerfall 1989 erlebt?
Ich bin ja Westberliner. Jede Reise
über die Transitstrecke nach Westdeutschland war ein kleines Abenteuer: die Kontrollen unterwegs, das
lange Warten an der Grenze ... Hätte
mich jemand ein Jahr vor dem Mauerfall gefragt, ob ich die Wiedervereinigung noch erleben werde, so hätte
ich das ganz klar verneint. Es war
wie ein Wunder – die Mauer fiel ohne
Krieg und Tote. Das gibt mir Hoffnung, dass sich diese konfliktreiche
Welt doch noch zum Frieden hin entwickelt.
Immer wieder morden Menschen
wegen ihrer Religion – von den
Kreuzzügen bis zum Islamischen
allein im Jahr 2013 gehört das Dokumentationszentrum zu den meist besuchten Erinnerungsorten in Berlin. Dort befanden sich während der Nazi-Zeit die Zentralen der
Gestapo, der SS und des Reichssicherheitshauptamts. Torsten Holzapfel (links) vom Theater Thikwa unterhielt sich mit Andreas Nachama über seine Erfahrungen.
Staat. Auch Israel findet keinen
Frieden mit Palästina. Was muss geschehen, damit dort die Mauern in
den Köpfen verschwinden?
Damit sich die Situation radikal
verändert? Das weiß ich leider auch
nicht. Da bin ich fast so mutlos wie
damals vor dem Mauerfall. Wir können nur hoffen, dass jemand den Hebel umlegt und die Spirale der Gewalt unterbricht. Jemand wie der
Friedensnobelpreisträger Muhammad
Anwar as-Sadat, der frühere ägyptische Staatspräsident, der 1979 mit
Israel einen Friedensvertrag schloss.
Machen Ihnen die Terroranschläge
von Paris Angst? Auch Juden gehören
ja zu den Opfern.
Ich selbst habe keine Angst. Es gibt
auf dieser Welt keine endgültige Sicherheit, für niemanden. Menschliches
Leben liegt in der Hand Gottes.
Reden Sie viel mit anderen Kirchen,
mit Andersgläubigen?
Es gibt Beziehungen zwischen der
evangelischen Kirchengemeinde in
Dahlem und meiner Synagoge. Alle
14 Tage haben wir einen Arbeitskreis
und lesen gemeinsam die Bibel. Es ist
schon interessant, wie unterschiedlich Christen und Juden ein und
denselben Text verstehen. Zu Muslimen besteht weniger Kontakt. Früher waren wir in Zehlendorf, dort
gibt es keine muslimische Gemeinde.
Jetzt sind wir in Charlottenburg, da
sind die Voraussetzungen für eine
Kontaktaufnahme besser.
In der Stiftung Topographie des Terrors beschäftigen Sie sich mit den
schrecklichen Verbrechen der Nazis.
War auch Ihre Familie betroffen?
Mein Vater war in Auschwitz und
hat überlebt. Meine Mutter wurde in
Berlin versteckt – von der nichtjüdischen Frau des jüdischen Kaufhausbesitzers Wertheim. Nach dem
Krieg war sie so eine Art Nenntante
für mich und berichtete manchmal
von gemeinsamen Erlebnissen mit
meiner Mutter. Meine Eltern jedoch
haben nie viel aus dieser Zeit erzählt.
Wurden Sie selbst schon von Neonazis angegangen?
Nein.
Unser Theater heißt Thikwa. Das ist
hebräisch und bedeutet Hoffnung.
Wir arbeiten immer wieder mit israelischen Künstlern zusammen, auch
zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin sind wir aufgetreten.
Fühlen sich Juden heute in Berlin
und Deutschland willkommen?
Ja, sie fühlen sich willkommen.
Das kann ich für mich und meine
Gemeinde sagen. Es gab auch eine
Abstimmung mit den Füßen: Ende
der 1980er-Jahre kamen sehr viele
Juden aus Russland nach Deutschland, und etwa 10 000 Israelis sind
heute in Berlin gemeldet.
Im Stück „Schillers Schreibtisch“ beschäftigen wir uns mit schwierigen
Themen wie der „Euthanasie“. Sie
selbst haben sich mit der Lebenshilfe
und anderen für eine neue Gedenkstätte eingesetzt, die in der Berliner
Tiergartenstraße an die behinderten
Opfer der Nazi-Zeit erinnert. Sind
wir Menschen mit Behinderung heute ausreichend geschützt vor „Euthanasie“?
Ich gehe davon aus, dass in
Deutschland „Euthanasie“ nicht mehr
möglich ist. Doch schon für Europa
wäre ich mir da nicht mehr sicher. Es
droht dort Gefahr, wo – wie bei der
aktiven Sterbehilfe – die Tötung auf
Wunsch erlaubt ist. Das menschliche
Leben muss aber tabu sein, ich bin
deshalb auch gegen die Todesstrafe.
Man darf niemanden töten, aber
man soll seine Schmerzen durch Me-
dikamente lindern können. Nur in
diesem Fall darf man in Kauf nehmen, dass solche Medikamente das
Leben verkürzen.
Haben Sie darüber hinaus regelmäßig
Kontakt mit behinderten Menschen?
In der Topographie sind wir gerade
mit den Verbänden der gehörlosen und
sehbehinderten Menschen im Austausch. Wir wollen unsere Ausstellung
inklusiver machen, zum Beispiel durch
Videos in Gebärdensprache und mit
einem Hörspiel für blinde Menschen.
Wir bieten auch Führungen in leichter Sprache an – für Menschen mit
Lernschwierigkeiten oder solche, die
nicht so gut Deutsch verstehen.
Haben Sie noch Zeit für ein Hobby,
gehen Sie zum Beispiel gerne ins
Theater?
Ich gehe öfter ins Konzert als ins
Theater, manchmal auch in die Oper.
Ich mag klassische Musik.
Ich singe sehr gerne alte Berliner
Lieder. Könnten Sie sich als Ur-Berliner
vorstellen, dass wir einmal zusammen
ein Lied singen?
Da muss ich leider passen. Abgesehen vom Gottesdienst ist Singen
nicht meine Welt.
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