1/2012 Politik unterrichten Mythos Mündigkeit – oder Erziehung zum funktionalen Subjekt? Positionspapier zur Tagung: „Was heißt heute Kritische Politische Bildung?“* Andreas Eis Politische Bildung ist mit der Einführung des Politik-Wirtschaft-Unterrichts in vielen Bundesländern weitgehend auf die Qualifikation des angepassten Konsumenten und Wirtschaftsbürgers reduziert worden. Das Bildungsziel politische Mündigkeit steht zwar nach wie vor im Zentrum von Kompetenzmodellen und Kerncurricula der politisch-ökonomischen Bildung. Mit der Formalisierung von Bildungsstandards geraten jedoch nicht nur gesellschaftliche Widersprüche (aktuelle Krisen, Konflikte, Schlüsselprobleme) aus dem Blickfeld, sondern der Mündigkeitsbegriff wird in den reformierten Lehrplänen mitunter in sein Gegenteil verkehrt und als Selbstdisziplinierung sowie Verinnerlichung von Leistungszwängen, Herrschaftsstrukturen und unreflektiert übernommenen gesellschaftlichen Normen ausbuchstabiert. Ein besonders anschauliches Beispiel war der erste Entwurf für das neue hessische Kerncurriculum vom Mai 2010, in dem die Formulierung „überfachlicher Kompetenzen“ die Leitziele der politischen Bildung völlig karikierte und sich ausschließlich an einem funktionalen Qualifikationsbegriff, statt an einem allgemeinen (geschweige denn emanzipatorisch-kritischen) Bildungsbegriff orientierte. Im Mittelpunkt standen personale Kompetenzen wie: „Innovations-“ und „Leistungsbereitschaft“, „Selbstregulierung“, „Erfolgszuversicht“, „Kontrollüberzeugung“, „Eigenmotivation“ und „Durchhaltevermögen“ sowie die soziale Kompetenz „Konflikte zu vermeiden“. Die Ausformulierung von Fähigkeiten zur Selbstre- gulierung und Selbstdisziplinierung gipfelten in diesem Entwurf in dem unsäglichen Begriff der Sozialhygiene: im Wortlaut wurde auf die: „Förderung einer gesunden Lebensführung (unter psycho-, sozial- und individualhygienischen Aspekten)“ verwiesen (Bildungsstandards Politik und Wirtschaft, Sek. I, Wiesbaden, Entwurf vom Mai 2010, S. 8). Hatten die Autoren der Kultusbehörde hier die Hygiene des sozialen Raumes oder die der deutschen Volksgemeinschaft zum „neuen“ Bildungsziel, bzw. zur subjektivierten Dimension der Selbstregierung erhoben?! Zahlreiche Proteste von KollegInnen und Fachverbänden führten in der nun vorliegenden Endfassung (2011) zu etwas moderateren Formulierungen, die dennoch wenig an der politischen Neuausrichtung der Lehrpläne insgesamt und insbesondere der gesellschaftswissenschaftlichen Bildung ändern. Im Mittelpunkt der überfachlichen Kompetenzen ebenso wie der fachspezifischen Standards steht nicht mehr die reflexive Fähigkeit der mündigen Bürgerin und des mündigen Bürgers, Strukturen und Ursachen von Selbstbeschränkungen, Fremdbestimmung und illegitimen Herrschaftsansprüchen als Rahmenbedingungen politischen Lernens kritisch zu hinterfragen. SchülerInnen werden keine geeigneten Lernanlässe geboten, die eigenen Lebenschancen und Interessen innerhalb der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen zu analysieren und Möglichkeiten solidarisch gemeinwohlorientierten Handels auszuloten. Die im hessischen Kerncurriculum erwähnten „demokratischen Grundwerte“ sowie „die Subjektorientierung,als ein dritter Grundsatz des Beutelsbacher Konsenses“ (12) wirken vielmehr als partizipatorisches Feigenblatt für eine vorrangig an Affirmation und Anpassung sowie an Erwerbsfähigkeit und wirtschaftlicher Verwertbarkeit orientierte Bildung von Humankapital. Die Betonung des Leitziels politischer Mündigkeit und die Orientierung an entsprechendenfachlichen Kompetenzen kritischer Urteilsfähigkeit und politischer Handlungsfähigkeit – statt an einer Liste von Lerninhalten und verbindlichen Lehrplanthemen – könnte nur dann einen Impuls und eine Chance zur Unterrichtsentwicklung darstellen, wenn Formen und Ursachen gesellschaftlicher Zwänge und persönlicher Fremdbestimmung überhaupt erst thematisiert werden würden. Jedoch sind aktuelle Konfliktlinien, Krisenerscheinungen und gesellschaftliche Schlüsselprobleme, Themen wie Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem, Sozialstrukturanalyse, Rollen-, Milieu-, Habitustheorien etc. aus einigen Lehrplänen (z. B. auch in Niedersachsen) völlig verschwunden und spielen somit auch in der Lehrerbildung der Studienseminare kaum noch eine Rolle. Inhaltsfelder werden durch Basis- und Fachkonzepte abgelöst, die sich in schulinternen Curricula 31 Politik unterrichten widerspiegeln sollen. Die Qualität von Urteilsfähigkeit wird nicht an eine inhaltliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten und Problemlagen gebunden, sondern orientiert sich an rein formalen Niveaustufen von Bildungsstandards, die lediglich auf allgemeine Operatoren verweisen wie „in Ansätzen beschreiben“; “mit Unterstützung hinterfragen/ bewerten“; „selbstständig“ bzw. „umfassend analysieren“ etc. Der Anspruch politischer Mündigkeit wird sinnentleert und zur hohlen Leerformel, wenn die kollektiven und strukturellen Vorbedingungen von Partizipation – Phänomene sozialer Ungleichheit, Prozesse der Selbst- und Fremdausschließung (Bourdieu; Bremer) - nicht mehr Gegenstand politischen Lernens - und politischer Bildungsforschung selbst sind, stattdessen aber das betriebswirtschaftlich kompetente individuelle „unternehmerische Selbst“ (Bröckling) zum neuen Leitbild der schulischen Bildung und des Politik-Wirtschaft-Unterrichts erhoben wird. Mit der Etablierung des integrierten Unterrichtsfaches Politik und Wirtschaft steht das Thema der interdisziplinären Verschränkung der politischen und der ökonomischen Bildung immer wieder auf der Tagesordnung schulischer und hochschuldidaktischer Debatten. Nicht zuletzt angesichts der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrisen tritt ein deutliches Defizit an ökonomischem Wissen bei Lehrer/innen und Studierenden zutage, und es besteht eine große Nachfrage nach entsprechenden Angeboten politisch-ökonomischer Bildung in der Lehreraus- und -fortbildung. Auf dem Weiterbildungssektor sind jedoch vor allem finanzstarke Privatanbieter präsent, die nicht nur durch kostenlose Unterrichtsmaterialien, sondern auch mit der Herausgabe von Schulbüchern für Politik-Wirtschaft zunehmend 32 1/2012 die Inhalte des Unterrichts bestimmen. Auch die berufsbegleitende Qualifizierung von Politiklehrern wird in Niedersachsen mittlerweile einem wirtschaftspädagogischen „An-Institut“ (dem IÖB Oldenburg) übertragen, das sich zu einem großen Teil aus Drittmitteln der Wirtschaft finanziert. Die mit dem enormen Druck von Seiten der Wirtschaft favorisierten Schwerpunkte hin zu einer betriebswirtschaftlichen und finanzpolitischen Bildung konterkarieren die didaktischen Zielstellungen kritisch-emanzipatorischer politischer Bildung. Die dringende Notwendigkeit einer politischen Analyse und der demokratietheoretischen Bewertung aktueller Wirtschaftskrisen sowie des Umbaus des Sozialstaates erfordern fundiertes ökonomisches Wissen und kritische politische Reflexion aus der Perspektive der Politischen Ökonomie, aber auch der Politischen Soziologie und der Sozialpsychologie: Inhalte, die bislang sowohl in der Lehrerausbildung als auch in der Weiterbildung häufig zu kurz kommen, bzw. aus den Hochschulcurricula wieder gestrichen werden. Kritische Politische Bildung und ihre Didaktik problematisiert die gesellschaftlichen Voraussetzungen politischen Lernens und politischer Teilhabe. Kritische Politische Bildung ist immer auf gesellschaftsbezogenes Lernen bezogen, da politisch-institutionelle Entscheidungsprozesse nur durch eine Analyse gesellschaftlicher Diskurse und Herrschaftsstrukturen verstehbar sind. Politikdidaktik klärt die subjektiven und sozialen Voraussetzungen für gesellschaftliche Lernprozesse sowie für gelungene oder verhinderte Partizipation und kollektive Selbstregierung im Kontext eines tiefgreifenden Strukturwandels. Kritische Politische Bildung muss die Konsequenzen neuer Formen der (Selbst)Regierung und politischen Steuerung für die politische Bewusstseinsbildung von jungen Menschen thematisieren. Aktuelle Transformationsprozesse sind durch neue Mechanismen der Inklusion und Exklusion gekennzeichnet. Die Akteure, Strukturen und Technologien politischer Machtausübung sind dadurch vielfältiger und undurchsichtiger, keineswegs auf staatliche Institutionen, Parteien und die traditionellen Sozialpartner beschränkt. Regierungstechniken werden ergänzt durch neue Formen politischer Sozialisation und Vergesellschaftung der Subjekte in transnationalen, postparlamentarischen Gesellschaften. In emanzipatorischer Absicht befähigt Kritische Politische Bildung Jugendliche vor dem Hintergrund der Reflexion ihrer eigenen Entgrenzungsund Ausgrenzungserfahrungen zur Analyse sozialer Interessenkonflikte sowie von Macht- und Herrschaftsstrukturen in postparlamentarischen Demokratien und transnationalen Öffentlichkeiten. Mit dem Leitziel politischer Mündigkeit verbindet sich nicht nur der Anspruch auf Selbstreflexion und Kritikfähigkeit, sondern auch auf Selbstbefähigung (Empowerment) zur Teilhabe an demokratischen Aushandlungsprozessen über die Diskursbedingungen in sich transformierenden Gesellschaften („demokratische Iterationen“, Benhabib 2008, 196ff.). Dabei sind insbesondere die Chancen und Grenzen wirkungsvoller Verfahren der Interessenartikulation und politischen Teilhabe bislang unter- oder nicht-repräsentierter Gruppen in den Blick zu nehmen. Politische Bildung muss die Mechanismen der Selbst- und Fremdausschließung aus dem politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess unter machtbezogenen Konzepten neuer Regierungstechniken (Gouvernance, Gouvernementalität) analysieren. Politische Mündigkeit kann sich in entgrenzten und ausgrenzen- 1/2012 den Gesellschaften desweiteren nicht auf Partizipationsfähigkeit im Sinne der bloßen Mitverantwortung oder gar auf Techniken der Selbstregulierung beschränken. Politische Mündigkeit bedeutet immer auch die Fähigkeit „zum Widerspruch und zum Widerstand“ (Adorno 1971, 145) gegen Prozesse der Entdemokratisierung, zunehmender Ausgrenzung und sozialer Ungleichheit. Die erweiterten formalen Rechte und Chancen, z.B. durch den Status der Europäischen Unionsbürgerschaft, müssen hinsichtlich ihrer selektiven Realisierbarkeit analysiert und beurteilt werden: Welche Menschen besitzen das notwendige ökonomische, kulturelle und soziale Kapital, persönliche Lebenschancen in einem transnationalen Kontext zu gestalten? Hinsichtlich der Wege politischer Meinungs- und Willensbildung im Mehrebenensystem gilt es zu analysieren, inwiefern der rechtliche Status als UnionsbürgerIn jenseits der Anforderungen an die europäisierten WirtschaftsbürgerInnen überhaupt effektive politische Gestaltungsräume eröffnet, deren Chancen zur Partizipation demokratischen Ansprüchen genügen kann. Kritische Politische Bildung ist gesellschaftswissenschaftliche Bildung und klärt die sozialen und ökonomischen Bedingungen von Selbst-Bildungen, politischer Teilhabe und hegemonialer Diskurse. Politische Politik unterrichten Bildung muss den Abbau demokratischer Teilhabechancen thematisieren, d.h. Formen von Entdemokratisierung (Schwächung der Parlamente zugunsten der Exekutiven, von Expertengremien, Lobbyisten und kommerzieller Politikberatung), die (verhinderten) Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung unter Bedingungen erhöhter Wettbewerbs- und Leistungsorientierung sowie neue Formen sozialer Ausgrenzung und Technologien der Selbstregulierung in das Zentrum von Bildungspraxis und Bildungsforschung stellen. * Tagung der DVPB/LV Hessen vom 5. bis 6. März 2012 im Haus am Maiberg, Heppenheim/Bergstraße 33