Bibel in der Sprache des Herzens - Schweizerische Bibelgesellschaft

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Die Bibel in der Sprache des Herzens
Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Mitglieder der Schweizerischen Bibelgesellschaft!
Die Heiligen Schriften des Christentums umfassend in die Sprache des Volkes zu
übersetzen, ist fraglos eine der großen kulturellen Leistungen der frühen Neuzeit.
Die vielfältigen Versuche, Auszüge aus der Bibel in volkssprachliche Idiome zu
übertragen, wurden von der reformatorischen Bewegung wie in einem Generator
beschleunigt und erweitert. Damit war es möglich geworden, daß alle
Lesekundigen selbständig die Heilige Schrift studierten. Und doch ist es eine
alltägliche Erfahrung, daß Christinnen und Christen jedweden Alters die Bibel
langweilig finden. Sie kennen die Schriften nicht. Das ist kein neuer Befund.
Um Möglichkeiten des Verstehens und evtl. Handelns aufzuzeigen, lade ich Sie auf
eine kleine Erkundung in die christliche Frömmigkeitsgeschichte ein:
Was der spätantike Exeget Gregor (ca. 540-604) – der als Papst Gregor der Große
die abendländische Kulturtradition tiefgreifend beeinflußte – über die Dynamik
des Gottesworte dachte, konnte im Umgang mit der Bibel eine vielfache Wirkung
erzielen. Gregor spricht davon, daß, „die göttlichen Worte mit dem Lesenden
wachsen“ (divina eloquia cum legente crescunt; in: Ezechielhomilien I,7). Mit
einer gewissen Adaption der jüdischen Theorie von der im Auslegungsprozess
wachsenden Offenbarung (der „mündlichen Thora“) formuliert Gregor, daß nicht
nur der Sinn wächst, sondern das Wort Gottes selbst. Das göttliche Wort wächst
selbstverständlich nicht im Sinne einer literarischen Erweiterung, sondern in eine
andere Dimension hinein. Mit dem Erkennen und Verstehen, das sich nicht auf die
rationalen Kräfte beschränkt, dringt es in den Raum des Wesens vor. Um es in
Anlehnung an einen zentralen Begriff Friedrich Schleiermachers zu sagen: „Für das
göttliche Wort gibt es eine eigene Provinz im Gemüt des Menschen.“
Wird das Gotteswort in der Tiefe verstanden und erkannt, wächst es in die Mitte
der Person. Es wächst in das Herz. Für eine historisch-kritische Exegese ist dieser
Gedanke vom Wort, das „mit dem Lesenden wächst“ theoretisch nicht einzuholen.
Sie sieht sich einem festen Textkorpus gegenüber, das allenfalls wächst, wenn neue
Handschriften mit neuen Lesarten gefunden werden. Für Gregor ist das Wort der
Schrift dagegen keine feste Größe, kein letztgültig definiertes Volumen. In diesem
PD Dr. Michael Bangert, Basel 1 Punkt kommt Gregors Textverständnis dem der Post-Moderne nahe. Die von
Gregor maßgeblich genutzte Bibel ist die Vulgata, eine lateinische Übersetzung. Er,
der Spross einer alten römischen Familie, findet die Bibel also in seiner
Muttersprache vor. Der Gedanke, daß die Schrift mit dem Lesenden wachse,
entwickelt sich also mit der Möglichkeit, die Heiligen Texte in der Muttersprache
zu lesen.
Für Gregor steht das Wort nicht auf dem Pergament, sondern wird konstituiert in
der Begegnung mit den Lesenden. Das ist kühn gedacht. Werden nicht die
Selbständigkeit und die Objektivität der Offenbarung preisgegeben? Das gilt nur
auf der Oberfläche, denn aus der geistlichen Tradition der westlichen Christenheit
ließe sich auf diesen Einwand antworten: Die Kirche steht nicht außerhalb der
Offenbarung; sie ist der soziale Leib der Offenbarung, ihre geschichtliche Form.
Allemal: Gregor denkt groß wird über die Lesenden der Heiligen Schrift! Sie
erhalten uneingeschränkt ihre theologische Würde als Getaufte und Geistbegabte.
Lesen ist ein schöpferischer Akt, in dem der Schöpfer-Geist, die Gott-Liebe wie die
Mystikerin Gertrud von Helfta (1256-1302) sagt, Neues und Ungeahntes wirkt.
Gertrud von Helfta, diese ausordentliche Gestalt der europäischen
Frömmigkeitsgeschichte, will, obwohl sie in stupender Weise das Griechische und
das Lateinische beherrscht, nicht allein kognitiv das göttliche Wort verstehen; sie
will vielmehr, daß das Gotteswort ihr Herz berührt, in ihm gegenwärtig ist, es
weitet, selbst auf die Gefahr des Schmerzes hin. In einem Eintrag in ihr geistliches
Tagebuch berichtet Gertrud, wie sie intensiv darum bittet, Christus gleichgestaltet
zu werden. Sie will an seiner Leidenschaft teilnehmen. Gott in kommt in ihrer Sicht
nicht, um dann einfach wieder zu gehen. Er wirkt im Herzen des Menschen. Er
spricht seine Sprache. Gertrud von Helfta abstrahiert die Christusnachfolge daher
nicht, sondern sucht den Bericht von der Passion Christi auf die eigene Existenz hin
zu aktualisieren. Ihr Herz wird zum unmittelbaren Erfahrungsraum der
Evangelienberichte vom Leiden Jesu Christi. Für dieses Konzept übernimmt die
Ordensfrau aus dem Kloster Helfta einen Entwurf des Kirchenvaters Augustinus
von Hippo (354-430). In seinen Confessiones fand sie ein spirituelles Modell der
Bibelhermeneutik: Gott spricht nicht nur, er hört auch! Augustinus nahm den Gott
der Bibel als den Gott an, der sein Ohr am Herz des Menschen hat: „Unde hoc, nisi
quia erant aures tuae ad cor eius. (Woher kam ihr dies? Davon allein, daß Dein
Ohr an ihrem Herzen war; in: Confessiones, Liber Tertius). Er hört die Sprache des
menschlichen Herzens und er vermag in dessen spirituellen Sprachcode zu
kommunizieren.
PD Dr. Michael Bangert, Basel 2 Die „Hermeneutik des Herzens“, für die Gregor der Große und Gertrud von Helfta
optieren, setzt nicht bei einer Art von vermehrbaren Wissen oder bei der
analytischen Durchdringung der biblischen Texte an. Ihre ‚Verbündeten’ sind die
geistlichen Kräfte, die Weisheit und die poetische Ästhetik.
Die geistliche Lektüre, das Lesen der Bibel in der „Sprache des Herzens“, was aus
meiner Sicht in der Regel eine Lesemöglichkeit in der Muttersprache bzw. in der
Volkssprache voraussetzt, hat gegenüber der wissenschaftlichen Beschäftigung mit
der Bibel einen eigenen und unableitbaren Wert. Vielleicht ist es denkbar, daß sich
die wissenschaftliche Bibelauslegung an diesem schöpferischen Vorgang orientiert
und ihn als Rahmen ihres Methodenprogramms zur Geltung zu bringt? Die
geistliche Bibellektüre, die dem Lesenden zu Herzen geht, ist keine
vorwissenschaftliche und daher ersetzbare oder minderwertige Aktivität. Sie hat als
selbständige Form ein Eigenrecht, weil Gott ein andauerndes Gespräch mit all
seinen Menschen begonnen hat.
Wie sehr es hier nicht um die Vollständigkeit des exegetisch-theologischen
Wissens oder um eine Totalkenntnis verschiedener Idiome altorientalischer
Sprachen geht, ließe sich anhand der biblischen Kenntnis eines jungen Menschen
aufzeigen, der sich im Hochmittelalter in Mittelitalien als überaus geschickter Sohn
und Geschäftspartner eines überaus erfolgreichen Tuchhändlers einen Namen
machte. Dieser Francesco di Bernadone lernte in seiner Heimatstadt Assisi die
Heilige Schrift nur äußerst rudimentär kennen. Er war weder des Lateinischen noch
des Griechischen mächtig. Lediglich mit einigen Brocken des Okzitanischen
vermochte er die Lieder der Troubadoure nachzusingen. Das Wenige, das er von
der Bibel kannte, hatte er mühsam aus den in der Volkssprache gehaltenen
Predigten des schlecht gebildeten Stadtklerus herausklauben müssen. Ansonsten
war die Sprache der Liturgie in dieser Zeit eine eigenwillige Mixtur aus Kirchen-,
Küchen- und Kellerlatein. Wo dieser Francesco allerdings das geringe biblische
Wissen, über das er verfügt, in die Sprache seines Herzens zu übersetzen
vermochte, explodierte gleichsam seine innere Kenntnis des Gotteswortes.
Ausstrahlung und Anziehung dieses Menschen sind von solcher Kraft, daß ihn
seine Zeitgenossen den „anderen Christus“ (alter Christus) nannten und daß der
gegenwärtige Bischof von Rom seinen Namen als programmatischen Attribut für
sein Pontifikat wählte. Francesco d’Assisi hatte nur eine eingeschränkte Kenntnis
der Schrift, doch das, was er kannte, wuchs mit ihm in eine poetische Energie
PD Dr. Michael Bangert, Basel 3 hinein, aus der dann wiederum ein Gesang entstand, der als „Sonnengesang“ zu den
Perlen der Weltliteratur gehört und der in seiner Schöpfungsliebe manchen
Psalmen gleichrangig ist. Wie sehr er von der lautlosen Herzenssprache lebte, zeigt
nicht zuletzt ein kleiner Bericht davon, wie der bisweilen einen Ast und einen
Zweig nahm, um darauf die Melodien nachzuspielen, die ihn erfüllten. Die Bibel in
der Sprache des Herzens kennengelernt zu haben, macht zum einen simpel. So
wurde Franziskus kirchlicherseits seine Unbildung häufig in scharfer Weise
vorgehalten. Zum anderen verleiht die poetische Herzenssprache eine Leichtigkeit,
die auch für andere tröstlich und anziehend ist. Auch hier könnte neben seinem
Namenspatron auch der Bischof von Rom, Papst Franziskus, als Beispiel dienen.
Lassen Sie mich mit einem Blick auf Mechthild von Magdeburg (ca. 1207- ca.
1282) zum Schluß kommen. Mechthild von Magdeburg, deren Werk „Das
fließende Licht der Gottheit“ – wenn wir es ein wenig fokussiert sagen – einzig
und allein auf Baseldeutsch überliefert ist. Die Tatsache, daß sie nicht in Latein
schrieb bzw. schreiben ließ (z.B. durch einen Ordensmann), stellt in gewisser
Weise ein Novum dar. Damit gewann sie zum einen ein unverbrauchtes
sprachliches Medium, und zum anderen erreichte sie damit weite Kreise jenseits
des lateinkundigen Klerus. Der Verzicht auf das Latein eröffnete ihr neue poetische
Möglichkeiten, um ihre Herzenserfahrung zu formulieren. Die Begine Mechthild
bringt ihre geistlichen Erfahrungen z.B. mit dem ersttestamentlichen Buch „Das
Hohelied“ in einer neuartigen Sprache zum Ausdruck. Die Wirkung des
Gotteswortes schlägt sich in einer lyrischen Antwort nieder:
Da sprach sie: Ich tanze, Herr, wenn Du mich führest.
Soll ich sehr springen, mußt Du anfangen zu singen.
Dann springe ich in die Minne, von der Minne in die Erkenntnis,
von der Erkenntnis in den Genuß, vom Genuß über alle menschlichen Sinne.
Dort will ich verharren und doch höher kreisen.
Und der Jüngling muß also singen: Durch mich in Dich, und durch Dich von mir!
Von einer Sprache, die in dem „Erfahrungsraum Herz“ der Bibel die Kraft des
Tanzens und Singens abgewinnen kann, würde kaum jemand annehmen, sie sei auf
Dauer langweilig und wäre dem Vergessen anheimgegeben. Da muss uns nicht
bange sein. Die Schrift wächst mit den Lesenden in der Sprache des Herzens!
PD Dr. Michael Bangert, Basel 4 
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