Zwei Leseproben aus dem Lexikon der Filmmusik - Laaber

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ADR  Overdub-Verfahren
Affekt, Affektenlehre  Ausdruck
(musikalischer)
Akt
Mit ›Akt‹ wird die einzelne Filmrolle eines
Films bezeichnet, wobei die Anlehnung an
das Schauspiel bewusst erfolgte. Ein Akt
umfasst ca. 600 Meter Film und hat eine
Spieldauer von ca. 20 Minuten, so dass ein
herkömmlicher Film mit einer Spieldauer
zwischen 80 und 100 Minuten auf fünf Rollen gespult wird. Der Vorführer kann die
einzelnen Akte anhand farbiger Schutzfilme
an Anfang und Ende erkennen. Bei der Vorführung wurden in den Anfangszeiten des
Kinos technikbedingt Pausen zum Wechsel
der ­Filmrollen eingelegt. Verfügte ein Filmtheater über zwei Projektoren (ein ›Pärchen‹),
lag es in der Kunst des Vorführers, die Pausen anhand der in den Film eingestanzten
Aktwechselmarken (Kreis, Dreieck, Quadrat
in der rechten oberen Bildecke) zu überbrücken: erschien die erste Aktwechselmarke,
war der zweite Projektor mit dem eingelegten
Folgeakt zu starten, bei der zweiten Markierung wurde auf den anderen Projektor umgeschaltet, so dass der Wechsel im Idealfall
unbemerkt blieb. Mit zunehmender Entwicklung der Vorführtechnik wurde es möglich,
den ganzen Film auf ­einer Spule zu sammeln;
die Akte wurden dazu mit Hilfe sog. Umrolltische aneinander geklebt und anschließend
auf die Abwickelspule gezogen. Komfortabler
ist die kontinuierliche Vorführung der einzelnen Akte im ›Tellerbetrieb‹, wobei die Akte
waagerecht auf je einem Metallteller liegen,
von denen mehrere übereinander zu einem
Spulenturm angeordnet sind. Der Film wird
von dem jeweils benötigten Teller ab- und
auf diesen oder ­einen anderen Teller aufgewi-
Allen, Woody
ckelt, so dass das Umrollen (Rückspulen) des
Aktes bzw. des gesamten Films entfällt. – Mit
der Etablierung der digitalen Filmproduktion
und -wiedergabe ist die Akteinteilung vollständig obsolet geworden.
Filmmusikalisch ist sie insofern relevant,
als die Musik sich in der Regel nicht über die
Aktgrenzen erstreckt, da dies bei der geringsten Ungenauigkeit in der Vorführung auffallen
würde. Dies ist gleichzeitig unproblematisch,
da die Aktpausen meist mit Szenenwechseln
zusammenfallen, zwischen denen auch die
MGE
Musik pausiert bzw. wechselt.
Allen, Woody
* 1.12.1935 Brooklyn (New York)
Eigentlich Allan Stewart Konigsberg. Schriftsteller, Stand-Up-Comedian, Schauspieler,
Regisseur, Jazz-Klarinettist. Allen beginnt
seine Karriere als Comedy-Schriftsteller und
Comedian, ab Mitte der 50er Jahre auch als
Autor für Sitcoms und Fernsehshows, z.B. ab
1958 für Sid Ceasar’s Chevy Show und The Pat
Boone-Chevy Show (NBC). In dieser Zeit tritt
er vermehrt als Stand-Up-Comedian an die
Öffentlichkeit. Im Jahr 1965 erstes Drehbuch
und erste Filmrolle in What’s New, Pussycat?,
ein Jahr später erstes Theaterstück Don’t Drink
the Water am Broadway, 1967 eigene NBCSendung. Ab 1971 regelmäßige Auftritte als
Jazz-Klarinettist. 1972 tritt er zum letzten Mal
als Stand-Up-Comedian auf.
Allens Verwendung von Filmmusik beschränkt sich weitestgehend auf das Kompilieren von bestehender Musik bzw. Musikaufnahmen, wobei er die Musik oft mottoartig
oder stimmungsgebend einsetzt. Allen verwendet oft US-amerikanische Popularmusik der ersten Jahrhunderthälfte und deren
Adap­tion als Jazz-Standards wie z.B. den Song
Stardust in Stardust Memories, Cole  Porters Let’s Misbehave in Everything you wanted to know about Sex, George  Gershwins
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Ambient Music
­ hapsody in Blue in Manhattan. Daneben
R
greift er aber auch sehr oft auf das gängige
Repertoire klassischer Musik zurück, beispielsweise auf Sergej  Prokofjews Orchestermusiken in Love and Death, Felix Mendelssohn Bartholdys Musiken in A Midsummer
Night’s Sex Comedy oder auf Giuseppe Verdi
und Gaetano Donizetti in Matchpoint. Gelegentlich lässt er von Dick Hyman Stilkopien
anfertigen, u.a. für die ›fake documentaries‹
Zelig und Radio Days. Allens Anspruch des
avancierten Autorenfilmers, der alle Aspekte
des Filmemachens (darunter auch die Musik)
als künstlerisches Mittel versteht, drückt sich
auch in der Weite der konzeptuellen Ansätze aus: So ist beispielsweise Everyone Says I
Love You ein reiner  Musical-Film, während
in Annie Hall nur Source Music ( Diegetic
Music) erklingt.
Das dilettierende Musikmachen ist ein
zentraler Aspekt in Allens Personencharakterisierung, beispielsweise bei der Figur der
Annie Hall im gleichnamigen Film. Eine
ähnliche Art der Personencharakterisierung
findet sich bei Sleeper, wobei Allen das gängige biographische Deutungsmuster der Filmkritik überhöht und ad absurdum führt: der
ehemalige Hobby-Klarinettist Miles Monroe,
personifiziert vom Schauspieler Allen, flüchtet in Slapstick-Manier vor seinen Häschern,
während die Filmmusik, ausgeführt von Allen selbst und dem New Orleans Funeral Ragtime Orchestra, den clownesken  Kommentar liefert.
Die Charakterisierung von professionellen Musikern wie der Figur des Jazz-Gitarristen Emmett Ray (Sean Penn) in Sweet and
Low Down oder des Musikproduzenten Tony
Lacy (dargestellt vom Musiker Paul Simon)
in Annie Hall bilden vergleichsweise eher
die Ausnahme,  Cameos von echten Musikern wie der von Dianah Krall in Anything
Else ebenfalls.
Filme (Auswahl):
ȤȤ Take the Money and Run (Woody, der Unglücksrabe, USA 1969, M: Marvin Hamlisch)
ȤȤ Play It Again, Sam (Mach’s noch einmal, Sam,
USA 1972, M: Billy Goldenberg)
ȤȤ Everything You Always Wanted to Know About
Sex (But Where Afraid to Ask) (Was Sie immer schon über Sex wissen wollten, aber bisher
nicht zu fragen wagten, USA 1972, M: Mundell
Lowe)
ȤȤ Sleeper (Der Schläfer, USA 1973, M: Woody Allen)
ȤȤ Love and Death (Die letzte Nacht des Boris Gruschenko, F/USA 1975)
ȤȤ Annie Hall (Der Stadtneurotiker, USA 1977)
ȤȤ Manhattan (Manhattan, USA 1979)
ȤȤ Stardust Memories (Stardust Memories, USA
1980)
ȤȤ A Midsummer Night’s Sex Comedy (Eine Sommernachts-Sexkomödie, USA 1982)
ȤȤ Zelig (Zelig, USA 1983, M: Dick Hyman)
ȤȤ Hannah and her Sisters (Hannah und ihre Schwestern, USA 1986)
ȤȤ Radio Days (Radio Days, USA 1987, M: Dick Hyman)
ȤȤ Shadows and Fog (Schatten und Nebel, USA 1992)
ȤȤ Everyone Says I Love You (Alle sagen: I love you,
USA 1996, M: Dick Hyman)
ȤȤ Sweet and Lowdown (Sweet and Low Down, USA
1999)
ȤȤ Anything Else (Anything Else, USA/F/GB 2003)
ȤȤ Match Point (Match Point, GB/USA 2005)
ȤȤ Scoop (Scoop – Der Knüller, GB/USA 2006)
S. Reimertz, Woody Allen. Eine Biographie,
Reinbek b. Hamburg 2000  S. Björkman (Hrsg.),
Woody Allen on Woody Allen. In conversation with
Stig Björkman, London 1995  J. Felix, Woody Allen.
Komik und Krise, Marburg 1992  E. Lax, Woody Allen. Eine Biographie, Köln 1992.
 www.woodyallen.com(autorisiert)  www.woo­dyKHO
allen.de (nicht autorisiert) Ambient Music
Ambient Music soll eine fast unmerkliche,
harmonisierte akustische Atmosphäre schaffen. Rhythmus spielt bei Ambient Music
kaum eine Rolle. Es dominieren meist sanfte
Dur-Moll-Akkorde, harmonisierte Klangflächen und ›Soundscapes‹ ( Sound). Die Stü-
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cke sind meist sehr lang und bauen sich oft
als ›Prozesskomposition‹ auf, wobei sie selten
einer klassischen Formstruktur folgen.
Bereits 1920 komponierte Erik  Satie
eine »Einrichtungsmusik« (»Musique d’a­
meu­blement«), welche als eine Frühform der
Ambient Music gelten kann. Als Begründer
der heutigen Ambient Music gilt Brian Eno,
der das Genre mit seinem Album Ambient 1:
Music for Airports prägte. Die LP war tatsächlich als Musik für Flughäfen gedacht. Sie hatte den Anspruch, sowohl für Durchreisende,
als auch für Wartende angenehm und interessant zu sein, selbst wenn die Wartezeit so
lange ist, dass das Album als Endlos-Schleife
gespielt wird.
Die kommerzialisierte Form der Ambient Music ist ›Muzak‹ (Musik zum animierten Konsum), die gewöhnlich in Fahrstühlen,
Kaufhäusern oder z.B. Hotels dauerhaft abgeJUL
spielt wird.
Amenábar, Alejandro
* 31.3.1972 Santiago de Chile
Chilenischer Regisseur, Autor und Filmkomponist. Amenábar wuchs nach der Flucht
seiner Eltern vor dem faschistischen Putsch
(1973) in Spanien auf. Nach einigen  Kurzfilmen während des Filmstudiums in Madrid
drehte er im Alter von 23 Jahren seinen ersten Langfilm Tesis – für den er das ungeliebte
Studium schließlich abbrach. Der Horror­
thriller erhielt bei der Goya-Verleihung 1997
sieben Preise und lief auch auf der Berlinale.
Sein zweiter Film Abre los ojos, der ebenfalls
mehrere internationale Preise gewann (Tokio,
Chile, Berlin), wurde 2001 unter dem Titel
Vanilla Sky in Hollywood mit einem Star­
ensemble neu verfilmt, Produzent und Hauptdarsteller war Tom Cruise. Amenábar bekam
daraufhin 2001 mit dem Spuk-Thriller The
Others die Gelegenheit zum Debüt in Amerika. Nach diesen drei Filmen, vor allem assozi-
Amenábar, Alejandro
iert mit dem Grusel- und Horrorgenre, drehte
er zuletzt ein ebenfalls preisgekröntes Drama
mit moralisch-politischem Hintergrund (u.a.
Oscar als bester fremdsprachiger Film): die
spanische Produktion Mar adentro (2004)
thematisiert die Kontroverse um aktive Sterbehilfe anhand der Geschichte des ganzkörpergelähmten galizischen Seemannes Ramón
Sampedro, der sich 1998 mit fremder Hilfe
das Leben nahm.
Bereits für seine ersten Kurzfilme schrieb
Amenábar eigene Drehbücher sowie die Musik – dies trotz fehlender musikalischer Ausbildung und lange Zeit auch ohne Notenkenntnis. Musikalische Anregungen schöpft
er vor allem aus bestehender Filmmusik und
orientiert sich insbesondere an dem symphonischen Stil von John  Williams (Garbarz
2002). An der künstlerischen Personalunion
als Autor (in bewährter Zusammenarbeit mit
Mateo Gil), Regisseur und Komponist hielt
er bei seinen vier Filmen bisher fest. Weitere
Filmmusikkompositionen fertigte Amenábar
auch für Filme befreundeter Regisseure an.
Amenábars Musik zielt auf die Erzeugung atmosphärischer Wirkungen durch ihre
Harmonik und  Instrumentation, weniger
auf griffige motivisch-thematische Gestaltung. Nahezu ohne Pause verwendet Amenábar im Horrorstreifen Tesis extradiegetische
Filmmusik ( Off-/On-Musik) und folgt
damit der Genrekonvention einer gesättigt­effektvollen Musikausstattung ( Horrorfilm). In stilistisch vertrautem Ton (Spannungs- und Komikklischees eingeschlossen)
fungiert sie dabei auch als auktoriales Kontrollmoment der Zuschauerreaktion (Russel 2006). Ganz im Gegensatz dazu steht die
zurückhaltende und fast intime musikalische
Begleitung in The Others. Hier schafft Amenábar einen düster-bedrohlichen Rahmen für
die inneren Konflikte und die Unsicherheit
der Figuren und benutzt vermehrt Sequenzen
absoluter Stille als wiederkehrendes Moment
der Spannungssteigerung.
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Animationsfilm
Filme:
ȤȤ Tesis (Tesis – Der Snuff Film, E 1996)
ȤȤ Abre los ojos (Vitual Nightmare – Open Your Eyes,
E/F/I 1997)
ȤȤ Los otros (The Others, E/F/USA 2001)
ȤȤ Mar adentro (Das Meer in mir, E/F/I 2004)
ȤȤ Agora (Agora – Die Säulen des Himmels, E 2009)
Weitere Filmmsuik:
ȤȤ Allanamiento de morada (E 1998, R: Mateo Gil)
ȤȤ La lengua de las mariposas (E 1999, R: José Luis
Cuerda)
ȤȤ Nadie conoce a nadie (Bruderschaft des Todes, E
1999, R: Mateo Gil)
A. Sempere, Alejandro Amenábar: cine en las
venas, Madrid 2000  O.R. Marchante / A. Amenábar, Amenábar, Vocación de Intriga Madrid 2002 
C. Vera, ›Tesis‹ From Alejandro Amenábar in: Cómo
Hacer Cine 1, Madrid 2002  C.A. Buckley, Alejandro Amenábar’s »Tesis«: art, commerce and renewal
in Spanish cinema, in: Post Script: Essays in Film
and the Humanities 21/2 (2002), S. 12–25  F. Garbarz, Alejandro Amenábar, Jouer avec les projections
mentales du spectateur (Interview), in: Positif: revue
mensuelle de cinema 491 (2002) S. 16–20  D. Russel, Sounds like Horror: Ajandro Amenábar’s Thesis
on Audio-Visual Violence, in: Canadian Journal of
Film Studies 15/2 (2006), S. 81–95.
 www.amenabar.com (offizielle Homepage spa­
nisch/englisch)
TWA
Animationsfilm
›Animationsfilm‹ ist ein Oberbegriff für Filme, die Bewegungsillusion aus Bildfolgen
erzeugen, die nicht durch das Abfilmen der
Bewegung selbst gewonnen wurden.  ›Zeichentrickfilm‹ bzw. ›Cartoon‹ sind Unterkategorien für Filme, die aus zweidimensionalen,
meist handgefertigten Zeichnungen bestehen,
während ›Animationsfilm‹ weitere Möglichkeiten umfasst, z.B. Stop-Motion-Animation,
bei der dreidimensionale Gegenstände (wie
Plastilinfiguren oder Puppen, aber auch reale
Menschen / Gegenstände) manipuliert werden, Scherenschnittfilme, Rotoscoping u.a.
Motion-capture-Verfahren (bei denen die
Umrisse realer Objekte zur Grundlage der
Bildfolgen werden), Pixilation, wobei reale
Schauspieler wie in Stop-Motion-Technik animierte Figuren behandelt werden, Computeranimation, bei der computergenerierte zweidimensionale Bilder oder Computermodelle
dreidimensionaler Objekte animiert werden,
sowie bestimmte Formen des  abstrakten
Films (sowohl solche, die mit Photographien
konventioneller zweidimensionaler Bilder arbeiten als auch solche, die durch die direkte
Bemalung eines Filmstreifens entstehen).
Während Animationsfilme, die mit Figuren und traditionellen narrativen Abläufen
arbeiten, sich im Musikeinsatz von Realfilmen meist nicht sehr unterscheiden (auch
wenn klassische Hollywood-Cartoons eine
eng mit ihrer narrativen Struktur verbundene Musiksprache ausgeprägt haben ( Zeichentrickfilm), gibt es schon früh auch andere Verbindungen zur Musik, etwa in den
mit Pappmaché-Puppen hergestellten StopMo­tion-Tanzfilmen, die Alexander Schirjajew seit 1904 machte und die zu den frühesten Animationsfilmen überhaupt gehören.
Danach ist vor allem der abstrakte Film seit
den 20er Jahren eng mit Musik oder der Idee
von Musik verknüpft: Filmemacher wie Hans
Richter, Walter  Ruttmann und Viking Eggeling gaben ihren Filmen in den 20er und
30er Jahren oft musikalischer Terminologie
entlehnte Namen (auch wenn Eggeling die
musikalische Begleitung seiner Filme ablehnte, da er sie für in sich selbst hinreichend musikalisch erachtete); Max Butting oder Hanns
 Eisler komponierten Musik für Ruttmanns
Filme, Richter verwendete z.B. Musik von
Darius  Milhaud, aber auch  Jazz; Oskar
 Fischinger stellte mit seinen filmischen Studien u.a. Filme in den 30er und 40er Jahren
auf präexistente Musik her ( vorbestehendes Werk). Angeregt von Fischinger, orientierten John und James Whitney sich in den
40er Jahren in ihren abstrakten Filmen an den
Verarbeitungstechniken serieller Musik; John
Whitney verwendete in den 70er Jahren auch
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Musik Terry Rileys. Möglicherweise angeregt
von Experimenten Len Leys in den 20er Jahren
mit unmittelbar manipuliertem Filmmaterial,
übertrug Norman McLaren diese Technik in
den 30er und 40er Jahren auch auf den Ton
seiner Filme, die er durch direkte Zeichnung
auf die Lichttonspur ( Lichttonverfahren)
des Filmstreifens (oder durch das Aufbringen
photographisch verkleinerter Zeichnungen
auf die Tonspur) erzeugte (McLaren arbeitete
jedoch auch mit konventioneller Musik, z.B.
in Begone Dull Care, 1949, mit Oscar Peterson). Leys und McLarens Idee, die Affinität
von Bild und Ton dadurch zu erzeugen, dass
beide aus ähnlichen (graphischen) Bearbeitungsprozessen des Filmmaterials hervorgehen, findet Echos im Bereich der Computeranimation, in der Bild- wie Tondaten digital
generiert oder verarbeitet werden, was enge
Zusammenhänge in Datenstrukturen und
-manipulation erlaubt. Die Flexibilität digitaler Technik öffnet für die Bildanimation und
ihre Kombination mit Musik Möglichkeiten,
die kaum mehr durch den Widerstand des
Materials eingeschränkt werden.
K. Laybourne, The Animation Book, New York
1998  H. Emons, »Musik des Lichts«. Tonkunst und
filmische Abstraktion, in: J. Kloppenburg (Hrsg.),
Musik multimedial. Filmmusik, Videoclip, Fernsehen, Laber 2000, S. 231–258  T. Belschner, Digitale
›virtuelle‹ Welten, in: ebenda, S. 319–346  R. Russett, Animated sound and beyond, in: American MuGHE
sic 22/1 (2004), S. 110–121.
Anlegen (von Musik)
Das Anlegen von Musik – auch ›Music edi­
ting‹ genannt – bezeichnet den Prozess des
bildsynchronen Anlegens von Musikstücken
oder Musikfragmenten an dafür vorgesehenen Stellen in einem Film.
Dem Music editing geht in der Regel
das Anlegen von sogenannten  Temp tracks
während des Filmschnitts ( Schnitt) voraus,
Anlegen (von Musik)
welches normalerweise vom Cutter in Zusammenarbeit mit dem Regisseur gemacht
wird, um die Wirkung von Musik an bestimmten Stellen im Film schon während der
 Montage zu testen. Die Temp tracks dienen
oft als Vorlage für konkrete Gespräche mit
dem Filmkomponisten, an welchen Stellen,
in welchem Stil Musik für den Film gemacht
werden soll. Der Komponist hält sich in Absprache mit der Regie an die Positionen und
Dauern und komponiert autonom eine eigene Filmmusik für die besagten Stellen. Diese
werden abschließend auf einem Tonträger
in Stereo oder 5.1  Surround in sich fertig
gemischt oder als noch mischbare Stems an
das Studio schickt, in dem die Endmischung
( Mischung, Re-Recording) gemacht werden soll.
Dort gibt es einen  Music Editor, der
die angelieferten Musikstücke anhand der benannten  Timecode-Positionen auf ­eigens
dafür frei gehaltenen Spuren anlegt, damit
sie – versehen mit sogenanntem »FadeFleisch« – bei der Mischung an den dafür
­vorgesehenen Stellen im Film anliegen.
Da der Timecode international genormt
ist, liegt die Musik bei einem korrekten Music editing dann auch idealerweise so bei der
Mischung an, dass auch innerhalb der Musik
bildsynchron punktuell komponierte Stellen
genau zu den Bildern zu hören sind, zu denen
sie komponiert wurden, auch wenn der Komponist weder beim Anlegen der Musik, noch
bei der Endmischung zugegen ist.
Während es bei den kostenintensiveren
Aufträgen für Filmmusik in den USA durchaus üblich ist, dass ein Music Editor mit dem
Komponisten zusammenarbeitet und sozusagen der reisende Assistent des Komponisten
ist, erledigt die Aufgabe des Music editing
in europäischen Filmen häufig ein ›Sound­
editor‹, der für das Tonstudio arbeitet, in dem
die Endmischung stattfindet. JUL
Antheil, George
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Antheil, George (Georg Carl Johann)
* 8.7.1900 Trenton (New Jersey),
† 12.2.1959 New York
US-amerikanischer Komponist. Antheil,
Kind polnisch-deutschstämmiger Immigran­
ten, studierte privat beim Liszt-Schüler Constantin von Sternberg (1916–1918) und bei Ernest Bloch (1919–1921). Sternberg vermittelte
ihm die Patronage von Marie Louise Curtis
Bok, die ihn 19 Jahre lang finanziell förderte, was ihm erlaubte, nach Europa zu reisen,
wo er die Jahre 1922 bis 1933 als Pianist
und Komponist verbrachte, zuerst in Berlin
(1922/1923), dann in Paris (1923–1928) und
Wien (1928–1933); von 1929 an verbrachte er
einen Teil seiner Zeit wieder in den USA, wohin er 1933 endgültig zurückkehrte.
Schon früh an einer perkussiven Nutzung des Klaviers und an oft mechanischen
Rhythmen interessiert, orientierte sich Antheil in Europa besonders an Strawinsky, den
er 1922 in Berlin traf; charakteristisch sind
Klavierstücke wie Airplane Sonata (1921),
­Sonate Sauvage (1922/1923), Death of Ma­
chines (1923) oder Jazz Sonata (1922/1923).
In Paris lernte Antheil die Crème der kulturellen Moderne kennen (Picasso,  ­Satie,
W.B. Yeats, Ezra Pound u.a.). Das Ballet
mécanique für 16 Pianolas und Perkussion
(1923–1925) war die musikalisch-technische
Synthese von Antheils Ideen und zugleich
seine erste filmmusikalische Arbeit: Das
Stück sollte von einem von Fernand Léger gedrehten Film begleitet werden, was jedoch an
Synchronisa­tionsproblemen scheiterte (erst
im Jahre 2000 wurden Film und originale
Musik zusam­men aufgeführt).
Antheils Wendung zu einem an Strawinskys Neoklassizismus orientierten Stil
wurde nicht so gut aufgenommen wie frühere
Stücke; nach dem Erfolg der ›Zeitoper‹ Transatlantic (1928–1930) fiel auch die Aufnahme
späterer Musiktheaterarbeiten ab. So folgte Antheils Rückkehr in die USA 1933 bald
George Antheil (2. v.r.) zusammen mit der Filmschauspielerin Hedy Lamarr (M.), mit der er zusammen angeblich
einen funkgesteuerten Torpedo erfunden und zum Patent
­angemeldet hat, sowie seiner Frau Boski (2. v.l.).
ein neuer Aufbruch: 1936 zog er nach Hollywood und schrieb in den nächsten 20 Jahren
ca. 30 Filmmusiken (dazu  Stock Music, die
in zahlreichen anderen Filmen verwendet
wurde), zuerst für Paramount (1935–1938),
später für andere Studios. Seine Kunstmusikkarriere nahm erst mit der 4. Symphonie wieder an Fahrt auf und verlief von da an parallel
zu Antheils Filmarbeit.
Antheil schrieb 1936, er sei von Paramount engagiert worden, um »modernistische« Musik zu schreiben (Prendergast, Film
Music – a neglected art, S. 45f.); verantwortlich war Music Director Boris Morros, der
auch versuchte, Arnold  Schönberg und Igor
Strawinsky für die Filmmusik zu gewinnen.
Antheils Arbeit fügte sich jedoch hinreichend
gut in die Normen von Hollywood-Partituren
der klassischen Studio-Ära ein, um nicht zum
Problem zu werden; die Musik zu Cecil B. De
Milles The Plainsman (1936) ist ein Beispiel
für die gelungene Integration moderner Ele-
41
Archivmusik
mente in ein Genre-Idiom. Nur in Ausnahmefällen – etwa in seiner Musik für einen Dokumentarfilm als Teil des Communications
Exhibit bei der Weltausstellung in New York
1939 (siehe Cochrane, George Antheil’s Music
to a World’s Fair Film) – erlaubte er sich, die
Sprache seiner Konzertmusik stärker in die
Filmarbeit einzubringen.
Filme (Auswahl):
ȤȤ Ballet mécanique (F 1924 (erste Aufführung mit
Antheils Musik 2000), R: Fernand Léger / Dudley Murphy)
ȤȤ The Scoundrel (Ein charmanter Schurke, USA
1935, R: Ben Hecht / Charles MacArthur,
M: zus. mit Frank Tours)
ȤȤ The Plainsman (Der Held der Prärie, USA 1936,
R: Cecil B. DeMille)
ȤȤ Make Way for Tomorrow (Kein Platz für Eltern,
USA 1937, R: Leo McCarey, M: zus. mit Victor
Young)
ȤȤ The Buccaneer (USA 1938, R: Cecil B. DeMille)
ȤȤ Angels over Broadway (USA 1940, R: Ben Hecht)
ȤȤ Repeat Performance (USA 1947, R: Alfred L.
Werker)
ȤȤ Knock on Any Door (Vor verschlossenen Türen,
USA 1949, R: Nicholas Ray)
ȤȤ House by the River (Das Todeshaus am Fluss,
USA 1950, R: Fritz Lang)
ȤȤ In a Lonely Place (Ein einsamer Ort, USA 1950,
R: Nicholas Ray)
ȤȤ The Sniper (USA 1952, R: Edward Dmytryk)
ȤȤ Not as a Stranger (…und nicht als ein Fremder,
USA 1955, R: Stanley Kramer)
ȤȤ Dementia (USA 1955, R: John Parker)
ȤȤ The Twentieth Century (TV-Serie, USA 1957–
1966, M: George Antheil für fünf Folgen von
1957–1959)
Bad Boy of Music, Garden City (NY) 1945
L. Morton, An Interview with George Antheil, in: Film Music Notes 10/11 (1950), S. 4–7 
H.W. Heinsheiner, George Antheil, in: Musik und
Bildung 8/2 (1976), S. 67ff.  C. McCarty, Revi­
sing George Antheil’s Filmography, in: The Cue
Sheet 6/4 (1989), S. 139–142  K.A. Cochrane, George
Antheil’s Music to a World’s Fair Film, University of
Northern Colorado 1994 (Diss.)  G. Wehmeyer,
Der Pianist ist bewaffnet: George Antheil, das Enfant
terrible der Neuen Musik, in: NZfM 146/6 (1995),
S. 14–18.
GHE
Archivmusik
Mit dem Terminus ›Archivmusik‹ (synonym
teilweise auch ›Librarymusik‹ und ›Konservenmusik‹) bezeichnet man heutzutage auf
Tonträgern, der Festplatte des eigenen PCs
oder im Internet vorliegende Musik, wobei
mehr oder weniger sprechende Titel und
assoziative Schlagworte auf den Tonträgern
sowie Systematisierungen in Datenbanken
bzw. Katalogen und Suchmaschinen die Auswahl erleichtern. Als historische Vorläufer
können Stummfilmmusiksammlungen bzw.
 Kinotheken angesehen werden, bei denen jedoch Noten und noch nicht Tonträger
»verschlagwortet« wurden. Eingang in diese Sammlungen fanden vor allem spezielle
Stummfilm-Illustrationsmusiken, Stücke des
klassisch-romantischen Repertoires sowie
populäre  Songs. Damals wie heute müssen
die Musikschnipsel in einer  Kompila­tion
zusammengefügt werden, für die früher der
Kinokapellmeister, heutzutage inhaltlich Regisseur oder Redakteur und technisch Cutter oder  Music Editor verantwortlich sind.
Die ästhetischen Schwierigkeiten bei der Zuordnung sind die gleichen geblieben. Nachteile des Einsatzes von Archivmusik sind vor
allem die nur bedingt mögliche Anpassung
an das visuelle Geschehen bzw. an Synchronpunkte ( Synchronisation) und somit ihre
eingeschränkten dramaturgischen Möglichkeiten sowie die fehlende Homo­genität der
Filmmusik bei Verwendung mehrerer Musikstücke, die zudem selten direkt aufeinander
folgen können, da harmonische Übergänge
wie Modulationen fehlen und klangliche
Unterschiede stören könnten. Problematisch
kann auch die Verwendung ein und desselben Musikstücks in verschiedenen Kontexten sein, insbesondere bei in zeitlicher
Nähe ausgestrahlten Filmen, da in der ersten Rezeption aufgebaute Assozia­tionsfelder
möglicherweise nicht mehr ­ausgeblendet
werden können.
Archivmusik
Der Einsatz von Archivmusik erfolgt
häu­fig in Features,  Dokumentationen und
anderen informativen Beiträgen. Einer der
Gründe hierfür ist der Termindruck, da gerade für das  Fernsehen solche Beiträge oft in
wenigen Tagen oder sogar nur Stunden vor der
Sendung entstehen müssen und für eine ausgefeilte  Komposition, die auch noch eingespielt werden müsste, keine Zeit bleibt. Wegen
der sofortigen Verfügbarkeit gibt es außerdem
keine Unsicherheiten bezüglich des klanglichen Ergebnisses wie bei einer Originalkomposition. Weitere Gründe sind das gerade
für diese Sendeformate oft knapp bemessene
Budget und die häufige Nebenrolle der Musik
gegenüber dem oft prominenten Off-Kommentar. Sie übernimmt beispielsweise Lückenbüßerfunktion, wenn keine in­teressanten
oder brauchbaren  ­O-Töne vor­liegen, oder
Tapetenfunktion, wenn nur durch das Bild
transportierte Sachinforma­tionen eingespielt
werden. Am häufigsten soll sie jedoch der
latenten Stimmungserzeugung dienen. Vielfach helfen dem Redakteur oder Regisseur bei
Fernsehsendern Mitarbeiter des Schallarchivs
durch Vorauswahl und Beratung, teilweise
spezielle Fachgruppen für Musikberatung, die
persönliche Schlagwortkataloge verwenden.
Weltweit operierende Archivmusikverlage bzw. Libraryfirmen offerieren neben kostenpflichtiger Beratung heutzutage eine umfassende Vielfalt von Musik, die entsprechend
musikalischen Trends ständig aktualisiert
wird und zumeist auf CDs zum sofortigen
Gebrauch zur Verfügung steht. Professionelle Nutzer wie Fernseh- und Rundfunksender,
Tonstudios, Filmproduktionsgesellschaften,
Videostudios und Werbeagenturen werden
fortlaufend und kostenlos bemustert. Library­
firmen sind als Verleger in nicht geringem
Umfang an den Rückflüssen der Urheberrechtstantiemen ( Urheberrecht) beteiligt,
wodurch sich die teilweise recht hohen Produktionskosten amortisieren. Librarymusik,
bei der es sich zu 99% um Instrumentalmusik
42
handelt, ist gegenüber der Masse aktueller
 Popmusik generell recht langlebig und wird
teilweise über 10–20 Jahre lang eingesetzt.
Die Urheber solcher Musik bleiben weitgehend anonym; nur Vielschreiber erreichen
bei Insidern Bekanntheit. Durch Rahmenverträge der GEMA bzw. GVL ( Verwertungsgesellschaften) mit den Fernsehsendern ist
keine gesonderte Abrechnung der Einzeltitel
erforderlich, was die Verwendung solcher
Musik zusätzlich attraktiv macht. Überblicke
zu Libraryfirmen finden sich in Kungel (2004,
S. 222–225) und Schneider (1989, S. 171 f.).
Konzeptionen solcher Sammlungen orientieren sich am häufigsten an zentralen Stimmungen, aber auch an konkreten Themen und
Objekten der physischen Wirklichkeit, einer
bestimmten Klangfarbe oder einem Soloin­
strument, Tanzrhythmen und Musikstilen sowie Anforderungen des filmischen Einsatzes
(z.B. Intros, Fanfaren, Endings etc.).
Für eine Hintergrundfunktion bzw.
 Illustration geeignete Musik zeichnet sich
zumeist durch Flächigkeit (lange Töne / Akkorde mit geringen dynamischen, klanglichen und harmonischen Unterschieden) und
Punktualität (wiederkehrende rhythmische
Patterns / Akzente mit wenigen Veränderungen) aus. Sie lässt sich nahezu beliebig schneiden, verlängern und verkürzen sowie an
gewünschter Stelle ein- und ausblenden. Melodien werden weitgehend vermieden, da sie
die Aufmerksamkeit von Bild und Kommentar abziehen können. Häufig lehnt sich solche
Musik an stilistische oder ethnische Vorbilder
an, ­teilweise handelt es sich auch um Arrangements historischer Originale oder eingebrachte Samples ethnischer Originalaufnahmen.  Stummfilm  Vorbestehendes Werk
N.J. Schneider, Archivmusik – Musikarchive,
in: Ders., Handbuch Filmmusik II: Musik im dokumentarischen Film, München 1989, S. 168–188 
R. Wehmeier, Archiv- oder Librarymusik, in: Ders.,
Handbuch Musik im Fernsehen. Praxis und Praktiken
bei deutschsprachigen Sendern, Regensburg 1995,
43
Artemjew, Eduard
S. 71–90  R. Kungel, Konservenmusik, in: Ders.,
Filmmusik für Filmemacher. Die richtige Musik zum
besseren Film, Gau-Heppenheim 2004, S. 216–226. CLB
Arnold, Malcolm Henry
* 21.10.1921 Northhampton (England),
† 23.11.2006 Norfolk
Englischer Komponist. Arnold nahm 1938
sein Studium in den Fächern Komposition,
Trompete und Klavier am Royal College of
Music in London auf und war ab 1941 als
Solotrompeter beim Royal Philharmonic Orchestra tätig, bis er in die Armee eintrat. Nach
dem Krieg widmete er sich verstärkt seinen
Kompositionen und schrieb zwischen 1948
und 1971 insgesamt 132 Filmmusiken für
Dokumentar- und Spielfilme.
1957 erhielt Arnold als erster britischer
Komponist einen Oscar für Bridge on the
River Kwai, insbesondere für den »Colonel
Bogey March«. Dieser wurde zwar nicht von
ihm selbst, sondern schon 1914 von Kenneth
J. Alford komponiert, aber durch Arnold dramaturgisch vor allem mittels einer differenzierten und effektvollen  Instrumentation
wirkungsvoll inszeniert. Arnold kreiert eine
große Klimax, indem er den Marsch mit einem
Flüstern beginnen und allmählich Blas- und
Perkussionsinstrumente hinzutreten lässt.
In seiner Musik sind Klangfarben, in­
strumentale Effekte sowie eine dramaturgisch
gezielte Verbindung von Musik und Geräusch
von großer Bedeutung. Insgesamt vereint Arnold in seinem Stil sehr heterogene, bisweilen
scheinbar triviale und geräuschhafte mit symphonischen Elementen, um eine charakteristisch pointierte musikalische Illustration des
jeweiligen Bildes zu erreichen.
Als stilistisches Vorbild führte er selbst
neben seinen britischen Zeitgenossen William Alwyn und William Walton den französischen Komponisten Hector Berlioz, insbesondere dessen Symphonie fantastique (1830)
an. Arnold komponierte neben Filmmusik
auch Kammermusik, neun Symphonien sowie
diverse Instrumentalkonzerte, Ouvertüren,
Suiten und Tänze. 1993 wurde er in Anerkennung seines Werkes zum Ritter geschlagen.
Filme (Auswahl):
ȤȤ Hobson’s Choice (Der Herr im Haus bin ich,
GB 1954, R: David Lean)
ȤȤ The Bridge on the River Kwai (Die Brücke am
Kwai, GB/USA 1957, R. David Lean)
ȤȤ The Inn of the Sixth Happiness (Die Herberge zur
sechsten Glückseligkeit, USA 1958, R: Mark Robson)
ȤȤ Whistle Down the Wind (… woher der Wind
weht, GB 1961, R: Bryan Forbes)
P.R. Jackson, The Life and Music of Sir Malcolm
Arnold: The Brilliant and the Dark, London 2003.
 www.malcolmarnold.co.uk
CAH
Arrangement  Bearbeitung
Artemjew, Eduard
* 30.11.1937 Nowosibirsk
Russischer Komponist und Musiker. Von
großer Bedeutung für das filmmusikalische
Schaffen Artemjews sind dessen Studien zur
musikalischen und physikalischen Akustik,
die er zwischen 1960 und 1962 im ersten
sowjetischen Studio für Elektroakustik in
Moskau unternahm, so dass er als einer der
Pioniere auf diesem Gebiet gilt. Insbesondere
während der intensiven Zusammenarbeit mit
dem Regisseur Andrej  Tarkowskij in den
70er Jahren profitierte der Komponist von
seinen frühen Erfahrungen mit  elektronischer Musik, die in ihrer sparsamen Dosierung zum mysteriösen Charakter vor allem
der  Science-Fiction-Filme maßgeblich
bei­trägt. Der Rückgriff auf die Musik Johann
Sebastian Bachs – etwa in Solaris (1972) oder
Zerkalo (Der Spiegel, 1975) – geht wesentlich
auf Anregungen Tarkowskijs zurück.
N
Nadelton
Nyman
Michael
Nadelton
Als ›Nadelton‹ (›Sound-on-Disc‹) werden frühe Tonfilm-Verfahren bezeichnet, bei denen
der Filmton auf einer separaten Grammophonplatte vorliegt (abgetastet »per Nadel«),
über geeignete mechanische oder elektrische Verfahren mit dem Filmbild gekoppelt
und synchronisiert wiedergegeben wird. Das
Grundprinzip geht auf Thomas Edison und
William Dickson zurück, die bereits 1893
mit dem Kinetophon ein System vorstellten,
das bewegte Bilder (eines Kinetoskops) mit
synchroner Tonwiedergabe (eines WalzenPhonographen) verknüpfte. In der Folge entwickelten u.a. der Franzose Léon Gaumont
(Chronophone, ab 1902), der Deutsche Oskar  Messter (Biophon, ab 1903) sowie die
Amerikaner E.E. Norton (Cameraphone, ab
1908) und Orlando Kellum (Phonokinema,
ab 1921) das Verfahren weiter. Besonders bedeutsam für den Nadelton war die Entscheidung der Warner Bros. Studios, ein eigenes
Nadelton-Verfahren als Standard für seine
Produktionen einzusetzen ( Vitaphone, ab
1926). Die ersten Spielfilme mit durchgehend
synchronisiertem Musik- und Effekt-Soundtrack (Don Juan, 1926) und mit teilweise gesprochenen Dialogszenen (The Jazz Singer,
1927) waren Warner-Produktionen mit Vita-
phone-Nadelton. In der Anfangszeit war der
Nadelton hinsichtlich Kostenaufwand und
Klangqualität den konkurrierenden  Lichttonverfahren weit überlegen. Aufgrund der
prinzipbedingten Probleme des Nadeltons,
insbesondere der latenten Schwierigkeiten
mit der Bild-Ton-Synchronisation (z.B. nach
Filmrissen oder bei »Hängen« der Grammophonnadel), konnten sich jedoch die Lichttonverfahren bis in die 30er-Jahre allgemein
durchsetzen. Eine moderne Variante des
Sound-on-Disc-Prinzips stellt das im Kino
verwendete DTS- Surround-Verfahren dar,
bei dem der auf CD vorliegende Filmton über
eine auf dem Film aufgebrachte optische
Steuerspur ( Timecode) mit dem Bild synchronisiert wird.
W. Mühl-Benninghaus, Das Ringen um den
Tonfilm, Düsseldorf 1999  J. Polzer (Hrsg.), Aufstieg
CHL
und Untergang des Tonfilms, Potsdam 2002.
Narration
Der Ausdruck ›Narration‹ (von lat. narrare =
erzählen) bezeichnet allgemein in künstlerischen, dokumentarischen, alltäglichen und
sonstigen kommunikativen Ausdrucksbereichen die erzählte, dargestellte, abgebildete oder anderweitig vermittelte (fiktionale)
357
Handlung (Story), die durch die intendierte
Verwendung sprachlicher, dramaturgischer,
literarischer, malerischer, filmischer oder
sonstiger Mittel erzeugt wird. Der Begriff
der Narration zielt folglich auf jene Gestaltungsebene, die mit der Hilfe von kausalen,
raum-zeitlichen und psychologischen Ordnungsschemata (um nur die drei wichtigsten
zu nennen) aus bloß zusammenhängenden
Ereignissen, aus reinem Geschehen und Handeln eine ›Geschichte‹, d.h. einen stimmigen
und sinnvollen ›Text‹ macht.
Ob im Zusammenhang mit Musik ebenfalls von Narration gesprochen werden kann,
ist ungeklärt. Auch wenn besonders im Blick
auf die Musik des 19. Jahrhunderts häufig narrative Funktionen reklamiert werden, steht
die Beantwortung der Frage noch aus, ob eine
nicht abbildende und nicht beschreibende
Kunstform wie Musik überhaupt eine solche
Ebene ausprägen kann. In Verbindung mit
dem Film werden der Musik allerdings Funktionen narrativer Art zugewiesen, die auf den
von Claudia Gorbman »cinematic musical
codes« (Narrative Film Music, 1980, S. 185;
auch in Gorbman 1987, S. 13) genannten
(und von »pure musical codes« und »cultural
musical codes« abgegrenzten) spezifischen
formalen Beziehungen von Musik zu anderen Bestandteilen des Films beruhen. Auf der
Grundlage dieser Eigenschaft von Musik (und
der menschlichen Sinneswahrnehmungen
überhaupt), mit anderen zeitgleichen Wahrnehmungsinhalten in ein Verhältnis zu treten, zu interagieren und ein integrales Ganzes
zu bilden, vermag Filmmusik die »perception
of a narrative« (Wahrnehmung einer Erzählung) zu prägen (ebenda, S. 183 bzw. S. 11).
Den Hintergrund dieser Überzeugung bildet
erstens die geradezu unausweichliche gegenseitige Modifikation der visuellen und musikalischen Information bei ihrer Kopplung,
also die Erfahrung, dass sich die Wirkung von
Musik in Verbindung mit Filmen gegenüber
dem rein musikalischen Hören ändert und
Narration
dass sich die emotionale und narrative Bewertung einer Filmszene je nach unterlegter
Musik signifikant unterscheiden kann. Hinzu
kommt zweitens der aus der romantischen
Musikästhetik herrührende Topos von Musik als der »Sprache« der Gefühle und des
Unsagbaren, der sich in der Filmtheorie in
dem von Sergej M.  Eisenstein angesprochenen Phänomen niederschlägt, dass es bei
Filmmusik »weniger um die Verstärkung der
Wirkung« geht »als vielmehr um die emotionale Weiterführung dessen, was mit anderen
Mitteln nicht ausdrückbar ist« (Musikalische
Landschaft, 1946; zit. nach: Ders., Jenseits der
Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, hrsg.
von Felix Lenz und Helmut H. Diederichs,
Frankfurt a.M. 2005, S. 373).
Narrative Funktionen, die beim Komponisten die detaillierte Kenntnis des Handlungsaufbaus und der temporalen Struktur
des Plots voraussetzen und über die bloße
Wechselwirkung von Bild und Musik hinausreichten, prägte die Filmmusik jedoch erst
nach der Einführung des Tonfilms um 1930
aus. Die Musik des  Stummfilmkinos orientierte sich hingegen an anderen ästhetischen
Prämissen wie insbesondere an der  Illustration, d.h. der musikalischen Veranschaulichung und klanglichen Umsetzung des
statischen Bildinhalts oder des Szenentyps;
Stummfilmmusik war schon durch die Praxis
der Begleitung mit (meist) vollständigen Sätzen oder Stücken des »klassischen« oder populären Repertoires ( Kompilation) nicht
in der Lage, der Narration eine entsprechende funktionale Musik an die Seite zu stellen,
welche die temporale Erzählstruktur berücksichtigte. Das Aufkommen einer Filmmusik,
die in motivischer und formaler Hinsicht
flexibel genug war, um an der Narration
überhaupt mitwirken zu können, hängt zusammen mit der Orientierung an den Opern
Richard Wagners durch die Filmkomponisten im Hollywood der 30er und 40er Jahre. Die von ihm maßgeblich ­entwickelte­
Narration
Technik der Arbeit mit beweglichen und von
einer übergeordneten formalen Syntax weitgehend losgelösten thematischen Elementen
sowie mit  Leitmotiven findet zwar auch
schon Anwendung in einigen wenigen originalen Stummfilmkompositionen wie etwa
in Gottfried  Huppertz’ Partitur zu Fritz
Langs Film Die Nibelungen (1924), bleibt
dort aber im Sinne der Illustrationsästhetik
beschränkt auf ­Repräsentation und musikalische Identifi­kation des filmischen Personals
und bestimmter Situationen. Erst in den Filmen Hollywoods aus der Tonfilmära – und
nachhaltig befördert von den exilierten
Komponisten Mittel- und Osteuropas mit
ihrer Prägung durch die Musik des späten
19. Jahrhunderts – werden Wagners dramatisch-musikalische Konzepte sowie die daran
anknüpfenden Techniken späterer Komponisten zur Unterstützung der filmischen Narration eingesetzt und schließlich erfolgreich
an das neue Medium adaptiert (vgl. auch
P. Franklin, Movies as Opera, 1992, S. 79: »it is
in opera that we find the form of cultural representation in which many of the techniques
of ›classical‹ Hollywood cinema were most
fully prepared in the context and presence of
music – specifically the kind of music that
film scores would one day rely on«).
Ein großer Teil der Filmmusik ist schon
aufgrund seiner engen Verbundenheit mit
der geschilderten Situation wesentlicher
Bestandteil der Narration: die sogenannte
diegetische Musik ( Diegetic music,  Inzidenzmusik). Als Musik innerhalb der Handlung, in der fiktionalen Welt unterstützt sie
die Schilderung des filmischen Raums, der
Zeit sowie der Personencharakteristik allgemein und trägt dadurch erheblich zur Geschlossenheit und Überzeugungskraft ­einer
Geschichte bei. Allerdings gehört sie im
strengen Sinne der filmmusikalischen Theorie aufgrund ihrer besonderen Verknüpfung
mit dem Bild nicht zur musikalischen Ebene des  Soundtracks (Fremdton), sondern
358
zur Schicht der (Umwelt‑)  Geräusche im
Film (Bildton).
Bei der extra-diegetischen Filmmusik
ist nun zu unterscheiden zwischen der allgemeinen Funktionalität, welche beispielsweise
die Bildwirkung und ‑bewertung beeinflusst,
aber nichts Wesentliches zur Narration beiträgt, und einer speziellen Lenkungs- oder
Stützungsfunktion des Fiktionalen, die wesentlich für die Narration des Films ist. Das
Kriterium für diese Funktion von Filmmusik lautet »making a difference in the narrative« (Levinson, Film Music, 1996, S. 258),
d.h. eine entsprechende Veränderung der
Filmmusik führt nicht nur zu einer anderen
Wirkung einer Szene, sondern zu einer anderen Geschichte. Unterscheiden lassen sich
innerhalb der zahlreichen  Funktionen
von Filmmusik (vgl. dazu die Zusammenstellung in: J. Kloppenburg (Hrsg.), Musik
multimedial. Filmmusik, Videoclip, Fernsehen, (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 11), Laaber 2000, S. 51–56) folgende
große Bereiche der filmmusikalischen Lenkung der Narration:  Personencharakteristik, Situationscharakteristik, Handlungsbewertung, Akzentsetzung, Schaffung von
Aufmerksamkeit, Ankündigung kommender Ereignisse, Anzeige der Spannungskurve, formaler Hinweis sowie  Kommentarfunktion. Beispiele für solche Funktionen
von Filmmusik sind die Vermittlung von Informationen etwa über emotionale Zustände
und Intentionen von Personen, die Charakterisierung einer filmweltlichen Stimmung,
die Anzeige eines kommenden Unheils oder
einer bevorstehenden Bedrohung, die atmosphärische Charakterisierung sowie die
Bewertung einer Szene im Blick auf ihren
Stellenwert für die Erzählung, die Betonung
besonders relevanter Aspekte des Films, die
Lenkung des Zuschauers in der emotionalen Bewertung einer bestimmten Situation
oder der gesamten Story, die Hervorhebung
formaler Charakteristika und die Akzentu-
359
ierung paralleler oder verwandter Stellen im
Handlungsaufbau. Dabei lassen sich zeitgleiche und zeitversetzte Funktionen unterscheiden, d.h. musikalische Abschnitte, die
direkt mit dem Bild interagieren und solche,
die von der aktuellen Szene auf frühere oder
spätere Elemente des Films verweisen, dadurch den Handlungsaufbau unterstützen
und die strukturellen Elemente betonen.
Narrative Filmmusik hat nicht nur den Vorteil einer stärkeren emotionalen Einbindung
des Zuschauers in die Geschichte, sondern
erlaubt es auch, allein durch musikalische
Information ( Kommunikation) und damit
vor allem durch Information, die im Sinne
der oben zitierten Formulierung Eisensteins
durch visuelle Elemente nicht zu vermitteln
ist, das Drehbuch von Szenen und Dialogen zu entlasten, die ohne Filmmusik nötig
wären, um dem Betrachter alle für die Story relevanten Inhalte zu einer Person, einer
Handlung oder Aspekten der Narration
zu vermitteln.
Cl. Gorbman, Film Music: Narrative Functions in French Film, Diss. University of Washington
1978  Dies., Narrative Film Music, in: Yale French
Studies 60 (1980): Cinema / Sound, S. 183–203 
K.M. Kalinak, Music as Narrative Structure in
Holly­wood Films, Diss. University of Illinois 1982 
S. Frith, Mood Music: an Inquiry into Narrative
Film Music, in: Screen 25/3 (1984), S. 78–87 
G.D. Bruce, Bernard Herrmann: Film Music and
Film Narrative, Ann Arbor, Mich. 1985  Cl. Gorbman, Unheard Melodies: Narrative Film Music,
Bloomington (Ind.)/London 1987, besonders
Kap. 1: Narratological ­Perspectives on Film Music,
S. 11–30  D. Nasta, Meaning in Film. Relevant
structures in soundtrack and narrative, Bern 1991 
R.S. Brown, Overtones and Undertones. Reading
Film Music, Berkeley, Los Angeles / London 1994,
S. 12–37  P. Franklin, Movies as Opera (Behind the
great Divide), in: J. Tambling (Hrsg.), A Night in at
the Opera: Media Representations of Opera, London
1994, S. 77–110  J. Levinson, Film Music and Narrative Agency, in: D. Bordwell / N. Carroll (Hrsg.),
Post-Theory. Reconstructing Film Studies, Madison
(Wisc.) 1996, S. 248–282  A. Solbach, Film und
Musik. Ein klassifikatorischer Versuch in narratologischer Absicht, in: Augenblick, Heft 35 (2004): Film
MAB
und Musik, S. 8–21.
Neorealismus
Nascimbene, Mario
* 28.11.1913 Mailand, † 6.1.2002 Rom
Italienischer Komponist. Abschluss in Kompositionslehre und Dirigat am Conservatorio
di Musica »Giuseppe Verdi« in Mailand. Neben der Filmmusik, für die er seit 1941 tätig ist,
schrieb der Komponist etliche Werke für den
Konzertbetrieb, darunter fünf Opern, sechs
Ballette sowie ein Concerto für vier Schreibmaschinen und Orchester, in dem er seine
preisgekrönte Filmmusik zu Roma Ore 11
(Es geschah Punkt 11, 1952) verarbeitet. Mit
seiner ersten Auftragsarbeit in den USA für
Die barfüßige Gräfin (1954) begann eine steile
Karriere in Hollywood, aber auch in den britischen Hammer Studios. Der heute zu Unrecht
vergessene Nascimbene hat über 130 Filmmusiken komponiert und sich vor allem auf den
epischen  Abenteuer- und  Fantasy-Film
spezialisiert. Dabei gelangen ihm ausladende, mitunter aber auch experimentelle Klänge – angesiedelt zwischen 1001 Nacht, Arnold
 Schönberg und J­ ohannes Brahms.
Filme (Auswahl):
ȤȤ The Barefoot Contessa (Die barfüßige Gräfin,
USA 1954, R: Joseph L. Mankiewicz)
ȤȤ The Vikings (Die Wikinger, USA 1958, R: Richard
Fleischer)
ȤȤ Solomon and Sheba (Salomon und die Königin
von Saba, USA 1959, R: King Vidor)
ȤȤ One Million Years B.C. (Eine Million Jahre vor
unserer Zeit, GB 1966, R: Don Chaffey)
ȤȤ The Vengeance of She (Jung, blond und tödlich,
GB 1967, R: Cliff Owen)
JGE
Neorealismus
Der Begriff ›Neorealismus‹ bezieht sich auf
eine entscheidende Epoche innerhalb der italienischen Filmgeschichte, die mit Ende des
Zweiten Weltkriegs begann und von einer
breiten kollektiven Bewegung italienischer
Künstler getragen wurde. Geprägt wurde der
Terminus im Jahre 1942 von dem Filmtheo­
Neorealismus
Düsteres Melodram in hermetischer Insel-Gesellschaft:
Ingrid Bergman in Roberto Rosselinis Stromboli (1949)
mit der Musik seines Bruders Renzo.
retiker Umberto Barbaro, der in der Zeitschrift ›Film‹ gegen die Konventionalität des
Films der faschistischen Mussolini-Ära opponierte. Die Grundlage für den Neorealismus
schaffte Luchino Viscontis Film Ossessione,
der zum ersten Mal den Blick auf die trostlose gesellschaftliche Wirklichkeit warf und
von der faschistischen Zensur kurz nach seiner Uraufführung 1943 verboten wurde. Zu
voller Reife gelangte der Neorealismus mit
den berühmten Filmen von Roberto Rossellini (Roma, città aperta,1945; Paisà, 1946;
Germania, anno zero, 1947) und Vittorio De
Sica (Sciuscià, 1946; Ladri di biciclette, 1948),
die direkt nach dem Krieg entstanden und
eine künstlerische Befreiung vom Faschismus darstellten: Die Erzählzeit ist die unmittelbare Gegenwart, wobei durch die fast
dokumentarische Wirklichkeitsnähe soziale
und gesellschaftliche Bedingtheiten sichtbar
gemacht wurden. Trotz der engagiert-kritischen Grundhaltung, die allen Regisseuren
dieser Richtung gemeinsam war, gab es aufgrund der unterschiedlichen Temperamente
differierende stilistische Ausrichtungen, die
360
von der reportagehaften Chronik bis zur gefühlsbetonten, melodramatisch durchsetzten
Fabel reichten. Bereits Anfang der 50er Jahre
endete die Blütezeit des Neorealismus – zum
einen, weil das Publikum der Reportagen von
den Schattenseiten des Lebens überdrüssig
geworden war, zum anderen aufgrund von
Zensurpraktiken der konservativen christ­
demokratischen Regierung.
Auch wenn der dokumentarische Ansatz des Neorealismus in der Theorie einen
Verzicht auf dramaturgisch konzipierte und
eigens komponierte Filmmusik zunächst nahe
legen würde, so ist in der Praxis doch eher das
Gegenteil der Fall: In den meisten neorea­
listischen Filmen der Nachkriegszeit kamen
pathoserfüllte und dramatisch akzentuierte
sinfonische Kompositionen zum Einsatz, die
Elemente der Verismo-Opern von Giacomo
Puccini und Pietro  Mascagni mit folkloristischen Einflüssen zu verbinden suchten. Die
wichtigsten Filmkomponisten dieser Ära waren vor ihrer Filmtätigkeit fast sämtlich bereits
auf der Konzertbühne als Opernkomponist
oder als Sinfoniker tätig gewesen und fühlten
sich der musikalischen Tradition des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts
verbunden. Ihr Schaffen ist zudem eng verknüpft mit dem der namhaften italienischen
Regisseure dieser Zeit: Renzo  Rossellini war
der Hauskomponist seines älteren Bruders
Roberto Rossellini, Alessandro  Cicognini
bildete ein Team mit Vittorio De Sica, Carlo
Rustichelli mit Pietro Germi, Nino  Rota mit
Mario Soldati und Renato Castellani. In diesen stilistisch so unterschiedlich und individuell ausgeprägten Partnerschaften zwischen
Regisseuren und Komponisten kommt der
gestalterische Facettenreichtum des Neorealismus besonders deutlich zum Ausdruck.
Filme (Auswahl):
ȤȤ Ossessione (Besessenheit, I 1943, R: Luchino Visconti, M: Giuseppe Rosati)
ȤȤ Roma, città aperta (Rom, offene Stadt, I 1945,
R: Roberto Rossellini, M: Renzo Rossellini)
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