HENZE »Nachtstücke und Arien« WAGNER »Morgendämmerung« »Siegfrieds Rheinfahrt« »Siegfrieds Tod« »Trauermarsch« aus »Götterdämmerung« SCHUMANN 3. Symphonie »Rheinische« TRINKS, Dirigent BARAINSKY, Sopran Mittwoch 29_06_2016 20 Uhr Donnerstag 30_06_2016 20 Uhr Freitag 01_07_2016 20 Uhr Tangente – Manufakturklassiker made in Glashütte, Germany. HANS WERNER HENZE »Nachtstücke und Arien« 1. Nachtstück I 2. Aria I »Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen« 3. Nachtstück II 4. Aria II »Mit schlaftrunkenen Vögeln« 5. Nachtstück III RICHARD WAGNER »Der Ring des Nibelungen« Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend Dritter Tag: »Götterdämmerung« Vorspiel: 1. Tagesgrauen und Sonnenaufgang 2. Siegfrieds Abschied und Rheinfahrt 3. Aufzug: 1. Siegfrieds Todeserlösung 2. Trauermusik nach Siegfrieds Tod ROBERT SCHUMANN Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 97 »Rheinische« 1. Lebhaft | 2. Scherzo: Sehr mäßig 3. Nicht schnell | 4. Feierlich | 5. Lebhaft CONSTANTIN TRINKS, Dirigent CLAUDIA BARAINSKY, Sopran 118. Spielzeit seit der Gründung 1893 VALERY GERGIEV, Chefdirigent PAUL MÜLLER, Intendant 2 »Zu allen Sinnen sprechend« MARCUS IMBSWEILER HANS WERNER HENZE (1926–2012) »Nachtstücke und Arien« 1. Nachtstück I 2. Aria I »Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen« 3. Nachtstück II 4. Aria II »Mit schlaftrunkenen Vögeln« 5. Nachtstück III LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geboren am 1. Juli 1926 in Gütersloh / Westfalen; gestorben am 27. Oktober 2012 in Dresden. ENTSTEHUNG Im Sommer 1955 erhielt Henze einen Kom­ positionsauftrag des Südwestfunks für die Donaueschinger Musiktage: eine Kammer­ oper »in der Art eines neuen ›Così fan tut­ te‹«. Als Librettistin war Ingeborg Bach­ mann (1926–1973) vorgesehen, die zu diesem Zweck im Frühjahr 1956 nach Nea­ pel zu Henze zog. Das Projekt scheiterte aus diversen technischen und inhaltlichen Gründen; einer ersatzweise ins Spiel ge­ brachten Cocteau-Vertonung erging es nicht besser. Schließlich akzeptierte Hen­ ze den Vorschlag seines Verlegers Willy Strecker, für die bereits engagierte Beset­ zung (Sopran und Orchester) ein Werk auf Grundlage von Gedichten Bachmanns zu schreiben, was er dann im ersten Halbjahr 1957 in die Tat umsetzte. Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien« 3 TEXTVORLAGE Ausgangspunkt war der Vierzeiler »Im Ge­ witter der Rosen« aus Bachmanns Gedicht­ band »Die gestundete Zeit« (1953), den die Autorin auf Wunsch Henzes um eine zweite Strophe erweiterte. Das zweite Ge­ dicht, »Freies Geleit«, schrieb Bachmann neu, allerdings auf Grundlage des verwor­ fenen Opernlibrettos. WIDMUNG Gewidmet ist das Werk einem neapolitani­ schen Freund Henzes, dem Juristen Giulio di Majo (1933–2013), der sich zu jener Zeit entschloss, ein Kompositionsstudium aufzunehmen. 1959 richtete er Henze die Ballettpantomime »Des Kaisers Nachtigall« nach Andersens Märchen ein. URAUFFÜHRUNG Am 20. Oktober 1957 in Donaueschingen im Rahmen der Donaueschinger Musiktage (Symphonieorchester des Südwestfunks unter Leitung von Hans Rosbaud; Solistin: Gloria Davy). Die »Neue Zürcher Zeitung« sprach von einer »blendenden« Darbietung der Sängerin und einem »überlegenen« Or­ chester; Henze selbst lobte die »glänzend dirigierte« Aufführung. Manchmal stellen schon Werktitel einen Affront dar. Für die Musikavantgarde der 1950er Jahre musste Hans Werner Henzes »Nachtstücke und Arien« wie ein Rückfall in längst überwundene Romantik klingen. Der Begriff »Nachtstück«, etabliert von Literaten wie Ernst Theodor Amadeus Hoff­ mann und Joseph von Eichendorff, war durch Schumann in die Musik eingeführt, später von Mahler verwendet worden. Was auch immer der Termius an Assoziationen auslöste – Einsamkeit des Individuums, Hinwendung zur Natur –, stand quer zum Schaffen der Nachkriegsmoderne. Das galt erst recht für die »Arien«, denen doch be­ kanntlich schon Wagner den Garaus ge­ macht hatte. Bei der Donaueschinger Ur­ aufführung des Werks kam es denn auch zum Eklat. Schon nach wenigen Takten, umrauscht von flirrenden Streicherklän­ gen und dem Glitzern der Harfen, verließen die drei anwesenden Vertreter des musika­ lischen Fortschritts, Pierre Boulez, Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen, Türen schlagend den Saal. »So entwanden sie sich den Schönheiten meiner jüngsten Be­ mühungen«, konstatierte Henze grimmig. FLUCHT NACH ITALIEN Auch wenn man den Wahrheitsgehalt dieser Anekdote nicht überbeanspruchen sollte – Boulez behauptete, sie habe sich nicht im Rahmen der Premiere, sondern bei der Ge­ neralprobe zugetragen –, steht doch fest, dass die »Nachtstücke und Arien« zum endgültigen Bruch Henzes mit seinen Altersgenossen führten. Vom Zentrum der Neuen Musik, Darmstadt, hatte er sich schon vorher ferngehalten, in der Folge mied er auch Donaueschingen. Dabei hatte der Dirigent Hans Rosbaud zusammen mit dem Südwestfunk-Orchester und der afro­ amerikanischen Sopranistin Gloria Davy die Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien« 4 Hans Werner Henze (um 1960) Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien« 5 Uraufführung mustergültig vorbereitet, und das Publikum reagierte mehrheitlich positiv auf die ungewohnten Klänge. Aber Henze war ja bereits seit Jahren, genauer gesagt seit 1953, auf der »Flucht«: hatte Deutschland den Rücken gekehrt und sich in Italien niedergelassen, wo er jene Sinn­ lichkeit und jenes Laissez-faire vorfand, die er zu Hause vermisste. Zur Schwester im Geiste wurde ihm die österreichische Dichterin Ingeborg Bach­ mann, die im selben Jahr wie Henze nach Italien übersiedelte. In der Folgezeit fan­ den die beiden nicht nur zu Arbeitsprojek­ ten zusammen, sondern führten auch pha­ senweise einen gemeinsamen Haushalt. Für Henze war es »die schönste Zeit meines Lebens vielleicht (…), wo wir zusammen lebten in einem bürgerlichen Hausstand (…) mit sehr viel Vergnügen und einer Art von Glück sogar und einer fabelhaften Pro­ duktion. Sie schrieb damals Gedichte, je­ den Tag, und ich komponierte, und wir leb­ ten ein wunderbares schönes reines Le­ ben.« Von Bachmann sind solche euphori­ schen Äußerungen nicht überliefert. ARBEITSFELD DICHTUNG UND MUSIK Als erstes gemeinsames Projekt von Dich­ terin und Komponist darf die Ballettpanto­ mime »Der Idiot« (1953) gelten, andert­ halb Jahre später folgte das Hörspiel »Die Zikaden«. Beiden Werken ist gemein, dass in ihnen Bachmanns Text und Henzes Musik ihre Eigenständigkeit bewahren; sie laufen gewissermaßen parallel. Erst danach, ab dem Jahreswechsel 1955/56, entstanden Arbeiten auf Grundlage gegenseitiger Ab­ sprachen und Zielvereinbarungen. Aus »Belinda«, einem gescheiterten Opern­ projekt um eine Schönheitskönigin, für die keine Geringere als Maria Callas vorgese­ hen war, gingen auf Umwegen schließlich die »Nachtstücke und Arien« hervor. Noch 1957 nahm das nächste Projekt, die Oper »Der Prinz von Homburg« (uraufgeführt 1960), Gestalt an, bevor »Der junge Lord« 1965 den Höhepunkt der Zusammenarbeit zwischen Bachmann und Henze darstellte. Dabei durchlief vor allem die Dichterin ei­ nen Reifeprozess. Über ihre ersten Versu­ che, ein Libretto zu schreiben, urteilte sie rückblickend: »Es misslang, wie kläglicher kaum etwas misslingen kann«, denn da »verwechselte ich Arien mit Gedichten, Re­ zitative mit Dialogen usf.« Henze dagegen blühte auf, sah in der Verbindung von Mu­ sik und Sprache geradezu die Essenz sei­ nes Schaffens. Hatte er auf rein instru­ mentalem Gebiet immer wieder »Schwie­ rigkeiten, den Grund oder den Sinn einer Entwicklung aus abstrakten Motiven zu erkennen«, fühlte er sich bei Wort-Ton-­ Verhältnissen frei und inspiriert: »weil dort alles so dinglich ist, so greifbar, so zu allen Sinnen sprechend«. »GENIAL UND BETÖREND« Und genau diese Sinnlichkeit war es, die bei der Uraufführung der »Nachtstücke« man­ che Kollegen und Kritiker argwöhnen ließ, Henze sei nun endgültig ins Lager der Neo­ romantiker übergelaufen. Ein »Verrat« an den Idealen der Moderne, wenn auch mit größter Klangraffinesse und bewunderns­ werter Subtilität ausgeführt. So empfand ein ausgesprochener Kenner der Neuen Musik wie Hans Heinz Stuckenschmidt Hen­ zes Komposition als »oft genial und betö­ rend, dann aber wieder in bedenklicher Nähe einer Saccharinsüße und Technicolor­ buntheit, die fast schockierend wirkt«. Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien« 6 Schockierend, um einmal dieses Wort auf­ zugreifen, war aus dem Blickwinkel der Avantgardisten allerdings nicht erst das Klangresultat der »Nachtstücke«, sondern bereits Henzes Herangehensweise, sein Umgang mit dem zu vertonenden Text. Al­ lein die Tatsache, dass er Bachmanns Ver­ se ernst nahm, dass er versuchte, ihrem Inhalt eine passende musikalische Gestalt zu geben, lief den Bestrebungen der Mo­ derne zuwider. Komponisten wie Boulez und Stockhausen, später Ligeti und Schne­ bel nutzten Sprache zunehmend selbst als Lautereignis und trennten so den Klang und die Bedeutung eines Wortes voneinan­ der. Eine Vertonung im herkömmlichen Sinn empfanden sie als Unterordnung. STRATEGIEN DER VERTONUNG Nun lässt sich die Art und Weise, wie Hen­ ze mit den Zentralbegriffen von Bach­ manns Dichtung umgeht, durchaus als tra­ ditionell bezeichnen. »Rosen«, »Nacht« und »Donner« hebt er in Aria I jeweils melisma­ tisch hervor, die Anrufung der »ferneren Nacht« wird in mystisches Pianissimo-Licht getaucht, und die folgende Triolenbewe­ gung erinnert an Wellengesäusel. Gleich­ wohl erschöpft sich die Musik nicht in die­ ser dienenden Rolle, sondern erweist sich als eigen- bis widerständig. So ergreift gegen Ende des Gedichts, konträr zum Rückzug des lyrischen Ichs, plötzlich das Horn die Initiative und schwingt sich zu großer melodischer Geste auf – als leihe die Natur selbst dem Menschen ihre Stimme. Ähnlich Aria II: Auch hier scheut sich Henze nicht vor illustrativen Momenten, pendeln­ den »Wasser«-Figuren oder »Zornesblit­ zen«, die durch das Orchester hallen. Die Tiermetaphern »Fisch«, »Nachtigall« und »Salamander« verpackt er in individuelle melodische Floskeln, ordnet ihnen sogar spezielle Soloinstrumente zu: Bratsche, Oboe, Klarinette. Parallel hierzu erklingt im Orchester, ausgehend von den tiefen Strei­ chern, ein markantes Gebilde, das im Stil einer Passacaglia durch die Stimmen wan­ dert und dem Gedichttext eine eigene »Sprachlichkeit« entgegensetzt. INSTRUMENTALE KOMMENTARE Und dann sind da ja noch die drei »Nacht­ stücke«, die das Verlautbarte mit ihren spezifisch instrumentalen Mitteln kom­ mentieren, erweitern, rahmen: kantable Linienführung in Nachtstück I, Zwölfton­ passagen in II, Arbeit mit Kontrastfeldern in III. Wie ein Fanal wirkt der Beginn mit der langgezogenen Horn-Kantilene, die einer­ seits Ahnungen von Ferne, Traum und Sehnsucht weckt, andererseits auf die Rol­ le des Horns in der nachfolgenden Aria ver­ weist. Nachtstück II ist formal ganz ähnlich angelegt wie die Aria II, nämlich ebenfalls sechsteilig, und es lassen sich sogar in­ haltliche Entsprechungen finden. So mar­ kieren im Nachtstück ein Marschrhythmus und der Einsatz des Tamburo militare den Beginn des 3. Teils; dem entspricht in der Aria die 3. Strophe mit ihrer Warnung vor atomarer Zerstörung. Nachtstück III wiederum bedient sich ausgie­ big einer Wendung, die erstmalig in Aria I erklingt, sehr deutlich dann am Ende von Aria II: Nach dem Vers »jeden Tag aus der Nacht haben« ist sie dort in den Blechbläsern zu hören, als kurzer, hymnischer Einschub. Es handelt sich um ein Selbstzitat Henzes, eine Klangchiffre aus dem parallel entstandenen Ballett »Undine«. Und das darf man durch­ aus programmatisch verstehen: Undine, Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien« 7 Hans Werner Henze mit Ingeborg Bachmann bei den Proben zur Uraufführung der Oper »Der junge Lord« in Berlin (1965) Zwittergestalt zwischen Mensch und Natur, erinnert an unsere krea­türlichen Wurzeln, an unsere Verantwortung für eine Welt, der wir selbst entspringen – »dass noch tausend und ein Morgen wird«, wie es bei Bachmann heißt. Gleichzeitig symbolisiert Undine für Henze die Kunst selbst: als Möglichkeit, Überzeitlich-Ewiges wenn nicht abzubilden, so doch wenigstens erahnbar zu machen. Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien« 8 Vom Morgenlicht zum Abendrot WOLFGANG STÄHR LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN RICHARD WAGNER (1813–1883) »Der Ring des Nibelungen« Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend Dritter Tag: »Götterdämmerung« Vorspiel: 1. Tagesgrauen und Sonnenaufgang 2. Siegfrieds Abschied und Rheinfahrt 3. Aufzug: 1. Siegfrieds Todeserlösung 2. Trauermusik nach Siegfrieds Tod Geboren am 22. Mai 1813 in Leipzig; ge­ storben am 13. Februar 1883 in Venedig. ORIGINALTITEL »Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfest­ spiel für drei Tage und einen Vorabend. Dritter Tag: Götterdämmerung.« Ur­ sprünglicher Titel: »Siegfried’s Tod«, 1856 umbenannt in »Götterdämmerung«. ENTSTEHUNG »Die Nibelungensage (Mythus)«, Prosa-­ Urfassung der »Ring«-Tetralogie »als Ent­ wurf zu einem Drama« am 4. Oktober 1848 abgeschlossen; im selben Monat Prosa­ entwurf zu »Siegfried’s Tod«, der späteren »Götterdämmerung«; die Versdichtung entsteht in mehreren Arbeitsphasen zwi­ schen dem 12. November 1848 und dem 15. Dezember 1852 in Dresden und Zürich. Erste musikalische Notizen und Orches­ terskizzen zum Vorspiel von »Siegfried’s Tod« im Sommer 1850; Komposition der »Götterdämmerung« zwischen dem 2. Ok­ tober 1869 und dem 21. November 1874 in Tribschen und Bayreuth. Richard Wagner: »Götterdämmerung« 9 URAUFFÜHRUNG »DANKT IHM, DEM HELDEN« Konzertante Voraufführungen von Auszü­ gen aus dem Vorspiel, dem ersten und drit­ ten Akt: Am 1. März und 6. Mai 1875 in Wien im Großen Musikvereinssaal (Diri­ gent: Richard Wagner). Szenische Gesamt­ aufführung: Am 17. August 1876 in Bay­ reuth im Bayreuther Festspielhaus (Diri­ gent: Hans Richter; Brünnhilde: Amalie Materna, Siegfried: Georg Unger, Hagen: Gustav Siehr). Von Anfang an war das Ende der Götter ein offenes, ungelöstes oder, besser gesagt, vielfach und widersprüchlich gelöstes Problem. Als Richard Wagner im Herbst 1848 die »Nibelungensage« skizzierte, die Prosa­-Urfassung der späteren »Ring«­Tetralogie, dachte er sich Brünnhildes Schlussworte in etwa so: »Hört denn, ihr herrlichen Götter, euer Unrecht ist getilgt: dankt ihm, dem Helden, der eure Schuld auf sich nahm. Er gab es nun in meine Hand das Werk zu vollenden: gelöst sei der Nibelun­ gen Knechtschaft, der Ring soll sie nicht mehr binden: nicht soll ihn Alberich emp­ fangen, er soll nicht mehr euch knechten, dafür sei er aber selbst auch frei wie ihr: denn diesen Ring stelle ich euch zu, weise Schwestern der Wassertiefe; die Glut, die mich verbrennt soll das böse Kleinod reini­ gen, ihr löset es auf und bewahret es harm­ los das Rheingold, das euch geraubt um Knechtschaft und Unheil daraus zu schmie­ den. Nur Einer herrsche, Allvater ! Herrli­ cher ! Du ! Daß ewig deine Macht sei, führ’ ich dir diesen zu: empfange ihn wohl, er ist es wert !« Aus dem läuternden Feuer – so schildert es Wagner in diesem Entwurf von 1848 – steigt die Walküre Brünnhilde em­ por, waffengeschmückt und hoch zu Ross, um gemeinsam mit Siegfried Einzug zu hal­ ten in Walhall, dem Machtzentrum einer neuen, entsühnten und gerechten Herr­ schaftsepoche. »DIESE UNAUSMISTBAREN AUGIASSTÄLLE« Wie alle Fassungen, Wandlungen und Meta­ morphosen, die der »Ring«-Zyklus im Laufe der Jahre erfuhr, spiegelt auch diese früheste Version Wagners politisch-­ philosophischen Reflexionsstand zum Zeit­ Richard Wagner: »Götterdämmerung« 10 Richard Wagner (März 1860) Richard Wagner: »Götterdämmerung« 11 punkt der Entstehung. Wenige Wochen zuvor hatte er im »Dresdener Anzeiger« einen Artikel veröffentlicht unter dem Titel »Wie verhalten sich republikanische Be­ strebungen dem Königtume gegenüber ?« Darin hatte Wagner gefordert, »daß der König der erste und allerechteste Republi­ kaner sein« solle und im selben Atemzug gefragt: »Ist Einer mehr berufen, der wahrste, getreueste Republikaner zu sein als gerade der Fürst ?« Vor diesem Hinter­ grund erscheint »Wotans aufgeklärter Ab­ solutismus« (Martin Gregor-Dellin), wie ihn Brünnhilde in der Schlussansprache des 48er-Entwurfs proklamiert, verständlich und in gewisser Weise auch plausibel. Wal­ hall bleibt bestehen. Die Götterdämmerung findet nicht statt. Und doch entdeckt man bei genauer Lektüre der von Wagner auf­ gezeichneten »Nibelungensage« einen Wi­ derspruch im System, einen versteckten, aber bedeutungsvollen Hinweis, aus dem sich Wotans und Walhalls Untergang mit dramaturgischer und politischer Notwen­ digkeit ableiten lässt. Denn Wagner schreibt: »Zu dieser hohen Bestimmung, Tilger ihrer eigenen Schuld zu sein, erzie­ hen nun die Götter den Menschen, und ihre Absicht würde erreicht sein, wenn sie in dieser Menschenschöpfung sich selbst ver­ nichteten, nämlich in der Freiheit des menschlichen Bewußtseins ihres unmittel­ baren Einflusses sich selbst begeben müß­ ten.« Diese an Feuerbach gemahnenden Worte zielen unausweichlich auf das Ende der Götter, auf ihre »Selbstvernichtung«. Nach der Niederschrift der Textdichtung zu »Siegfried’s Tod«, der Ur- und Vorform der »Götterdämmerung«, begann Wagner sehr bald schon, Brünnhildes Abschieds­ rede an den »Allvater« Wotan inhaltlich zu korrigieren – mit tiefgreifenden Folgen. »Erbleichet in Wonne vor des Menschen Tat«, ließ er Brünnhilde jetzt ausrufen, »vor dem Helden, den ihr gezeugt ! / Aus eurer bangen Furcht / verkünd’ ich euch selige Todeserlösung !« Bei dieser eher va­ gen Verkündigung konnte Wagner natürlich nicht stehenbleiben. 1852, als sich »Sieg­ fried’s Tod« zur Tetralogie geweitet hatte, fixierte er die endgültige Schlussversion, mit der sich die »Todeserlösung« der Göt­ ter im Brand Walhalls konkretisierte: ein symbolischer Akt für den Zusammenbruch der alten, an der »eigenen Schuld« zugrun­ de gegangenen Weltenordnung, überdies ein spektakulärer Theatercoup – und nicht zuletzt eine fixe Idee Richard Wagners: In revolutionärem Eifer hatte er sich 1850 an der Vorstellung berauscht, wie »der Brand von Stadt zu Stadt hinzieht, wenn sie end­ lich in wilder Begeisterung diese unausmist­ baren Augiasställe anzünden, um gesunde Luft zu gewinnen«. »WAGNERS GESTALTEN SIND UNFREI« Was aber ist wirklich geschehen in der »Götterdämmerung«, deren Partitur Wag­ ner schließlich am 21. November 1874 voll­ endete, über ein Vierteljahrhundert nach der Niederschrift der »Nibelungensage« ? Siegfried, der »hehrste Held«, erschien als schwacher, ahnungsloser Spielball eines finsteren Komplotts, als Opfer eines Flu­ ches, den er selbst nicht kannte, geschwei­ ge denn begriff. Und Brünnhilde, geschüt­ telt von Eifersucht und blinder Rache­ begierde, geriet zum willenlosen Objekt übermächtiger Affekte. Sollte so der »Mensch der Zukunft« aussehen, wie ihn Wagner sich einst erträumt hatte ? »Wag­ ners Gestalten sind unfrei«, sagt der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer: »Wie in der griechischen Tragödie sind sie Richard Wagner: »Götterdämmerung« 12 gleichzeitig die Erleidenden und die Voll­ strecker ihres individuellen Schicksals, dem sie nicht entrinnen können und das sie dauernd motivisch begleitet. Sie werden gelenkt, und zwar nicht nur von Göttern, sondern auch von dei ex machina, Liebes­ tränken, Todestränken und Zauberei. Sie tragen schwer an der Last ihres Mythos, der ihr Handeln vorbestimmt, den sie selbst aber nicht wahrnehmen.« Ein solcher zum Scheitern verurteilter Held und unfreier Mensch ist Siegfried. Und obendrein ist er Wotans Enkel, dessen El­ tern einem Seitensprung des Göttervaters mit einer Menschenfrau entstammten, aber das weiß Siegfried nicht. Er weiß oh­ nehin kaum etwas (hingegen hat er Bären­ kräfte). Siegfried ist als Waisenkind aufge­ wachsen, beim Zwergen Mime in einer Waldhöhle. Seine einzigen Spielgefährten waren die Tiere im Wald – Angst hat er nie kennengelernt. Deshalb sticht er auch un­ erschrocken den Drachen Fafner ab, der mittlerweile das Rheingold hortet. Arglos nimmt Siegfried als Trophäe den Ring mit, ohne auch nur zu ahnen, was er sich da erbeutet hat. Auf seinem weiteren Weg durchschreitet er dann tapfer einen Feuer­ wall, hinter dem er die verstoßene Wotans­ tochter Brünnhilde findet. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er eine Frau – und plötzlich bekommt es der furchtlose Sieg­ fried doch mit der Angst zu tun. »Mutter ! Mutter !«, ruft er konsterniert aus. Was genealogisch natürlich unpräzise ist, eigentlich hätte er sagen müssen: »Tante ! Tante !« Aber mit der Angst erwacht in un­ serem Helden auch die erotische Begierde. Er verbringt mit Brünnhilde eine wunder­ bare Liebesnacht. Und fühlt sich am nächs­ ten Morgen gut gerüstet für neue Helden­ taten. WAGNER-JÜNGER UND WAGNER-HASSER Genau an diesem Punkt, der »Morgendäm­ merung«, setzt nun der heutige Musik­ querschnitt ein. Mit seinem markanten Hornruf verabschiedet sich Siegfried von Brünnhilde, der Braut, und bricht zu einer Rheinfahrt auf, die ihn an den Hof der Gibichungen führt. Dort allerdings verfällt er einer gemeinen Intrige. Denn seine ach so freundlichen Gastgeber haben es in Wahrheit nur auf den Ring abgesehen: auf Macht und Geld. Der vertrauensselige Siegfried ahnt wiederum nicht, was die vermeintlichen Freunde im Schilde führen. Bei einer Jagdpartie wird er hinterrücks von Hagen erstochen und haucht mit einem letzten Liebesgruß an Brünnhilde sein Le­ ben aus. Er wird aufgebahrt und mit einem Trauerzug in die Gibichungenhalle ge­ bracht. Zu dieser Szene hat Richard Wagner nun einen grandiosen Orchestersatz kompo­ niert, einen tönenden Nachruf: Siegfrieds Trauermarsch, der noch einmal leitmoti­ visch wesentliche Momente seines Lebens in Erinnerung ruft, von der Wiege bis zur Bahre. Eine ungeheuerliche Musik, der al­ lerdings übel mitgespielt wurde, vor allem im nationalsozialistischen Deutschland: Sie wurde ausgestrahlt nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad, und sie erklang wieder, nachdem Hitlers Tod bekanntgege­ ben worden war. Natürlich kann Wagner nichts für diesen Missbrauch, so viel ihm auch vorzuwerfen wäre, etwa in Hinblick auf seinen fanatischen Antisemitismus, aber etwas anderes ist doch auffällig. Wag­ ners Musik ist ganz auf Überwältigung aus­ gerichtet, sie attackiert die tiefsten Schichten des Unterbewussten, sie will es Richard Wagner: »Götterdämmerung« 13 dem Hörer nicht erlauben, sich ihr zu ent­ ziehen. Kein Wunder, dass es kaum jeman­ den gibt, der auf Wagners Musik gleichgül­ tig reagiert: Man liebt ihn, erhebt ihn zur Religion, wird zum Wagner-Jünger, zum Wagnerianer, zum Pilger gen Bayreuth. Oder man hasst ihn. Und die Wagner-Hasser sind natürlich auch diejenigen, die sich nicht überwältigen lassen, die sich, überspitzt gesagt, dem Meister nicht hingeben wol­ len. DAS UNSICHTBARE THEATER Künstler Ihres Circus ausführen zu lassen, in ein seltsames Erstaunen. Gegen die Aus­ führung, die ich ja wohl gar nicht einmal verbieten können würde, weiß ich nichts Rechtes einzuwenden. Nur bitte ich Sie, gelegentlich mich die Sache einmal ansehen zu lassen, wovon ich mir – unter Umstän­ den – mehr Unterhaltung verspreche, als wenn ich dem Walkürenritte – z. B. auf dem Berliner Hoftheater – theatralisch ausge­ führt beiwohnen müßte.« Ob Wagner dann tatsächlich den Zirkus besuchte und seine berittenen Schildmaiden unter der Kuppel bewundern durfte, ist nicht überliefert. Für seine Verehrer aber ist Wagners Musik nicht von dieser Welt und viel zu schade für das plumpe und peinliche Treiben auf der Bühne. »Es ist ein Verhängnis, daß die größten Komponisten ihre Werke für diese Sau-Anstalt von Theater schreiben muß­ ten, die ihrer Art nach jede Vollkommenheit ausschließt«, ereiferte sich etwa Gustav Mahler. In diese Klage hätte wohl auch Wag­ ner selbst eingestimmt, jedenfalls in den finsteren Stunden seiner historischen Mis­ sion. »Ach, es graut mir vor allem Costümund Schminke-Wesen«, gestand er verbit­ tert ein. Überaus unangenehm fühlte er sich an die »ekelhaften Künstlerfeste« mit ihrem Mummenschanz erinnert, wenn er die Produktionen der zeitgenössischen Opernhäuser zu Gesicht bekam: »Und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsicht­ bare Theater erfinden !« 1878 erreichte Wagner eine förmliche An­ frage des Zirkus Renz, der auf die verwe­ gene Idee verfallen war, den »Walküren­ ritt« in der Manege zu präsentieren. Der Bayreuther Meister antwortete: »Ew. Wohlgeboren setzen mich durch Ihre Ab­ sicht, eine Scene der ›Walküre‹ durch die Richard Wagner: »Götterdämmerung« 14 »Ein Stück Leben widergespiegelt« REGINA BACK ROBERT SCHUMANN (1810–1856) Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 97 »Rheinische« 1. Lebhaft 2. Scherzo: Sehr mäßig 3. Nicht schnell 4. Feierlich 5. Lebhaft LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geboren am 8. Juni 1810 in Zwickau; ge­ storben am 29. Juli 1856 in einer Nerven­ heilanstalt in Endenich bei Bonn. ENTSTEHUNG Unmittelbar nachdem Schumann im Sep­ tember 1850 von Dresden nach Düsseldorf umgezogen war, begann er mit der Arbeit an seinem (einzigen) Cellokonzert a-Moll op. 129, dem er vom 2. November bis 9. Dezember 1850 die Komposition einer neu­ en, ursprünglich 4-sätzigen Symphonie folgen ließ. Ihre schon bald eingebürgerte Bezeichnung »Rheinische« ist das Produkt einer gezielten Rezeptionssteuerung durch Schumanns Freund und späteren Biogra­ phen Wilhelm Joseph von Wasielewski (1822–1896). URAUFFÜHRUNG Am 6. Februar 1851 in Düsseldorf im Rah­ men des 6. Abonnementkonzerts des All­ gemeinen Musikvereins im »Geisler’schen Saal« (Orchester des Düsseldorfer Allge­ meinen Musikvereins unter Leitung von Robert Schumann); auf Schumanns Sym­ phonie folgten noch eine Arie aus Haydns »Schöpfung«, Bachs Konzert für drei Kla­ viere, die »Hero und Leander«-Ouvertüre des früheren Düsseldorfer Musikdirektors Julius Rietz, ein russisches Volkslied, Beet­ hovens »Fidelio«-Ouvertüre und zuletzt zwei Klavierlieder von Schumann und Wil­ helm Taubert. Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische« 15 HOFFNUNG AUF DÜSSELDORF »›Die kleine Stadt‹ am Rhein begrüßt ihn auf dem Bahnhof mit Chor, Fanfaren und Honoratioren. Er hat das Gefühl, nach einer sehr langen und beschwerlichen Reise an­ gekommen zu sein. Was ihm zusetzte, die Stimmen, die Schwächen, die Schmerzen, scheint spurlos vergangen. Mit den Musi­ kern, die von seinen Vorgängern, Mendels­ sohn und Hiller, vorzüglich ausgebildet wurden, kommt er zurecht. Und er kompo­ niert jeden Tag. Nicht einmal das Rheuma vermag ihn so zu beunruhigen, dass er die Arbeit unterbricht. In einem Monat ent­ steht seine 3. Symphonie, die ›Rheinische‹. In den Sätzen des ausholenden und feierli­ chen Werkes unterläuft eine Bewegung die Strukturen, die Motive, und im Finale sam­ melt sich diese heftige, der Musik ihren unregelmäßigen Puls mitteilende Unruhe in einem strahlenden Thema in H-Dur.« Mit diesen Worten leitet der Schriftsteller Peter Härtling in seinem 1996 erschiene­ nen Roman »Schumanns Schatten« das Kapitel über die Düsseldorfer Zeit des Kom­ ponisten ein. HEILSAMER ORTSWECHSEL Vorangegangen waren die Dresdner Jahre mit Clara und den Kindern, in denen sich Schumanns physischer und psychischer Zustand mehrfach krisenhaft zugespitzt hatte. Nachdem auch die finanzielle Situa­ tion der Familie immer prekärer wurde – Schumann konnte im Dresdner Musikleben nicht recht Fuß fassen und hatte als Diri­ gent der dortigen Liedertafel nur eine zweitrangige Stellung inne –, hielt er Aus­ schau nach Alternativen. Der Vorschlag des Dirigenten und Komponisten Ferdinand Hiller, der seit langem mit Schumann be­ freundet war, in seiner Nachfolge den Pos­ ten als Städtischer Musikdirektor in Düs­ seldorf anzutreten, kam da – trotz man­ cher Bedenken – gerade recht: »Sehr schwer wird uns die Trennung von unserm Sachsenland werden, – und doch ist’s auch heilsam, aus dem gewohnten Kreislauf der Verhältnisse einmal wieder zu neuen über­ zugehen !« (Brief an Hiller vom 19. Novem­ ber 1849). ABSTECHER NACH KÖLN Im Herbst 1850 zogen die Schumanns nach Düsseldorf um. Tagebucheintragungen Cla­ ra Schumanns belegen, dass sie und ihr Mann in der ersten Düsseldorfer Zeit aus­ giebig die Umgebung erkundeten. Sie un­ ternahmen Schiffsfahrten auf dem Rhein und besichtigten den seit 1842 in seiner letzten Bauphase befindlichen Kölner Dom. Dass Schumann von den Düsseldorfer Ver­ hältnissen begeistert war, schildert an­ schaulich ein Brief an den befreundeten Geiger Joseph von Wasielewski: »Dass Ih­ nen das hiesige musikalische wie gesellige Leben sehr zusagen würde, glaube ich ge­ wiß. Ich bin davon im höchsten Grade er­ freut und überrascht, einmal von der Tüch­ tigkeit der Kräfte, namentlich des Chors, dann von der Bildung des Publikums, das nur gute Musik will und liebt !« (Brief vom 20. September 1850). ELAN DES NEUBEGINNS Die Aufbruchsstimmung schlug sich bei Schumann sofort in schöpferischer Kreati­ vität nieder: In wenigen Monaten entstan­ den das Violoncello-Konzert sowie die »Rheinische Symphonie«, chronologisch die 4. Symphonie Schumanns, der offiziel­ len Zählung nach jedoch das dritte Werk dieser Gattung, dem 1851 eine überarbei­ tete Version der frühen d-Moll-Symphonie Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische« 16 Eduard Bendemann: Robert Schumann, Kohlezeichnung nach einer Daguerreotypie von 1850 Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische« 17 als sog. »Vierte« folgte. Die 3. Symphonie verrät spürbar den Elan des Neubeginns, und schon ihre knappe Entstehungszeit vom 2. November bis zum 9. Dezember 1850 lässt ahnen, wie schnell und leicht Schumann die Arbeit von der Hand ging. Am 6. Februar 1851 führte der Komponist in einem Düsseldorfer Abonnementkonzert seine Novität mit großem Erfolg auf. »RHEINISCHES LEBEN« Und bereits am Tag nach der Uraufführung findet man in der »Rheinischen Musik-­ Zeitung« die Metapher vom »rheinischen Leben«. Zum programmatischen Titel war es also nicht mehr weit, und auch die Re­ zeptionsvorgaben für den 4. Satz wurden hier festgeschrieben: »Wir sehen gothische Dome, Prozessionen, stattliche Figuren in den Chorstühlen, Posaunen, wie drei behä­ bige Prälaten den Segen ertheilend, worauf es wieder wie Orgelklang leise zurückwallt.« Wasielewskis Schumann-Biographie, die 1858 in Dresden erschien, festigte den Topos von der »Rheinischen« endgültig und verbreitete erstmals die Legende, Schu­ mann sei durch den Besuch des Kölner Doms zur Komposition des (nachträglich eingefügten) 4. Satzes inspiriert worden. »Die Symphonie in Es-Dur könnte man im eigentlichen Sinne des Wortes ›die Rheini­ sche‹ nennen, denn Schumann erhielt sei­ nen Äußerungen zufolge den ersten Anstoß zu derselben durch den Anblick des Cölner Domes.« LOKALKOLORIT ZUM MITHÖREN Auch wenn der Beiname des Werks nicht auf ihn selbst zurückgeht, vollzog sich der Re­ zeptionsprozess in eine Richtung, die Schumann offenbar vertreten konnte. So heißt es in einem Brief vom 19. März 1851 an den Verleger Simrock in Bonn: »Es hät­ te mich gefreut, auch hier am Rhein ein größeres Werk erscheinen zu sehen, und gerade diese Symphonie, die vielleicht hier und da ein Stück Leben widerspiegelt.« Auf diese Weise ist heute die Rezeptions­ geschichte der Symphonie, die seither als »Rheinische« gehört wird, Teil ihrer Werk­ gestalt. Das »Rheinische« bildet sozusa­ gen die »Folie«, um mit Schumann zu spre­ chen, vor der die Komposition gehört wird. 1. SATZ: ENERGISCHER ZUGRIFF Zum ersten und einzigen Mal verzichtet Schumann in einem symphonischen Kopf­ satz auf eine langsame, das eigentliche Geschehen vorbereitende Introduktion. Sozusagen »ohne Vorwarnung« beginnt die Symphonie mit einem signalartigen Haupt­ thema, das schwungvoll einen weitge­ spannten Melodiebogen umschreibt. Der energische Impetus und die Überzeugungs­ kraft des Themas resultieren aus dem auf­ trumpfend punktierten Rhythmus der Me­ lodie, die mit großen Intervallsprüngen einen weiten Ambitus durchmisst. Was sich beim Hören zunächst nur unterschwellig mit­ teilt, sind die metrischen Verschiebungen zwischen dem walzerartigen Dreiviertel-­ Takt und dem an einen Marsch erinnernden Dreihalbe-Takt. Der Wechsel des Metrums bewirkt eine ausgreifendere, großzügigere Bewegung und – auf den ganzen Satz be­ zogen – eine Expansion der symphonischen Entwicklung. Der Fluss der Gedanken in diesem Sonaten­ hauptsatz – mit einem lyrischen zweiten Thema in Moll und einer vom Hauptthema dominierten Durchführung – büßt an keiner Stelle seinen mitreißenden Schwung ein. Kurz vor der eigentlichen Reprise kehrt das Hauptthema synkopiert und in breiter Ver­ Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische« 18 größerung in den Hörnern wieder, was ihm an dieser Stelle eine fanfarenartige Signal­ wirkung verleiht. 2. SATZ: SCHERZO MIT LÄNDLER Traditionsgemäß wäre an zweiter Stelle einer Symphonie der langsame Satz zu er­ warten. Stattdessen erklingt nun das als Ländler gehaltene Scherzo. Der volkstüm­ liche Charakter dieses Satzes hat die Le­ gende genährt, Schumann habe hier das Leben am Rhein und die romantische Be­ gegnung mit dem Landvolk kompositorisch reflektiert. Dieser Eindruck liegt in dem gemächlich sich wiegenden Dreiertakt be­ gründet und noch mehr in der von einfa­ chen Dreiklängen beherrschten Melodik. Eine leichte Eintrübung erfährt der tänze­ rische Tonfall des dreiteiligen Satzes durch den in a-Moll stehenden Mittelteil, in dem die Bläser wie von fern herüberklingen, be­ vor der Ländler des Beginns leicht verän­ dert wiederkehrt. 3. SATZ: PASTORALE IDYLLE Der ungewöhnlich kurze langsame Satz be­ tont sein pastorales Ambiente von Anfang an durch eine reduzierte Instrumentation: Holzbläser fungieren als melodietragende Instrumente, von den Hörnern gelegentlich sanft abgetönt und begleitet von den Streichern. In Anlehnung an die im 19. Jahrhundert gängigen Charakterstücke könnte man diese pastorale Idylle auch als eine Art »Nocturne« bezeichnen. Dazu trägt vor allem ein typisch Schumann’sches Stilmittel bei: das Heraufbeschwören einer Aura der Erinnerung – der Erinnerung an Vergangenes. 4. SATZ: POLYPHONE STRENGE Vor dem heiter-beschwingten Finale fügte Schumann nachträglich als 4. Satz eine höchst ungewöhnliche Komposition ein: eine kunstvolle Fuge, gespickt mit allen Raffinessen polyphoner Satzkunst. Damit bricht Schumann mit der im 19. Jahrhun­ dert geltenden Gattungsnorm der Viersät­ zigkeit, die die übliche Satzfolge: Sonaten­ hauptsatz – Langsamer Satz – Scherzo – Finale umfasste. Dramaturgische Absicht des Komponisten war es dabei möglicher­ weise, dem vielversprechenden, mitreißen­ den Kopfsatz ein annähernd überzeugen­ des Pendant gegenüberzustellen, d. h. ei­ nen Satz, der mit seiner »Erhabenheit« und thematischen Dichte der organischen Einheit des Kopfsatzes ein Gegengewicht bieten und das Finale von dieser Bürde ent­ lasten konnte. Die ursprüngliche Überschrift »Im Charac­ ter der Begleitung einer feierlichen Cere­ monie« hatte Schumann bei Drucklegung des Werkes wohlweislich gestrichen; aber mit oder ohne poetischem »Fingerzeig« signalisiert der aus mehreren Durchfüh­ rungen des Fugenthemas bestehende Satz den Eintritt des Sakralen. Die Posaunen, die hier erstmals zum Einsatz kommen, intonieren zusammen mit den Hörnern das Fugenthema im Charakter eines Bach-­ Chorals. Schumann, der sich in Dresden intensiv mit Bachs Polyphonie beschäftigt hatte, weist sich mit dieser Komposition als vollendeter Kontrapunktiker aus, der die archaische Strenge der Imitationen und Mensuren ebenso beherrschte wie die hochexpressive Ausdrucksgebärde der Vergrößerungen, Verkleinerungen und Eng­ führungen. Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische« 19 A. H. Payne: Blick in den Hochchor des Kölner Doms (um 1845) Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische« 20 5. SATZ: FINALE MIT FANFAREN Der Übergang zum Schlusssatz wird durch eine Blechbläser-Fanfare in H-Dur vorbe­ reitet, die unvermittelt in das Ende des 4. Satzes hineinfährt. Das Finale selbst ist als beschwingter Sonatensatz mit bewegt­ heiterem ersten Thema und marschartigem zweiten Hornthema gestaltet. Mit Reminis­ zenzen volkstümlicher Elemente schafft Schumann Verbindungen zum Vorausge­ gangenen. Ungewöhnlich erscheint schließ­ lich, dass im Verlauf der Durchführung erneut die entlegene Tonart H-Dur ange­ steuert wird, die bereits im 1. und 4. Satz angeklungen war. An dieser Stelle bricht ein neues fanfaren­ artiges Thema durch, das in der Blechblä­ serepisode vom Schluss des vorigen Satzes bereits angedeutet worden war. Zur Apo­ theose gesteigert, erklingt es nach einer unerhörten Modulation in der Tonika EsDur und nimmt auf diese Weise dem Eintritt der Reprise jegliches Gewicht – das »Er­ eignis« ist der Durchbruch der Fanfare, nicht die thematische Zusammenfassung des Satzes in Gestalt der Reprise. Kurz vor Ende scheint zudem das Fugenthema aus dem 4. Satz noch einmal auf, was die enge Zusammengehörigkeit der beiden letzten Sätze unterstreicht. telsätze als Genrebilder verstehen, die jeweils unterschiedliche Sphären berüh­ ren: Der 2. Satz steht dem bodenständigen Leben am nächsten, der 3. ist ihm als ro­ mantische »Nocturne« am weitesten ent­ rückt, der 4. gibt als spirituell gefärbte und »erhabene« Musik dem Feierlichen Profil. Schumanns ästhetische Maxime des Poetischen, in der »die Phantasie der Fuge schwesterlich die Hand« geben, die ver­ schiedenen Stilmittel sich folglich ergän­ zen sollen, ist in der »Rheinischen« exem­ plarisch ausgeführt. Vergegenwärtigt man sich noch einmal Schumanns Lebensumstände, seinen Ge­ sundheitszustand und die Depressionen, die – wie man heute weiß – Symptome einer progressiven Paralyse waren, erscheint es um so erstaunlicher, dass kurz vor dem endgültigen Ausbruch der Krankheit eine Symphonie der Lebensbejahung entstan­ den ist. Diese »positive« Musik verbiete es, so Peter Gülke, »sie lediglich als Aus­ nahme von der Regel eines resignativ ein­ gezogenen Spätwerks anzusehen. Der Zu­ sammenhang, in den sie gehört, macht sie in ihrer Positivität zu einem herausfor­ dernden, wenn nicht aggressiven Werk.« HERAUSFORDERNDE POSITIVITÄT Der Reichtum an musikalischen Gestalten, das novellistische Nebeneinander ver­ schiedenster Genres und nicht zuletzt ihre Fünfsätzigkeit haben der Symphonie immer wieder den Vorwurf der Heterogenität und mangelnden Einheit eingebracht. Und in der Tat lassen sich zumindest die drei Mit­ Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische« 21 Ein Sonett HANS PFITZNER ROBERT SCHUMANN Wie sah’n wir, zitternd aus der Puppe Nacht Den selt’nen Falter sich zum Lichte ringen, Und, schnell erstarkt, in Sonnenwärme schwingen Phantastisch wundervolle Farbenpracht. Wie selig er die Flügel spreizt und flacht – Nun schnellt er tief, und saugt aus der Syringen Duftendem Blütenkelch, der hold den Schmetterlingen, Die Süßigkeit, die schier ihn trunken macht. Wohin verflogst Du Dich, Du Sonnenwesen ? Was flatterst ängstlich Du, und krampfhaft schnelle, Wie wurdest Du der Dunkelheit zum Raub ? Ach, nur in Lenzesluft kannst Du genesen. Nun sinken auf den Boden Deiner Zelle Zerriss’ne Flügel, ohne Farbenstaub. 29. Juli 1920 12 ½ Uhr nachts Schumanns Todestag Hans Pfitzner über Robert Schumann 22 Der Fall eines Komponisten SUSANNE STÄHR KARNEVAL AM RHEIN Düsseldorf, am 27. Februar 1854. Frühnachmittags um 14 Uhr verlässt Ro­ bert Schumann die Wohnung in der Bilker Straße 15, die er vor anderthalb Jahren mit seiner Frau Clara und den sechs gemeinsa­ men Kindern bezogen hat. Obwohl es reg­ net, ist Schumann nur mit seinem langen, grüngeblümten Schlafrock und Filzpantof­ feln bekleidet, aber niemand nimmt Anstoß an seinem merkwürdigen Aufzug: Es ist Rosenmontag, Karneval am Rhein, und in den Straßen tummeln sich die Jecken in allerhand skurrilen Kostümen. Schumann jedoch ist nicht zum Feiern zumute. Sein Ziel ist die nahegelegene Pontonbrücke, die über den breiten Fluss nach Oberkassel führt. Dass die Brücke gerade für die Durchfahrt eines Schiffes geöffnet wurde und eine Querung nicht möglich ist, stört Schumann keineswegs; unbeirrt geht er vor bis zur Mitte, übersteigt die Absper­ rung, zieht seinen Ehering vom Finger, wirft ihn in die Fluten – und stürzt sich schließlich selbst hinterher. Der Selbst­ mordversuch missglückt: Fischer ziehen ihn gleich wieder aus dem Wasser, rudern ihn, der sich heftig sträubt und sogar aus dem rettenden Kahn springen will, zum rechtsrheinischen Ufer. »Fürchterlich muß sein Heimweg gewesen sein; transportiert von 8 Männern und einer Masse Volks, das sich nach seiner Weise belustigte«, berich­ tete Ruppert Becker, Konzertmeister in Schumanns Düsseldorfer Orchester. »REISE« OHNE RÜCKBILLETT Für fünf Tage darf Schumann noch einmal in seine Wohnung zurück, Tag und Nacht beaufsichtigt von Wärtern, abgesondert von der Familie, die zu Freunden ausquar­ tiert wird. Am 4. März aber wird er als »geistig umnachtet« in die private Nerven­ heilanstalt des Psychiaters Dr. Franz Richarz in Endenich bei Bonn eingeliefert – auf eigenen Wunsch, wie es heißt. Penibel legt sich Schumann selbst zurecht, was er für diese »Reise« zu brauchen glaubt: Uhr, Geld, Notenpapier, Tintenfedern, Zigarren. Doch es gibt keine Heimkehr mehr. 29 Mo­ nate wird Schumann in Endenich zubrin­ gen, zweieinhalb schreckliche letzte Jahre. Anfangs gibt es noch Hoffnung auf Gene­ sung, denn es wechseln bei Schumann kla­ re Momente mit anfallartigen Attacken und Schreikrämpfen ab; dann aber muss er in Robert Schumanns letzte Jahre 23 Oben: Historische Ansicht der Pontonbrücke in Düsseldorf, von der Robert Schumann in den Rhein sprang Unten: Klaus Gunzel: Die Nervenheilanstalt in Endenich (um 1850) Robert Schumanns letzte Jahre 24 eine der »Tobezellen« verlegt und mit Gur­ ten am Bett festgeschnallt werden. Im Ap­ ril 1856 beginnt er schließlich, die Nahrung zu verweigern, am 29. Juli 1856 stirbt er. Zwei Tage vorher hat Clara, von der An­ staltsleitung über das nahende Ende infor­ miert, von ihrem Gatten Abschied genom­ men. Es war das überhaupt einzige Mal, dass sie ihn in Endenich besucht hatte... UNHEILANSTALT ENDENICH Heute, 155 Jahre nach seinem Tod, scheint es kaum mehr möglich, präzise zu diagnos­ tizieren, worunter Schumann litt und wo­ ran er starb. Unzählige Veröffentlichungen haben sich dieser Frage gewidmet, doch die Meinungen driften weit auseinander. Häu­ fig wird darauf hingewiesen, dass sich der 21-jährige Schumann, wie er gegenüber Franz Richarz in Endenich berichtete, 1831 mit Syphilis infiziert habe und seinerzeit »mit Arsenik curirt« worden sei. Als Spät­ folge dieser venerischen Erkrankung sei dann eine »progressive Paralyse« aufge­ treten, die zu Schumanns geistigem Verfall und Tod geführt habe. Freilich könnten für seine Persönlichkeitsstörungen und Hallu­ zinationen – er selbst gebrauchte das Wort »Nervenschwäche« – auch ganz andere Ursachen verantwortlich sein: Der hoch­ sensible Schumann litt zeitlebens unter depressiven Verstimmungen, die in Phasen der Überarbeitung und unter dem Einfluss äußerer Ärgernisse verstärkt auftraten. Auch war er diesbezüglich familiär vorbelas­ tet, nahm sich seine ältere Schwester Emilie doch 1824 das Leben – eine traumatische Erfahrung für den damals 14-jährigen. Dass Schumanns Tod am Ende gar mit den obskuren Behandlungsmethoden zu tun haben könnte, die er in Endenich zu erdul­ den hatte: Selbst diese These wird mittler­ weile vertreten. Und sie erscheint nicht einmal so abwegig, bedenkt man, dass Schumann in der sog. »Heilanstalt« seiner Freiheit völlig beraubt und von der Außen­ welt isoliert wurde, dass man ihn wechsel­ weise überfütterte und dann wieder mit Abführmitteln traktierte, dass er Kupfer­ präparate verabreicht bekam und in kalte Essigbäder gesteckt wurde. Schumanns finaler Hungerstreik mag unter diesen Vor­ zeichen wie eine letzte Flucht erscheinen, die von der Anstaltsleitung mit Zwangser­ nährung aus Fleischextrakt und Portwein beantwortet wurde. GENIE ODER WAHNSINN ? Was immer die Ursache für Schumanns tra­ gisches Ende gewesen sein mag – auf die Rezeption seines Spätwerks hatte das Ver­ dikt des »Wahnsinns« fatale Auswirkun­ gen. Denn insbesondere die Kompositionen aus dem letzten Jahr vor dem Suizidver­ such standen fortan unter dem General­ verdacht nachlassender Geisteskraft, und man vermeinte, in ihnen bereits Vorboten der sich ankündigenden »Umnachtung« erkennen zu können. Das prominenteste Opfer dieser Stigmatisierung ist das Vio­ linkonzert aus dem September 1853, das Schumann für den Geiger Joseph Joachim geschrieben hatte. »Entsetzlich schwer für Geige«, befand der Virtuose, der sich zweimal an einer Einstudierung versuchte, jedesmal scheiterte und das Werk danach resigniert zur Seite legte. Schumann habe für den Solopart unspielbare Figurationen komponiert, lautete die verbreitete Mei­ nung, und seine Tempodispositionen, voran der schleppende, schwere Rhythmus der Polonaise im Schlusssatz, seien schlech­ terdings nicht mehr nachvollziehbar. Bis 1937 dauerte es, ehe das Violinkonzert in Berlin zur Uraufführung gelangte, in einer vereinfachenden und verfälschenden Be­ Robert Schumanns letzte Jahre 25 arbeitung obendrein. Dass dies überhaupt geschah, verdankte sich auch nur den dunklen Zeitläuften: Denn im Nationalsozi­ alismus war das beliebteste romantische Violinkonzert, Felix Mendelssohn Barthol­ dys e-Moll-Konzert, aus rassischen Grün­ den verboten worden, und die braunen Machthaber suchten händeringend Ersatz für diese Repertoirelücke, die Schumanns Konzert nun schließen durfte – ob »um­ nachtet« oder nicht. sikalisch ?«, fragte ihn arglos Prinz Fried­ rich der Niederlande, als Clara in Den Haag ein Konzert gab –, war von derlei Ehr­ bezeugungen überwältigt und geriet zu­ nächst in eine schöpferische Hochstim­ mung, deren bedeutendste Ergebnisse das Cellokonzert und die »Rheinische Sympho­ nie« bildeten. Doch die Bewährungsprobe wartete auf ihn erst im Alltag. ILLUSIONSBEHAFTETER NEUBEGINN Als Dirigent war Schumann nach Düssel­ dorf verpflichtet worden, aber für genau diese Profession mangelte es ihm an we­ sentlichen Voraussetzungen, an physi­ schen wie an mentalen. Da war zunächst seine extreme Kurzsichtigkeit, die es ihm unmöglich machte, beim Dirigieren mit den Musikern im Blickkontakt zu bleiben. Um wenigstens den Notentext entziffern zu können, griff er zu einer Lorgnette und senkte den Kopf tief in die Partitur auf dem Pult, auch wenn er dabei nicht gleichzeitig wahrnehmen konnte, was im Halbrund des Orchesters vor sich ging. Schüchtern und introvertiert von Natur aus, fehlte Schu­ mann überdies die Gabe des Kommunika­ tors; er redete wenig und wenn überhaupt, dann an der Schwelle zur Hörbarkeit. »Der einzige Mensch, der etwas von seinen Be­ merkungen verstanden hat, war sein Takt­ stock, den er beim Sprechen immer vor den Mund hielt«, klagte schon ein Musiker des Leipziger Gewandhausorchesters, bei dem Schumann 1843 sein Debüt als Dirigent gefeiert hatte. In Düsseldorf sollte ihm die­ ses Manko zum Verhängnis werden: Zu lei­ se, zu vage und missverständlich seien seine Anweisungen in den Proben, wird ihm bald vorgehalten, zu unpräzise seine Zei­ chengebung, zu chaotisch die Probenpla­ nung, zu wenig konziliant seine Umgangs­ formen, und durchsetzen könne er sich Fraglos hatte sich der öffentlichkeits­ scheue Schumann in seinen letzten, den rheinischen Lebensjahren immer stärker in seine eigene Seelenwelt eingesponnen. Da­ bei hatte alles so hoffnungsvoll angefan­ gen. Am 2. September 1850 waren Robert und Clara Schumann aus Dresden kommend in Düsseldorf eingetroffen, wo Robert das Amt des Städtischen Musikdirektors an­ treten sollte. Die ortsansässigen Honora­ tioren hatten keine Mühe und keinen Auf­ wand gescheut, um dem prominenten Paar den Einstieg so angenehm wie möglich zu gestalten und ihre Wertschätzung zu be­ kunden. Im vornehmen Hotel Breidenba­ cher Hof an der Königsallee hatte man großzügige Zimmer für sie angemietet, die festlich mit Blumen und Lorbeerbäumchen dekoriert waren; die Düsseldorfer Lieder­ tafel gab ein Begrüßungsständchen, und zwei Tage später spielte im Hotel das gesamte Orchester zu Ehren des neuen Chefs auf, der anschließend bei einer Gala mit Souper, Festreden, Toasts und nächt­ lichem Ball offiziell willkommen geheißen wurde. Robert Schumann, der es bis dahin gewohnt war, im Schatten seiner europa­ weit als Klaviervirtuosin gefeierten Ehe­ frau zu stehen – »Sind Sie etwa auch mu­ DIALOGE MIT DEM TAKTSTOCK Robert Schumanns letzte Jahre 26 auch nicht. Schon in seiner ersten Saison überkommen Schumann »Bedenken wegen längeren Bleibens in Düsseldorf«, in der zweiten fällt er viele Wochen wegen Krank­ heit aus, in der dritten richten 21 Musiker eine Petition an ihn, er möge von seiner Position zurücktreten, und zu Beginn der vierten, Anfang November 1853, legt Schumann tatsächlich sein Amt entnervt nieder. DER GESANG DER ENGEL Nervöse Krampfanfälle, Unwohlsein, Schwindel, Schlaflosigkeit, Hypochondrien: Es mehren sich während dieser Leidenszeit bei Schumann die psychosomatischen Symp­tome als Folge der stetigen Über­ forderung. Sie beeinträchtigen ihn auch immer massiver beim Musizieren: Ab Mitte 1851 zum Beispiel fällt es ihm merklich schwerer, schnellen Tempi zu folgen; immer wieder besteht Schumann auf langsame­ rem Vortrag der Werke, die er dirigiert, und sieht in seinen eigenen Kompositionen auch bevorzugt getragene Tempi vor. Ein Jahr später setzen seine »Gehörsaffektionen« ein – heute würde man wohl von einem Tin­ nitus sprechen, denn Schumann hört per­ manent ein und denselben Ton, zu dem sich später noch ein zweiter als Intervall und Dauerbegleiter gesellt. An schöpferische Arbeit ist ab November 1853 nicht mehr zu denken. In der Nacht vom 10. auf 11. Feb­ ruar 1854 spitzt sich die Lage dramatisch zu: Während der verbleibenden 17 Tage bis zu seinem Sprung in den Rhein wird Schu­ mann von einem ganzen Orchester ver­ folgt, das in seinem inneren Ohr wechsel­ weise zu himmlischer oder höllischer Musik tobt. Als optische Halluzination sieht er zeitweilig Schubert und Mendelssohn geis­ terhaft das imaginäre Orchester umschwe­ ben, dann wieder tauchen Dämonen und wilde Tiere auf, die ihn in den Abgrund zie­ hen wollen. Auf eines der Themen, das ihm, wie er sagt, von Engeln vorgesungen wur­ de, schreibt Schumann sein allerletztes Werk: die »Geistervariationen« für Klavier. Am schicksalsträchtigen 27. Februar arbei­ tet er gerade an der Reinschrift der fünf­ ten und letzten Variation, als er seinen verhängnisvollen Beschluss fasst und ins Düsseldorfer Karnevalstreiben zieht. Es gehört zu den erstaunlichen Details seiner finalen Krise, dass Schumann diese letzte Klaviervariation in den fünf Tagen nach sei­ nem Selbstmordversuch noch rechtzeitig vor seiner Einlieferung nach Endenich voll­ enden konnte. Robert Schumanns letzte Jahre 27 Constantin Trinks DIRIGENT tional de Paris im Mai 2015 in der Inszenie­ rung von Robert Carsen vorstellte. Die Sai­ son 2015/16 eröffnete er mit der sehr er­ folgreichen Neuproduktion von Marschners »Hans Heiling« im Theater an der Wien. Richard Wagner spielt eine wichtige Rolle in Constantin Trinks’ Arbeit, der mit Ende Drei­ ßig bereits sämtliche Bühnenwerke Wagners dirigiert hat: Die Bayreuther Festspiele nah­ men den ehemaligen Assistenten Christian Thielemanns im Wagnerjahr 2013 für die Neuproduktion von »Das Liebesverbot« un­ ter Vertrag. Außerdem dirigierte er »Tann­ häuser« an der Deutschen Oper Berlin und an der Semperoper, »Der fliegende Hollän­ der« in Zürich und in Dresden sowie »Tristan und Isolde« in Sofia. Constantin Trinks begann seine Laufbahn am Badischen Staatstheater seiner Heimat­ stadt Karlsruhe. Anschließend wirkte er am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken und war von 2009 bis 2012 Generalmusik­ direktor am Staatstheater Darmstadt. 2011 dirigierte Constantin Trinks Richard Strauss’ »Der Rosenkavalier« zum 100-­ jährigen Jubiläum der Uraufführung an der Semperoper Dresden und kehrt seither re­ gelmäßig dorthin zurück. An der Bayeri­ schen Staatsoper München erarbeitete er »Arabella«, »Die Entführung aus dem Serail« und »Così fan tutte«. An der Wiener Staatsoper debütierte er 2014 mit Mozarts »Zauberflöte«, die er auch an der Opéra Na­ Das symphonische Repertoire von Constan­ tin Trinks zentriert sich derzeit um Robert Schumann: Die 3. Symphonie dirigierte er im August 2014 mit den Düsseldorfer Sin­ fonikern im Concertgebouw Amsterdam, ebenso war er mit Schumann in der Saison 2015/16 bei den Bremer Philharmonikern, den Duisburger Philharmonikern, dem Seoul Philharmonic Orchestra und den Stuttgar­ ter Philharmonikern zu hören. Mit Brahms gab er seinen Einstand 2012 am Orchestre National de Montpellier, wohin er seither mit Programmen von Mozart, Beet­hoven und Bruckner zurückkehrte. Bei den Münch­ ner Philharmonikern feiert Constantin Trinks mit der aktuellen Konzertserie sein Debüt. Die Künstler 28 Claudia Barainsky SOPRAN ebenso wie in Alban Bergs »Lulu« und die Marie in »Wozzeck« (La Monnaie, Brüssel). Die Rolle der Marie in Bernd Alois Zimmer­ manns »Die Soldaten« wurde ein Meilen­ stein für sie, hat sie diese Rolle doch gleich mehrfach in hochkarätigen Inszenierungen gesungen u. a. unter Willy Decker an der Nederlandse Opera Amsterdam und unter David Pountney bei der Ruhrtriennale sowie beim Lincoln Center Festival in New York. Claudia Barainsky wurde in Berlin geboren und studierte Gesang an der dortigen Hoch­ schule der Künste bei Ingrid Figur, Dietrich Fischer-Dieskau und Aribert Reimann. Mit der Titelpartie in Aribert Reimanns »Melusine« debütierte sie an der Semper­ oper Dresden. Dort folgten Partien wie die Königin der Nacht und Pamina in Mozarts »Zauberflöte«, Konstanze in »Entführung aus dem Serail«, Sophie in Strauss’ »Rosen­ kavalier« und Badi’at in Henzes »L’Upupa«. Sie interpretierte die Rolle der Anna in Mar­ schners »Hans Heiling« (Deutsche Oper Berlin unter Christian Thielemann), die Ti­ telpartien in Reinhard Keisers »Octavia« Für ihre Darstellung der Titelpartie in Ari­ bert Reimanns Oper »Medea« in Frankfurt erhielt Claudia Barainsky 2011 den deut­ schen Theaterpreis DER FAUST. Höhepunk­ te der letzten Spielzeiten waren u. a. ihre erfolgreiche Gestaltung der Maria Magda­ lena in der Uraufführung von Mark Andrés »Wunderzaichen« am Staatstheater Stutt­ gart, ihr gefeiertes Rollendebüt in Richard Strauss’ »Daphne« in Toulouse sowie ihr Rollendebüt als Saffi im »Zigeunerbaron« von Johann Strauß mit der NDR Radiophil­ harmonie und dem NDR Chor unter der Lei­ tung von Lawrence Foster. Ihr großes Konzertrepertoire, das auch zahlreiche für sie komponierte Werke ent­ hält, macht sie zu einem gern gesehenen Gast auf international bedeutenden Kon­ zertpodien und Festivals, wie u. a. Grafen­ egg Festival, Wien Modern, Beethovenfest Bonn, Bayreuther und Salzburger Festspie­ le, Aldeburgh Festival sowie Schleswig-­ Holstein Musik Festival. Die Künstler 29 Was hörst du? Es gibt für vieles eine zweite Chance, außer für den ersten Eindruck. Kinder aus der Grundschule an der Paulckestraße im Münchner Hasenbergl nutzten in den letz­ ten Wochen ihre Chance und hielten ihre ersten Eindrücke zur Musik von Wagner, Henze und Schu­ mann fest. Drei Klassen (1., 2. und 4. Jahrgangs­ stufe) hörten in einer außergewöhnlichen Mu­ sikstunde den Beginn al­ ler drei Werke des heuti­ gen Konzertprogramms. Wie der Eindruck darge­ stellt wurde, war aber jedes Mal unterschied­ lich. Zu Schumanns »Rheinischer« malten die Kinder Bilder. Vorgege­ ben waren die Farben rot, gelb, blau, grün und schwarz, sonst nichts. Zu Wagner wurden Äuße­ rungen der Kinder mit Mikrophon aufgezeichnet und später in Wortwolken übersetzt. Bei Henze schließlich wählten sie aus fünf Smi­ lies und weiteren Symbolketten zur Atmo­ sphäre des Stücks das für sie jeweils Pas­ sende durch Ankreuzen aus. Vorbereitet und ausgewertet wurde die Arbeit mit den Schülern von Studierenden des Instituts für Musikpädagogik der Ludwig-Maximili­ ans-Universität München im Rahmen des Seminars »Musikprojekte entwickeln«. Un­ terstützt wurden sie von ihrem Dozenten Dr. Tobias E. Mayer und dem Team von Spielfeld Klassik der Münchner Philharmo­ niker. Beim Uni-Konzert am 30.06.2016 werden die Ergebnisse im Foyer der Philharmonie präsen­ tiert und sind anschlie­ ßend auch in einer Bil­ dergalerie auf spiel­ feld-klassik.de zu sehen. Das Uni-Konzert hat sich zu einer festen Größe im Terminkalender entwi­ ckelt. Seit elf Jahren gibt es diese Kooperation von Münchner Philhar­ monikern, LMU und dem Studentenwerk. Nun gestalten erstmals Stu­ dierende auch ein Rah­ menprogramm für das Konzertpublikum. Dazu gehören auch zwei Mas­ terstudentinnen des Ins­ tituts für Musikpädago­ gik. Eine von ihnen gibt vor Beginn des Konzerts eine Einführung in das Programm, die andere interviewt David Hausdorf, Cel­ list der Münchner Philharmoniker und er­ folgreicher Techno-DJ. Denn nach dem Schlussakkord öffnet im ersten Stock eine Lounge mit Gesprächen, Getränken und Beats. Sie haben so etwas noch nie erlebt? Zeit für einen ersten Eindruck! Kooperationsprojekte hommage à Kulturprogramm zur Ausstellung: Figurentheater Flamenco Literatur Kino Workshops PICASSO 22.7.–18.9.2016 Münchner Künstlerhaus Lenbachplatz 8, München www.picasso-muenchen.de 25 31 Max Reger und die Münchner Philharmoniker GABRIELE E. MEYER VORSPIEL Noch vor seinem ersten Auftritt als Dirigent bei den Münchner Philharmonikern am 15. Dezember 1905 (damals noch Kaim­ bzw. Konzertvereins­Orchester) hatte sich Max Reger schon einen Namen als Komponist von Orgelwerken, Liedern und Kammermusik ge­ macht. In einem Brief vom 5. November 1900 bittet der selbstbewusste Komponist den mit ihm befreundeten Sänger Joseph Loritz, sich bei Franz Kaim für eine Dirigentenstelle ein­ zusetzen: »Wäre es für mich nicht möglich, beim Kaimorchester als – sollte es sein – letzter Dirigent unterzukommen ? Ich bin nun zwei Jahre hier [in Weiden] und der allzu­ lange Aufenthalt in der ›Wüste‹ taugt nichts !« Kaim aber zeigte sich an einem Musiker ohne einschlägige Erfahrung verständlicherweise nicht interessiert. Nach der Übersiedlung in die Haupt­ und Residenzstadt Anfang Sep­ tember 1901 sah sich Reger zunächst hefti­ ger Ablehnung seitens der »Neudeutschen Schule« um Ludwig Thuille, Rudolph Louis, Max Schillings u. a. ausgesetzt. Doch gelang es ihm mit großer Beharrlichkeit, seine Mu­ sik als inzwischen anerkannter Liedbegleiter und Kammermusikpartner auch auf diesem Wege in München durchzusetzen, obwohl die öffentliche Meinung über den Komponisten weiterhin geteilt blieb. Gleichwohl schwärm­ ten Konzertbesucher wie Kritiker von Regers hochsensiblem und einfühlsamem Klavier­ spiel, mit dem er eigene und fremde Werke in einer »schlechthin vollendeten Weise« gestaltete. Zu Regers bevorzugten Mitstrei­ tern gehörten neben dem Bariton Loritz die Altistin Anna Erler­Schnaudt, der Geiger Henri Marteau, der Pianist August Schmid­ Lindner und das Hösl­Quartett. Auch wenn in den Annalen der Philharmoniker nur zwei Auftritte Regers verzeichnet sind, so waren seine Werke ab 1909 bis zum Tod des Kom­ ponisten am 11. Mai 1916 sehr oft zu hören. REGERS DEBÜT ALS DIRIGENT 1905 bestimmte der »Porges’sche Chorver­ ein« Reger zum Nachfolger des im Februar des Jahres verstorbenen bisherigen Leiters Max Erdmannsdörfer. Auf dem Programm des Konzerts vom 15. Dezember 1905, das »in Verbindung mit dem Kaim­Orchester« im Odeonssaal stattfand, standen Chor­ und Max Reger zum 100. Todestag 32 26 Orchesterwerke von Franz Liszt und Hugo Wolf. Regers dirigentische Leistung sah sich, man möchte fast sagen, zwangsläufig har­ scher Kritik vor allem von Seiten seines al­ ten Widersachers Rudolph Louis ausgesetzt, der auch für die »Münchner Neuesten Nach­ richten« tätig war. Dieser leitete seine Be­ sprechung mit der Binsenweisheit ein, dass man ein Musiker ersten Ranges sein kann, ohne zum Dirigenten besonders befähigt zu sein, demzufolge bei einem ersten Ver­ such auf einem »bislang fremden Gebiete der ausübenden Tonkunst« eine vollkomme­ ne Leistung gar nicht erwartet werden kön­ ne. »Alles, das Eckige, Ungelenke und Unge­ schickte der Bewegungen, die peinliche, von vornherein jede Freiheit in der Direktions­ führung unmöglich machende Abhängigkeit von der Partitur, der Mangel an jeglichen Anzeichen für einen wahrhaft belebenden und anfeuernden Einfluß auf die Ausführen­ den, all’ das beweist doch wohl, daß Reger, dem sonst so phänomenal begabten Musi­ ker, das angeborene Dirigententalent so gut wie gänzlich mangelt. Das offen auszu­ sprechen, halte ich umsomehr für Pflicht, als es schade wäre, wenn eine solche Bega­ bung, der als Komponist, als Klavierspieler, als Lehrer die weitesten und fruchtbarsten Betätigungsgebiete offen stehen, ihre kost­ bare Zeit auf Bestrebungen verschwenden würde, die schwerlich zu einem nachhalti­ gen Erfolge führen können.« Man kann sich Regers Zorn auf seinen Intimfeind Louis trotz dessen ausdrücklicher Anerkennung für die sorgfältige Einstudierung der Chöre lebhaft vorstellen. Aber auch die anderen Stimmen beurteilten das Debüt eher skep­ tisch: »Das geborene Dirigiertalent, das sich als solches gleich beim ersten Erschei­ nen am Pulte unzweifelhaft kundgibt, ist Reger jedenfalls nicht.« ZWISCHENSPIEL Etwa zu derselben Zeit begann Reger ver­ mehrt für große Besetzungen zu schreiben. Fiel der erste Versuch, die »Sinfonietta« bei der Münchner Erstaufführung durch das Kgl. Hofopernorchester unter der Leitung von Felix Mottl noch durch – worauf sich Regers Schüler an Rudolph Louis mit einer nächt­ lichen Katzenmusik rächten, auf die der Kri­ tiker mit »einem öffentlichen Dank an jene Herren« reagierte, »welche ihm in so liebens­ würdiger Weise Bruchstücke aus dem neues­ ten Werk ihres Meisters« nahegebracht hät­ ten – , so wuchs das Interesse an den Werken Regers doch stetig. In Ferdinand Löwes Chef­ dirigentenzeit wurden gleich vier symphoni­ sche Werke erstmals vorgestellt: »Sympho­ nischer Prolog zu einer Tragödie« op. 108 (22. November 1909), »Eine Lustspiel­ ouvertüre« op. 120 (4. April 1911), das »Konzert im alten Stil« op. 123 (18. Dezem­ ber 1912) und, am 29. Dezember 1913, »Eine Ballett­Suite« op. 130. Außerdem erklan­ gen, ebenfalls als Münchner Erstaufführun­ gen, das Violinkonzert op. 101 unter der Leitung von Ossip Gabrilowitsch mit Alexan­ der Schmuller als Solisten (23. März 1912) und »Eine romantische Suite« nach Eichen­ dorff op. 125, die der Dirigent Franz von Hoesslin aus der Taufe hob (25. Oktober 1912). REGERS ZWEITER AUFTRITT Ende 1907 nahm »der wilde Oberpfälzer« – er hatte von den Münchner Querelen um seine Person nun endgültig genug – die Be­ rufung zum Konservatoriumslehrer und Uni­ versitätsmusikdirektor in Leipzig an. Die nachfolgenden Jahre seines Engagements als Dirigent der Meininger Hofkapelle von 1911 bis 1914 ließen ihn, wie nicht nur sein Schüler Alexander Berrsche feststellte, zu Max Reger zum 100. Todestag 33 Max Reger zum 100. Todestag 28 34 einem »Orchesterleiter ersten Ranges« so­ wohl in künstlerischer als auch in organisa­ torischer Hinsicht reifen. Regers zweiter und letzter Auftritt als Dirigent bei den Münch­ ner Philharmonikern fiel allerdings in eine Zeit, in der die Welt schon aus den Fugen geraten war. Doch trotz kriegsbedingter Schwierigkeiten konnte der Konzertbetrieb in der Spielzeit 1914/15 noch in vollem Um­ fang aufrechterhalten werden. Auf dem Pro­ gramm des von »Generalmusikdirektor Max Reger« geleiteten 8. Abonnementskonzerts am 1. Februar 1915 standen, neben Mozarts »Haffner­Symphonie«, »Eine vaterländische Ouvertüre« op. 140, »gewidmet dem deut­ schen Heere« und, ebenfalls als Münchner Erstaufführung, die 1914 entstandenen »Va­ riationen und Fuge über ein Thema von Mo­ zart« op. 132. Vor allem dieses Werk wurde mit großem Beifall bedacht. Die »Münchner Neuesten Nachrichten« rühmten den »Reich­ tum an Polyphonie, wie er nur dem kontra­ punktischen Genie Regers zu Gebote steht. Daß dieses Werk trotz der außerordentlich kunstvollen thematischen Arbeit auch präch­ tig klingt, beweist vor allem die schöne ach­ te Variation. Es versteht sich bei Reger von selbst, daß die über ein reizvolles achttak­ tiges Thema gehende Fuge glänzend gebaut ist.« Fünf eigene Lieder, mit Reger am Kla­ vier, und drei orchestrierte Brahms­Lieder, gesungen von Anna Erler­Schnaut, rundeten das Programm ab. Der Komponist Max Reger wurde ebenso gefeiert wie der Dirigent und Liedbegleiter. Selbst der damals amtierende Oberbürgermeister der Stadt München, Wil­ helm von Borscht, sprach Reger seinen auf­ richtigsten Dank aus: »Die grösste Anerken­ nung für Sie liegt in dem Erfolg, den Ihr Auftreten bei uns zeigte: der Besuch unse­ rer Abonnementskonzerte war mit Ausbruch des Krieges noch nie so stark, wie bei Ihrem Konzert, die Begeisterung des Publikums für Ihre bewundernswerten Leistungen war grösser und herzlicher denn je.« NACHSPIEL Die im Brief des Oberbürgermeisters aus­ gesprochene Erwartung, »Euer Hochwohl­ geboren auch noch bei anderen Gelegenhei­ ten in der Tonhalle begrüssen zu dürfen«, erfüllte sich nicht mehr. Max Reger starb mit nur 43 Jahren am 11. Mai 1916. Doch sein gesamtes Orchesterwerk bildete bis in die 40er Jahre einen festen Bestandteil in­ nerhalb der philharmonischen Programm­ gestaltung, wobei es nach Regers Tod noch zu weiteren Münchner Erstaufführungen kam. So stellte Komponisten­Kollege Hans Pfitzner die Orchesterfassung der 1904 ursprünglich für zwei Klaviere zu vier Hän­ den komponierten »Variationen und Fuge über ein Thema von Beethoven« op. 86 vor, der »Gesang der Verklärten« op. 71 erklang in einer Bearbeitung von Karl Hermann Pill­ ney, die von Florizel von Reuter zu Ende ge­ führte »Symphonische Rhapsodie für Violi­ ne und Orchester« op. 147 erlebte 1932 ihre Uraufführung, der erste Satz des un­ vollendet gebliebenen lateinischen »Requi­ ems« op. 145a seine philharmonische Erst­ aufführung. Nach 1945 aber standen zu­ nächst ganz andere Komponisten im Vor­ dergrund – Reger hatte ja bereits zu seiner Zeit das Schicksal ereilt, mit seinem Schaf­ fen zwischen alle Stühle geraten zu sein. Dennoch hatte er innerhalb der zwischen Schönberg, Strawinsky und der »Münchner Schule« angesiedelten musikalischen Ex­ trembereiche einen ganz eigenen Weg ge­ funden. Regers unruhig oszillierende Har­ monik und seine meisterliche Beherrschung der Polyphonie, auch seine bisweilen »klas­ sizistisch« anmutende Einfachheit lohnen eine Wiederbegegnung allemal. Max Reger zum 100. Todestag 35 Donnerstag 07_07_2016 20 Uhr g4 Samstag 09_07_2016 19 Uhr d Samstag 16_07_2016 20 Uhr MAX REGER »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« op. 108 JOHANNES BRAHMS Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 83 PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY Suite aus dem Ballett »Schwanensee« op. 20 a PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23 RICHARD STRAUSS Orchestersuite aus der Komödie für Musik »Der Rosenkavalier« op. 59 MAURICE RAVEL »Boléro« KENT NAGANO, Dirigent NIKOLAI LUGANSKY, Klavier Donnerstag 14_07_2016 20 Uhr b KLASSIK AM ODEONSPLATZ VALERY GERGIEV, Dirigent DANIIL TRIFONOV, Klavier GALINA USTWOLSKAJA Symphonie Nr. 3 »Jesus, Messias, errette uns!« SERGEJ RACHMANINOW Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 d-Moll op. 30 DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH Symphonie Nr. 4 c-Moll op. 43 VALERY GERGIEV, Dirigent BEHZOD ABDURAIMOV, Klavier ALEXEI PETRENKO, Sprecher Vorschau 36 Die Münchner Philharmoniker 1. VIOLINEN Sreten Krstič, Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici, Konzertmeister Julian Shevlin, Konzertmeister Odette Couch, stv. Konzertmeisterin Lucja Madziar, stv. Konzertmeisterin Claudia Sutil Philip Middleman Nenad Daleore Peter Becher Regina Matthes Wolfram Lohschütz Martin Manz Céline Vaudé Yusi Chen Iason Keramidis Florentine Lenz 2. VIOLINEN Simon Fordham, Stimmführer Alexander Möck, Stimmführer IIona Cudek, stv. Stimmführerin Matthias Löhlein, Vorspieler Katharina Reichstaller Nils Schad Clara Bergius-Bühl Esther Merz Katharina Schmitz Ana Vladanovic-Lebedinski Bernhard Metz Namiko Fuse Qi Zhou Clément Courtin Traudel Reich Asami Yamada BRATSCHEN Jano Lisboa, Solo Burkhard Sigl, stv. Solo Max Spenger Herbert Stoiber Wolfgang Stingl Gunter Pretzel Wolfgang Berg Beate Springorum Konstantin Sellheim Julio López Valentin Eichler VIOLONCELLI Michael Hell, Konzertmeister Floris Mijnders, Solo Stephan Haack, stv. Solo Thomas Ruge, stv. Solo Herbert Heim Veit Wenk-Wolff Sissy Schmidhuber Elke Funk-Hoever Manuel von der Nahmer Isolde Hayer Sven Faulian David Hausdorf Joachim Wohlgemuth Das Orchester 37 KONTRABÄSSE Sławomir Grenda, Solo Fora Baltacigil, Solo Alexander Preuß, stv. Solo Holger Herrmann Stepan Kratochvil Shengni Guo Emilio Yepes Martinez Ulrich Zeller FLÖTEN Michael Martin Kofler, Solo Herman van Kogelenberg, Solo Burkhard Jäckle, stv. Solo Martin Belič Gabriele Krötz, Piccoloflöte OBOEN Alois Schlemer Hubert Pilstl Mia Aselmeyer TROMPETEN Guido Segers, Solo Bernhard Peschl, stv. Solo Franz Unterrainer Markus Rainer Florian Klingler POSAUNEN Dany Bonvin, Solo David Rejano Cantero, Solo Matthias Fischer, stv. Solo Quirin Willert Benjamin Appel, Bassposaune Ulrich Becker, Solo Marie-Luise Modersohn, Solo Lisa Outred Bernhard Berwanger Kai Rapsch, Englischhorn PAUKEN KLARINETTEN Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger Jörg Hannabach Alexandra Gruber, Solo László Kuti, Solo Annette Maucher, stv. Solo Matthias Ambrosius Albert Osterhammer, Bassklarinette FAGOTTE Lyndon Watts, Solo Jürgen Popp Johannes Hofbauer Jörg Urbach, Kontrafagott HÖRNER Jörg Brückner, Solo Matias Piñeira, Solo Ulrich Haider, stv. Solo Maria Teiwes, stv. Solo Robert Ross Stefan Gagelmann, Solo Guido Rückel, Solo Walter Schwarz, stv. Solo SCHLAGZEUG HARFE Teresa Zimmermann, Solo CHEFDIRIGENT Valery Gergiev EHRENDIRIGENT Zubin Mehta INTENDANT Paul Müller ORCHESTERVORSTAND Stephan Haack Matthias Ambrosius Konstantin Sellheim Das Orchester 38 IMPRESSUM TEXTNACHWEISE Herausgeber: Direktion der Münchner Philharmoniker Paul Müller, Intendant Kellerstraße 4 81667 München Lektorat: Christine Möller Corporate Design: HEYE GmbH München Graphik: dm druckmedien gmbh München Druck: Gebr. Geiselberger GmbH Martin-Moser-Straße 23 84503 Altötting Marcus Imbsweiler, Wolf­ gang Stähr, Regina Back, Susanne Stähr und Gabri­ ele E. Meyer schrieben ih­ re Texte als Originalbei­ träge für die Programm­ hefte der Münchner Philhar­ moniker. Das Schumann­­Sonett von Hans Pfitzner ist dem Band Hans Pfitz­ ner, Sechs Sonnette – dem Gedächtnis des Meisters im Jahr seines 80. Ge­ burtstags und seines To­ des, Söcking 1949, ent­ nommen. Stephan Kohler verfasste die lexikalischen Werkangaben und Kurz­ kommentare zu den auf­ geführten Werken. Künst­ lerbiographien: nach Agenturvorlagen. Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren; jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungs- und kos­ tenpflichtig. 2006; Abbildungen zu Ro­ bert Schumann: Ernst Burger, Robert Schumann – Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, Mainz 1999. Künstlerpho­ tographien: Irene Zandel (Trinks), Peter Adamik (Barainsky). TITELGESTALTUNG »Robert Schumann genoss nach seinem Umzug nach Düsseldorf die rheinische Fröhlichkeit. Die dritte Symphonie ist von dieser euphorischen Stimmung geprägt – genauso wie vom Eindruck, den der Kölner Dom auf ihn gemacht hat. Im Plakatmotiv wird die sogenannte ›Rheinische‹ deshalb als Fluss darge­ stellt, der Düsseldorf und Köln über verspielte Um­ wege miteinander verbin­ det.« (Gemeinschaftsar­ beit – Heye GmbH, 2016) BILDNACHWEISE Abbildungen zu Hans Wer­ ner Henze: Klaus Geitel, Hans Werner Henze, Berlin 1968; Michael Kerstan / Clemens Wolken, Hans Werner Henze – Komponist der Gegenwart, Leipzig 2006; Abbildung zu Richard Wagner: Udo Brembach, Richard Wag­ ner – Stationen eines un­ ruhigen Lebens, Hamburg Impressum Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix zertifiziertem Papier der Sorte LuxoArt Samt In freundschaftlicher Zusammenarbeit mit VALERY GERGIEVS DAS FESTIVAL DER MÜNCHNER PHILHARMONIKER — PROKOFJEW-MOZARTMARATHON GASTEIG Freitag 11_11_2016 ERÖFFNUNGSKONZERT VALERY GERGIEV Samstag 12_11_2016 PROKOFJEW–MARATHON ALLE KLAVIERSONATEN PETER UND DER WOLF TANZKONZERTE Sonntag 13_11_2016 PROKOFJEW SYMPHONIEN MOZART VIOLINKONZERTE KARTEN AB SOFORT MPHIL.DE 089 54 81 81 400 3 FÜ MU TA R SI GE AL K LE ’15 ’16 DAS ORCHESTER DER STADT