Interview mit Dr. Marcus Schlemmer vom November 2009 Palliativmedizin und – pflege Es geht darum, den Tagen mehr Leben zu geben und nicht dem Leben mehr Tage Seit Juni 2007 ist der Onkologe Dr. Marcus Schlemmer Oberarzt im palliativen Zentrum des Klinikums Großhadern. Gemeinsam mit zwei weiteren Oberärzten aus der Neurologie und der Anästhesiologie leitet er die Station. Das Motto des Palliativteams lautet: „Es geht darum, den Tagen mehr Leben zu geben und nicht dem Leben mehr Tage. Herr Dr. Schlemmer, wie wie werden Patienten auf der Palliativstation betreut? Dr. Marcus Schlemmer: Zu uns kommen Menschen, deren Erkrankung nicht mehr heilbar und deren Lebenszeit aufgrund ihrer Krankheit eingeschränkt ist. Das kann aber dennoch bedeuten, dass diese Patienten noch viele Jahre leben können. Wenn eine Krankheit nicht heilbar ist, bedeutet das keinesfalls, dass man für die Betroffenen nichts mehr tun kann. Wir können und wollen noch sehr viel für sie tun! Im Mittelpunkt unserer Versorgung steht also der Patient mit seinen Wünschen und Zielen, aber auch mit seinen körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Nöten. Über die Kontrolle von Schmerzen und anderen Krankheitssymptomen hinaus zielt die Palliativmedizin auf Lebensqualität, nicht aber auf die Verlängerung der Überlebenszeit mit allen Mitteln. Als Arzt sind Sie ja eigentlich dafür ausgebildet zu heilen. Hier auf der Palliativst Palliativstastation hingegen betreuen Sie Patienten, ohne die Aussicht auf Gesundung geben zu können. Dem Patienten sagen zu müssen, dass eine weitere Therapie, die auf die Ursache der Krankheit zielt, medizinisch und menschlich nicht mehr sinnvoll ist, das fällt uns Ärzten nicht leicht – das haben wir nicht gelernt. Doch auf der Palliativstation geht es genau um diese Klarheit und Offenheit. Zu uns kommen in der Regel Patienten, deren Erkrankung weit fortgeschritten ist. Wir tun hier alles dafür, dass sie die ihnen verbleibende Zeit so würdevoll und erfüllt wie möglich leben können. Dafür schaffen wir die nötigen Voraussetzungen mit der Schmerz- und Symptomkontrolle. Und was ist mit Patienten, die weiter mit allen verfügbaren Mitteln kämpfen möchmöchten? Auch ein solcher Patient kann zu uns kommen – vorübergehend, wenn er zum Beispiel eine Phase mit schlimmen Schmerzen durchleidet. Dann kümmern wir uns um seine Schmerzen und entlassen ihn zur weiteren Therapie wieder. Denn eine zentrale Aufgabe der Palliativmedizin ist es ja, schlimme Symptome von Patienten zu behandeln. Andererseits aber verstehen wir uns nicht nur als „Symptomatologen“. Wir helfen Menschen in lebensbedrohlichen Situationen auch wesentlich, den Weg zu gehen, den sie für richtig halten. Sicher ist nicht jeder Patient schon im ersten Gespräch entschieden und klar über seinen Weg. Es gibt Patienten, die kommen von sich aus zu uns und sagen ganz klar: Bitte kümmern Sie sich um meine Schmerzen, danach gehe ich ins Hospiz. Mit den Anderen führen wir meist mehrere Gespräche, insbesondere mit den Patienten, die im Rahmen des Konsildienstes hier in Großhadern betreut werden. Die Entscheidung für die palliativmedizinische Betreuung ist ein Prozess. Und dafür braucht man Zeit. Wieder andere Patienten kommen über ihren Hausarzt zu uns. Bei ihnen müssen wir davon ausgehen, dass dieser Arzt mit ihnen gesprochen hat, was aber leider nicht immer der Fall ist. Dann klären wir im Aufnahmegespräch, was eine Palliativstation ist. Welche Punkte sind da noch wesentlich? Sie können sich vorstellen, dass es für uns Ärzte und auch für unser pflegerisches Team unerlässlich ist, die Frage der intensivmedizinischen Behandlung vorab zu besprechen. Wir sagen sehr offen, dass wir unsere Patienten eigentlich nicht mehr intensivmedizinisch behandeln. Wenn sie also bei uns einen Herzstillstand erleiden, reanimieren wir sie nicht. Weil sie davon nicht mehr profitieren. Und wir trauen uns auch, ihnen das zu sagen. Wie unterscheiden sich Hospiz und Palliativstation? Ein Hospiz ist in der Regel unabhängig von einem Krankenhaus und verfügt „nur“ über ein Pflegeteam, das sich um die Patienten kümmert. Die ärztliche Betreuung leisten niedergelassene Kollegen, die die Patienten versorgen. Das Hospiz ist ein Ort, wo Patienten sterben. Weniger als 3% werden wieder entlassen. Eine Palliativstation ist eine Station in einem Krankenhaus. Sie wird von Ärzten geleitet – bei uns durch ein interdisziplinäres Team von drei Oberärzten aus Onkologie, Neurologie und Anästhesiologie. Die wichtigsten Betreuungskräfte sind nach meiner Überzeugung jedoch auch hier die Pflegekräfte der Palliativstation. Durchschnittlich bleiben die Patienten rund neun Tage bei uns. Ungefähr die Hälfte stirbt hier. Ca. 50% unserer Patienten werden wieder entlassen – entweder auf eine andere Station, in ein Pflegeheim, ins Hospiz oder nach Hause. Geht ein Patient nach Hause, begleiten ihn unsere Sozialarbeiterinnen, bereiten das Umfeld und helfen bei den praktischen Dingen für zuhause, zum Beispiel bei der Organisation eines Pflegebettes, aber auch in Fragen der finanziellen Unterstützung. Ihre Arbeit schließt den Kontakt mit Krankenkassen, Sanitätshäusern, lokalen Pflegediensten und zuständigen Ärzten mit ein. Neun Tage, das klingt kurz. In aller Regel gelingt es uns, somatische, also körperliche Schmerzen, in zwölf bis 36 Stunden soweit zu lindern, dass der Patient sie gut aushalten kann. Dann beobachten wir eine Woche lang, ob der Zustand stabil bleibt, bevor wir ihn entlassen. Wenn das mehr Zeit braucht, bleibt ein Patient natürlich auch länger. Grundsätzlich aber ist der Andrang bei uns sehr groß. Und es geht ja auch wesentlich darum, die Patienten in die von ihnen gewünschte Umgebung zu entlassen – meist ist das ihr Zuhause. Jenseits der Schmerzbehandlung geht es der Palliativmedizin auch um den ganzganzheitli heitl i chen Blick auf den Patienten. Was ist da mit Familie und Angehörigen? Wir holen sie mit in unsere Betreuung hinein. Auf einer Palliativstation werden nicht nur Opiate und Sauerstoff verabreicht. Bestimmte somatische Schmerzen lassen sich nicht auflösen, wenn wir uns nicht trauen, über die Sorgen, Ängste und spirituellen Bedürfnisse zu sprechen. Hier ist also viel Raum für die Familie und die Angehörigen. Wie wichtig uns die Familie ist, zeigt das folgende Beispiel: Eine Patientin hat gar nicht so viele Schmerzen. Sie ist recht stabil, wenn auch schwach. Wir nehmen sie trotzdem auf, weil wir sehen, dass jemand Gespräche mit ihren Kindern führen muss. Darüber, dass ihre Mutter sterben wird. Und wir kümmern uns um den Ehemann, der zurückbleibt. Die Palliativmedizin hat immer die Angehörigen mit im Blick, auch über den Tod hinaus. Sie schließt die Trauerbegleitung mit ein. Wie groß ist Ihr PflegePflege- und Betreuerteam auf der Palliativstation? Wir haben insgesamt sieben Pflegerinnen bzw. Pfleger pro Tag, die sich über die drei Schichten verteilen. Hinzu kommen ein katholischer und ein evangelischer Seelsorger, zwei Sozialarbeiterinnen, eine Atemtherapeutin, ein Physiotherapeut, eine Psychotherapeutin und eine Kunsttherapeutin. Sie arbeiten teils auf einer halben Stelle, teils einige Stunden pro Woche. Sie sehen, wir sind eine große Station mit viel Personal. Und wir sind der Meinung, dass das auch notwendig ist, wenn man Menschen palliativmedizinisch richtig gut versorgen will. Ich bin da sehr kämpferisch. Wenn man weiß, dass man Menschen so sehr damit helfen kann, sollte man die Verteilung der Ressourcen in der Medizin in Deutschland überdenken. Das Interview für lebensmut mut e.V. führte Regine Kramer