Kommentar Ethik als Norm Von Wolfgang Huber Die Finanzmarktkrise der Jahre 2007 bis 2009 hat jedenfalls eine Langzeitwirkung1: Die Frage nach den ethischen Grundlagen wirtschaftlichen Handelns stellt sich mit neuer Unausweichlichkeit. Die Gründe dafür liegen nicht in einem neuen Idealismus der wirtschaftlichen Akteure. Sie sind eher darin zu suchen, dass der Vertrauensverlust in das wirtschaftliche Führungspersonal dramatische Ausmaße angenommen hat. In den entsprechenden Meinungsumfragen konkurrieren Politiker und Wirtschaftsführer darum, wer in der Skala der Vertrauenswürdigkeit das Schlusslicht bildet. Man kann diesen Vertrauensverlust nicht einfach, wie es häufig geschieht, auf einen Mangel an Vertrautheit zurückführen. Wer so denkt, meint, es sei schon genug getan, wenn die mangelhaften Kenntnisse des Publikums über die Eigenlogik der Wirtschaft aufgebessert werden. Wären die Menschen zureichend darüber informiert, wie Wirtschaft funktioniert, so würden sie ihr auch das notwendige Vertrauen entgegen bringen – so heißt die dazu gehörige These. Eine solche Strategie ist eher dazu geeignet, bestehende Vorbehalte zu bestätigen, als sie zu beheben. Denn sie bestärkt die Annahme, dass ethische Maßstäbe dann am ehesten wirtschaftlich von Interesse sind, wenn ihre Befolgung die Gewinnchancen erhöht. Auch die neue Zuwendung zu wirtschaftsethischen Fragen weist in eine solche Richtung. Der Vertrauensverlust in die Wirtschaft wird inzwischen offenkundig auch deshalb ernst genommen, weil er wirtschaftlich von Nachteil ist. Erhöhte ethische Sensibilität soll das Vertrauen stärken und damit auch wirtschaftlichen Nutzen stiften. Trotz eines solchen pragmatischen Kalküls ist es angebracht, das neue Interesse der Wirtschaft an ethischen Fragen nicht nur als interessegeleitet abzuwehren, sondern es konstruktiv zu nutzen. Auch wenn viel dafür spricht, dass in der Wirtschaft das Interesse an ethischen Fragen dann steigt, wenn dies auch wirtschaftlich von Vorteil ist, können auf diesem Weg gleichwohl ethische Standards etabliert werden, die über ein solches Kalkül hinaus von Bedeutung sind. Die Erfahrungen der Finanzmarktkrise der Jahre 2007 bis 2009 haben zu einem neuen Nachdenken über das Ordnungsmodell der sozialen Marktwirtschaft geführt. Im Anschluss an die Unternehmerdenkschrift von 20082 hat die Evangelische Kirche in Deutschland dazu in einem eigenen Text Stellung genommen, der unter dem Titel veröffentlicht wurde: »Wie ein Riss in einer hohen Mauer. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise.«3 Dieser Text plädiert dafür, das klassische Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in Richtung einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft weiter zu entwickeln. Dabei ist die Einsicht entscheidend, dass eine so verstandene Marktwirtschaft ein ethisch anspruchsvolles Konzept darstellt. Ausdrücklich knüpft das Dokument an Zeitschrift für Evangelische Ethik, 55. Jg., S. 243 – 247, ISSN 044-2674 © Gütersloher Verlagshaus 2011 243 das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 an, in dem es bereits hieß: »Der individuelle Eigennutz, der ein tragendes Strukturelement der Marktwirtschaft ist, kann isoliert zum zerstörerischen Egoismus verkommen. Über die politische und wirtschaftliche Rahmensetzung hinaus ist es eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben. Die Balance zwischen persönlichem Wohlergehen und sozialer und ökologischer Verantwortung geht jeden an.«4 Diese Sätze machen deutlich: Die Ethik einer sozialen, nachhaltigen und global verpflichteten Marktwirtschaft hat es nicht nur mit der Notwendigkeit zu tun, dass die richtigen politischen Rahmensetzungen die Balance zwischen wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Ausgleich sowie zwischen wirtschaftlichem Gewinnstreben und Nachhaltigkeit gewährleisten. Vielmehr muss sich dieses Ziel auch in Verhaltenscodices auf Branchen- und Unternehmensebene niederschlagen; diese Balance muss zugleich auch das professionelle Ethos insbesondere von Führungskräften bestimmen. Und es muss zum Inhalt der gesellschaftlichen Debatte werden; es muss Eingang finden in das kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaft. Initiativen in dieser Richtung sind im Gang. Über das Verhältnis von Markt und Moral wird wieder öffentlich diskutiert. Corporate Social Responsibility wird sogar zu einem Thema der internationalen Normungsdebatte. Die Internationale Organisation für Normung hat zu Beginn im Oktober 2010 einen »Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung« von Organisationen veröffentlicht. Die Arbeit vieler Jahre hat in dieses Dokument Eingang gefunden. Entsprechende Bemühungen begannen bereits im Jahr 2001; in der letzten Phase waren unter dem Vorsitz von Brasilien und Schweden über 90 Länder und über 40 Organisationen an der Erarbeitung des Dokuments beteiligt. Ethische Führung einer Organisation, Orientierung an den Menschenrechten, eine ethisch verantwortete Gestaltung von Arbeitsverhältnissen, Nachhaltigkeit im Umgang mit der Umwelt, faire Betriebs- und Geschäftspraktiken, die Achtung der Konsumentenanliegen und schließlich die Einbindung und Entwicklung der Gemeinschaft sind die Kernpunkte dieser ISO 26000. Sie wurde inzwischen unverändert in eine deutsche Norm übernommen.5 Die Bedeutung dieses Vorgangs ist öffentlich bisher kaum gewürdigt worden. Sie besteht in der Formulierung von Verhaltensstandards, die für Wirtschaftsunternehmen genauso zur Geltung gebracht werden wie für Nichtregierungsorganisationen, für staatliche und zwischenstaatliche Organisationen genauso wie für Religionsgemeinschaften. Ein internationaler Ausschuss hat demonstriert, dass die kulturelle und religiöse Pluralität unserer Welt die Verständigung auf solche Leitlinien nicht unmöglich macht; der Pluralismus der Weltgesellschaft rechtfertigt keine Kapitulation in elementaren ethischen Fragen. Diese Einsicht, die bereits hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht, hat sich nicht nur in der Weiterentwicklung von menschenrechtlichen Standards innerhalb der internationalen Rechtsgemeinschaft bestätigt. Sie lässt sich auch auf die soziale Verantwortung von Organisationen übertragen, Wirtschaftsunternehmen eingeschlossen. In Deutschland hat die Ethik-Debatte inzwischen sogar Wirtschaftsbranchen erreicht, die bisher als eher ethik-resistent galten, beispielsweise die Immobilienwirtschaft oder die Kapitalbeteiligungsgesellschaften. In solchen Klärungsprozessen rücken vor allem die Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Investitionen, die Integrität des wirtschaftlichen Handelns und Entscheidens, die Berücksichtigung aller Stakeholder, die Fairness und Transparenz der Geschäftspraktiken sowie die Berücksichtigung gesellschaftlicher Anliegen und Verpflichtungen in den Vordergrund. 244 Dergleichen mag in ISO-Dokumenten niedergelegt oder von Branchenverbänden formuliert werden. Entscheidend ist, dass es das alltägliche Leben und Handeln in den einzelnen Unternehmen bestimmt. Das ist auch ganz gewiss in vielen Wirtschaftsunternehmen und an vielen Orten der Fall. Gleichwohl ist das Vertrauen darauf, dass die Wirtschaft sich der Sozialbindung des Eigentums und den Grundsätzen des ehrbaren Kaufmanns verpflichtet weiß, in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen. Diese Vertrauensbasis kann nicht durch Erklärungen oder Leitbilder allein wiedergewonnen werden. Vertrauen wird nicht durch Reden, das um Vertrauen wirbt, gewonnen, sondern durch Handeln, das Vertrauen verdient. Aber öffentlich wahrnehmbare Selbstverpflichtungen haben dafür eine hohe Bedeutung. Deshalb verdient ein Prozess Aufmerksamkeit, der im Jahr 2010 durch das Wittenberg-Zentrum für globale Ethik angestoßen wurde. Das Wittenberg-Zentrum hat ein »Leitbild für verantwortliches Handeln in der Wirtschaft« formuliert.6 In dessen Präambel heißt es: »Wir wollen dieses Leitbild in unseren Unternehmen fest verankern und uns daran messen lassen. Wir laden alle Unternehmen ein, sich unserer Initiative anzuschließen. Wir wollen hierüber einen intensiven Dialog mit der Gesellschaft führen. Unser Anspruch ist es, mit dem Leitbild sichtbare, alltagstaugliche und überprüfbare Standards verantwortlichen unternehmerischen Handelns zu setzen. Dieses soll im Einklang mit gesellschaftlichen Erwartungen und Werten stehen. Dazu greift das Leitbild auch bestehende Grundsätze und Initiativen von Unternehmen auf.« Das Leitbild orientiert sich an folgenden Prinzipien: • Die Wirtschaft muss das Wohl der Menschen fördern. • Wirtschaften zum Wohl der Menschen erfordert Wettbewerb. • Wirtschaften zum Wohl der Menschen beruht auf Leistung. • Wirtschaften zum Wohl der Menschen erfolgt global. • Wirtschaften zum Wohl der Menschen verlangt Nachhaltigkeit. • Wirtschaften zum Wohl der Menschen setzt verantwortliches Handeln der Entscheider voraus. Gewiss haben diese Prinzipien eine Weiterentwicklung verdient; sie enthalten in diesem Sinn noch »Luft nach oben«. Ebenso ist zu wünschen, dass dieser Leitbild-Prozess öffentlich noch mehr Resonanz findet. Doch immerhin wurde dieses Leitbild bisher von 39 Unternehmen unterzeichnet; unter ihnen befindet sich der größte Teil der deutschen DAX-Unternehmen. Das alles sind Initiativen, die bereits vor der Kernschmelze von Fukushima im März 2011 in Gang kamen. Dieses Ereignis hat erneut deutlich gemacht, dass zu einer Ethik wirtschaftlicher Verantwortung, die Vertrauen verdient und dadurch auch Vertrauen stärkt, nicht nur der Wille zum Wachstum gehört, sondern auch die Bereitschaft zur Selbstbegrenzung. Diese Selbstbegrenzung bezieht sich einerseits auf die Verfügungsansprüche über die Zukunft, andererseits auf den Geltungsbereich des wirtschaftlichen Wettbewerbsprinzips. Wirtschaftliches Handeln schließt Zukunftsverantwortung ein. Dass heutige Generationen mit ihrem Handeln »Zukunftsplünderung« betreiben, mag ein harter Ausdruck sein. Doch dem Gebot der Nachhaltigkeit genügen viele wirtschaftliche Entscheidungen genauso wenig wie viele politische Entscheidungen. Wachsender Energieverbrauch auf der einen Seite, wachsende öf245 fentliche Verschuldung auf der anderen Seite tragen dazu bei, dass die heute Lebenden künftigen Generationen nicht dieselben Freiheitsgrade hinterlassen, die sie selbst für sich in Anspruch nehmen. Carl Christian von Weizsäcker hat im Zusammenhang mit der Debatte über den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs und vergleichbare Konflikte auf einen wichtigen Unterschied zwischen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen hingewiesen.6 In politischen Entscheidungsprozessen sind zukunftsrelevante Veränderungen auf Mehrheiten angewiesen; im Marktsystem bedarf es solcher Mehrheitsentscheidungen nicht. Bei Mehrheitsentscheidungen spielt die »emotionale Bindung an den status quo« eine große Rolle; bei wirtschaftlichen Entscheidungen dominiert das Fortschrittsaxiom, nach welchem das Problemlösungspotential wissenschaftlich-technischer Neuerungen einen Vertrauensvorschuss verdient. Die Wirtschaft ist deshalb innovationsfreudiger als die Politik. Umso genauer muss sie fragen, welche langfristigen Folgen sich aus ihren Innovationen ergeben. Sie kann die eventuell notwendigen Bremsprozesse nicht allein der Politik überlassen. Das zeigt sich am Thema der Finanzmarktregulierungen ebenso wie am Beispiel der Energiewende. Vordenker und Verfechter einer sozialen, nachhaltigen und global verantworteten Marktwirtschaft müssen heute offenkundig für den guten Sinn des wirtschaftlichen Wettbewerbsprinzips eintreten. Sie können das dann am überzeugendsten, wenn sie deutlich machen, dass dieses Prinzip nicht auf alles und jedes angewandt werden kann. Es führt nämlich zu gefährlichen Auswüchsen, wenn das Wettbewerbsprinzip auch dort eingesetzt wird, wo es keine Steuerung durch den Preis gibt. Das ist gegenwärtig insbesondere im Bildungs- und Wissenschaftssystem der Fall. Diese Bereiche brauchen selbstverständlich auch kompetitive Elemente; doch sie im Ganzen nach dem Modell des wirtschaftlichen Wettbewerbs zu organisieren, führt in die Irre. Man kann das exemplarisch auch daran sehen, dass diese Entwicklung im Ergebnis vor allem zu einer Aufblähung des administrativen Aufwands in Lehre und Forschung führt. Ganzheitliche Bildung und innovative Forschung entstehen so nicht. Die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft besteht darin, eine Wirtschaftsordnung mit menschlichem Maß zu schaffen. Diese Aufgabe stellt sich jeder Generation neu. Heute ist dafür eine Erweiterung dieser Idee zu einer sozialen, ökologischen und global verantworteten Marktwirtschaft vonnöten. Und es ist vordringlich, die nachwachsende Generation von Entscheidern dafür zu gewinnen. Deshalb sollte ethische Ausbildung und Fortbildung einen festen Platz im Studium und in der Personalentwicklung von Führungskräften erhalten. Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber Gutenbergstr. 71/72 14467 Potsdam Deutschland Stellenbosch Institute for Advanced Study (STIAS) Wallenberg Research Centre at Stellenbosch University Marais Street, Stellenbosch 7600, South Africa [email protected] 246 Anmerkungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Siehe dazu die Studien des Themenhefts »Finanzmarktkrise« (ZEE 55, 2011, H.1). Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2008. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Wie ein Riss in einer hohen Mauer. Wort des Rates der EKD zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Hannover 2009. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover/Bonn 1997, TZ 12; Wie ein Riss in einer hohen Mauer, a.a.O., 21. Leitlinien gesellschaftlicher Verantwortung. ISO 26 000, Berlin 2011. Wittenberg-Zentrum für globale Ethik (Hg.), Leitbild für verantwortliches Handeln in der Wirtschaft, 2010 (www.wcge.org/529.htm). Carl-Christian von Weizsäcker, Chancen und Grenzen der Zukunftsgestaltung durch Forschung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.11.2010, 12. 247