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Heinz von Loesch
EINE VERKANNTE QUELLE DER FRÜHEN SCHUMANNREZEPTION
Die Briefe Robert Emil Bockmühls im Spiegel von Rezeption und Werkanalyse
des Cellokonzerts
HEINZ VON LOESCH
I
Dem Umstand, daß Robert Schumann ein gutes Jahr nach Fertigstellung seines Cellokonzerts den Frankfurter Cellisten Robert Emil Bockmühl (1820–
1881) um die Uraufführung des Werkes ersuchte und mit der Fingersatz- und
Strichbezeichnung für die anstehende Drucklegung betraute, haben wir ein
Konvolut von Briefen seltenen Umfangs zu einer einzigen Komposition zu
verdanken. In einem Zeitraum von über zwei Jahren richtete Bockmühl nicht
weniger als 26 Briefe1 an Schumann, in denen er sich ausführlich und zum
Teil höchst kritisch über das Cellokonzert und die Möglichkeit seiner Aufführung äußert (die sechs Antwortschreiben Schumanns waren bislang nicht aufzufinden).
Aus den Briefen Bockmühls zitierte bereits Wolfgang Boetticher in seiner
Schumann-Monographie aus dem Jahre 19412, allerdings nur in einer kleinen
Auswahl und nicht immer ganz richtig (Bockmühls Handschrift ist schwer
lesbar). In ausführlicherer Form waren die Briefe Gegenstand des Referats
von Joachim Draheim auf dem Düsseldorfer Schumann-Kongreß im Jahre
1988 über Schumann in Düsseldorf3.
1 Erhalten in der sogenannten Correspondenz, einer Sammlung der an Schumann gerichteten Briefe, heute in der Biblioteka Jagielloøska, Krakau.
2 W. Boetticher, Robert Schumann. Einführung in Persönlichkeit und Werk, Berlin
1941 (= Festschrift zur 130. Wiederkehr des Geburtstages von Robert Schumann).
3 J. Draheim, Das Cellokonzert a-Moll op. 129 von Robert Schumann: neue Quellen
und Materialien, in: Schumann in Düsseldorf. Werke – Texte – Interpretationen. Bericht
über das 3. Internationale Schumann-Symposion am 15. und 16. Juni 1988 im Rahmen des

Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
Draheim stellt Bockmühl als einen widersprüchlichen, wenn nicht launischen
Charakter dar, als „geschwätzig“, „unverschämt“ und „anmaßend“ sowie als einen Mann von „konservativem und eher beschränktem Geschmack“4. Und die
Briefe erscheinen lediglich als Dokument einer zufälligen und irregeleiteten Rezeption, als Dokument einzig der Verkennung eines musikalischen „Meisterwerks“.
Sympathie für Bockmühl zu empfinden, fällt in der Tat schwer, entzog er
sich doch in letzter Instanz, welche allein wirkungsgeschichtlich zählt, und
unter zum Teil höchst fadenscheinigen Gründen seiner ursprünglichen Uraufführungszusage. Während er somit wesentlich dazu beitrug, einem der bedeutendsten, wenn nicht dem bedeutendsten Cellokonzert seiner Zeit den Zugang
zur musikalischen Öffentlichkeit zu versperren, genierte er sich offenbar
nicht, sein eigenes Cellokonzert in A-Dur op. 66 öffentlich zu Gehör zu bringen, ein Werk, welches nach dem Notenbild alles andere als eine gelungene
Komposition genannt zu werden verdient.
Dennoch ist Draheims negative Darstellung des Frankfurter Cellisten und
seiner Schumann-Kritik vorschnell. Die Widersprüchlichkeit der Aussagen
Bockmühls und sein Zaudern, das Cellokonzert öffentlich vorzutragen,
braucht nicht auf einem launischen Charakter zu beruhen, sondern kann
durchaus als die höchst verständliche und keinesfalls unsympathische Unsicherheit im Werturteil über ein neues Kunstwerk aufgefaßt werden, dessen ästhetischer und geschichtlicher Stellenwert noch nicht bestimmt war. Und daß
ein Cellist angesichts der für den damaligen Stand der Cellotechnik wirklich
horrenden Schwierigkeiten vor einer öffentlichen Aufführung immer wieder
zurückschreckte, hat nach mehr als einhundert Jahren keine Geringschätzung
verdient. Bei dem Vorwurf der Anmaßung und Unverschämtheit aber handelt
es sich um moralische und nicht um ästhetische Kategorien. Daß einem Cellisten und Komponisten vom Range Bockmühls eine Kritik an Schumann nicht
„zustand“, besagt noch nichts über die Triftigkeit ihres Sachgehalts.
Gerade was den Sachgehalt angeht, ist die Kritik jedoch bedeutsam. Einerseits spiegelt sie die Erwartungshaltung und das Urteil einer ganzen Epoche.
Ihr wurde von der Schumann-Rezeption fast ausnahmslos entsprochen. Damit
aber ist sie nichts weniger als das lediglich private und zufällige Urteil eines
einzelnen Cellisten, sondern ein rezeptionsgeschichtliches Dokument von eminenter Bedeutung. Andererseits enthalten die Briefe eine Reihe von Beobachtungen, die noch heute Gültigkeit haben, auch wenn wir einzelne Aspekte der
Kritik und zumal ihr Fazit nicht teilen: etwa den Vorschlag, den gesamten Finalsatz durch einen neuen zu ersetzen, oder gar die Konsequenz, das Werk
überhaupt nicht aufzuführen.
3. Schumann-Festes, Düsseldorf, hrsg. v. B. R. Appel, Mainz usw. 1993 (= Schumann Forschungen, Bd. 3), S. 249–264.
4
Ebenda, S. 251, 252, 255 und 262.

Heinz von Loesch
Bockmühls Kritik erscheint insgesamt also keinesfalls als Ausweis mangelnder musikalischer Bildung, lediglich eines „konservativen und eher beschränkten Geschmacks“, und auch nicht als Dokument allein einer irregeleiteten Rezeption, sondern als lehrreiche und differenzierte Kompositionskritik,
die mehr als ein bloß historisches Interesse verdient. Sie hat den Vorzug, dem
Werk noch gewissermaßen „unvorbelastet“ gegenüberzustehen. Ihr waren
Einsichten möglich, die uns heute, aufgewachsen in dem sicheren Bewußtsein
vom Schumann-Konzert als einem „Meisterwerk der Musik“ und dem Kairos
des romantischen Cellokonzerts, zu entgehen drohen. Wer den Vorwurf der
„Unverschämtheit“ oder „Anmaßung“ erhebt, sollte bedenken, daß nur ihr die
Kritik zu verdanken ist. Und wer „Geschwätzigkeit“ beklagt, darf nicht vergessen, daß darin eine wesentliche Voraussetzung für die Breite und Differenziertheit der Kritik gelegen hat.
Nun gilt es zunächst, die Kritik Bockmühls und seiner Frankfurter Kollegen, die bei verschiedenen Zusammenkünften das Konzert spielten und diskutierten, darzustellen. Im Anschluß soll ihre Geltung sowohl für die ältere
Schumann-Rezeption als auch für ein Werturteil aus heutiger Sicht aufgezeigt
und gewürdigt werden.
II
Bockmühls Kritik bezog sich ausschließlich auf den Finalsatz, auf Kadenz
und Coda, und richtete sich im wesentlichen auf drei Faktoren. In erster Linie
ging es um die Behandlung des Soloinstruments, um Fragen von Spielbarkeit
und Virtuosität. Ein Kritikpunkt, der sich in den verschiedensten Varianten
durch den gesamten Briefwechsel zieht, ist der Vorwurf, einige Stellen seien
„etwas unpracktikabel geschrieben“ und müßten geändert bzw. erleichtert
oder transponiert werden (Orthographie und Interpunktion sowie Kürzel oder
ähnliches habe ich unverändert von Bockmühl übernommen). Diese Stellen
seien zu „unruhig“, verlangten „wilden Fingersatz“ und sprängen „zu sehr auf
dem Griffbrett auf und nieder“. So müsse man innerhalb von sechs Takten
zwischen den Buchstaben M und N bzw. T und U andauernd „von dem Daumeneinsatz ganz zurück u. wieder hinauf“ springen, „was auf dem Cello
kaum im langsamen Tempo sauber & rein aufzuführen“ sei5. Nach Bockmühls
5
Briefe vom 26. Oktober 1851 sowie vom 25. April und 31. Oktober 1852; die Angaben von Buchstaben sind identisch mit der Zählung in der Schumann-Gesamtausgabe bei
Breitkopf & Härtel, hrsg. v. C. Schumann, Leipzig 1879–1893.

Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
Ansicht waren die Schwierigkeiten „außerordentlich“, ja „ungewöhnlich risquant“, und er versicherte: Wenn man das Konzert „rein, technisch vollkommen, mit Ton & Verständniß ausführen will, so ist es ein schwereres Stück Arbeit als alle meine Romberg’sche Servais’sche etc. Musick“6. Beschränkten
sich im Detail die beanstandeten Stellen zuerst nur auf den Abschnitt zwischen P und Q7, so erstreckten sie sich in zunehmendem Maße auch auf die
Buchstaben O–P8, L–N9 sowie Q–R und T–U10. In scherzhafter Weise versuchte Bockmühl, seinen Änderungsvorschlägen Nachdruck zu verleihen:
„Sollten Sie unsere Wünsche nicht erfüllen, so werden Ihnen alle Violoncellisten Nachts im Traum erscheinen & mit ihren Bogen drohen“11.
Die Kehrseite des Vorwurfs mangelnder Praktikabilität war der Vorwurf
mangelnder Virtuosität, „Undankbarkeit“ und „Effektlosigkeit“. Er klingt in
Bockmühls Rüge an, daß die „Schwirigkeiten, seien sie auch noch so bedeutend“, nicht „klingend oder melodieus“ zu bewältigen seien12. Er wird deutlich, wenn Bockmühl an der Passage zwischen O und R bemängelt, daß sie
„ganz unpracktisch für Violoncell [sei] und gewiß so effecktlos, daß sie selbst
vollkommen ausgeführt nicht durchdringt“13. Der Vorwurf wird aber auch offenbar in dem Wunsch, Schumann möge ruhig „einige kleine Teufelchen loslassen, mit denen wir schon fertig werden wollten“14. Mehrfach bat Bockmühl: „Thun Sie ja ein Übriges für uns arme Violoncellisten u. lassen Sie uns
dieß Concert nicht bloß als Composition, sondern auch als ein Solostück 1r
Classe bewundern“15. Gönnen Sie „diesem Concerte einige Veränderungen
[…], da es dann nicht allein das schönstcomponirte sondern auch das
Effectvol[lste] wird, was so für Violoncell geschrieben“16. In diesem Sinne ist
wohl auch die Bitte zu interpretieren, „die Cadenz zu verlängern“, wie Schumann es selbst bezweckt habe17.
6
Briefe vom 15. November 1852 und vom 3. März 1853.
7
Brief vom 25. Oktober 1851.
8
Brief vom 10. Dezember 1851.
9
Brief vom 25. Dezember 1851.
10
Brief vom 25. April 1852.
11
Brief vom 19. Dezember 1851.
12
Brief vom 31. Oktober 1852.
13
Brief vom 25. April 1852.
14
Brief vom 25. Dezember 1851.
15
Brief vom 26. Oktober 1851.
16
Brief vom 19. Dezember 1851.
17
Brief vom 25. April 1852.

Heinz von Loesch
Über den engeren Bereich der Behandlung des Soloinstruments, über Fragen von Spielbarkeit und Virtuosität hinaus erstreckte sich die Kritik aber
auch auf die übrige kompositorische Faktur des Satzes: auf die Länge, seine
formale, harmonische und thematisch-motivische Disposition sowie auf die
Satztechnik.
1. Von „mehreren Längen oder vielmehr Wiederholungen des letzten Satzes“
war cum grano salis im Brief vom 19. Dezember 1851 die Rede.
2. Eine Spezifikation dieser Kritik in formaler Hinsicht erfolgte noch im selben Brief: „Was mir nicht recht convenirt ist die Wiederholung des Satzes
K–N später, wodurch das Rondo zu sehr die Form eines ersten Allegrosatzes bekommt.“
3. Wiederum im selben Brief, aber auch schon in dem vom 10. Dezember
1851, kritisierte Bockmühl die Harmonik der Finaldurchführung. Er rügte
an der „freie[n] Fantasie von O–Q“, daß sie „fast nur um E dur und a moll
& die nächstverwandten Accorde sich dreht“; „dieß macht das Rondo länger als es wirklich ist & trotz der schönen ja wunderschönen Arbeit wird
man den großartigen Effect des ersten & den reizenden des 2ten Satzes dadurch vertilgen“.
4. Am 25. Dezember 1851 referierte Bockmühl dann eine ausführliche Kompositionskritik seines Kollegen, des Frankfurter Cellisten und Komponisten
Karl Ripfel, die in erster Linie auf Thematik und Motivik zielte:
Nun zu dem Rondo – Bis zum 15–16ten Tackt nach dem Buchstaben L findet Ripfel
nichts zu ändern, dann aber glaubt er es nöthig das erste Thema
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welches überhaupt weniger interessant einstweilen ganz zu verlassen & in einen breitern Gesang der sich in gesangreichen Figuren zu enden [?] die sich mit ihrer stets interessanten Begleitung bis zum Buchstaben N ausdehnen könnten denn was von oben
erwähnten Tackten auf L bis N jetzt steht ist unpracktisch & etwas monoton. – Von N–
O folgt das Tutti; aber von O–R verwirft Ripfel Alles. Er glaubt daß von O an ein sehr
interessantes Intermezzo über die eigentlich interessantere Figur des Rondos nemlich
dieser
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eingeschoben werden könnte. – Diese Figur ist sehr launig & macht einen reizenden
Eindruck & würde dieselbe sich interessan[t?] mit der Begleitung & recht keck, capricieux und humoris[tisch …?] modulirend verarbeiten lassen – […] Von R an bliebe
wieder Alles bis zum Buchstaben T oder einige Tackt[e?] vor demselben wo dann die
breitere Gesangstelle nach dem Buchstaben L wieder u. zwar in A dur vorkäme & – bis
zum Buchstaben U reichend von wo an nichts mehr zu verändern wäre.

Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
5. Am 25. April 1852 machte Bockmühl schließlich noch einen detaillierten
Vorschlag zur Änderung der satztechnischen Faktur in der Durchführung:
Ferner glaube ich wird es keine Cellisten geben die Ihnen die Stelle von O bis R zu
Dank spielen können – Mir ist’s unmöglich & würde ich Sie inständigst bitten, die Cellopartie bis zum brillanten Schluß in den Orchesterstimmen zu vertheilen & dem Violoncell ohne an der Composition etwas zu verändern, dazwischen eine getragene Melodie zu geben vielleicht wenn es sich einigen läßt eine Anspielung auf die früheren. –
Dieß wird Ihnen ja da an der Composition nichts verändert wird, sehr leicht sein.
III
Daß Schumanns Cellokonzert schwer und „unpracktikabel“ sei, war nicht nur
die Auffassung Bockmühls und seines Frankfurter Kollegenkreises. Sie wurde
von der gesamten frühen Schumann-Kritik geteilt, wovon die überlieferten
Dokumente eindringlich Zeugnis geben. Eine große Zahl von Aufführungsrezensionen hebt die ungewöhnlichen Schwierigkeiten des Werkes hervor oder
redet von Pannen der Solisten und ähnlichem. So berichten die Signale für die
musikalische Welt über die Aufführung des Schumann-Konzerts durch den
Cellisten David Popper in Breslau von der „schwere[n] Aufgabe“, an die sich
bislang noch kein Cellist „gewagt“ habe18. So spricht die Neue Zeitschrift für
Musik angesichts der „noch nicht geschehene[n] Vorführung des Violoncellconcertes von R. Schumann“ im Leipziger Gewandhaus durch Friedrich
Grützmacher von „ungewöhnlichen Ansprüche[n] an die Technik“ und von
„oft nahe an Unausführbares streifenden Schwierigkeiten“19. Im Zusammenhang mit einer Darbietung Grützmachers in Frankfurt am Main erwähnt die
Leipziger allgemeine musikalische Zeitung die wenig „naturgemäße Behandlung des Instruments“20. Nach einer Aufführung im Leipziger Gewandhaus
durch Jules de Swert lobt die Neue Zeitschrift für Musik zwar die „muthige
Wahl eines so überaus schwierigen Werkes“, weiß aber auch von „einigen
kleinen Unglücksfällen“ zu berichten21. Und nach der Darbietung durch Carl
18
Signale für die musikalische Welt 26, 1868, S. 23.
19
Neue Zeitschrift für Musik 64, 1868, S. 431.
20
Leipziger allgemeine musikalische Zeitung 5, 1870, S. 151.
21
Neue Zeitschrift für Musik 65, 1869, S. 363.

Heinz von Loesch
Schröder, die unter „kein[em] wünschenswerth glückliche[n] Stern“ gestanden
habe, bezeichnet ein Rezensent derselben Zeitschrift das Konzert als „eines
der klippenreichsten, es setzt die Intonation wie die Unfehlbarkeit der Technik
[…] starken Gefahren aus“22.
Daß das Schumann-Konzert als schwer und „unpracktikabel“ empfunden
wurde, wird darüber hinaus an einem anderen Tatbestand deutlich. Nicht nur
die von Bockmühl betreute Erstausgabe, sondern auch verschiedene spätere
Ausgaben bieten für die Solostimme zuweilen „erleichterte“ Varianten an.
Dazu zählen unter anderem die Takte 14 und 18 im ersten Satz
Erleichtert:
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Notenbeispiel 3: Takt 13–20 (Erstausgabe Breitkopf & Härtel)
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Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
sowie der Anfang des Finales
(Erstausgabe)
Erleichtert:
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I.a
Notenbeispiel 4: Takt 351–358 (Erstausgabe)
Daß diese Varianten aber nicht nur eine Konzession an den dilettierenden Laiencellisten – einen potentiellen Notenkäufer – darstellten, was bei Solokonzerten überhaupt weniger verbreitet war, sondern auch von ernstzunehmenden
Virtuosen gespielt wurden, geht aus einer im Besitz des Hannoveraner Cellisten Rudolf Metzmacher befindlichen Cellostimme mit den Fingersätzen und
Änderungen von Bernhard Coßmann, einem der bedeutendsten Virtuosen des
19. Jahrhunderts, hervor. Selbst diese Fassung, die ganz offensichtlich nicht
im Hinblick auf eine Veröffentlichung, sondern für den eigenen Konzertgebrauch konzipiert war, weist solcherart „Erleichterungen“ auf. In den Takten
431 und 433 sowie den analogen Stellen in der Reprise wurden einzelne Töne
derart verändert, daß heikle Sprünge in die Daumen- bzw. Übergangslagen
nicht mehr vonnöten sind. In der Ausgabe von Julius Klengel finden sich neben den so gekennzeichneten Erleichterungen sogar in der „eigentlichen“ Fassung noch kleine Vereinfachungen, die nicht als solche kenntlich gemacht
sind. So wurde in den Takten 352 und 354 zu Beginn des Finales stillschweigend das a durch ein a' ersetzt, was der Bogenhand einen unangenehmen Saitenwechsel über zwei Saiten erspart und der Griffhand ermöglicht, sich bereits
auf die bevorstehenden Sprünge einzustellen.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die spieltechnischen Errungenschaften des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen Teil der
Schwierigkeiten zu lösen vermochten. Der Erleichterungen Coßmanns bedarf
kein ernstzunehmender Cellist mehr. Und trotzdem wird der Solopart noch

Heinz von Loesch
immer als schwer, vor allem als heikel empfunden. Selbst heute bereitet seine
einwandfreie Realisierung sogar ausgezeichneten Cellisten deutlich hörbare
Mühen. Selbst heute ist seine Wiedergabe von verhältnismäßig vielen Pannen
und Mißgeschicken begleitet. Die Behauptung, das Konzert sei „uncellistisch“, gilt also nach wie vor, wobei sich drei Aspekte unterscheiden lassen.
Uncellistisch ist zum einen das gleichsam freie Schweifen der „kompositorischen Idee“, beispielsweise in der Kantilene des Kopfsatzes. Ist die unersättlich sich verströmende Kantabilität zwar ein ausgesprochen cellistisches Moment, so setzt sich die Bewegung der Melodie über instrumentale Gegebenheiten doch rücksichtslos hinweg. Anstatt durch günstige grifftechnische Voraussetzungen motiviert oder zumindest gestützt zu sein, kommen Melismen,
größere Intervalle und Sprünge unvermutet, in schlecht liegenden Konstellationen und zum Teil in den entlegensten Regionen des Griffbretts vor, so in
den Takten 19 f., 60–65, 68–72 oder 78–81.
Uncellistisch ist neben dem freien Schweifen der „kompositorischen Idee“
die „pianistische“ Faktur zumal des letzten Satzes. Im höchsten Maße pianistisch gedacht ist das zentrale Motiv des Finales (vergleiche Notenbeispiel 1).
Während es sich auf dem Klavier ganz ausgezeichnet spielt – man probiere es
nur einmal mit dem Fingersatz 1 2 1 2 3 5 –, liegt es auf dem Cello eher unbequem: Es erfordert einen beträchtlichen Aufwand an Saiten- und Lagenwechseln – und das bei einem Motiv, das lediglich den Charakter des Einwurfs tragen soll.
Pianistisch gedacht ist überhaupt der ganze Anfang des Finales: Die unerhörten Schwierigkeiten der Cellostimme lassen sich am Klavier bei einer Verteilung auf zwei Spielhände mühelos wiedergeben. Ebenso verhält es sich mit
weiten Teilen der Coda: Bei einer Verteilung auf zwei Hände liegen die durch
übermäßige Sprünge unterbrochenen Dreiklangsfortschreitungen wirklich
glänzend (T. 727–733).
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I.
Notenbeispiel 5: Takt 727–733 (Erstausgabe)
In letzter Instanz uncellistisch ist aber auch etwas, was durchaus Kenntnisse
über die Möglichkeiten des Cellos voraussetzt. Es scheint, als verriete sich ne
Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
ben dem „Komponisten“ und dem „Pianisten“ auch noch der „dilettierende
Cellist“, der Schumann ja gleichfalls war, hatte er doch in seiner Jugend eine
Zeitlang auch Cellounterricht erhalten. Schumann wußte sehr wohl, daß die
hohen Lagen auf dem Cello am besten mit dem Daumen auf dem Flageolett
eine Oktav über der leeren Saite zu erreichen sind. Er bediente sich dieses
Verfahrens sowohl bei den raschen melismatischen Dreiklangsbrechungen im
Hauptthema des Kopfsatzes (T. 14 und 18, vergleiche Notenbeispiel 3) als
auch zu Beginn des Finales. Und er wußte, daß die generelle Überwindung
großer Distanzen überhaupt am leichtesten unter Zuhilfenahme von Flageoletts möglich ist, da sie eine größere Toleranz gegenüber kleinen intonatorischen Abweichungen besitzen als fest gegriffene Töne. Um einen Flageoletton
rein hervorzubringen, muß man die Saite nicht exakt an einer Stelle abgreifen;
es genügt, sie innerhalb einer gewissen Bandbreite mit dem Finger zu berühren. Unter Ausnutzung dieser Kenntnisse glaubte Schumann, nun auch auf
dem Cello leicht über große Distanzen springen zu können. Zu Beginn des Finales (T. 352 und 354) sollen binnen zweier rascher Zählzeiten zunächst 2 3/4
Oktaven – unter Ausnutzung des Daumens auf dem Flageolett eine Oktav
über der leeren A-Saite – und dann ganze drei Oktaven – unter Verwendung
auch noch des Flageoletts zwei Oktaven über der leeren Saite – ummessen
werden (vergleiche Notenbeispiel 4). Wie irrig der Glaube war, durch den
trickreichen Gebrauch von Flageoletts ließe sich wirklich ein elegantes und
kapriziöses Springen quer über das gesamte Griffbrett ermöglichen, wird daran deutlich, daß der Anfang des Finales bis heute zu den gefürchtetsten und
am häufigsten mißlingenden Stellen der cellistischen Weltliteratur zählt.
Daß Bockmühl den Anfang des Finales nie expressis verbis in seiner Kritik
nannte, obwohl er noch weit „unpracktikabler“ ist als alle von ihm monierten
Stellen, mag zwei Ursachen haben: Einerseits hatte der Cellist sich mit seinem – nach den klanglichen Maßstäben unserer Zeit haarsträubenden – Fingersatz eines guten Teils der technischen Schwierigkeiten entledigt. Andererseits wird er den Satzanfang kompositorisch als so reizvoll empfunden haben
– er ist in der Tat so „keck“ und „humoristisch“, so „capricieux“ und so „piquant“, wie Bockmühl sich das ganze Finale wünschte23 –, daß er bereit war,
über die ungeheuren Schwierigkeiten hinwegzusehen.
Unter den spieltechnischen Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts dürfte es
übrigens auch da Probleme gegeben haben, wo kaum welche gesehen wurden:
im Bereich der Ton- und Klangqualität sowie der Kantabilität. Dies wird an
allen „praktischen“ Ausgaben des 19. Jahrhunderts deutlich, bei Bockmühl,
Friedrich Grützmacher, Carl Davidoff und Julius Klengel gleichermaßen. Sie
lassen vermuten, daß die klangliche Realisation in den ersten beiden Sätzen,
23
Briefe vom 25. Dezember 1851 und 11. Dezember 1852.

Heinz von Loesch
die fast ausschließlich aus Kantilenen bestehen, nach unseren Maßstäben
nicht befriedigend ausgefallen sein dürfte. Der Entfaltung eines großen und
wohlklingenden Tones steht sowohl die Praxis langer Bindebögen, die das
Tonvolumen ganz erheblich verringern, im Wege, als auch die Anwendung
der sogenannten Daumenpositionstechnik, die zur Sicherung der Intonation
und zur Steigerung der Geläufigkeit eine ganze Reihe von Kompromissen
klanglicher und artikulatorischer Art in Kauf nahm: eine gestreckte und damit
unflexible Handhaltung, den Gebrauch zweier „schlecht“ klingender Finger
(des Daumens und des kleinen Fingers), hohe Lagen auf tiefen Saiten und
Saitenwechsel für wenige Noten, zuweilen nur für einen Ton.
IV
Auch mit dem Vorwurf mangelnder Virtuosität, dem Vorwurf der Undankbarkeit und Effektlosigkeit, standen Bockmühl und seine Frankfurter Kollegen
nicht allein. Auch er wurde bis weit ins 20. Jahrhundert von vielen geteilt. Bereits die erste, allerdings auch einzige, Rezension des Werkes in der Neuen
Berliner Musikzeitung, die Schumanns Opus 129 gemeinsam mit dem gleichzeitig erschienenen Cellokonzert von Bernhard Molique besprach, stellte diesen Aspekt heraus:
Muss sich nun das Werk als Musikstück gewiss vollgültiger Anerkennung erfreuen, so
bleibt es dagegen in seiner Eigenschaft als Concertstück zurück. Die Erfindung der Cantilenen und Passagen [läßt] sehr oft etwas Unbefriedigendes fühlen, so dass der Spieler weder diese noch sich selbst so recht zur Geltung bringen kann, welches doch auch Haupterforderniss eines guten Concertstückes sein muß24.
Ähnlicher Ansicht war auch Wilhelm Joseph von Wasielewski, der in seiner
Schumann-Biographie bemerkte,
… daß der Meister nicht so hinreichend mit der Technik des Violoncells vertraut war, um
sachgemäß für dasselbe zu schreiben. So ist es denn erklärlich, wenn die Allegrosätze in
diesem Konzertstück nicht zu rechter Geltung gelangen können25.
Und selbst Sir Donald Francis Tovey teilte noch diese Ansicht. Er diagnostizierte eine geradezu „abschreckende Schüchternheit“ gegenüber der Ostentation spieltechnischer Virtuosität26.
24
Neue Berliner Musikzeitung vom 17. Januar 1855, S. 17.
25
W. J. von Wasielewski, Robert Schumann. Eine Biographie, 41906, S. 459 f.
26
„Schumann’s shyness is very deterrent“ – D. F. Tovey, Essays in musical analysis,
Vol. 3, Concertos, London 1936, S. 187.

Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
Der Vorwurf mangelnder Virtuosität wurde unterdessen nicht allein im musikalischen Schrifttum erhoben. Er erfolgte implizit auch in den Aufführungsgepflogenheiten. Die Änderungen, die man der authentischen Werkgestalt zuteil werden ließ, erstreckten sich in hohem Maße auf eine Steigerung von
Brillanz und Bravour. Dazu gehörte zunächst der Brauch, Schumanns Kadenz
durch eine andere, weitaus virtuosere zu ersetzen beziehungsweise neben ihr
noch eine zweite einzufügen. Dieser Brauch war bis weit in unser Jahrhundert
hinein üblich. Sowohl die ersten Schumann-Interpreten – David Popper, Bernhard Coßmann, Friedrich Grützmacher und Julius Klengel – als auch eine
ganze Reihe von Titanen des 20. Jahrhunderts – Pablo Casals, Emanuel Feuermann, Pierre Fournier, André Navarra, Paul Tortelier, Leonard Rose und
Maurice Gendron – folgten ihm.
Coßmann ersetzte mit der Kadenz zugleich die Coda. Seine Coda ist, um
20 Takte kürzer, tatsächlich sehr viel brillanter als die von Schumann, verzichtet dafür jedoch auf thematische Konsistenz und jeden harmonischen
Reichtum: Im wesentlichen wird allein der Tonikadreiklang durch rasche Figurationen in den höchsten Lagen des Cellos umspielt.
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Notenbeispiel 6
Bernhard Coßmann: Coda zum Violoncellkonzert von R. Schumann
aus: B. Coßmann: Kadenzen zu den Violoncellkonzerten von Haydn, Schumann und
Raff,
hrsg. v. C. Fuchs, Schott, Mainz 1912
Takt 722 ff.
Zur Steigerung der Virtuosität wurde über Kadenz und Coda hinaus auch in
die übrige kompositorische Faktur eingegriffen. So berichtet die Neue Zeitschrift für Musik, daß Jules de Swert den letzten Satz „hier und da mit einigen
uns weniger behagenden Fiorituren ausgeputzt“ habe27. Und die im Besitz
Metzmachers befindliche Stimme mit den Fingersätzen und Änderungen von
Coßmann weist neben eigener Kadenz und Coda noch einige höchst virtuose
Varianten auf. So werden im Kopfsatz rhythmische Stauungen durch brillante
Triolen- und Sechzehntelgänge ersetzt (T. 77 f., 94 ff., 245 f., 262 ff.).
2
Erstausgabe
Variante
Coßmann
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Notenbeispiel 7: Takt 77 f.
27

Neue Zeitschrift für Musik 65, 1869, S. 363.
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Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
Erstausgabe
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Notenbeispiel 8: Takt 94 ff.
Und im Finale erscheinen in den letzten acht Takten von Exposition und Reprise Oktavgänge und Sechzehntelkaskaden, die an stupender Bravour die
Originalversion Schumanns weit hinter sich lassen (T. 456–464 und T. 660–
668).
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Erstausgabe
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Notenbeispiel 9: Takt 456–464
Im Kopfsatz finden sich überdies vereinzelte Oktavtranspositionen (T. 115–
118) sowie einige signifikante Änderungen der Strichbezeichnungen (T. 165–
175 in der „Spielepisode“ vor Wiedereintritt der Reprise), die, um mit Schumann selbst zu sprechen, aus der „poetischen“ Artikulation eine „virtuosische“ machen.

Heinz von Loesch
Daß Schumanns Cellokonzert nicht eigentlich virtuos sei, war gleichfalls
nicht nur die Meinung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts; sie ist ein Topos,
dem man auch heute allenthalben begegnet. Von einer schieren Abwesenheit
der Virtuosität zu reden, wäre indessen eine unangemessene Verkürzung der
Wahrheit. Ungeachtet seines immer wieder zitierten Ausspruchs, er könne
„kein Concert schreiben für den Virtuosen“ und müsse „auf etwas Anderes
sinnen“, war Schumann, was seine Konzertkompositionen für Klavier und
Violine eindeutig belegen, durchaus kein Verächter von Brillanz und Bravour28. Die Virtuosität in Schumanns Cellokonzert ist vielmehr ein zwiespältiges Phänomen. Es ist doch keinesfalls so, als ob nicht zuweilen das Streben
nach Virtuosität oder ein Anflug von Brillanz spürbar würde, einer Brillanz,
die dann aber nicht recht zum Zuge kommt, die sich nicht zu trauen scheint.
So entsteht ein ganz eigentümlicher, seltsam ambivalenter Eindruck, der Eindruck eines „Schon-aber-doch-nicht“, ein Eindruck eben, wie Tovey zutreffend formulierte, von „Schüchternheit“.
Daß sich die Virtuosität im Cellokonzert mit dieser seltsamen Zurückhaltung konfrontiert sah – ganz anders als in den Konzertstücken für Klavier und
Violine der letzten Jahre –, scheint tatsächlich darauf zu beruhen, „daß der
Meister nicht so hinreichend mit der Technik des Violoncells vertraut war“29,
um ihm mehr zu entlocken. Am Ende von Exposition und Reprise im ersten
Satz sind eindeutig brillante Abschlüsse intendiert. Doch sind die Passagen
mit gesteigertem Figurenwerk zu kurz und in ihrer Faktur zu gemäßigt, um
wirklich zu „zünden“. Nach einer längeren „Spielepisode“, deren kleinste Notenwerte nicht über Achteltriolen hinausgehen (T. 68–91 bzw. T. 236–259),
wird die Bewegung jeweils nur für zwei Takte auf Sechzehntel gesteigert, um
bereits im dritten Takt wieder auf Viertel und Halbe reduziert zu werden. Und
die anschließende Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelkaskade währt wiederum nur einen Takt. Zudem jagt sie nicht etwa in die Höhe wie in der Alternativversion Coßmanns (vergleiche Notenbeispiel 9), sondern stürzt in die Tiefe.
Das gleiche gilt für die Kadenz. Nach einigen thematisch gebundenen Melismen (T. 685 ff.) spielt das Solocello im wesentlichen Arpeggien und gebrochene Tripel- und Quadrupelgriffe in den untersten Lagen. Die Bewegung beginnt in Achteltriolen (T. 690). Nach einiger Zeit wird sie auf Sechzehntel gesteigert. Doch anstatt daran eine Weile festzuhalten, die Bewegung noch wei-
28 C. und R. Schumann, Briefwechsel, Bd. 2, hrsg. v. E. Weissweiler, Basel und Frankfurt 1987, S. 367.
29

W. J. von Wasielewski, Robert Schumann. Eine Biographie, a. a. O., S. 459.
Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
ter zu steigern oder dem Cello andere virtuose Aufgaben zu übertragen, fällt
sie nach lediglich vier Takten wieder auf Achteltriolen zurück, und die Coda
beginnt. Auch hier ist der Abschnitt mit Figuren- und Passagenwerk oder einer anderen Spielart instrumentaler Virtuosität zu kurz und in seiner Erscheinung zu gemäßigt, um wirklich zu frappieren.
Einigermaßen unerklärlich ist auch die Reduktion der rhythmischen Bewegung von Sechzehnteln auf Achteltriolen in den Oktavgängen am Ende von
Exposition und Reprise im Finale (T. 456 bzw. 660). Wieviel virtuoser wären
die Oktaven, hielten sie ungebrochen am Sechzehntelfluß fest. Bemerkenswerterweise setzen an dieser Stelle nicht nur die Änderungen Coßmanns an;
auch im Autograph begegnet hier eine Variante, in der in den Oktavgängen
die Sechzehntelbewegung fortgeführt wird.
Variante
Autograph
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Notenbeispiel 10: Takt 456 f.
Da, wo Schumann aber in der Tat Virtuosität forderte, im gesamten Finale und
in der Coda, schrieb er für das Soloinstrument so ungeschickt, daß das virtuose Element sich nur mit großer Mühe zu behaupten vermag. Die Faktur der
Solostimme nötigt zu einem langsameren Zeitmaß, als es für einen brillanten
Schlußsatz geboten wäre. Von welch bestechender Bravour das Finale sein
kann, zeigt die Wiedergabe von Paul Tortelier, der statt der üblichen œ = 114
œ = 126–138 spielt. (Welches Tempo Schumann gewählt hätte, 108 oder 138,
läßt sich aufgrund der vielfachen Überschreibungen im Autograph nicht mit
Sicherheit sagen. Fest steht lediglich, daß das richtige Tempo, wie in den anderen Sätzen auch, Gegenstand längerer Diskussionen bzw. innerer Zweifel
war.) Von den beträchtlichen Schwierigkeiten der Prinzipalstimme, die, wie zu
Beginn des Finales, ein Scheitern gewissermaßen vorprogrammiert erscheinen
lassen, war schon die Rede.
Insgesamt zeigt sich, daß auch hier die Kritik Bockmühls und seiner Kollegen nicht ganz unberechtigt war. Und die Eingriffe der Cellisten des 19. und
20. Jahrhunderts setzen da an, wo es sachlich am ehesten geboten und möglich ist: in Kadenz und Coda sowie bei den Abschlüssen von Exposition und
Reprise in den beiden Außensätzen. Wenn es auch denkbar ist, daß Schumann
den genannten Mängeln hätte Abhilfe schaffen können, so steht doch fest, daß
keiner der kompositorischen Eingriffe von seiten der Cellisten eine Verbesserung darstellt: weder in Kadenz und Coda noch in Kopfsatz und Finale.

Heinz von Loesch
V
Die bedeutendste Leistung Bockmühls und Ripfels lag indessen nicht in der
Kritik spieltechnischer Faktoren, sondern in der Kompositionskritik im engeren Sinne. So disparat ihre verschiedenen Einwände und alternativen Verbesserungsvorschläge auch scheinen mögen, die Kritik an Länge, harmonischer,
formaler und thematisch-motivischer Disposition des Satzes kreist um ein und
denselben Sachverhalt: um den Vorwurf der Monotonie. Gegenüber der Harmonik der Finaldurchführung ist er offenkundig, gilt aber auch der formalen
und thematisch-motivischen Faktur. Während sich die Kritik Bockmühls an
der „Wiederholung des Satzes K–N später“30 lediglich an der Nähe zur Sonatenform störte, zielten die Einwände Ripfels, dessen Alternativvorschlag genau wie bei Schumann am Sonatensatz mit Durchführung und vollständiger
Reprise orientiert war, auf thematisch-motivische Gleichförmigkeit.
Ripfel beklagt das permanente Festhalten an ein und demselben Motiv in
sämtlichen Teilen des Finales, an einem Motiv, das ihm „weniger interessant“
erscheint. Im Gegenzug skizziert er die Umrisse eines Sonatensatzes mit einem kontrastierenden kantablen Thema – einem „breitern Gesang“31 – und einer Durchführung, die nicht auf das Hauptthema des Finales zurückgreift,
sondern auf ein Motiv aus dessen Fortsetzung. Die Kritik Bockmühls an der
satztechnischen Faktur der Durchführung hingegen besagt, daß er das Prinzipalinstrument nicht nur an der thematisch-motivischen Arbeit des Orchesters
beteiligt, das Solocello nicht einfach ins Orchester integriert sehen will, sondern möchte, daß es ihm als eigenständiger Partner gegenübergestellt wird.
Auch mit der über den engeren Bereich des Soloinstruments hinausgehenden Kompositionskritik standen Bockmühl und Ripfel nicht allein, selbst
wenn Beanstandungen hier weit seltener begegnen. Eine implizite Kritik an
den „Längen oder vielmehr Wiederholungen“ und an der Monotonie des Satzes lag in der Praxis der ersten Schumann-Interpreten, das Finale nicht vollständig zu Gehör zu bringen. Laut Mitteilung der Neuen Zeitschrift für Musik
spielte Jules de Swert den letzten Satz „erheblich gekürzt“32. Und nach den
Eintragungen der im Besitz von Metzmacher befindlichen Cellostimme machte auch Coßmann einen erheblichen Strich, dem nahezu die halbe Durchführung zum Opfer fiel (T. 496–528).
30
Brief vom 19. Dezember 1851.
31
Ebenda.
32
Neue Zeitschrift für Musik 65, 1869, S. 363.

Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
Eine explizite Kritik an der Satztechnik, an der integrierten Behandlung
von Solo und Tutti, findet sich in einer Besprechung der Leipziger allgemeinen musikalischen Zeitung, wo es heißt:
Der Componist hat hier offenbar die Idee, das Orchester aus seiner dienenden Stelle heraustreten zu lassen, es nicht dem Soloinstrumente unterzuordnen, ihm auch nicht gegenüber zu stellen, sondern es mit ihm zusammen zu verarbeiten; hieraus entsteht dann ein Orchesterstück mit obligatem Violoncello, eine Mischgattung, mit welcher ich mich vorläufig
nicht befreunden kann33.
Obwohl Beanstandungen der kompositorischen Faktur nur selten begegnen,
ist der Tadel von Bockmühl und Ripfel nicht unberechtigt. Keine besondere
Beachtung verdient Bockmühls Kritik an der „Wiederholung des Satzes K–N
später, wodurch das Rondo zu sehr die Form eines ersten Allegrosatzes bekommt“. Sie zeigt lediglich eine mehr historisch als ästhetisch begründete Erwartungshaltung, die mit einem Rondo rechnete und keinen zweiten Sonatensatz erlaubte. Wie sehr Bockmühl von einem Rondo ausging, erhellt aus seiner ständigen Verwendung des Rondobegriffs. Zutreffend scheint hingegen
der allgemeine Vorwurf von „Längen oder vielmehr Wiederholungen“ zu sein,
und zwar in harmonischer wie in thematisch-motivischer Hinsicht. Zwischen
den Buchstaben O und Q, genauer zwischen den Takten 480 und ca. 510, also
für ganze 30 Takte, kreist die Harmonik ausschließlich um die Haupttonart
des Satzes und ihre nächstverwandten Stufen, um nach nur zehn Takten Modulation (T. 519 F-Dur, T. 523 g-Moll) schon wieder in die Haupttonart zurückzukehren: Ein auskomponierter Dominantvorhaltsquartsextakkord führt
über einen auskomponierten Dominantseptakkord zum Tonikadreiklang (Eintritt der Reprise). Von einer reichen Harmonik kann in der Durchführung, dem
in der Sonatenform dafür prädestinierten Ort, nun wirklich nicht die Rede
sein.
Und daß der Satz durchwegs an ein und demselben Motiv festhält, ist
gleichfalls richtig. Abgesehen von acht Takten in der Überleitung (T. 374–
381) beherrscht es das gesamte Finale, einschließlich des zweiten Themas
(T. 414 ff.), zu dem es zunächst in der Begleitung erscheint, um bereits nach
16 Takten das musikalische Geschehen wieder völlig zu dominieren. Von thematisch-motivischem Reichtum kann also ebenso wenig die Rede sein. Eine
ausgesprochene architektonische Kraft aber – ein weiteres Mal hat Ripfel
recht – läßt sich dem Motiv auch nicht konzedieren.
33
Leipziger allgemeine musikalische Zeitung 5, 1870, S. 151.

Heinz von Loesch
Ob die Vorschläge Ripfels wirklich eine Verbesserung darstellen, steht
nicht fest. Ein „breiter Gesang“ als zweites Thema entspräche doch sehr dem
Schematismus des französischen Rondos der Viotti, Rode oder Kreutzer. Und
ob das Motiv, das Ripfel als Keimzelle für die Durchführung vorschlägt, in
der Tat die „eigentlich interessantere Figur des Rondos“ ist und einen geeigneteren Ausgangspunkt für die Durchführung darstellt, mag gleichfalls bezweifelt werden. Trotz allem setzen seine Vorschläge an den neuralgischen
Punkten des Finales an und bieten eine bedenkenswerte Alternative zu der
von Schumann realisierten Fassung.
Bedenkenswert ist schließlich der Vorschlag, den Bockmühl zur satztechnischen Gestaltung der Finaldurchführung machte. Der Vorwurf, er habe
schlicht die strukturelle Funktion der Solostimme verkannt (Draheim), geht
ins Leere. Der Cellist wußte sehr wohl, daß es sich um eine Art Durchführung
handelt, an der das Solocello lediglich partizipiert. Nicht umsonst redete er
von einer „Fantasie über das Rondothema“34. Nicht umsonst war er vorübergehend geneigt, seine Kritik zu revidieren, und zwar nach Einsichtnahme in
die Partitur35. Daß er letztendlich an seinen Einwänden festhielt, beruht also
nicht darauf, daß er die funktionalen Zusammenhänge nicht erkannt hätte; er
hielt daran fest, obwohl er sie durchschaute.
Sachlich ist die Kritik aber keinesfalls unbegründet. Für den Wunsch, das
Soloinstrument nicht einfach an der thematisch-motivischen Arbeit des Orchesters zu beteiligen, es nicht bloß in einen symphonischen Apparat zu integrieren, gibt es durchaus triftige Argumente. Einerseits besteht zur Teilnahme eines einzelnen Instruments an der thematisch-motivischen Arbeit des Orchesters kein rechter Grund. Um Themenpartikel spielen zu lassen, braucht man
keinen Solisten, zumal wenn das gleiche Instrument mehrfach im Ensemble
vorhanden ist. Umgekehrt widerspricht die optisch pointierte Position eines
Solisten der Idee der durchbrochenen Arbeit, immer nur Teil und Funktion des
Ganzen zu sein. Ist es nicht merkwürdig, wenn ein Solist, der an herausgehobener Stelle sitzt und dessen Aktionen eine besondere Aufmerksamkeit erheischen, nur Themenpartikel spielt; wenn er nichts anderes tut als jedes andere
Orchestermitglied auch?
Andererseits kann das thematisch-motivische Gewebe, soll das Soloinstrument nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar werden, nur dünn gewirkt sein.
Und genau dieser Gefahr ist Schumann nicht entgangen: ein Sachverhalt, den
34
35

Brief vom 10. Dezember 1851.
Brief vom 30. Dezember 1851.
Eine verkannte Quelle der frühen Schumann-Rezeption
Bockmühl gleichfalls bemerkte und der ihn zu dem so verwegen anmutenden
Vorschlag inspirierte, den Tonsatz, so wie er sei, also all das, was Orchester
und Soloinstrument gemeinsam spielen, allein dem Orchester zu überantworten und kurzerhand noch eine Stimme hinzuzukomponieren. Bei dem Versuch,
die Hörbarkeit des Solocellos zu gewährleisten, obwohl es in das thematische
Gewebe eines gesamten Orchesters integriert wird, war Schumann über das
Ziel hinausgeschossen: Er hatte einen Satz verfertigt von einer Kargheit und
Dürre, die die Forderung nach Hinzufügung einer weiteren Stimme provozieren mußte.

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