§ 19. Juni 2011 International 5 ARIS MESSINIS / AFP PHOTO NZZ am Sonntag Analyse «Unsere Eliten sind unsere Feinde» NZZ am Sonntag: Wieso können sich die beiden grossen griechischen Parteien selbst angesichts des drohenden Kollapses nicht zusammenraufen? Anna Triandafyllidou: Das Land hat offenbar die Führer, die es verdient. Noch am Mittwoch dieser Woche war ich tatsächlich optimistischer, als der Regierungschef Jiorgos Papandreou dem konservativen Oppositionsführer eine grosse Koalition, eine Regierung der nationalen Einheit, anbot. Das wäre ein sehr wichtiges Zeichen gewesen. Aber schon am Abend war der Plan geplatzt, ohne richtige Verhandlungen. Unsere Eliten sind unsere Feinde. In Portugal – und bis zu einem bestimmten Punkt auch in Irland – haben sich die Eliten zusammengerauft. In Griechenland nicht. Der Optimismus ist verflogen. Es wird also alles schlimmer? Wir alle waren uns am Anfang der Krise einig über das, was falsch lief in Griechenland. Wir wussten, dass der Staat nicht nachhaltig funktionierte. Der Soziologe Konstantinos Tsoukalas Anna Triandafyllidou Wenig Grund zur Zuversicht: Ein Paar am Rande des Syntagma-Platzes während einer Demonstration vor dem Parlamentsgebäude. (Athen, 15. Juni 2011) Es droht der politische Kollaps Griechenland muss sich bei sinkendem Lebensniveau schnell neu erfinden .................................................................................. Europa versucht Griechenland vor dem Bankrott zu retten. Im Land selbst wird derweil die politische Krise immer grösser. .................................................................................. Elisa Hübel, Athen Kein Wille zur Aufklärung Für die ellenlange Liste von Bestechungsskandalen im Griechenland der letzten Jahre sind die hochrangigen Politiker beider grosser Parteien verantwortlich gewesen. Nach Bekanntwerden dieser Affären wurden zwar meist parlamentarische Untersuchungskommissionen eingesetzt – doch wirklich aufgeklärt wurde kaum etwas. Ob sich an dieser gängigen Praxis etwas ändern wird, ist noch ungewiss. Dabei wäre Veränderung dringend nötig, um auf Kurs zu kommen. Zumindest das ist inzwischen wohl fast allen Politikern klar. Ministerpräsident Pa- pandreou prangerte in einem Zeitungsinterview am vorigen Sonntag erneut «Verschwendung und Korruption» an. Für alle, die sich mit dem gegenwärtigen System arrangiert hätten «und zu Lasten des Volkes lebten», werde es in Zukunft «unbequem», sagte er. Papandreou, dessen Vater und Grossvater bereits die Geschicke des Landes lenkten, hatte damit den Finger auf der Wunde: Etatismus und Klientelismus wuchern in vielen Bereichen wie ein Geschwür. Um Wahlen zu gewinnen, ist es seit Jahrzehnten üblich, Stimmen mit Versprechungen zu gewinnen. Zu den beliebtesten Geschenken zählte es, einem Familienmitglied ein Türchen zu einem der begehrten öffentlichen Posten zu öffnen. So kam es, dass auch Bürger ohne hinreichende Kenntnisse in Behörden oder Institutionen angestellt wurden, wo sie über Jahre keine wirklich sinnvolle Beschäftigung hatten. Mittlerweile haben wohl die meisten Griechen zumindest einen öffentlichen Angestellten im weiteren Familienkreis. Im vorigen Sommer traute man sich – erstmals seit Gründung des griechischen Staates im Jahre 1830 – die Zahl der Beamten zu erfassen: Man kam auf 768 009 (bei 10 Millionen Einwohnern). Noch nicht enthalten sind darin die Mitarbeiter von Betrieben und Institutionen der öffentlichen Hand sowie der Kommunen – insgesamt dürften über eine Million in öffentlichen Diensten stehen. 125 000 Beamte vor Rauswurf Jannis Rangoussis, bis am Mittwoch Innenminister, nun verantwortlich für Infrastruktur, Transport und Netzwerke, verwies in einem Interview darauf, dass etwa die Athener U-Bahn Attiko Metro unter der konservativen Regierung noch Personal einstellte, obwohl keine Stellen frei waren. Er zitierte aus Personalunterlagen Einträge wie: «Er ist zu nichts nutze, bringt ihn irgendwo unter.» Gleichzeitig gab der Minister zu, dass auch die Pasok zum «politischen System der Günstlingswirtschaft» nach dem Sturz der Diktatur beigetragen habe. Nun aber stehe man «am Anfang einer neuen Ära» – das Land müsse ein für alle Mal alles hinter sich lassen, «was uns an den Rand des Bankrotts geführt hat». Die meisten der 125 000 Beamten, die bis 2015 entlassen werden sollen, dürften das anders sehen. Für sie heisst das: Von den Parteien ist nichts mehr zu erwarten. Das vertraute System bricht unter den Füssen weg. .................................................................................. a Kommentar Seite 17 hat das Phänomen schon 1993 in seinem Aufsatz «Trittbrettfahrer im Wunderland – über Griechenland und die Griechen» beschrieben. Er dachte damals allerdings, dass entweder durch die Integration in Europa oder die europäischer werdenden Eliten sich die Dinge ändern würden. Er lag falsch, wie wir heute wissen. Ist Griechenland ein modernes Land? Wenn modernes Land bedeutet, dass seine Funktionäre gewisse Regeln einer rationalen und objektiven Bürokratie einhalten, dann ist es das wohl nicht. Ich frage mich, ob sich diese Regeln überhaupt je durchgesetzt haben in Griechenland. Die kleine und die grosse Bestechung sind nach wie vor endemisch. Viele Bürger haben noch immer kein Unrechtsbewusstsein dafür. Aber das Deprimierendste ist: Am Anfang hat die Krise noch Wellen geworfen. Inzwischen stecken viele den Kopf in den Sand und hoffen, dass es vorbeigehe. Kollabiert das politische System noch vor der griechischen Wirtschaft? Viele sagen, wenn es derzeit zu Wahlen käme, könnte dies zum Auftritt völlig neuer populistischer Kräfte führen, so wie in Ungarn. Ich bin mir da nicht so sicher. Das griechische Parteiensystem war bisher sehr starr. Aber natürlich müsste der Anstoss zum Wandel der politischen Kultur aus der Gesellschaft selbst kommen. Aus der Generation der 30- bis 40-Jährigen. Interview: Thomas Isler bridal.cartier.com - 044 580 90 90 Auf dem Omonia-Platz in Athen dröhnten gestern Samstag Kampflieder der Arbeiterbewegung. Zwischendurch riefen kommunistische Gewerkschafter zum Protest auf. Etwa fünfzehn Gehminuten weiter, am Syntagma-Platz, versammelten sich empörte Bürger, die meist politisch nicht organisiert sind. Sie tun das seit über vier Wochen, täglich, direkt vor dem Parlament. Dort kam es am Mittwoch zu Szenen der Gewalt, die von Extremisten ausgelöst wurden. Der Protest erfasst immer weitere Kreise. Ob das neue Kabinett von Regierungschef Jiorgos Papandreou, das am Freitag vereidigt wurde, im letzten Moment doch noch in der Lage ist, das schwer schlingernde Land wieder auf Kurs zu bringen? Eine Herkulesaufgabe. Nicht nur, dass die sozialistische Pasok-Regierung das Haushaltsdefizit von rund 340 Milliarden Euro abbauen muss, sie muss vor allem versuchen, den tiefen Riss, der sich durch die Ge- sellschaft zieht, zu kitten. Der Unmut richtet sich gegen die beiden Grossparteien, die linke Pasok und die konservative Nea Dimokratia (ND), die seit dem Sturz der Diktatur im Jahre 1974 abwechselnd das Land regieren. Laut Umfragen sind 9 von 10 Griechen sowohl mit der Arbeit der Regierung als auch mit der Opposition unzufrieden. 74 Prozent glauben, die zwei Parteien seien gar nicht in der Lage, die Geschicke des Landes zu lenken. Zusammen würden sie gegenwärtig noch auf etwa 40 Prozent der Stimmen kommen – immer mehr Griechen wollen gar nicht mehr an die Urnen gehen. Die griechische Soziologin lehrt als Professorin am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MTSwNAEAI-rcSw8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MTAwNAIAe6La0g8AAAA=</wm> <wm>10CFXMIQ7DQAxE0RN5NeN4V3YNq7AoIAo3qYpzf5RsWcGwN3_bsjf89l73cz2SgHWhEWHpas1dc8FoNE0MuIJ8sT_sQX9cwBgLUJMIhsCLJj3EosKjyBmoeYa26_O9AUYOl19_AAAA</wm> <wm>10CFXKIQ7DMBAEwBedtbs529cerMysgCjcJAru_1HVsoJhM2fWgp_X2M9xJAGvRgeoDHmJUG5oha5EVRPIJ0Eo2P-6gY-2AetbDNXUFmEI8756V3lf9weq9W-jcQAAAA==</wm> Getreu der berühmten Goldschmiedetradition verwirklicht Cartier mit einem neuen Service Ihre Träume. 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