Max-Planck-Institut Chemische Physik fester Stoffe / Dresden

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MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT
Presseinformation
C 47 / 2004 (177)
16. Dezember 2004
Wissenschaftler enträtseln Quanteneigenschaften
exotischer Materialien
Deutsch-amerikanisches Forscherteam beobachtet erstmals sprunghafte
Änderung des "Fermivolumens" in einem quantenkritischen Material
Eine der wesentlichen Aufgaben moderner Materialforschung besteht in
der Aufklärung der elektronischen Eigenschaften neuartiger Substanzen.
Denn
hiervon
verspricht
man
sich
Fortschritte
in
der
Informationsverarbeitung (kleinere und schnellere Rechner), in der
Messtechnik oder der Energieumwandlung. Doch bei der Suche nach
Materialien mit radikal neuen elektronischen Eigenschaften stoßen
Forscher auch auf experimentelle Befunde, die in den gängigen
Physiklehrbüchern nicht erklärt werden. Experimentalphysiker des
Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden sowie
Theoretiker der Rice University und der Rutgers University (beide USA)
haben jetzt eine neue Erklärung geliefert, auf welche Weise
Quanteneffekte zu einigen der seltsamen elektronischen Eigenschaften
führen, die man in der Materialklasse der "Schwere-Fermionen-Metalle"
beobachtet hat (Nature, 16. Dezember 2004). Die Wissenschaftler führen
dies auf Fluktuationen des "Fermivolumens" zurück. Diese Erkenntnisse
dürften
auch
für
andere
Materialklassen,
wie
Hochtemperatur-Supraleiter oder Kohlenstoff-Nanoröhrchen, relevant
sein. In jedem Fall erweitern sie das grundlegende Verständnis von
Phasenübergängen, die in vielen Disziplinen, nicht nur in Physik und
Chemie, große Bedeutung besitzen.
Phasenübergänge, also Übergänge von einem Zustand in einen anderen, kennt
man aus dem täglichen Leben. Beispiele sind das Verdampfen von Wasser bei
100 °C oder das Schmelzen von Eis bei 0 °C. Daneben gibt es jedoch auch
Phasenübergänge, die erst am absoluten Temperatur-Nullpunkt (bei rd. -273
°C) auftreten. Diese werden nicht durch thermische, sondern durch
Quantenfluktuationen getrieben, weshalb man sie Quantenphasenübergänge
nennt. Ihr Auftreten ist eine direkte Folge der Heisenberg`schen
Unschärfe-Relation.
Quantenphasenübergänge lassen sich besonders gut bei Metallen untersuchen,
die sich in der Nähe einer magnetischen Instabilität befinden. Durch Druck, ein
Magnetfeld oder durch leichte chemische Veränderung können einige dieser
Metalle am absoluten Temperatur-Nullpunkt kontinuierlich von einem
magnetisch geordneten in einen unmagnetischen Zustand überführt werden.
Dabei tritt ein unkonventionelles physikalisches Verhalten auf, das mit der
Standardtheorie
für
Metalle,
der
so
genannten
Landau`schen
Fermi-Flüssigkeitstheorie, nicht vereinbar ist.
In gewöhnlichen Metallen, wie Kupfer oder Gold, ist das "Fermivolumen" eine
Max-Planck-Gesellschaft
zur Förderung
der Wissenschaften e.V.
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wohldefinierte Größe: Beim absoluten Temperatur-Nullpunkt liegen alle von Leitungselektronen
besetzten Impuls-Zustände innerhalb der Fermifläche und das Impulsraum-Volumen, das die Fermifläche
umschließt, also das Fermivolumen, ist ein Maß für die Ladungsträgerdichte. Die Landau`sche
Fermi-Flüssigkeitstheorie geht bei der Beschreibung von Metallen von einem konstanten Fermivolumen
aus. Wechselt jedoch ein Metall wie Chrom aus einem unmagnetischen in einen (antiferro-) magnetisch
geordneten Zustand, kann es zu einer Veränderung des Fermivolumens kommen. Doch sollte sich das
Fermivolumen bei einem kontinuierlichen magnetischen Übergang (Phasenübergang 2. Ordnung) laut
Standardtheorie ebenfalls nur kontinuierlich ändern.
Hingegen ist eine sprungartige Veränderung des Fermivolumens, wie sie nun von den
Max-Planck-Wissenschaftlern erstmals beobachtet wurde, mit dieser Theorie unvereinbar und verlangt
nach völlig neuen Erklärungsansätzen.
Das Material, das die Forscher für ihre Untersuchungen eingesetzt haben, ist eine Verbindung aus
Ytterbium (Yb), Rhodium (Rh) und Silizium (Si), YbRh2Si2 Diese Substanz wurde am Dresdner
Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe entwickelt und in Form hochwertiger Einkristalle
hergestellt. YbRh2Si2 ordnet beim Abkühlen auf extrem niedrige Temperaturen von 0,07 Kelvin
antiferromagnetisch (der absolute Temperatur-Nullpunkt liegt bei 0 Kelvin, Raumtemperatur entspricht
etwa 300 Kelvin). Unterhalb von 0,07 Kelvin kann die antiferromagnetische Ordnung durch Anlegen
eines kleinen Magnetfeldes wieder unterdrückt werden. Dabei nennt man das Magnetfeld, das am
absoluten Temperatur-Nullpunkt die magnetische Ordnung gerade unterdrückt, kritisches Magnetfeld und
den entsprechenden Punkt im Temperatur-Magnetfeld-Phasendiagramm den quantenkritischen Punkt.
YbRh2Si2 zählt zur Klasse der Schwere-Fermionen-Metalle. Diese unterscheiden sich von
konventionellen Metallen durch stark erhöhte effektive Massen der Ladungsträger, die der
Wechselwirkung zwischen Leitungselektronen und magnetischen Momenten des Selten-Erd-Atoms (hier
Yb) zugeschrieben werden. Schon vor einem Jahr sorgte YbRh2Si2 für Aufsehen, als Messungen des
elektrischen Widerstandes und der Wärmekapazität die Frage "Gehen Strom und Magnetismus bei
Annäherung an den absoluten Nullpunkt getrennte Wege?" aufwarfen (Nature 424, 524, 31. Juli 2003;
[1]). Damals wurde vorgeschlagen, dass es sich bei den Ladungsträgern im Schwere-Fermionen-Zustand
um "Komposit-Fermionen" aus Leitungselektronen (Strom-Komponente) und magnetischen Momenten
(magnetische Komponente) handelt, die bei Annäherung an den quantenkritischen Punkt
auseinanderbrechen.
Diese Vermutung konnte nun durch die neuen Messergebnisse einer weiteren Eigenschaft, nämlich des
Halleffekts, noch erhärtet werden: Legt man an ein leitfähiges Material senkrecht zur Richtung des
elektrischen Stromflusses ein Magnetfeld an, so baut sich senkrecht zu Strom und Magnetfeld eine
Spannung auf, die Hallspannung. Diese Spannung ist im einfachsten Fall umgekehrt proportional zur
Ladungsträgerdichte. In metallischen Materialien, die eine hohe Ladungsträgerdichte aufweisen, ist die
Hallspannung sehr klein. Daher stellte die jetzt in Dresden durchgeführte detaillierte
Tieftemperatur-Untersuchung des Halleffekts höchste Ansprüche an die Messtechnik.
Die Dresdner Max-Planck-Wissenschaftler haben den Halleffekt von YbRh2Si2 systematisch in
Abhängigkeit von der Temperatur und dem angelegten Magnetfeld untersucht. Dabei konnten sie
anormale Komponenten im Halleffekt, die keinen Aufschluss über die Ladungsträgerdichte geben,
verlässlich von den gemessenen Daten trennen. Der verbleibende normale Anteil ist ein Maß für die
Ladungsträgerdichte und für das Fermivolumen. Um die Wirkung des Magnetfeldes als Unterdrücker der
magnetischen Ordnung (Zeeman-Effekt) nicht mit seiner Wirkung als Erzeuger der Hallspannung
(Lorentz-Kraft) zu vermischen, mussten sich die Forscher noch eines raffinierten Tricks bedienen. Sie
setzten zwei zueinander senkrecht stehende Magnetfelder ein - eine erhebliche Komplikation des
Experiments: Auf diese Weise erzeugt nur das sehr klein gehaltene Feld senkrecht zum Stromfluss eine
Hall-Spannung, während das Feld parallel zum Stromfluss den Magnetismus unterdrückt.
Den Wissenschaftlern gelangen eine Reihe überraschender Beobachtungen:
1) Der Halleffekt änderte sich beim kritischen Magnetfeld weitaus drastischer, als es die Standardtheorie
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(Spindichtewellen-Beschreibung) vorhersagt.
2) Der Ort der stärksten Änderung des Halleffekts im Temperatur-Magnetfeld-Phasendiagramm war
nicht, wie von der Standardtheorie vorhergesagt, der Ort der antiferromagnetischen Phasenumwandlung,
sondern eine neue Linie im Phasendiagramm, die nur beim Temperatur-Nullpunkt mit dem erstgenannten
zusammenfällt.
3) Die Extrapolation der Daten zum Temperatur-Nullpunkt zeigte, dass sich hier der Halleffekt beim
Durchgang durch das kritische Magnetfeld sprungartig ändert, während die Standardtheorie eine
kontinuierliche Änderung vorhersagt.
Abb. 1: Die 3-dimensionale Darstellung zeigt die Übergangsfunktion von großem zu kleinem
Fermivolumen in Abhängigkeit von Temperatur und angelegtem Magnetfeld. Am
Temperatur-Nullpunkt deuten die bei endlichen Temperaturen gemessenen Halleffekt-Daten auf
eine sprunghafte Abnahme des Fermivolumens (blaue gestrichelte Linie) bei Eintritt in die
antiferromagnetische Phase hin. Dieser Übergang nimmt mit wachsender Temperatur einen
zunehmend breiteren Feldbereich in Anspruch. Der Schwerpunkt dieses Übergangs (der bei
endlicher Temperatur prinzipiell bei höheren Feldern als das Maximum der Übergangsfunktion
liegt) führt auf den mit T tiefgestellt Hall bezeichneten Verlauf in der
Temperatur-Magnetfeld-Ebene. In dieser Ebene sind auch die Gebiete markiert, in denen
Antiferromagnetismus (grüner Bereich) bzw. Landau`sches Fermi-Flüssigkeitsverhalten (rot
schraffiert) gefunden wird.
Bild: Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe
Diese Beobachtungen verlangen eine neuartige Erklärung. Die mit den Dresdner Experimentatoren
zusammenarbeitenden Theoretiker P. Coleman (Rutgers University) und Q. Si (Rice University)
favorisieren ein Szenario, nach dem die Komposit-Fermionen des unmagnetischen Zustandes im
magnetisch geordneten Zustand in eine magnetische Komponente und in einfache Leitungselektronen
aufbrechen. Die sprunghafte Änderung des Halleffektes am quantenkritischen Punkt wird in diesem
Szenario auf natürliche Weise erklärt: Während im unmagnetischen Zustand sowohl die magnetische als
auch die elektronische Komponente der Komposit-Fermionen zum Fermivolumen beitragen und somit
das Fermivolumen "groß" ist, tragen dazu im antiferromagnetischen Zustand nur die Leitungselektronen
bei, so dass das Fermivolumen "klein" ist. Hingegen geht die Standardtheorie davon aus, dass die
Ladungsträger ihre Integrität auch am quantenkritischen Punkt behalten und keine sprungartige Änderung
4
des Fermivolumens eintritt.
Die
Reichweite
dieser
Entdeckung
könnte
beträchtlich
sein.
Denn
neben
Schwere-Fermionen-Verbindungen zeigen auch die technologisch überaus bedeutsamen
Hochtemperatur-Supraleiter ein Nicht-Fermi-Flüssigkeitsverhalten, das durch die Existenz eines
quantenkritischen Punktes bedingt sein könnte. Erste Halleffekt-Messungen durch andere
Forschergruppen scheinen auch hier auf eine Veränderung des Fermivolumens hinzuweisen. In jedem
Fall dürften die neuen Erkenntnisse aber richtungsweisend für das Verständnis von
Quantenphasenübergängen sein.
[LS/AT]
Verwandte Links:
[1] MPG-Presseinformation "Gehen Strom und Magnetismus bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt
getrennte Wege?" vom 30. Juli 2003
Originalveröffentlichung:
S. Paschen, T. Lühmann, S. Wirth, P. Gegenwart, O. Trovarelli, C. Geibel, F. Steglich, P. Coleman und
Q. Si
Hall-effect evolution across a heavy-fermion quantum critical point
Nature, 16. Dezember 2004
Weitere Informationen erhalten Sie von:
Dr. Silke Paschen
Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe, Dresden
Tel.: +49 (351) 4646 3125-3901
Fax: +49 (351) 4646 3119-3902
E-Mail: [email protected]
Dr. Steffen Wirth
Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe, Dresden
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E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Frank Steglich
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