Teil 1 Unfallchirurgische Grundlagen 3. Ethische Probleme in der Unfallchirurgie K.H. Jungbluth Verglichen mit anderen Bereichen der Medizin ist die Unfallchirurgie derzeit durch ethische Probleme wenig belastet. Sittlich-moralische Gefährdungen, wie sie sich beispielsweise aus der Genmanipulation ergeben, belasten derzeit weder die unfallchirurgische Forschung noch deren klinische Anwendung. Konfliktstoff kommt daher weniger aus unserer chirurgischen Fachdisziplin selbst, als vielmehr von außen durch die Wandlungen der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen. In der sich entwickelnden europäischen Massengesellschaft wird verstärkt eine Grundeinstellung erkennbar, die sich vorwiegend an Besitztum, Wohlleben und gesellschaftlicher Einflußnahme orientiert. Ethische Wertvorstellungen werden daran gemessen, inwieweit sie derartigen materiellen Zielvorstellungen dienen. Die Kehrseite einer solchen Medaille ist geprägt von Habsucht, übersteigertem Individualismus, Vereinzelung und Ausgrenzung Notleidender. Goethes Worte, die in einfacher Klarheit eine sittliche Persönlichkeit umreißen: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut", wirken deshalb heute beinahe naiv und belächelnswert. Vom Wandel der Wertvorstellungen begleitet ist der Verlust einer imperativen Autorität, die für das Leben des einzelnen wie auch der Gesellschaft richtunggebend ist. Unsere christlichabendländische Kultur war geprägt durch die Formulierung übergeordneter göttlicher Macht, die berechtigt war, der Einzelpersönlichkeit die moralische Vervollkommnung im Rahmen des individuell Möglichen abzuverlangen. Die fortschreitende Ablösung von religiösen und weltanschaulichen Bindungen hinterläßt ein Feld der Ziel- und Orientierungslosigkeit, in dem nicht mehr das sittlich Gebotene, sondern statt dessen das innerhalb der Gesetze, Erlässe und Verordnungen Erlaubte Richtschnur des Handelns bildet. Wer sich innerhalb der Normen bewegt, handelt gut - wer sich außerhalb der Normen bewegt, ist verdächtig und überprüfungswürdig. Dies erklärt auch die scheinbar widersprüchliche Entwicklung, daß sich mit zunehmendem Pluralismus eine Staatsform entwickelt, die charakterisiert ist durch stetig steigenden bürokratischen Dirigismus und eine immer perfektere Überwachung mit Hilfe elektronischer Medien. In der zweitausendjährigen Geschichte des christlichen Abendlandes waren die biblischen Zehn Gebote Grundlage für die Definition des allgemeinen Sittengesetzes, auf der die staatliche Gesetzgebung aufbaute. Für die sittliche Wertordnung trat als unabdingbare Grundlage der Begriff der "Caritas" hinzu. Caritas, das christliche Gebot der Nächstenliebe, meint die Hochschätzung und liebevolle Hochachtung aller Individuen. Sie umfaßt Freund und Feind und ist damit Grundlage dessen, was wir allgemeiner als Humanität bezeichnen. Aus solchem Geiste wurden die Postulate von Menschenrechten geboren und zahlreichen internationalen Abkommen zugrunde gelegt. Die Negierung einer übergeordneten religiösen oder philosophisch-weltanschaulichen Autorität in unserer Konsum- und Massengesellschaft scheint auch eine wesentliche Ursache zu sein für das wachsende Unvermögen, menschlichen Persönlichkeiten Vertrauen zu schenken und personenbezogene, sittliche oder fachliche Autorität anzuerkennen. Legalität wird derzeit in vielen Kreisen unserer Gesellschaft höher gewichtet als die freie, kreative Entscheidung und Handlung aufgrund sittlich-moralischer Grundlagen. Diese Entwicklung wirkt sich nicht nur lähmend auf die Medizin aus, sondern zunehmend auf die deutsche Wissenschaft und Forschung, auf die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche. Verrechtlichung und reglementierende Bürokratisierung werden aber nicht nur von vielen Bürgern, sondern erstaunlicherweise auch von einer zunehmenden Zahl von Kollegen als Chance zur Sicherung und Verbesserung ihrer Lebensbedingungen gewertet und einem Streben nach freiem kreativen Handeln in sittlicher Eigenverantwortung vorgezogen. Die Tendenzen, ärztliche Therapie zu standardisieren und nach den Methoden der Massengutprüfung mit statistischen Mitteln auf Normabweichungen zu kontrollieren und zu werten, liefern hierfür beredtes Zeugnis. So sehen nicht nur manche Politiker und Juristen, sondern auch Kollegen den ethischen Auftrag eines Arztes darin erschöpft, daß er an einem Kunden lediglich eine Dienstleistung nach einem definierten Standard von Diagnostik und Therapie verrichtet. Moralität als Ausdruck einer Gesetzgebung durch das Gewissen und als Maßstab für eine angeborene und anerzogene Sittlichkeit ist demgegenüber kaum angesprochen oder gefordert. Ärztliches Handeln hat aber im Sinne Kants nur dann Moral, wenn es nicht nur dem Sittengesetz folgt, sondern darüber hinaus der inneren Pflicht entspricht, das bedeutet in der Medizin: der inneren Pflicht gegenüber dem notleidenden Patienten, gegenüber dem Einzelindividuum, das dem Arzt Leib und Leben anvertraut. Auch die arbeitsteilige Behandlung durch mehrere Kollegen ändert nichts an dieser moralischen Verpflichtung. Erkrankungen und Verletzungen forderten während der gesamten Menschheitsgeschichte mitmenschlichen Beistand heraus. Not, Hilflosigkeit und Todesangst gaben in grauer Vorzeit den ersten Auftrag zum ärztlichen Handeln und Heilen. Mit diesem elementaren Auftrag zur Hilfeleistung überträgt der Patient zugleich einen mehr oder weniger großen Anteil seiner Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit auf den Heilkundigen. Diese besondere Vertragsbedingung ist bis auf den heutigen Tag die einzige Rechtfertigung für unser invasives chirurgisches Handeln. Die ganz persönliche Verantwortung für das Wohl des Patienten erfordert - angesichts der Unzulänglichkeit unseres ärztlichen Wissens - ein besonderes Maß an Sorgfalt in der Abwägung und in der Therapie. Zu Recht hat deshalb die Rechtsprechung an die Aufklärung und Einwilligung des Patienten hohe Anforderungen gestellt. Dennoch ist gerade der Traumatologe häufig gezwungen, in der Notsituation trotz eingeschränkten Bewußtseins des Verletzten und trotz mangelnder Einwilligungsfähigkeit therapeutische Hilfe zu leisten, und zwar dann, wenn nur durch unverzügliches Eingreifen Schaden von dem Patienten abgewendet werden kann. Er muß sich entscheiden zwischen dem Gebot, Hilfe in Not zu leisten und dem inkriminierenden Tatbestand, ohne erklärten Auftrag des Patienten zu handeln, gegebenenfalls gravierende operative Eingriffe vorzunehmen. Als Beispiel sei die notfallmäßige Amputation einer Gliedmaße genannt. Diese Freiheit, die die Rechtspraxis dem Arzt im Interesse der Hilfeleistung einräumen muß, bedeutet Übernahme von Entscheidung stellvertretend für den Patienten, damit aber auch Übernahme höchster persönlicher Verantwortung. Kaum ein anderer Beruf ist mit solch risikoträchtiger Verantwortlichkeit konfrontiert. Speziell aber das Recht auf Selbstbestimmung ist in der Judikatur der vergangenen Jahre extrem akzentuiert worden. Die rechtlichen Anforderungen an die Patienten-Einwilligung wurden immer enger gefaßt, ohne daß damit mehr Präzision und Klarheit erreicht worden wären. Die hilflosen Versuche in Ministerien und Aufsichtsbehörden, den nach wie vor bestehenden Problemen mit Dienstanweisungen zu begegnen, geben hierfür beredtes Zeugnis. Die Anordnungen sind gespickt mit Widersprüchlichkeiten und Anweisungen, die sich in realen Situationen nicht durchführen lassen. So bleibt das Dilemma, daß in Notsituationen ärztliche Entscheidungen stellvertretend für den Patienten gefällt werden müssen, wenn die Einwilligungsfähigkeit fehlt oder eingeschränkt ist. Die Judikatur der vergangenen Jahre in Sachen Patientenaufklärung und Patienteneinwilligung war nicht dazu angetan, ärztliche Entscheidungen in Grenzsituationen zu erleichtern oder rechtssicherer zu gestalten. Nach wie vor erfordert ärztliches Handeln daher zivilen Mut und ethisches Verantwortungsbewußtsein, das geschärft sein muß an der besonderen sittlichen Verantwortung, die unserer Berufsgruppe auferlegt ist. Dieser Teil der Persönlichkeitsbildung ist - unabhängig vom Zeitgeist - für die Aus- und Weiterbildung junger Kollegen nach wie vor unerläßlich. Mit dem Verblassen der europäischen Kultur, wie sie durch die griechisch-römische Geisteswelt und die jüdisch-christliche Tradition geweckt war, lösen sich zunehmend die überkommenen sittlichen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft auf. Die Umwertung vollzieht sich vorwiegend in einem utilitaristischen Sinne in Anlehnung an Gedanken, wie sie durch die englischen Philosophen J. Bentham und J. St. Mill vorgezeichnet wurden. Sie haben in verkürzter Formulierung "das größtmögliche Glück einer größtmöglichen Zahl" oder gar "die Beförderung eines größtmöglichen Glückes Aller" zum Ziele. Auch wenn dies vehement geleugnet wird, ist der Geist unserer gegenwärtigen geistigen und politischen Entwicklung getragen von der Vorstellung, durch eine geschlossene bürokratische Reglementierung und lückenlose staatliche Überwachung eine beglückte Massengesellschaft zu bilden. Dem Ziel der Befriedigung auf vorwiegend materieller Basis liegt der uralte Menschheitstraum von Gleichheit und Gerechtigkeit zugrunde; Vorstellungen, die sich in unserer pluralistisch strukturierten Gesellschaft besonders schwer von Neid und Habgier differenzieren lassen. Die kreative Gestaltung durch das Einzelindividuum im Vertrauen auf dessen sittliche Verantwortung tritt demgegenüber in den Hintergrund, ist dem Zeitgeist fremd. Die Stellung des Arztes in einer so strukturierten Gesellschaft muß schwierig sein und sogar als störend empfunden werden. Der elementare Auftrag des ärztlichen Handelns besteht darin, die Lebensfähigkeit des einzelnen Individuums zu schützen und zu erhalten. Wird dieser Auftrag aufgegeben, verliert die Medizin ihre Legitimation. Der Arzt dient mit seinem Handeln zwar gleichzeitig der Gesellschaft, erhält seinen eigentlichen Auftrag aber - auch de jure - durch den Patienten und ist diesem in erster Linie verantwortlich. Dies fordert im Zweifelsfall auch einen Gewissensentscheid gegen Verordnungen und administrative Reglementierungen, die diesem Auftrage entgegenstehen. Ein Aspekt, der in unserem Bewußtsein um so mehr verblaßt, je weiter die Zwänge nationalsozialistischer Terrorherrschaft zurückliegen. Welche künftigen Entwicklungen sind für ethische Fragen in der Unfallchirurgie besonders bedeutungsvoll? Im Mittelpunkt der Diskussion um aufkommende ethische Probleme in der Unfallchirurgie stehen die reglementierenden Veränderungen der medizinischen Versorgungssysteme durch das V. Gesundheitsstrukturgesetz. Sie wurden ausgelöst durch die politische Feststellung einer Verknappung der Ressourcen, ein Thema, das in bisherigen Erörterungen über ärztliches Ethos nicht oder nur marginal vorkam. Nun ist Knappheit der Ressourcen an sich nichts Ungewöhnliches und Neues. Sie bestand zu allen Zeiten und ist ein entscheidendes Stimulans für alle ordnende politische Tätigkeit. Nach David Hume stellt sie in der Theorie des politischen Liberalismus eine wichtige Voraussetzung für die Ausgestaltung der Gerechtigkeit dar. Politische Brisanz gewann die Ressourcendiskussion in unseren Tagen durch die Behauptung einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen - einer klaren Fehldiagnose. In Wirklichkeit handelt es sich primär nicht um eine überproportionale Kostensteigerung, sondern vielmehr um eine Leistungs- und Nachfrageexplosion. Die gewaltige Steigerung des medizinisch Machbaren und die Auswirkungen auf die Lebensgestaltung und Lebensverlängerung sind in Wahrheit verantwortlich für die überschäumenden Kosten im Gesundheitswesen. Denn ungewöhnlich angestiegen ist in den vergangenen Jahren weder der Preis für ein und dasselbe Medikament, noch für eine bestimmte Operation. Gewaltig angestiegen sind vielmehr die Möglichkeiten dessen, was die Medizin zu leisten vermag, und die Begierde, alles Machbare auch einzufordern. In dieser Konfliktsituation bringen weder die Politiker noch die Medien den Mut auf, der Öffentlichkeit klarzumachen, daß sich die ständig steigenden Leistungen und Fortschritte in der Medizin nur dann bezahlen lassen, wenn auch die Bereitschaft besteht, einen steigenden Anteil am Bruttosozialprodukt für das Gesundheitswesen auszugeben. Da dies andererseits bedeutet, offenzulegen, daß stattdessen andere Ansprüche - wie Forderungen an die Altersversorgung, das Bildungswesen oder die militärisch-diplomatische Sicherung zurücktreten müßten, wagt keine politische Partei, dies öffentlich und in aller Klarheit zu diskutieren. Die Gründe hierfür sind verständlich. Sie liegen in der dem Menschen angeborenen Pleonexie, einer tendenziellen Unersättlichkeit, die keine natürlichen Grenzen kennt, sondern die auf immer mehr Wollen, immer mehr Erreichen und immer mehr Erlangen angelegt ist. Die Pleonexie als ein Movens menschlicher Existenz betrifft sowohl das Individuum als auch Gruppen, Institutionen, Parteien und sogar Nationen. Im derzeitigen Parteienstreit unserer parlamentarischen Institutionen um Gewichtung von Wertvorstellungen und Zuordnung von Ressourcen scheint die Pleonexie sogar jede staatliche Handlungsfähigkeit zu lähmen. Für die Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen haben die Politiker mit dem Gesundheitsstrukturgesetz in erstaunlicher Übereinstimmung der Parteien ein Verfahren gewählt, das zwar hoch effizient ist im Hinblick auf die Ausschöpfung potienteller Wirtschaftlichkeitsreserven, im übrigen aber dem makaberen Prinzip des "Schwarzen Peter"Spieles entspricht. Das Gesetz wälzt zugleich mit der Verantwortlichkeit für das Budget die Verantwortung für das Erbringen der geforderten Leistung auf die ärztliche Praxis beziehungsweise den Chef einer Abteilung oder Klinik ab. Solange es durch Rationalisierung und Einsparungen gelingt, mit den gegebenen finanziellen Mitteln die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten, die dem Stande der Wissenschaft entspricht, solange wird das Gesetz ohne Auswirkung auf die ärztliche Ethik bleiben. Je mehr sich aber die Wirtschaftlichkeitsreserven erschöpfen, desto stärker wird auf der Ärzteschaft die Notwendigkeit der Leistungsausgrenzung lasten. Die ethische Kollision zwischen dem, was im Interesse der bestmöglichen Behandlung des Patienten angezeigt ist, und dem, was im Interesse der Wirtschaftlichkeit der Abteilung oder des Krankenhauses opportun ist, wird auf Dauer unausweichlich sein. Es ist zu befürchten, daß die Unfallchirurgie durch den besonders hohen Anteil unkalkulierbarer und unabweisbarer Notfälle von dieser Problematik in besonderer Weise betroffen sein wird. Noch fehlt jede leistungsgerechte Erfassung oder Honorierung für die unter Notfallbedingungen erbrachten Sach- und Personalaufwendungen. Was sollte derzeit ein wirtschaftlich orientiertes Management veranlassen, unkalkulierbar kostenträchtige Polytraumatisierte im Rahmen der Maximalversorgung behandeln zu lassen, statt sich um die Behandlung selektierter, gewinnbringender Krankheitsbilder zu bemühen? Unter den derzeitigen Prinzipien der Leistungserfassung und Leistungsabrechnung ist absehbar, daß der Unfallchirurg gegenüber dem Krankenhausträger zunehmend in Schwierigkeiten gerät. Grundsätzlich können die Probleme der Leistungsbegrenzung, die sich aus der Ressourcenknappheit ergeben, nicht durch die Ärzteschaft und zumal nicht durch den für Notfälle zuständigen Unfallchirurgen gelöst werden. Nach unseren bisherigen ethischen Vorstellungen erscheint es undenkbar, wertvolles gegenüber weniger wertvollem Leben aufzuwägen; beispielsweise Kinder mit hoher Lebenserwartung Erwachsenen oder Greisen vorzuziehen, Gesetzesbrechern Leistungen zu Gunsten Nichtstraffälliger vorzuenthalten, Freund gegenüber Feind zu bevorzugen, wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens medizinische Leistungen zukommen zu lassen, die man anderen verweigern würde. Es ist vielmehr Aufgabe der Politik im Interesse der Gesellschaft, für eine Leistungsbegrenzung, wenn sie denn erforderlich werden sollte, angemessene, normative Lösungen zu finden. Inwieweit sich solche mit den bisher skizzierten Vorstellungen medizinischer Ethik in Übereinstimmung bringen lassen, muß dahingestellt bleiben. Eine utilitaristisch-materialistische Betrachtungsweise der Ressourcenverteilung ist keineswegs neu. Der Gedanke, daß der Zweck des menschlichen Handelns im Nutzen liege, den der Einzelne und die Gemeinschaft daraus ziehen könne, wurde bereits im 18./19. Jahrhundert durch die Philosophen J. Bentham und J. St. Mill vorgezeichnet. In den ökonomischen Theorien, denen der Utilitarismus zugrunde liegt, stellt die Gesellschaft ein Kollektiv dar, das die vorhandenen Mittel zu Gunsten eines maximalen Gesamtwohles einsetzt. Unter den Bedingungen des Konfliktes wird nach einer solchen Theorie der Wert eines Lebens in der Tat unterschiedlich gewichtet. Da mehr Lebensjahre gerettet werden können, ist es wichtiger, das Leben eines Kindes zu retten, als das eines älteren Menschen. Analog ist das Leben einer Mutter mehrerer Kinder wichtiger, als das eines Junggesellen. Auch wenn die ökonomischen Positionen inzwischen verfeinert sein mögen, erlaubt der Utilitarismus grundsätzlich, das Wohlergehen der einen gegen das der anderen zu verrechnen. Es ist unwahrscheinlich, daß ein solcher Ansatz, wie er sich andeutungsweise im öffentlichen Gesundheitswesen Großbritanniens wiederfindet, geeignet ist, das Problem der Ressourcenknappheit zu lösen. Zu sehr widerspricht diese Position unseren moralischen Vorstellungen und Empfindungen, nach denen jedem Menschen gleiche unveräußerliche Rechte zustehen. Auch der Grundgedanke der Gerechtigkeit ist angesichts der Tatsache, daß die ärztliche Ethik künftig mit erzwungenen Leistungseinschränkungen konfrontiert sein wird, wenig hilfreich. Eine Welt der Gerechtigkeit ist eine Utopie seit Anbeginn. Umstritten ist allein schon die Frage, worin Gerechtigkeit eigentlich besteht. Im Rahmen der Sozialmoral geht es dabei um jenen kleinen Anteil, dessen Anerkennung unterschiedliche Menschen einander schulden. Im wesentlichen ist es jener Anteil an Gleichheit gegenüber dem Rechts- und Staatswesen, der in Gesetzen und Verordnungen festgeschrieben ist. Fehlt diese Gleichheit in einem Staatswesen, weckt dies zu Recht Empörung. Der andere Anteil aber, dessen Mangel an Gleichheit auf geringer Großzügigkeit, fehlender Wohltätigkeit, auf mangelndem Mitleid oder einem Mehr an erworbenem Verdienst beruht, kann allenfalls Enttäuschung hervorrufen, niemals aber staatlich eingefordert werden. Für die medizinische Ethik hat Gerechtigkeit eine grundlegend andere Bedeutung. Sie umfaßt jene Form der Hilfeleistung, die der Arzt ohne Ansehen der Person jedem Verletzten oder Erkrankten, jedem Notleidenden und Gefährdeten schuldet. Sie umfaßt als humanitäres Grundrecht Freund und Feind und ist z.B. die Grundlage für die Genfer Konvention, in der unter anderem die medizinische Versorgung Kriegsgefangener vertraglich geregelt ist. Zur Frage, inwieweit Therapiebegrenzung im Rahmen der ärztlichen Behandlungspflicht und der damit verbundenen Sterbebegleitung dennoch zulässig oder gar erforderlich werden kann, wurde durch R. Pichlmayr im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie sorgfältig untersucht und dargestellt. Es sei in diesem Zusammenhang an die Worte K.H. Bauers erinnert, wonach der Arzt zwar verpflichtet ist, das Leben, nicht aber das Sterben zu verlängern. So gibt es Situationen, in denen die Erfolgschancen einer Behandlung so gering sind, daß sie in keinem Verhältnis zur Belastung stehen, die eine Fortführung der Therapie für den Patienten bedeuten würde. Eine eventuell gewonnene kurze Überlebensspanne wäre in solcher Situation durch ein Übermaß an Leiden und Beschwerden erkauft. Immer muß der Arzt auch in einem solchen Falle dem geäußerten oder - wenn keine Willensäußerung möglich ist - dem mutmaßlichen Willen des Patienten entsprechen. Finanzielle oder ökonomische Gründe können dagegen niemals Veranlassung sein, eine ärztliche Indikationsstellung zu verändern, die Therapie zu begrenzen.Die Entscheidung über eine Therapiebegrenzung kann durch Richt- und Leitlinien zwar unterstützt und präzisiert werden. Diese ersetzen aber niemals die sorgfältige Entscheidung im Einzelfall und niemals die unmittelbare ärztliche Verantwortung für derartige Grenzsituationen. Die Entscheidung fällt stets vor dem Hintergrund, daß absolute Gewißheit für die Prognosestellung auch unter Hinzuziehung aller verfügbaren Parameter nicht gegeben ist. Scoring-Systeme, die sich an der Überlebenswahrscheinlichkeit orientieren, können die Problematik zwar fokussieren, niemals aber die Einzelentscheidung bestimmen. Zum ethischen Auftrag des Arztes gehören ohne Zweifel auch die Hinwendung zum Patienten und die Hilfeleistung in der Situation des Sterbens. Atemnot, Schmerz, Durst und Angst gilt es zu bekämpfen, auch wenn hierdurch eine Verkürzung der Überlebenszeit im Finalstadium in Kauf genommen werden muß. Diese geschilderte Aufgabe der Sterbebegleitung hat nichts zu tun mit einer "Sterbehilfe", wie sie derzeit in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Tötung eines Kranken oder Sterbenden auf Verlangen, Hilfe oder Anleitung zur Selbsttötung widersprechen dem Behandlungsauftrag des Arztes, seinem Selbstverständnis und seiner Vertrauensstellung gegenüber den Patienten. Sieht sich der Unfallchirurg etwa im Falle der irreversiblen hypoxischen Hirnschädigung veranlaßt, die Behandlung einzuschränken oder abzubrechen, so wird diese Entscheidung zwar von einem fachlich besonders Erfahrenen getroffen und verantwortet werden müssen; dennoch erscheint es wichtig und sinnvoll, Angehörige oder Freunde des Patienten, v.a. aber die Personen, die an der Pflege und Behandlung beteiligt sind, in die Diskussion und Argumentation einzubeziehen. Dies trägt zugleich der Tatsache Rechnung, daß jede Person, die an der Behandlung beteiligt ist, damit gleichzeitig eine sittliche Verantwortung und Verpflichtung für den Schutzbefohlenen übernommen hat. Zusammenfassung Durch ethische Probleme ist die Unfallchirurgie derzeit wenig belastet. Sittlich- moralische Konflikte drohen allerdings durch das in Politik und Öffentlichkeit geäußerte Verlangen, medizinische Leistungen einzuschränken und zu rationieren. In der Tat läuft die Entwicklung aufgrund des Gesundheitsstrukturgesetzes darauf hinaus, daß der Arzt in der Praxis, der Chefarzt in der Klink durch mangelhaft zugeteilte oder unzureichend erwirtschaftete finanzielle Mittel gezwungen wird, Leistungen einzuschränken. Er wird unter der Etatverantwortung einem Selektionsdruck ausgesetzt mit der Frage: Welche diagnostische oder therapeutische Leistung ist der vorliegenden Verletzungs- oder Erkrankungssituation angemessen? - oder: Welche Maßnahme muß ich welchem Patienten vorenthalten? Diese Problematik utilitaristisch-ökonomischer Entscheidungen war den Erörterungen über ärztliche Ethik bislang fremd. Die Begriffe Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und Humanität galten als moralische Wertvorstellungen in unserer christlich-abendländischen Kultur fest verankert. Die Definition unveräußerlicher Menschenrechte ging nach ärztlichem Verständnis einher mit der Verpflichtung, Verletzten und Kranken in schwerer Gefahr für Leib und Leben ohne Ansehen der Person Hilfe zu leisten. Es kann und darf nicht Aufgabe der Ärzteschaft werden, festzulegen, ob oder inwieweit medizinische Leistungen eingeschränkt und auf bestimmte Personengruppen beschränkt werden sollen. Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist originäre Aufgabe der Politik - auch im Gesundheitswesen. Hierzu sind v.a. die sozialen Sicherungssysteme zu überprüfen und zu gestalten. Die Politik muß steuern, welche Anteile am Bruttosozialprodukt dem Gesundheitswesen, welche dem Rentenwesen, dem Bildungssystem oder der Verteidigung zuerkannt werden sollen. Nur so können die Interessenskonflikte zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Jungen und Alten, Armen und Reichen in angemessener Weise ausgeglichen werden. Im Gegensatz zur Therapiebegrenzung aufgrund ökonomischer Überlegungen stellt sich für den Unfallchirurgen unter besonderen Bedingungen die Indikation zu einer Therapieeinschränkung im Rahmen der Sterbebegleitung. Eine solche Situation wäre z.B. gegeben, wenn eine kurze Verlängerung der Überlebensspanne durch ein Übermaß an Schmerzen und Leiden erkauft werden müßte. Die Fortführung einer Maximaltherapie wäre in solcher Situation nicht vertretbar. R. Pichelmayr hat in einer Richtlinie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie die Aufgaben ärztlicher Sterbebegleitung sorgfältig untersucht und dargestellt. Die vom Arzt geforderte zugewandte Begleitung eines Todkranken oder Sterbenden ist streng zu trennen von einer derzeit diskutierten "Sterbehilfe", die das Töten auf Verlangen und Hilfe zur Selbsttötung einschließt. Der ärztliche Behandlungsauftrag ist dem Leben verpflichtet und mit solcher Form der Euthanasie niemals vereinbar. Alles sittliche Handeln setzt eine moralisch geprägte Persönlichkeit voraus. Die von der besonderen Verantwortung gegenüber dem Patienten geprägte Arztpersönlichkeit bleibt daher weiterhin ein unverzichtbares Ziel der Ausbildung und Fortbildung in der Medizin. Literatur 1. Duncan C J (1974) Marx und Mill 2. Höffe O (1997) Ein sicheres Kennzeichen schlechter Sitten. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 45 (Bilder und Zeiten) 3. Köhler WR (1979) Zur Geschichte und Struktur der utilitaristischen Ethik. Haag & Herchen, Frankfurt/Main 4. Leitlinien zu Umfang und zur Begrenzung der ärztlichen Behandlungspflicht in der Chirurgie (1996) Mitt Dtsch Ges Chir 25:365