Die Sorge und die Vor-Sorge - UMG

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Die Sorge und die Vor-Sorge
Zum 80. Geburtstag von Prof. Günter Dörner
Andreas Gies
„alle ding sind gift und nichts ist on gift; alein die dosis macht das ein ding kein gift ist“
Mit diesem Lehrsatz vom Philippus Aureolus Theophrastus Bombast von Hohenheim
wurden sicherlich Generationen von Studenten der Medizin, der Toxikologie und der
Pharmazie gequält. Der Satz war 1539 Grundstein der Toxikologie, jedoch wurde er
fast 500 Jahre falsch verstanden. Was soll Studenten mit diesem Satz beigebracht
werden? Zuerst einmal: Kleine Dosen sind nicht giftig. Falsch. Ein gentoxisches
Molekül am falschen Ort kann Krebs auslösen und zum Tod eines Menschen führen.
Dass die Dosis gering war, tröstet diesen Menschen nicht.
Zum Zweiten: „alein die dosis“ Auch falsch. Günter Dörner sagt: Der Zeitpunkt macht,
dass ein Ding (k)ein Gift ist. Recht hatte er, das wissen wir heute alle. Erst jetzt aber
nehmen wir wahr, wie wichtig es war, dass er entscheidend dazu beigetragen hat,
die Ära nach Paracelsus in der Toxikologie zu eröffnen.
Sein Verdienst ist es, das Augenmerk auf die Programmierung des Menschen
während der Entwicklung gelenkt zu haben. Er hat uns gezeigt, wie empfindlich der
Organismus in dieser Zeit vor und kurz nach der Geburt ist. Alles das, was wir über
Effekte und schädliche Dosen beim erwachsenen Organismus wussten, galt für die
Zeit der Entwicklung nicht. Effekte beim Erwachsenen hatten keine Vorhersagekraft
für Schädigungen bei der Entwicklung. Dies hatte revolutionäre Sprengkraft. Die
Entwicklung einer zweiten Toxikologie wurde notwendig- mit anderen Regeln,
Gesetzen und Methoden als bisher.
Ohne diese Sicht sind wir auf vielen Gebieten nicht in der Lage, Fortschritte für die
Gesundheit der Menschen zu erreichen. Wer die Statistiken des Krebsregisters des
Robert Koch-Instituts betrachtet, erschreckt über die schnelle Zunahme
hormonabhängiger Krebsarten. In Deutschland stieg die Wahrscheinlichkeit für junge
Männer, an Hodenkrebs zu erkranken, in den letzten zwanzig Jahren um fast fünfzig
Prozent. Pränatale Fehlprogrammierung der Hodenzellen schein hierfür die Ursache
zu sein, die zur Entstehung von Vorformen des Hodenkrebses, genitalen
Fehlbildungen und verschlechterter Spermienqualität im späteren Leben führt.
Tatsächlich müssen wir heute davon ausgehen, dass junge deutsche Männer nur
noch ein Drittel der Spermien produzieren wie jene vor dreißig Jahren. Die Hälfte der
jungen Männer hat heute eine Spermienqualität, die zur Einschränkung der Fertilität
führt.
umg 2009; 22(4): Schwerpunkt: Online-Version, www.umwelt-medizin-gesellschaft.de, UMG Verlag.
Eine von neun Frauen in Deutschland erkrankt heute während ihrer Lebenszeit an
Brustkrebs. Auch hier häufen sich die Hinweise, dass neben Risikofaktoren wie der
Hormonersatztherapie im Klimakterium pränatale Einflüsse durch Umweltchemikalien
bei dieser Entwicklung eine Rolle spielen.
Fettleibigkeit und frühe Diabetes Typ II, Verhaltensauffälligkeiten wie ADHS,
verfrühte Pubertät- die wissenschaftliche Diskussion wendet sich auch hier der Rolle
der pränatalen Programmierung zu.
Die EU hat über 500 Stoffe gelistet, die in unser Hormonsystem eingreifen können.
Die Belastung von Kindern mit Phthalaten liegt über dem Tolerierbaren, im
Nabelschnurblut finden Konzentrationen des östrogenen Kunststoffbestandteils
Bisphenol A, die im Tierversuch schwere Störungen des Verhaltens und der
Entwicklung der Sexualorgane bei den Nachkommen exponierter Tiere auslösen
können.
Dörner hat uns früh auf die Wichtigkeit pränataler Programmierung hingewiesen.
Anglisiert wird die Diskussion hierüber heute in den angesehensten Zeitschriften
unter Begriffen wie „Testicular Dysgensisis Syndrome“, „Fetal Origin of adult
Disease“ oder „Metabolic Syndrome“ geführt. In seinem Konzept der funktionellen
Teratogenese hat Dörner schon früh darauf hingewiesen, dass Störungen der
Steuerung durch Hormone, Cytokine und Neurotransmitter insbesondere während
der pränatalen Entwicklung, lebenslange Veränderungen physiologischer und
psychologischer Funktionen nach sich ziehen können.
Günter Dörner lediglich für seine wissenschaftliche Leistung und seine Weitsicht zu
ehren würde ihm nicht gerecht werden. Wissenschaftliche Neugier und der Hang
dazu, den Menschen zu betrachten, sind nicht seine eigentlichen Motivationen. Der
Schlüssel, ihn zu verstehen, liegt in seiner Zugewandtheit zu den Menschen. Das
Leiden seiner Patienten ist ihm immer gegenwärtig, seine Empathie für sie
beeindruckend. Als Endokrinologe sah er Tag für Tag, wie kleine Veränderungen in
der Steuerung des menschlichen Körpers dramatische physische, emotionale und
soziale Probleme auslösen können. Im besten Sinne des Wortes ist es die Sorge um
die Menschen, die ihn antreibt. Dies ist auch der Grund, warum Vor-Sorge immer
wieder ein integrales Thema bei ihm ist. Nicht die wissenschaftliche Erkenntnis ist
ihm genug, wie vielen seiner Kollegen. Die Schritte zur Prävention aufzuzeigen, ist
ihm gleichzeitig Bedürfnis und Verpflichtung. Er fand immer wieder klare Worte
gegen den Einsatz von DDT, dessen hormonelles Wirkungsspektrum er als
Schlüssel zu vielen Erkrankungen betrachtete. Das heute der Einsatz dieser
Chemikalie weltweit im Rahmen der Stockholm-Konvention geächtet ist, ist
Wissenschaftlern wie ihm zu verdanken. Er hat den Vorsorgegedanken der großen
Hygieniker wie Robert Koch und Max von Pettenkofer zeitgemäß weiter geführt.
umg 2009; 22(4): Schwerpunkt: Online-Version, www.umwelt-medizin-gesellschaft.de, UMG Verlag.
Dörner hat immer die Grenzen zwischen Naturwissenschaft, Medizin,
Umweltwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft ignoriert. Grenzen mag er
ebenso wenig wie die gesellschaftlich vorgezeichneten Pfade der politischen
Korrektheit.
Günter Dörner ist ein wichtiger Partner des Umweltbundesamtes bei der Diskussion
um die Wirkungen von Stoffen, die das Hormonsystem beeinflussen. Sein Denken
hat uns und eine ganze Generation von Endokrinologen geprägt. Das Große
Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, das ihm 2002 verliehen wurde, ist
Symbol unserer aller Anerkennung für ihn. Toleranz, Zuwendung und der Schutz der
menschlichen Entwicklung in ihrer verwundbarsten Phase sind die Aufgaben, die uns
Günter Dörner mit auf unseren Weg gegeben hat.
Autor:
DirProf Dr. Andreas Gies
Abt. II 1: Umwelthygiene
Umweltbundesamt (UBA)
Corrensplatz 1
14195 Berlin-Dahlem
www.umweltbundesamt.de
umg 2009; 22(4): Schwerpunkt: Online-Version, www.umwelt-medizin-gesellschaft.de, UMG Verlag.
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