Nr. 16/29 - Collegium Carolinum

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Eckhard Jirgens, Schwelm
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Dank einer minutiösen Rundfunk-Zensurpraxis in der 1. Tschechoslowakischen Republik
haben sich im Zentralarchiv des Tschechischen Rundfunks (Prag) 150 musikbezogene Vorträge erhalten können. Die in Gestalt von Typoskripten vorliegenden Texte wurden überwiegend von deutsch-prager Autoren verfasst und vom Sender Prag im Rahmen seiner
deutschsprachigen Minderheitenprogramme zwischen 1926 und 1938 ausgestrahlt. 119 der
150 Typoskripte sind musikhistorisch zumindest aufschlussreich, darunter auch etliche, die
nicht allein musikhistorisch wichtig bzw. eminent wichtig sind, sondern darüber hinaus
auch allgemeinhistorisch und für interdisziplinäre Forschungen Wesentliches beinhalten. 31
Texte können dagegen als „historisch belanglos“ eingestuft werden und kommen daher für
diese Publikation nicht in Frage. Eine Edition der ausgewählten 119 Typoskripte als Buch
ist aus mannigfaltigen, insbesondere aber aus folgenden Gründen anzustreben:
a) Viele Rundfunkvorträge lassen eine deutliche musikkulturelle Distanz zwischen den
Deutschen in der böhmischen „Provinz“ und den ‚Hauptstadtdeutschen’ erkennen. Sie
tritt hier klarer hervor als in den damaligen Printmedien, was evident mit der zentralistischen Struktur des Rundfunks, seiner medienhistorischen Alternativlosigkeit als staatliches Monopolunternehmen und personellen Präferenzen auf lokaler Ebene zusammenhängt. Im Hinblick auf die sudetendeutschen Musikhistoriographien der Nachkriegszeit
stellt man bei Lektüre dieser Vorträge mit Erstaunen fest, wie stark dieser Unterschied
doch von den Vertreibungserlebnissen und dem daraus generierten kollektiven Autostereotyp der ‚Schicksalsgemeinschaft’ aller aus der Tschechoslowakei Vertriebenen –
‚Provinzdeutscher’ wie ‚Deutsch-Prager’ – überlagert worden ist. Die kulturelle Korrelation „Urbanität – Provinzialität“ ist bisher nur von literaturhistorischer Warte aus diskutiert worden; anhand dieser Belege können nun auch Musikhistoriker etwas zu diesem
Diskurs beitragen.
b) Die nationalsozialistische Machtergreifung 1933 löste bei den deutschen Eliten in der
Tschechoslowakei eine tiefe Identitätskrise aus. In dem für die Edition als Einleitungstext
gewählten Typoskript (siehe Anlage) mühte sich Walter Maras mit dem Problem einer
optimalen Positionierung der (künftigen) kollektiven sudetendeutschen Identität ab (er
verortete sie irgendwo zwischen „österreichischem und reichsdeutschem Wesen“1 – freilich nur unter literarischen Gesichtspunkten. Eine Relevanz dieser Frage auch für den Bereich der Musik sieht er dagegen ab origine nicht. Dass dies nicht ganz zutreffend war,
ergibt sich unmittelbar aus jenen Texten, in denen der Komponist Gustav Mahler eine
Rolle spielt – allerdings auf einer anderen Ebene als derjenigen, die Maras gemeint hatte:
Auf das Verbot jüdischer Musik im Deutschen Reich musste im Interesse der deutschböhmischen („sudetendeutschen“) Musikkultur, für die Mahler als eine der ‚Hauptikonen’ eine unersetzliche Rolle spielt(e), reagiert werden. Man sah sich vor der Aufgabe,
seine Musik nun besonders intensiv zu „pflegen“ und hierfür den Sender Prag – also ein
1
Walter Maras: Deutsch-tschechische Kulturbeziehungen heute. Vortrag in der Deutsche Sendung vom
9.4.1934. Typoskript. S. 1.
16. Münchner Bohemisten-Treffen, 9. März 2012 — Exposé Nr. 29
Edition der musikbezogenen Vorträge
in den Prager Deutschen Sendungen des Rundfunks
der Ersten Tschechoslowakischen Republik
ausschließlich von Tschechen geleitetes Medium – verstärkt in die ‚Pflicht’ zu nehmen.2
Neben dieser offen artikulierten ‚Gegenmaßnahme’ ist der Wortlaut vieler Vortragsthemen selbst schon als Reaktion auf die Entwicklungen im benachbarten Deutschen Reich
zu qualifizieren.
c) Zahlreiche Informationen stehen auch „zwischen den Zeilen“ der Typoskripte und wurden von der Zensur entweder nicht dekodieren und/oder ‚durchgewinkt’. Es sind diskrete, teilweise auch unbewusst eingefügte ‚Botschaften’, darunter beispielsweise solche,
wo das inhärente Inklusionsbedürfnis der Autoren zum Gesamtdeutschtum sozusagen in
‚Exklusionsreflexe’ umkippen. Das bietet gerade der hybridologisch orientierten Kulturforschung nützliche Anhaltspunkte.
d) Etwa ein Drittel der Typoskripte weist eine sehr schlechte Papierqualität auf und befindet
sich in einem fortgeschrittenen Verfallsprozess. Jedes weitere Durchblättern und insbesondere Abkopieren der Originale sollte daher möglichst unterbleiben. Die Edition der
Typoskripte, die dank finanzieller Unterstützung des Sudetendeutschen Musikinstituts
schon alle in Fotokopien vorliegen, wird diese Besorgnisse gegenstandslos machen.
e) Ein zweiter Teil der Publikation beinhaltet den Wiederabdruck von 55 ausgewählten,
musikbezogenen Artikeln (Gesamtbestand: 68 Texte) aus den Zeitschriften „Radiojournal“ (deutsche Ausgabe) und „Europastunde. Deutscher Rundfunk der Tschechoslowakei“ (deutschsprachig). Es handelt sich dabei um:
1.) Inhaltsangaben von musikbezogenen Rundfunkvorträgen, die nicht als archivierte
Typoskripte vorliegen und darum als verloren gelten müssen. Von größerer Bedeutung sind hier Texte von Oskar Baum, Edwin Janetschek und Paul Nettl;
2.) um einige Aufsätze und kürzere Sachartikel von musikhistorischer Relevanz, darunter die Autobiographie, Werkbeschreibungen und rundfunkhistorische bzw. musikästhetische Analysen des Komponisten, Redakteurs und Autors Fritz (Friedrich)
Seemann,3 dessen Spur sich im Jahre 1937 verliert und dessen musikalisches Œvre
z.Zt. als vollständig untergegangen anzusehen ist.
13 Texte können als „historisch belanglos“ eingestuft werden und kommen daher für diese Publikation nicht in Frage.
f) Der erste Teil des Anhangs beinhaltet die publizistische Gesamtperformance der in den
beiden Teilen der Edition vertretenen Autoren und bietet damit bislang unbekannte biographische Details. In der Anlage steht die Rundfunkpräsenz Oskar Baums als Muster
zur Verfügung.
Siehe dazu auch
1. Jirgens, Eckhard: Der Deutsche Rundfunk der 1. Tschechoslowakischen Republik – Musiksendungen 1925-1938. Datenbanken und Texte. Hrsg. Sudetendeutsches Musikinstitut Regensburg. Regensburg 1999. CD-ROM (vgl. auch: http://www.e-jirgens.de/rundfunk.htm).
2. Jirgens, Eckhard: Musikhistorisches Fotomaterial aus der Tschechoslowakischen Republik
der 20er und 30er Jahre: Fotografien aus den Rundfunkzeitschriften http://www.ejirgens.de/fotoeinf.htm.
3. Jirgens, Eckhard: Der Deutsche Rundfunk der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Eine Bestandsaufnahme. 2 Teile. Frankfurt/M. u.a. 2005.
4. Jirgens, Eckhard: Rundfunkliche Aspekte der Protektoratserrichtung. In: Andreas Wehrmeyer (Hrsg.). Musik im Protektorat Böhmen und Mähren (1913-1945) Veröffentlichungen
des Sudetendeutschen Musikinstituts Berichte. Bd. 6. München 2008. S. 88-95.
2
3
Leopold Goldschmidt: Vorschau auf das Musikprogramm für deutsche Sendung. Typoskript. 22.1.
1934. S. 2.
Vgl.: Eckhard Jirgens / Seemann, Fritz: Lexikon zur Deutschen Musikkultur Böhmen – Mähren – Sudetenschlesien. Bd. II. Sp. 2528f.
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