[xiù cai - sju tsai] 2004 10 1 ( 43) Einblicke in die Welt der Chinesen für die Freunde des Ostasieninstituts der FH Ludwigshafen Jörg-M. Rudolph Etwas Chinesische Geschichte... ... für Betriebswirte und Expats in der chinesischen Welt LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Inhalt Mythologisches China @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 6 Mythologisch-Dynastisches China @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 10 夏 Xià (-2100 bis -1600, mythologisch) 12 商 Sh~ng (-1600 bis -1046) 16 周 ZhÇu (-1046 bis -476) 19 战国 [战国] Zhàn Guó Streitende Reiche (-475 bis -221)22 Dynastisches China @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 58 秦 Qín (-221 bis -207) 58 汉 [汉] Hàn (-206 bis 220) 62 三国 [三国] S~n Guó Die Drei Reiche (220 bis 280) 68 晋 Jìn (265 bis 420) 71 南北朝 Nán Bi Cháo Südliche und Nördliche Dynastien (420 bis 581) 73 隋 Suì (581 bis 618) 76 唐 Táng (618 bis 907) 78 五代十国 Wß Dài Shí Guó Fünf Dynastien und Zehn Staaten (907 bis 960) 86 宋 Sòng (960 bis 1279) 87 辽 [辽] Liáo (916 bis 1125) 96 金 J§n (1115 bis 1234) 98 元 Yuán (1271 bis 1368) 99 明 Míng (1368 bis 1644) 103 清 Q§ng (1644 bis 1911) 115 中华民国 [中华民国] ZhÇng Huá Mín Guó Republik China (1911 bis 1949) @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 162 中华人民共和国 ZhÇng Huá Rén Mín Gòng Hé Guó Volksrepublik China (1949 bis heute) @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 191 2 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE WARUM EIGENTLICH SOLLTEN STUDENTEN DER BETRIEBSWIRTSCHAFTSLEHRE CHINESISCHE GESCHICHTE LERNEN? E ine kleine Umfrage, die ich unter den Erstsemestern des Ostasieninstituts im Herbst 2002 anstellte (und ein Jahr später mit dem neuen Semester wiederholte), gibt etwas Aufschluß darüber, wie Studenten das sehen, deren Ziel es ist, später einmal in China -als echte Unternehmer oder als Mannager für eine Firma- ganz praktisch Geschäfte mit Chinesen abzuwickeln. Ich bat die neunzehn Teilnehmer des Geschichtskurses eingangs, einmal zu bewerten, für wie wichtig sie vor dem Hintergrund ihrer Berufsperspektive die Kenntnis der chinesischen Geschichte halten. Auf einer Skala von null Punkten für keine Bedeutung bis fünf Punkten für größte Bedeutung sollte die Bewertung vorgenommen werden. Das Ergebnis war für mich überraschend: 74 Punkte, oder -alle zusammen im Durchschnitt- 3,9 Punkte, lag gar nicht weit weg vom Höchstwert 5. Gleichzeitig vergaben sie für ihre eigenen Kenntnisse auf diesem Gebiet (nach Schulnoten) mit durchschnittlich 4,8 ein glattes Mangelhaft. Für einen Dozenten, der das Thema unterrichtet, auf den ersten Blick eine hervorragende Startbedingung: Hier scheinen trockene Schwämme auf Wasser zum Stillen des Wissensdurstes zu warten... Aber es ist -auf den zweiten Blick- auch ein eigenartiges Ergebnis: Man weiß nur mangelhaft über den Gegenstand bescheid, bewertet ihn aber dennoch als sehr wichtig. Warum glaubt eigentlich jemand, der später eher profane Dinge der Warenwelt wie Garagentore oder chemische Anlagen in China verkaufen will, 3 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE daß die Dynastien, das komplizierte und uns sehr fremde Herrschaftssystem sowie die ungemein lange chinesische Geschichte so bedeutsam für seine Tätigkeit sind? Ich glaube, dieses Phänomen liegt in einer intuitiven, aber sehr richtigen Wahrnehmung Chinas begründet, eines Landes, das mit der eigenen europäischen Welt so rein gar nichts zu tun hat. Die Studenten stehen vor einem Rätsel: Das Land der beruflichen Ziele kommt ihnen -im wahrsten Sinne des Wortes- chinesisch vor, sie begreifen es so wenig, wie andere Parteichinesisch in Deutschland verstehen. Die rätselhaften, mysteriösen Schriftzeichen, die vielfach als unlernbar eingeschätzte chinesische Sprache, das undurchschaubare Herrschafts- und Verwaltungssystem dieses Landes erheben sich wie seine physische hier aber als geistige Große Mauer vor jedem Europäer, und auch die Studenten stehen da wie der Ochs= vor=m neuen Tor. Aber gerade dieses China ist doch die Welt, in die es sie zieht, in der sie sich zurechtfinden und sogar als erfolgreiche Manager bewegen wollen. In dieser etwas unheimlichen Situation, kurz vor dem Passieren der Großen Mauer, vermuten sie wohl, daß Kenntnisse der Geschichte dieses fremden, eigenartigen Landes und Volkes der Schriftzeichen beim Weiter- und Überleben dort helfen werden. Sie hoffen, über die Kenntnis seiner Entwicklung in der Geschichte, etwas Halt beim Umgang mit den eigentümlichen Chinesen zu gewinnen. Und sie haben ganz recht damit. Hier sind ein paar Gründe, warum Wissen um wenigstens einige Aspekte der chinesischen Geschichte auch heute, sogar für einen Firmenvertreter, im Mittelreich direkt nützlich sind: # Chinesen ruhen mehr als andere in ihrer Geschichte (oder dem, was sie dafür halten), dies zeigt der anhaltende Gebrauch der einzigartigen Schriftzeichen ebenso wie die ständigen Neuauflagen berühmter alter Romane (Die Drei Reiche, Die Reise nach dem Westen etc.) und die ständige Nutzung der 成语 chéng yß Vier-Zeichen-Sprichwörter, die ihre Bedeutung häufig aus geschichtlichen Ereignissen beziehen. Die Vergangenheit lebt bis heute in diesem Land, viel mehr als in irgend einem anderen. # Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist die Geschichte Chinas die der Abschließung nach außen, des Sich-nicht-in-die-Karten-Sehen-Lassens. Auch dafür stehen die Schriftzeichen. Chinesen verspürten nie den Drang nach Draußen, der die Europäer im 15./16. Jahrhundert um die ganze Welt trieb. Trotz ihres 财神 cái shén Gottes des Reichtums war ihnen die Suche nach Gold und Abenteuer eher fremd. Ebenso fehlte es ihnen an einem Sendungsbewußtsein, das durch Ausschaltung unterlegener Völker zu großen Kolonialreichen geführt hätte. Den Einbruch Europas in diese abgeschlossene, sich selbst genügende Welt im neunzehnten Jahrhundert empfanden (und empfinden) die Chinesen als Schmach und Schande, denn er machte ihnen unwiderlegbar klar, daß sie nicht (wie sie meinten) an der 4 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Spitze der Menschheitsentwicklung marschierten, sondern ziemlich weit hinten, daß sie den Barbaren auf allen Gebieten unterlegen waren. Die Konsequenz dieser Demütigung (aber nicht Brechung) des chinesischen Stolzes zeigt sich bis heute in dem anhaltenden, alles andere überlagernden Bestreben nach Anerkennung, ja danach, wieder die Nummer eins auf der Welt zu werden. # Die chinesische Geschichte zeigt uns ein Volk mit viel Religion, aber ohne organisierte Kirche, ohne Missionare, Inquisitoren, Hexenverbrenner oder andere Ideologen und demzufolge auch ohne Fanatismus und dem, was er für die Unterlegenen bedeutete. Erst die Krise der chinesischen Welt und der Versuch, sie mit einer europäischen Ideologie zu überwinden, setzten die dunklen Kräfte des Fanatismus frei. # Die Geschichte der Chinesen zeigt uns ein Volk der unendlichen Beliebigkeit, das lieber zusammenschmeißt, statt sich für eins zu entscheiden (und es dann universell, gegen andere durchzusetzen). Es reiht Fremdherrschaften als Dynastien in die Geschichte Chinas ein, verehrt Konfuzius, den Gegner von Religion und Aberglauben, ebenso als Heiligen und Gott wie Buddha oder 老子 L|o Z0 und die zahllosen daoistischen Götter und betreibt heute die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals als Sozialismus (mit chinesischen Charakteristika). # Die chinesische Geschichte hat kein Jahr Eins, ihr fehlt der Bezugspunkt auf einen Ursprung des Zeitstrahls, der der europäisierten Welt seit langem zur Gewohnheit und Orientierung, zum Maß des Fortschritts, geworden ist. China ist zeitlos, rechnet in Dynastien und fängt nach deren Sturz wieder von vorne an - bis heute, da von einer Vierten Generation der KP-Führung die Rede ist (gerechnet ab dem Dynastiegründer 毛泽东 Máo ZédÇng. All dies macht China auch heute noch zu einer eigenen Welt, die mit der unseren in Europa nur die Anwesenheit auf dem gleichen Planeten teilt, weshalb in China zwar die Naturgesetze gelten wie bei uns, sonst aber nicht viel. Wir sind uns dieser Fremdartigkeit des Landes und Volkes hinter der Mauer intuitiv bewußt. Aus ihr resultiert ein Großteil seiner fast magischen Anziehungskraft auf uns. Wir wollen dort hingehen, aber vorher auch wissen, wie wir damit umgehen können. Nützliche Anhaltspunkte für letzteres nun liefert uns ein komprimierter Gang durch die chinesische Geschichte. Und deshalb ist es sinnvoll, sich im Rahmen des betriebswirtschaftlichen Studiums am Ostasieninstitut der FH Ludwigshafen auch mit chinesischer Geschichte zu befassen. Jedenfalls wenn die berufliche Zukunft mit China und seinen vielen Bewohnern zu tun haben soll. Dr. Jörg-M. Rudolph Ludwigshafen, 22.9.2004 5 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE MYTHOLOGISCHES CHINA 盘古 [盘古] 开天 Pán Gß k~i ti~n So geht die chinesische Sage von der Erschaffung der Welt: Bevor es Menschen gab, waren Himmel und Erde im eiförmigen Chaos vermischt. Nach 18.000 Jahren erwachte plötzlich der darin enthaltene 盘古 Pán Gß. Da er nichts sehen konnte, ergriff er seine riesige Axt und schwang sie mit aller Kraft nach vorne. Ein gewaltiger Kawumm war zu hören, das Ei öffnete sich. Der leichte, reine Inhalt schwebte nach oben heraus und formte nach und nach den Himmel. Die schweren und trüben Inhalte sanken nach unten, verdichteten sich mit der Zeit und bildeten die Erde. 盘古 Pán Gß fürchtete aber, daß sie sich wieder vereinen würden und trat deshalb mit seinen Füßen auf die Erde, während er mit dem Kopf den Himmel hielt. So drückte er den Himmel täglich höher und die Erde tiefer, bis er schließlich, als Himmel und Erde gefestigt waren, fiel und starb. Sein letzter Atem verwandelte sich in den Wind und die Wolken, seine Stimme wurde zu Blitz und Donner, sein linkes Auge zur Sonne, sein rechtes zum Mond. Haupthaar und Bart wurden zu den funkelnden Sternen, seine Gliedmaßen zu Ber6 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE gen, sein Blut zu Flüssen, seine Muskeln zu Feldern und Boden, seine Körperhaare zu Pflanzen und Bäumen, so daß die Erde grün war.1 Nicht so ganz einig sind sich die Mythen zur Entstehung der Menschen. Während die einen sagen, die Würmer im toten 盘古 Pán Gß hätten sich in Menschen verwandelt, erzählen andere Geschichten, ein weiterer Himmelsgeist, die Königin 女娲 Nǚ W~ habe, da sie einsam war, sich Menschen aus Lehm geschaffen und dafür gesorgt, daß sie sich zu vermehren wußten. Im weiteren Verlauf tritt eine Reihe genialer Menschen in Erscheinung, die mit besonders wichtigen Entdeckungen und Erfindungen die Entwicklung ihrer Zeitgenossen fördern. Zum Beispiel: 有巢氏 Y4u Cháo Shì lehrte sie Wohnstätten zu bauen, als sie von der reinen Pflanzenkost zur Fleischnahrung übergegangen waren und sich so die bis dahin friedlichen Tiere zu Feinden gemacht hatten. 燧人氏 Suì Rén Shì der chinesische Prometheus. Er machte das Feuer durch Reibung zweier Hölzer nutzbar und erfand eine Art Knotenschrift, während 伏犧氏 Fú X§ Shì fischen sowie die Zucht der sechs Haustiere (Schaf, Huhn, Rind, Pferd, Hund, Schwein) und deren Verwendung zum Lebensunterhalt lehrte. 伏犧 Fú X§ soll auch die erste Schrift erfunden, Familiennamen eingeführt und musikalische Instrumente gebaut haben. 1 2002.3, Band 1, S. 16. 7 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Sein Nachfolger 神农氏 [神农氏] Shén Nóng Shì gilt als der göttliche Ackerbauer, mit Menschenleib und Ochsenkopf, der Erfinder des Pfluges, dessen Gebrauch er nebst der Kenntnis der Getreidearten den Menschen beibrachte. 神农 Shén Nóng ist auch der Entdecker der medizinischen Eigenschaften von Pflanzen. Mit seinem anderen Namen 炎帝 Yán Dì, gilt er als erster der 五帝 wß dì, der fünf mythischen Kaiser2. Gelebt haben soll er vor ca. 4.500 Jahren als Stammesfürst am Oberlauf des Gelben Flusses (in der heutigen Provinz 陕西 Sh|nx§). Ein anderer Stammesführer jener Zeit, der 黄帝 Huáng Dì, erstarkte derweil und gilt, seit er im ersten Geschichtswerk der Chinesen, dem 史记 sh0 jì Geschichtliche Aufzeichnungen, erwähnt ist, als der wahre erste Kaiser und Urahn aller Chinesen. Seine Farbe war 黄 huáng = Gelb wie die des Landes am 黄河 Huáng Hé Gelben Fluß. Ihm folgten auf dem Thron 尧 [尧] Yáo sein Bruder, und 舜 Shùn der Schwiegersohn von 尧 Yáo. In die Regierungszeit von 舜 Shùn fallen die Wasserbau-Arbeiten des 2 Die Zahl fünf war -ebenso wie die neun- eine heilige Zahl, die in der Mythologie immer wieder auftritt, um Beispiel in den Fünf Elementen wß xíng oder den Neun Provinzen jiß zhÇu, in die der Große Yu (s.u.) China einmal einteilte. Das wichtigste chinesische Geschichtswerk, das Sh0 Jì des Großhistorikers S§m| Qi~n (-145 bis -86) beginnt mit dem Kapitel wß dì bn jì Aufzeichnungen über die fünf (ersten) Kaiser. 8 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 禹 Yß Seinen Taten ist der zweite Abschnitt des 史记 Sh0 Jì Geschichtliche Aufzeichnungen des Großhistorikers 司马迁 S§m| Qi~n (-145 bis -86, s.u.) gewidmet. 禹 Yß verstand es, sich durch seine Tätigkeit das Wohlwollen des Kaisers 舜 Shùn zu erwerben, erhielt von ihm deshalb seine beiden Töchter zu Gemahlinnen und wurde, da der Sohn des Kaisers sich als unwürdig erwies, dessen Nachfolger und erster Kaiser der 夏 Xià-Dynastie, die mit 17 rechtmäßigen Herrschern von -2205 bis -1766 regiert haben soll, aber mangels Schrift dokumentarisch nicht belegt ist. Bedeutsam an den chinesischen Legenden zur Entstehung und Entwicklung der Welt ist, daß sie im Unterschied zu Europa nicht auf Götter (oder einen Gott) zurückgreifen, die Erde und Menschen geschaffen und angeleitet haben, sondern auf aussergewöhnliche Einzelpersönlichkeiten, Menschen. So gelten -noch vor den heiligen Kaisern- 伏牺 Fú X§ als Erfinder der Tierzucht und 神农 Shén Nóng als Erfinder der Landwirtschaft. Dutzende von Helden führte eine sehr frühe Aufzeichnung (das 世本 Shì Bn - Wurzel der Generationen) auf, hinter deren Namen ihre Großtaten oder Erfindungen vermerkt waren wie zum Beispiel erster Gebrauch des Feuers, Festlegung der Hochzeits-Zeremonie, Erfindung von Jagen und Fischen, von Musikinstrumenten, des Kochens und viele andere. Natürlich wirkten diese Helden im Volksglauben bereits in einem Staat, der China hieß, den es freilich noch längst nicht gab. Eine besonders große Bedeutung schreibt die Überlieferung dem letzten der legendären Helden zu, dem Großen 禹 Yß, dem es gelang, das Hochwasser zu zähmen, denn 禹 Yß habe seine Macht seinem Sohn 启 Q0 übergeben. Damit brach er mit der bisherigen (angeblichen) Tradition, daß nur der Beste zum Herrscher aufsteigt. Von nun an blieb diese Position stattdessen innerhalb der Herrscherfamilie und es entstand die erste Dynastie, die 夏 Xià. 9 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE MYTHOLOGISCH-DYNASTISCHES CHINA 夏 Xià (-2100 bis -1600, mythologisch) Am Ende des 22. Jahrhunderts vor unserer Zeit übernahm 禹 Yß den Platz seines Vaters 鲧 Gßn. Er ließ ab von dessen gescheiterter Technik des Deichbaus und Aufdämmens, mit der 鲧 Gßn das Wasser regulieren wollte, und es gelang ihm, durch Ausheben der Wasserläufe und Kanalbauten, die Überschwemmungen zu bezähmen. Damit begann das Zeitalter des 禹 Yß. Da er seinen 封 f‘ng = Herrschaftstitel von den 夏 Xià bekommen hatte, erhielt sein Stamm und damit seine Dynastie diesen Namen. 禹 Yß erwarb sich, so die Legende, größte Verdienste, indem er die seit Jahren das Land am Gelben Fluß verheerenden Über10 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE schwemmungen regulierte, widersetzliche Stämme unterwarf und das Reich in neun Bezirke einteilte, die 九州 jiß zhÇu3. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn 启 Q0 die Herrschaft. Damit war das von 尧 Yáo und 舜 Shùn überkommene System beseitigt, wonach der Beste -nicht ein Familienangehöriger- nachfolgte und die Tradition der Erb-Dynastie begründet, in der dem Vater der Sohn folgt. So entstand mit dem 禹 Yß-Sohn 启 Q0 die erste Dynastie der chinesischen Geschichte. Das politische Zentrum der 夏朝 Xià cháo = Xià-Dynastie lag im Norden der heutigen Provinz 河南 Hénán und gründete auf der vorausgegangenen 仰邵 Y|ng Sháo Kultur, die benannt ist nach ausgegrabenen Keramiken in den Gebieten der heutigen Provinzen 陕西 Sh|nx§, 甘肃 G~nsù und 河南 Hénán. Das Herrschaftssystem der 夏 Xià war relativ einfach: 羲氏 X§ Shì und 和氏 Hé Shì beobachteten der Überlieferung nach den Himmel und die vier Jahreszeiten, 牧正 Mù Zhèng war der für Viehzucht zuständige Beamte, 车正 Ch‘ Zhèng und 庖正 Páo Zhèng organisierten die Herrschaft. Das Bestehen einer Art Gerichtsbarkeit leiten die Chinesen daraus ab, daß es einen besonderen Ort für Gefangene gab: 夏台 Xià tái. 羲氏 X§ Shì und 和氏 Hé Shì, die Himmelsbeobachter, begründeten mit der Einteilung des Jahres in zwölf Monate den frühesten 夏历 Xià lì Kalender. Im 二里头 Èr L0 Tóu Gebiet der Stadt 雁师 Y|nsh§ (östlich des heutigen 洛阳 Luòyáng), dem alten Zentrum der 夏 Xià, haben Archäologen zahlreiche Stein- und Holzwerkzeuge sowie Keramiken dieser Zeit gefunden. Die Landwirtschaft war anscheinend relativ entwickelt, Forscher haben den Gebrauch von Hirse, Reis, Weizen, Bohnen und Kürbissen nachgewiesen. Ein Steuersystem bestand, das die Stämme zwang, einen gewissen Teil der Ernte an die Herrscher abzuliefern. Auch das spätere 井田 j0ng ti~n Brunnen-Feld-System 3 Bis heute eine poetisch-literarische Bezeichnung für China. 11 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE existierte bereits unter der 夏 Xià-Dynastie.4 Aus der Tatsache, daß es zu dieser Zeit auf dem Gebiet des heutigen China Menschen gab, die Fertigkeiten wie das Töpfern beherrschten, in Siedlungen lebten, ihre Toten begruben und Schamanen-Rituale befolgten, sollte jedoch nicht geschlossen werden, daß dem ein Gemeinwesen im Sinne einer chinesischenNation zugrundelag, die -grundsätzlich kaum verändert- bis heute fortbesteht. Vergleichbare Entwicklungen gab es auch im Mittleren Osten und in Europa, ohne daß man diese uralten Kulturen mit den heute dort liegenden Staaten in Verbindung bringt, sie als deren Vorläufer oder gar Teil ansehen könnte. Der deutsche Sinologe Wolfram Eberhard führt dazu einmal aus: Die moderne Forschung hat gezeigt, daß diese sämtlichen Berichte erst in später Zeit erfunden worden sind ... Ja, wir müssen uns sogar fragen, von welcher Zeit an wir eigentlich überhaupt von einer chinesischen Kultur sprechen können. Wohl gibt es in China wie auch anderswo nationalistische Archäologen, die jeden Fund von allen jemals zu China gehörigen Orten den Chinesen zusprechen möchten. Aber in Wirklichkeit sind in diesem großen Gebiet Menschen verschiedener Kultur und Sprache, wahrscheinlich auch verschiedener Rasse, durch geschichtliche Prozesse zusammengetroffen und im Laufe der Entwicklung zu einer neuen Einheit verschmolzen, die wir dann schließlich Chinesen nennen5. Chinesen freilich machen sich nur selten solche spitzfindigen Gedanken. Wie selbstverständlich bezog sich zum Beispiel der damalige Staatspräsident 江泽民 Ji~ng Zémín im November 2000 während seines Gesprächs mit einem irakischen Vizepremier auf die (mesopotamische) Vergangenheit des Iraks um zu behaupten, 4 2002.3, Band 1, S. 27. 5 Wolfram Eberhard, Geschichte Chinas, Kröner Verlag, 1980, S. 2f. 12 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Irak und China hätten der Geschichte der Zivilisationen glorreiche Kapitel hinzugefügt6. 6 !" Rén Mín Rì Bào Volkszeitung vom 29.11.2000. 13 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 商 Sh~ng (-1600 bis -1046) Am Unterlauf des 黄河 Huáng Hé Gelben Flusses lebte parallel zu den 夏 Xià der Stamm der 商 Sh~ng. Sein Totem war die Schwalbe (玄鸟 xuán ni|o), weil aus einem Schwalbenei der erste 商 Sh~ng-Herrscher geboren worden sei. Gegen Ende der 夏 XiàZeit erstarkten die 商 Sh~ng, drangen zum Mittellauf des Gelben Flusses vor und brachten dort ein starkes Bündnis mit den anderen Stämmen zustande. Kaiser 成汤 Chéng T~ng besiegte den letzten 夏 XiàHerrscher im 16. Jahrhundert vor unserer Zeit und gründete die 商 Sh~ng-Dynastie. Die Hauptstadt siedelte er in 亳 Bó an (nahe der heutigen Stadt 商丘 Shàngqiã im Osten der Provinz 河南 Hénán). Aus dem Niedergang der 夏 Xià, so heißt es, zog Kaiser 汤 T~ng die Lehre, das Volk mit Nachsicht zu regieren und die Landwirtschaft zu entwickeln. Das Herrschaftsgebiet wurde durch weitere, im Westen eroberte Landstriche vergrößert. Aus Aufzeichnungen geht hervor, daß in der Zeit von Gründungs-Kaiser 汤 T~ng bis zu Kaiser 盘庚 Pán G‘ng die Hauptstadt nicht weniger als fünfmal wechselte. 盘庚 Páng G‘ng machte dem um -1300 mit ihrer Verlegung nach 殷 Y§n für längere Zeit ein Ende. Von diesem Zeitpunkt ab wird 殷 Y§n zu einer alternativen Bezeichnung der 商 Sh~ng Dynastie. Politisch und wirtschaftlich setzte nun eine starke Entwicklung ein. Unter der 50jährigen Herrschaft des Kaisers 武丁 Wß D§ng erreichte die Dynastie ihre höch- 14 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE ste Blüte.7 Die wichtigste kulturelle Errungenschaft dieser Zeit ist die Entstehung und Entwicklung der Ur-Schriftzeichen. Auf Knochen, Schildkrötenpanzern und bronzenen Gefäßen wurden Zeichen eingeritzt, woraus diese Gattung dann ihren Namen erhielt: 甲骨文 ji~ gß wén - Schrift auf Schildkrötenpanzern und Knochen, meist, wegen der wahrsagerischen Inhalte, als Orakel-Schrift bezeichnet. Im Gebiet der Stadt 安阳 }nyáng, die eine der 商 Sh~ng-Hauptstädte war (etwa 300 Kilometer südlich von Peking gelegen), fanden Archäologen seit Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche dieser OrakelInschriften, die etwa um -1200 entstanden. Schildkrötenpanzer mit # $% ji| gß wén OrakelAls Träger der Texte dienten Knochen Inschrift. oder Bronzegefäße. Die Inhalte kreisen um Beschwörungen und Wahrsagungen, die für wichtige Maßnahmen oder größere Unternehmen der Herrscher von Bedeutung waren. Sie lauten etwa: Inquired whether the King should hunt in Ai oder On the day ren-xu, inquiry was made through the tortoise-shell of the Royal Guest Shi-ren whether the next day would be without objection for sacrificing8. Der letzte 商Sh~ng-Herrscher, 紂王 Zhòu Wáng König Zhòu setzte 7 2002.3, Band 1, S. 31. 8 J. Minford & J.S.M. Lau, Classical Chinese Literature, Vol 1: From Antiquity to the Tang Dynasty, The Chinese University Press Hong Kong, S. 15, 16. 15 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE dann für die letzten Kaiser folgender Dynastien insofern den Maßstab, als er in 荒 淫无道 hu~ng yín wu dào vollkommener Verkommenheit Volk und Reich zugrundegerichtet hatte und von neuen Kräften gestürzt wurde. 16 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 周 ZhÇu (-1046 bis -476) 西周 X§ ZhÇu (-1035 bis -771) 东周 DÇng ZhÇu (-770 bis -221) 春秋 Chãn Qiã (-770 bis -476) 战国 Zhàn Guó (-475 bis -221) Den letzten 殷 Y§n- (商 Sh~ng-) Herrscher stürzte der Anführer eines Grenzstammes, der den Namen 周 ZhÇu trug, und im Gebiet der heutigen Provinz 陕西 Sh|nx§ lebte. Die so -1046 begründete ZhÇu Dynastie organiDie & ZhÇu-Zeit. sierte ihre Herrschaft in Form von 诸侯 zhã hóu Lehensstaaten, die, zur Sicherung des Territoriums an den Genzgebieten gelegen, den Verwandten des Herrscherhauses übergeben wurden. Die dortigen Fürsten hatten dem König allerlei Dienste zu erbringen und ihre Loyalität zu erweisen. Insgesamt gab es bis zu 71 solcher Lehensstaaten. Ihre Hauptstadt errichteten die ZhÇu in 镐 Hào, nahe der heutigen Stadt 西安 X§=~n gelegen. Da sie Sprache und Kultur mit den 商 Sh~ng teilten, sorgten die frühen 周 ZhÇu-Herrscher durch die Ausdehnung ihres Territoriums dafür, daß diese Kultur sich erhielt und sich fast auf dem gesamten Gebiet nördlich des 长江 Cháng Ji~ng oder Jangtse ausbreitete. Die 周 ZhÇu-Herrschaft dauerte mit fast 600 Jahren länger als jede andere in China und erwies sich wegen des reich- und nachhaltigen Kulturlebens als prägend. Zeichen ihrer Macht ' d0ng Dreifuß - das war der 九鼎 jiß d0ng dreifüßige Kessel (mit Herrschaftssymbol der & ZhÇu. zwei Handgriffen). 17 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Philosophen dieser Zeit begründeten die Legitimität der Herrschaft des Kaisers mit dem Konzept vom 天命 ti~n mìng Mandat des Himmels. Der Kaiser figuriert darin als 天子 ti~n z0 Sohn des Himmels, der dessen Willen auf Erden vollstreckt. Ein Sturz des Kaisers, der möglich und sogar gerechtfertigt sein konnte, bewies dabei, daß er aufgrund schlechten Regierens das Mandat des Himmels verloren hatte bzw., daß es ihm entzogen worden war. Auf dieser Basis war auch eine Legitimierung der neuen Dynastie gegenüber den beiden vorangegangenen gegeben. Die erste Phase der neuen Herrschaft, die Westliche ZhÇ Çu-Zeit, gilt in der traditionellen chinesischen Geschichtsauffassung als Präzedenzfall dafür, wie eine neue, gute (legitime) Herrschaft (周 ZhÇu) eine alte, schlechte (商 Sh~ng) ablöste, die sich vom Volk abgewandt und daher das Mandat des Himmels verloren hatte. Über die Jahrhunderte bis heute vielen Chinesen bewußt als gute Herrscher par excellence gelten jene 周 ZhÇu-Könige und Noblen, die wie 文王 Wén Wáng König Wén, den Sturz der 商 Sh~ng vorbereiteten; oder wie sein Sohn, 武王 Wß Wáng König Wu, ihn vollendeten, um dann erster Herrscher der neuen 周 ZhÇu-Dynastie zu werden. Zu diesen bis heute bekannten positiven Persönlichkeiten gehört weiterhin der 周公 ZhÇu GÇng Herzog von ZhÇu, der dafür gesorgt haben soll, daß die Dynastie in diesem Sinne fortlebte. Einige seiner Schriften sind im 书经 Shã J§ng Buch der Schriften (auch: 尚书 Shàng Shã, s.u.) erhalten und gehören zu den ältesten Zeugnissen chinesischer Literatur. Gegen Ende der 周 ZhÇu entstanden weitere klassische Texte wie das 易经 Yì J§ng Buch der Wandlungen und Teile im 诗经 Sh§ J§ng Buch der Lieder, die später beide zum konfuzianischen Kanon jener Schriften genommen wurden, die den idealen Gang der Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens regeln sollten. Die Westlichen 周 ZhÇu haben so einen prägenden Einfluß auf chinesische Geschichts- und Staatsauffassungen genommen. Im Laufe der Zeit begannen die einzelnen Herrscher der Lehensstaaten jedoch immer unabbhängiger vom Königshaus zu agieren, das dadurch in immer größere Schwierigkeiten geriet, bis schließ18 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE lich im Jahre -771 einfallende Stämme und aufständische Lehensherren, die sich und ihre Staaten am Rande des Reiches de facto unabhängig gemacht hatten, den legitimen König umbrachten. Die verbliebenen, aber machtlosen Herrscher verlegten die Hauptstadt nach Osten in die Stadt 洛阳 Luòyáng (heute Provinz 河南 Hénán), weshalb Historiker die 周 ZhÇu-Zeit in eine 西周 X§ ZhÇu Westliche ZhÇ Çu (- 1035 bis -771) und eine 东周 DÇng ZhÇu Östliche ZhÇ Çu (-770 bis -221) einteilen. Die Östliche 周 ZhÇu-Zeit wird wiederum in zwei Perioden unterteilt, nämlich die 春秋时代 chãn qiã shí dài Frühlings- und Herbstperiode (-770 bis -476), benannt nach einer berühmten Chronik dieser Jahre, und die 战国时代 zhàn guó shí dài, die Zeit der Streitenden Reiche (-475 bis -221). 春秋 chãn qiã, die Frühlings- und Herbstannalen, sind eine Chronik des Staates 鲁 Lß (auf dem Gebiet der heutigen Provinz 山东 Sh~ndÇng gelegen), die die Ereignisse der Jahre -722 bis -481 aufzeichnet. Sie gehört wie das erwähnte 易经 Yì J§ng Buch der Wandlungen und das 诗经 Sh§ J§ng Buch der Lieder zum konfuzianischen Schriften-Kanon (mehr dazu weiter unten). Da die Frühlings- und Herbstannalen den Staat 鲁 Lß behandeln, in dem auch Konfuzius lebte, und überdies mit seinem Todesjahr enden, werden sie traditionellerweise auch dem Meister zugeschrieben (mehr weiter unten). 19 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 战国 [战国] Zhàn Guó Streitende Reiche (-475 bis -221) Die wichtigsten Staaten, die sich aus Lehen der 周 ZhÇu zu unabhängigen Einheiten entwickelt hatten und bald gegeneinander um die Vorherrschaft kämpften, waren die folgenden: 秦 赵 [赵] 燕 韩 [韩] 魏 齐 [齐] 楚 Qín, ganz im Westen gelegen und letztlicher Sieger; Zhào, Nachbar von Qín im Osten; Yàn, Nachbar von Zhào im Osten, heutiges Peking; Hán, südlich von Zhào, östlich von Qín; Wèi, östlich von Hán; Qí, östlich von Wèi; Chß, im Süden. Der Beginn dieser sehr wichtigen chinesischen Geschichtsperiode fällt etwa auf das Ende der 春秋时代 chãn qiã shí dài Frühlingsund Herbstzeit. Auch die östliche 周 ZhÇu-Herrschaft vermochte die Reichslehen nicht mehr unter Kontrolle zu halten, sie entwickelten sich zu separaten Staaten, die parallel zur nur noch nominellen 周 ZhÇu-Herrschaft bestanden. Die stärksten dieser separaten Staaten waren: 秦 Qín, 赵 Zhào, 燕 Yàn, 韩 Hán, 魏 Wèi, 齐 Qí und 楚 Chß, die bald in wechselnden Koalitionen gegeneinander um die Vorherrschaft kämpften, bis 20 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE schließlich einer, das im Osten gelegene 秦 Qín, alle anderen Konkurrenten ausgelöscht und die Alleinherrschaft errungen hatte. (秦 Qín gründete im Jahre -221 als neue Dynastie einen großen einheitlichen Staat - China.) Der europäische Name China -die Chinesen haben bis heute keinen dem europäischen vergleichbaren Namen für ihr Land- ist vermutlich indirekt aus 秦 Qín abgeleitet. Im lateinisch geprägten europäischen Mittelalter war China allerdings als Cathay bekannt, eine Bezeichnung aus Zentralasien, die sich vom Namen des Stammes der Khitan ableitete, der China zu dieser Zeit als 辽 LiáoDynastie (916 - 1125) beherrschte. Auf diesem Wortstamm gründen slawische, türkische und arabische Wörter wie Kitaia und Hitai, bis in Europa schließlich Cathay daraus wurde. Damit war zunächst aber nur der Norden des Landes gemeint. Erst im 16. Und 17. Jahrhundert war in Europa von China die Rede, vermutlich stammte diese Bezeichnung aus dem Persischen Chini, das auf dem Sanskrit-Wort 支那 zh§ nà beruhte, welches sich wiederum auf 秦 Qín bezogen haben mag. Zunächst bezeichnete China jedoch meist das Porzellan, von dem die Portugiesen so begeistert waren. Erst im 19. Jahrhundert setze sich dieses Wort auch als Name für das Land endgültig in Europa durch. (Endymion Wilkinson, Chinese History A Manual, Harvard-Yenching Institute Monograph Series 46, 1998. S. 724) Die Zeit der Streitenden Reiche gilt als äußerst brutale Zeit, in der sich die Herrscher der sieben größten Einzelstaaten mit allen Mitteln der Diplomatie, Intrige, Lüge und Täuschung, häufig in wechselnden Bündnissen bekämpften. Ziel war die Vorherrschaft eines Staates über die anderen. Die Auseinandersetzungen erfolgten dabei auf zwei Grundlinien: Entweder gelang es dem ganz im Westen gelegenen 秦 Qín ein Bündnis mit einem/mehreren Staat im Osten zu schließen und ein südliches Land anzugreifen, dann sprach man von 连横 lián héng, einem Horizontalbündnis; oder die Staaten im Osten verbündeten sich gegen 秦 Qín, dann sprach man von 合纵 hé zòng, einem Vertikalbündnis. In dieser Periode und auf Basis der Horizontal-/Vertikalallianzen entstanden das chinesische Politik-Handwerk und Politik-Verständnis. Ein später, in der frühen 汉 Hàn-Zeit verfaßtes großes Geschichtswerk, die Intrigen der Kämpfenden Staaten (战国策 21 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Zhàn Guó Cè9), beschreibt die Epoche in zahllosen Annekdoten, in denen die Herrscher, ihre Minister, Botschafter und vor allem ihre Politikberater, sogenannte 纵横家 zòng héng ji~ Strategen vertikaler und horizontaler Bündnisse, die Hauptrolle spielen. Viele dieser Geschichten sind als Annekdoten oder Vier-Zeichen-Sprichwörter (成语 chéng yß) bis heute im Umlauf und tragen dazu bei, daß diese Zeit im Bewußtsein der Chinesen weiter lebendig ist. Beispiel: 三人成虎 s~n rén chéng hß = ist ein Gerücht erst einmal weitererzählt, wird es geglaubt. Dieses 成语 chéng yß geht auf folgende Geschichte im 战国策 Zhàn Guó Cè zurück: A tiger in the market place When 庞葱 Páng CÇng was to accompany the heir, who was going as hostage10 to 邯郸11 Hánd~n, he spoke to the king of 魏 Wèi before he left. AIf a man were to tell you there was a tiger in the market place, would you believe him, my lord?@ ANo.@ AIf two people told you there was a tiger in the market, would you believe them?@ AI should supect something@, replied the king. AIf three people should tell you there was a tiger, would you believe it?@ AI would.@ ANow the market is clearly without a tiger yet let three men spek of one and he appears@, said 庞葱 Páng CÇng. A邯郸 Hánd~n is farther away than the market, my lord, and my detractors [Verleumder] number more than three - will you remember this, my lord?@ ABut I understand that@, replied the king. 庞葱 Páng CÇng took his leave and departed, yet slander reached its destination sooner than he. In consequence, when the heir had served his time as hostage, 庞葱 Páng CÇng was 9 Die englische Übersetzung: J.I. Crump, Chan-Kuo Ts=e, Clarendon Press, Oxford, 1970. 10 Die Einzelstaaten schickten oft hohe Persönlichkeiten als Geiseln an des Hof des mißtrauischen Nachbarn, um damit Vertrauen zu schaffen. Mit einem Prinzen als Geisel, wähnte man sich vor einem Angiff sicher. 11 Hauptstadt des Staates ( Zhào. 22 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE not again given audience.12 Viele andere in der heutigen Umgangssprache verwendete 成语 chéng yß-Sprichwörter gehen ebenfalls auf Geschichten aus dieser Zeit zurück wie zumBeispiel ! 朝秦暮楚 zh~o Qín mù Chß = die Partei schnell wechseln oder ! 狡兔三窟 ji|o tù s~n kã = ein schlauer Hase hat drei Löcher, ! 惊弓之鸟 j§ng gÇng zh§ ni|o = ein gebranntes Kind scheut das Feuer, was einen schon einmal erschreckt hat, lähmt, wenn es wieder auftritt ... Ein anderes heute weltweit be- und gerühmtes militärisches Werk entstand ebenfalls in dieser Zeit, etwa -500: 孙子兵法 Sãn Z0 B§ng F| Sun Zi Über die Kunst des Krieges. Das sehr kurze Traktat besteht aus 13 Abschnitten die einzelne Fragen des Krieges bzw. der Strategie und Taktik grundlegend abhandeln, so grundlegend, daß die Anweisungen heute vielfach auf andere Bereiche wie zum Beispiel Wirtschaft und Management übertragen werden13. Die 13 Abschnitte (篇 pi~n) behandeln folgende Themen14: 1. Strategie (计篇 jì pi~n) 2. Kriegsführung (作战篇 zuò zhàn pi~n) 3. Angriff mit Strategie (谋攻篇 móu gÇng pi~n) 4. Disposition militärischer Stärke (形篇 xíng pi~n) 5. Nutzung der Kraft (势篇 shì pi~n) 6. Schwächen und Stärken (虚实篇 xã pi~n) 12 Nach: J.I. Crump, Chan-Kuo Ts=e, S. 377-378, Clarendon Press, Oxford, 1970. 13 Zum Beispiel: Wee Chow Hou u.a.: Sun Tzu War & Management, Addison-Wesley Publishing Co., Singapore, 1991. 14 )*+ Deutsch nach: Wú RúsÇng u.a., Sun Zi über die Kriegskunst, Sun Bin über die Kriegskunst, Verlag Volkschina, Peking, 1994. 23 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 7. Kampf um die Initiative (军争篇 jãn zh‘ng pi~n) 8. Neun Taktik-Varianten(九变篇 jiß biàn pi~n) 9. Marsch (行军篇 xíng jãn pi~n) 10. Gelände (地形篇 dì xíngpi~n) 11. Neun Gebiets-Varianten (九地篇 jiß dìpi~n) 12. Feuerangriff (火攻篇 hu4 gÇng pi~n) 13. Einsatz von Spionen (用间篇 yòng jiàn pi~n) Beispiel: Der erste Abschnitt des Traktats beginnt mit dem Satz: Krieg ist für den Staat eine Angelegenheit von großer Wichtigkeit, eine Sache auf Leben und Tod und der Weg zu Sein oder Nichtsein. Daher ist es notwendig, ihn gewissenhaft zu studieren. Dies bedeutet, wer handeln will soll vorher über seine Ziele nachdenken, die objektiven Gegebenheiten auf dem Weg zum Ziel sowie den Feind/Gegner studieren, um mit geringstmöglichem, aber effektivem Aufwand zum gewünschten Erfolg zu gelangen. Genau dies ist das Anliegen der Überlegungen des 孙子 Sãn Z0. In dem vielleicht berühmtesten Satz seines Traktakts drückt er das so aus: Den Feind ohne Kampf zu unterwerfen, ist die allerbeste Taktik. ... Deshalb sage ich: Wenn du sowohl den Feind als auch dich selbst kennst, kannst du ohne Gefahr hundert Kämpfe ausfechten 不战而屈人之兵,善之善者也 ... 知彼知己者,百战不殆 bß zhàn ér qã rén zh§ b§ng, shàn zh§ shàn zh y ... zh§ b0 zh§ j0 zh, b|i zhàn bú dài. Der darauf basierende Spruch 知彼知己,百战不殆 zh§ b0 zh§ j0, b|i zhàn bú dài ist ebenfalls ein bis heute oft gebrauchtes Wort. In der 宋 Sòng-Dynastie wurde die Kunst des Krieges zum offiziellen Lehrbuch der chinesischen Armee und gehört bis heute, zusammen mit den zahllosen Variationen und Erläuterungen, zum theoretischen Repertoire aller Offiziersschulen der Welt. Auch Manager- und Karriere-Trainer haben sich des Textes mittlerweile 24 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE bemächtigt, weil Wirtschaft, Eroberung von Märkten, in der Vorstellung vieler anscheinend ein Krieg ist und deshalb auch so betrieben werden sollte. 诸子百家 zhã z0 b|i ji~ Hundert Schulen Nicht obwohl, sondern gerade weil die Jahrhunderte der Kämpfenden Staaten eine Zeit waren, in der das Überleben von der Geschicklichkeit oder der Brutalität, von dauernder Anpassung an geänderte Bedingungen und dem technischen, wirtschaftlichen wie politisch-diplomatischen Erfindungsreichtum (oder allem zusammen) der Staaten abhing, waren sie trotz aller Kriege und Kämpfe auch eine Periode blühender Kultur - vielleicht die fruchtbarste überhaupt in der chinesischen Geschichte. Der Kampf der Staaten ums Überleben machte dauernde Reformen nötig, die großen Heere, die die Herrscher unterhielten, erforderten eine starke Wirtschaft im Staate, aus der sie die nötigen Steuern ziehen konnten. Münzen kamen in großer Zahl in Umlauf und vereinfachten und förderten den Warenaustausch. Die Verwaltung der Staaten gelangte in die Hände recht professioneller, lesekundiger Beamter, die auszubilden und nach bestimmten Kriterien auszuwählen und zu befördern waren. Herstellung und Gebrauch von Eisengeräten als Waffen wie als landwirtschaftliche Geräte verbreiteten sich in dieser Zeit und auch eine chinesische Besonderheit hat hier ihre Wurzeln: die großen öffentlichen Arbeiten, die unter Leitung von Beamten zur Flutkontrolle und Anlage von Bewässerungssystemen unternommen wurden, begannen in der Zeit der Kämpfenden Staaten. In der Philosophie suchten die Menschen sich über Sinn und Gang ihrer Existenz wie über die Rechtmäßigkeit des Handelns nicht zuletzt dasjenige der Herrscher- klar zu werden, und es entstanden in der Frühlings- und Herbstzeit wie in der folgenden Zeit der Kämpfenden Staaten so viele verschiedene Denkrichtungen, daß die chinesischen Historiker von einer Periode der Hundert Denkschulen sprechen: 诸子百家 zhã z0 b|i ji~. Die klassischen Schriften, die eine große Rolle in den kommenden fast 2000 Jahren spielen sollten, entstanden in diesen Jahr25 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE hunderten oder wurden jedenfalls aus vorliegenden Materialien zusammengestellt. Sie befaßten sich mit militärischen Fragen oder geschichtlichen Taten und Entwicklungen. Die meisten aber waren philosophischen Themen gewidmet. Das Grundbestreben der chinesischen Philosophie besteht darin, über die Verbesserung des einzelnen Menschen ein gutes, ideales Leben im Diesseits zu erzielen. Vielleicht liegt darin sogar der wichtigste Unterschied zu europäischen Denkern, die auf die Erkenntnis der Welt, wie sie ist, zielten und so eine gute Grundlage schufen für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik, die Europa letztlich zur Vormacht in der Welt führte, und ihm erlaubte, ihr seinen Stempel aufzudrücken. Die Griechen waren dabei der Meinung, daß man die Welt niemals komplett begreifen könne, und Sokrates, der das aussprach (Ich weiß nur, daß ich nichts weiß), gilt gerade deshalb als Weiser. Chinesen sehen das anders. Der Weise dort ist deshalb einer, weil er als Person einen Idealzustand erreicht hat, danach handelt und trachtet, diesen Idealzustand auf andere Menschen, vor allem den Herrscher, zu übertragen und so über die Verbesserung jedes einzelnen eine perfekte Gesellschaft zu erreichen. Das Jenseits interressierte die chinesischen Weisen dabei nicht. Zusammengefaßt ist ihr Bestreben in der nicht nur auf den Herrscher, sondern alle Menschen gemünzten Formel 内圣外王 nèi shèng wài wáng, das als mit innerer Heiligkeit die äußere Welt regieren übersetzt werden kann. Die Formel stammt vom Philosophen 庄子 Zhu~ng Z0 (s.u.). Der Herrscher legitimiert sich so als Lehrer. Dies gilt nicht nur für die legendären guten Herrscher der Vorzeit wie 尧 Yáo, 舜 Shùn und 禹 Yß, die Könige 文 Wén und 武 Wß oder den Herzog 周 ZhÇu, sondern bis in die Neuzeit. Auch 孙中山 Sãn ZhÇngsh~n Sun Yat-sen, der als Gründer der Republik China gilt, 毛泽东 Máo ZédÇng und selbst ein profaner Diktator wie 江泽民 Ji~ng Zémín (Partei- und Staatschef in den neunziger Jahren) sehen sich am liebsten als Lehrer und Erzieher des rohen Volkes und rechtfertigen damit ihre Position. Das ist ein großer Unterschied zum Bild des westlichen Herrschers in Geschichte und Gegenwart. 26 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 孔子 K4 4ng Z00 Konfuzius (-550 bis -479) Von allen Denk-Schulen den prägendsten Eindruck im chinesischen Leben hinterließ die Schule der 儒 rú: Literaten oder Konfuzianer. Ihr schriftlicher Nachlaß, der zum Teil auf den Meister selbst zurückgeführt wird, liegt konzentriert in den sogenannten 五经 wß j§ng Fünf Klassikern vor, nämlich dem ! ! ! ! ! 诗经 Sh§ J§ng Buch der Lieder, 书经 Shã J§ng Buch der Geschichte, 礼记 L0 Jì Buch der Riten, 易经 Yì J§ng Buch der Wandlungen und den 春秋 Chãn Qiã Frühlings- und Herbstanalen Diese Schriften gaben der chinesischen Gesellschaft für fast 2000 Jahre ihren ideologischen Grund und Halt. Der Kanon der Fünf Schriften diente bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zur alleinigen Erziehung der chinesischen Gebildeten, die, so geläutert, dann nicht anderes im Sinne hatten, als die Prüfungen abzulegen, die sie in Beamtenränge aufsteigen ließen (mehr dazu weiter unten). Das 诗经 Sh§ J§ng Buch der Lieder ist eine Sammlung von 305 Gedichten, die -nach chinesischer Auffassung- Konfuzius selbst aus einer Gesamtzahl von etwa 3.000 zusammenstellte, die schon vor seiner Zeit (-550 bis -479) entstanden waren. Der Meister nutzte sie zur Erziehung seiner Schüler und erwähnt sie mehrfach in seinen 论语 Lùn Yß Gesprächen. Darin sagt er zum Beispiel: Meine Schüler, warum beschäftigt ihr euch nicht mit dem Buch der Lieder? Die Lieder regen an, sie schärfen den Blick, stärken den Gemeinschaftssinn und sind hilfreich bei Kummer und Unzufriedenheit. Sie lehren das Nächstliegende, die Pflicht gegenüber dem Vater, ebenso wie das Fernerliegende, die Pflicht gegenüber dem Herrscher.15 15 Konfuzius Gespräche, 17.9, in der Übersetzung von Ralf Moritz, Reclam 9656. 27 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Man beachte die Schwerpunktsetzung: Naheliegend ist die Pflicht gegenüber dem Vater, fernerliegend: die Pflicht gegenüber dem Herrscher. An anderer Stelle sagt der Meister: Das Buch der Lieder enthält dreihundert Stücke. Will man darüber mit einem Satz urteilen, so kann man sagen: Hieraus spricht kein böses, verderbtes Denken.16 Vermutlich gehen die ältesten Gedichte des 诗经 Sh§ J§ng bis in die Jahre -1200 bis -700 zurück. Im dritten Jahrhundert wurde das Buch der Lieder -ebenso wie andere alte Schriften- auf Befehl des Reichseinigers und Ersten Kaisers 秦始皇帝 Qín Sh0 Huáng Dì verbrannt. Die Rekonstruktion der Texte in der frühen 汉 HànDynastie stützte sich auf mündliche Überlieferungen sowie auf Manuskripte, die in Verstecken diese Vernichtung überstanden hatten. Das Buch der Lieder soll das erste gereimte Werk der Weltliteratur sein. Es ist in vier Abteilungen eingeteilt, nämlich: ! ! ! ! Volkstümliche Lieder nach Landesart Kleine Festgesänge Große Festgesänge Hymnen Die Themen wechseln entsprechend dieser Einteilung und handeln von Liebe, Krieg, Landwirtschaft, Opfern und dynastischen Legenden. Die erste Übersetzung in eine westliche Sprache geschah durch den Jesuiten Alexandre de la Charme, ca. 1750, ins Lateinische und wurde 1830 erstmals als Buch veröffentlicht. Seit 2003 liegen, übertragen vom Heidelberger Sinologen Günther Debon, zahlreiche 16 Konfuzius Gespräche, 2.2, in der Übersetzung von Ralf Moritz, Reclam 9656. 28 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Lieder auch in deutscher Übersetzung vor17. Im folgenden einige Beispiele: Beispiel 1 (Übersetzung: Günther Debon): König 文 Wén machte den Staat 周 ZhÇu, als er noch zur 商 Shàng-Dynastie gehörte, groß und stark, so daß sein Sohn, als König 武 Wß, die 商 Shàng stürzen und die Dynastie der 周 ZhÇu errichten konnte. König 文 Wén, dessen Name das Schriftzeichen 文 wén für Kultur ist, gilt in der konfuzianischen Darstellung als vorbildlichster Herrscher. Hoch über uns weilt König Wen; Der Himmel wird durch ihn erhellt. Ein altes Land war Dschou, gewiß, doch neu sein Auftrag in der Welt. War Dschou nicht damals ruhmbedeckt? Traf Gottes [des Himmels] Auftrag nicht die Zeiten? Hinauf, hinab steigt König Wen, ist links und rechts an Gottes Seiten. Kraftvoll und ernst war König Wen; Sein Lob wird immerfort ertönen. Gesegnet ist das Haus der Dschou Mit Königs Sohn und Sohnessöhnen. ... Beispiel 2 (Übersetzung: Günther Debon) Der Taubenruf Guan, guan: es ruft ein Taubenpaar; Von Stromes Insel ruft es fern. Bescheiden-scheu die schöne Frau; ist gut erwählt dem edlen Herrn. 17 Die erste Übersetzung zahlreicher Lieder ins Deutsche besorgte der Heidelberger Sinologe Günther Debon: Der Kranich ruft, Elfenbein Verlag Berlin 2003, ISBN 3-932245-62-8. 29 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die Wasserblumen dicht gedrängt; Sie schwimmen links und rechts vom Nachen. Bescheiden-scheu die reine Frau; Ihr galt sein Sehnen im Schlafen und Wachen. Hat sich gesehnt, sie nicht erlangt; Hat wach und schlafend sie begehrt. Er wälzt sich auf seinem Lager, von Kummer geplagt, von Kummer verzehrt. Die Wasserblumen dicht gedrängt; zur Linken und Rechten pflücken wir sie. Bescheiden-scheu die reine Frau; Mit Zithern und Harfen beglücken wir sie. Die Wasserblumen dicht gedränngt; Zur Linken und Rechten reihen wir sie. bescheiden-scheu die reine Frau; Mit Glocken und Pauken erfreuen wir sie. Das 书经 Shã J§ng Buch der Urkunden (Book of History) ist der Eckstein der fünf klassischen Werke. Es enthält fünf Abteilungen: ! ! ! ! ! 谟 mó = Konsultationen des Herrschers mit seinen Ministern, 训 xùn = Anweisungen von Ministern, 诰 gào = Verkündungen, 誓 shì = Schwüre bzw. Proklamationen und 命 mìng = Befehle bzw. königliche Dekrete. Zeitlich deckt das Buch der Urkunden die mythologische Geschichtsperiode ab (虞书 Yú Shã), die 夏 Xià-Zeit (夏书 Xià Shã), die 商 Shàng-Dynastie (商书 Shàng Shã) und die 周 ZhÇuDynastie (周书 ZhÇu Shã). Tatsächlich stammen die Texte aber vermutlich aus der Periode der Streitenden Reiche, eventuell gehen sie bis in die westliche 周 ZhÇu-Zeit davor zurück. Auch das Buch 30 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE der Urkunden fiel im 3. Jahrhundert v.u.Z. der Bücherverbrennung des Ersten Kaisers zum Opfer und wurde wie das Buch der Lieder zu Beginn der 汉 Hàn-Zeit aus Dokumenten restauriert, die das Wüten des 秦始皇 Qín Sh0 Huáng überstanden hatten. Beispiel (Übersetzung: James Legge, 186518): The Metal-Bound Coffer König 武 Wß, Sohn des Königs 文 Wén und Gründer der 周 ZhÇuDynastie, wird sehr krank und es scheint, als werde er sterben. Sein Bruder, der 周公 ZhÇu gÇng Herzog von 周 ZhÇu, ist sich klar darüber, daß dies gerade am Beginn der Dynastie, zu großen Unsicherheiten, eventuell zur Katastrophe führen kann, und betet darum, an Stelle des Königs 武 Wß zu sterben. In der Hoffnung erhört worden zu sein, deponiert er den Text seines Gebets in einer metallenen Truhe, in der auch die wichtigen Dokumente des Herrschers aufbewahrt sind. Tatsächlich stirbt König 武 Wß jedoch nicht und auch der Herzog von 周 ZhÇu bleibt am Leben. Fünf Jahre später aber, als König 武 Wß tatsächlich stirbt, übernimmt sein dreizehnjähriger Sohn die Herrschaft, und sofort gehen Gerüchte um, daß der Herzog von 周 ZhÇu statt dieses legitimen Nachfolgers die Herrschaft selbst usurpieren wolle. Der Herzog beugt seiner Festnahme dadurch vor, daß er sich vom Hof zurückzieht. Drei Jahre später aber greift der Himmel zugunsten dieses wahrhaft loyalen Mannes ein: Die Metall-Truhe wird geöffnet und das Gebet des Herzogs gefunden. Der junge Herrscher weint vor Ergriffenheit angesichts dieses edlen Charakters und wegen der ungerechten Verdächtigung des Herzogs 周 ZhÇu . Der darf nun wieder zum Hof zurückkehren - nicht ohne deutliche positive Zeichen des Himmels. Two years after the conquest of 商 Shang, the King fell ill and 18 John Minford und Joseph Lau, An Athology of Translations, Classical Chinese Literature, Vol 1 From Antiquity to the Tang Dynasty, Columbia University Press, The Chinese University of Hong Kong, 2000. ISBN 962-201-625-1, S. 158 161. 31 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE was quite disconsolate. The two other great dukes said, *Let us reverently consult the tortoise shell about the king.+ But the Duke of Zhou said: *You must not so distress our former kings.+ He then took the business on himself and reared three altars of earth on the same cleared space. Having made another altar on the south of these, and facing the north, he took there his own position. Having put a round symbol of 碧 bì jade, on each of the three altars and holding in his hands the long symbol of his own rank, 圭 guì, he addressed the kings Tai, Ji and 文 Wén . The Grand Historiographer had written on tablets his prayer, which was to this effect: *Your great descendant is suffering from a severe and violent disease. If you three kings in heaven have the charge of watching over him, Heaven=s great son, let me, 旦 Dàn [Duke of Zhou] be a substitute for his person. I was lovingly obedient to my father; I am possessed of many abilities and arts which fit me to serve spiritual beings. Your great descendant, on the other hand, has not so many abilities and arts as I, and is not so capable of serving spiritual beings. And moreover he was appointed in the hall of God to extend his aid all over the kingdom, so that he might establish your descendants in this lower earth. The people of the four quarters all stand in reverent awe of him. Oh! do not let that precious Heaven-conferred appointment fall to the ground, and all the long line of our former kings will also have one in whom they can ever rest at our sacrifices. I will not seek your decision from the great turtoise shell. If you grant me my request, I will take these symbols and this mace, and return and wait for your orders. If you do not grant it, I will put them by.+ The duke then divined with the three turtoise shells and all were favorable. He opened with a key the place where the oracular responses were kept, looked at them, and they also were favorable. He said, *According to the form of the prognostic the king will take no injury. I, the Little Child, have got the renewal of his appointment from the three kings, by 32 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE whom a long futurity has been consulted for. I have now to wait for the issue. They can provide for our One Man.+ When the duke returned, he placed the tablets of the prayer in a metal-bound coffer and next day the king got better. Afterward, upon the death of king 武 Wu, the duke=s elder brother, he of Guan and his younger brothers, spread a baseless report through the kingdom to the effect that the duke would do no good to the king=s young son. On this the duke said to the two other dukes, *If I do not take the law to these men, I shall not be able to make my report to the former kings.+ He resided accordingly in the east for two years, when the criminals were taken and brought to justice. Afterward, he made a poem to present to the king and called it *The Owl+. The king on his part did not dare to blame the duke. In the autumn, when the grain was abundant and ripe but before it was reaped, Heaven sent a great storm of thunder and lightning, along with wind, by which the grain was broken down and great trees torn up. The people were greatly terrified. The king and great officers, all in their caps of state, proceeded to open the metal-bound coffer and examine the writings in it, where they found the words of the duke when he took on himself the business of being a substitute for King Wu. The two great dukes and the king asked the historiographer and all the other officers acquainted with the transaction about the thing, and they replied, *It was really thus. But ah! the duke charged us that we should not presume to speak about it.+ The king held the writing in his hand and wept, *We need not now go on reverently to divine. Formerly the duke was thus earnest for the royal house, but I, being a child, did not know it. Now Heaven has moved its terrors to display his virtue. That I, the Little Child, now go with my views and feelings to met him, is what the rules of propriety of our kingdom require.+ The king then went out to the borders to meet the duke, when Heaven sent down rain and by virtue of a contrary wind, the grain all rose up. The two great dukes gave orders to the people to take up the trees that had fallen and replace them. The year 33 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE then turned out very fruitful. Die 春秋 Chãn Qiã Frühlings- und Herbstannalen (The Spring and Autumn Annals). Der Überlieferung nach schrieb Konfuzius selbst dieses Buch. Es umfaßt den Zeitraum der Jahre von -722 bis -481 und handelt in sehr lakonischer Sprache von den zwölf Herrschern (Herzögen) des Staates 鲁 Lß, in dem Konfuzius lebte, und ihren Taten, der Integrität der einen und der Verkommenheit der anderen. Der Titel spielt an auf das Aufblühen des Staates unter dem (ersten) guten Herrscher (= Frühling) und seinen späteren Niedergang (= Herbst). Ein anderer, umfangreicherer Text, der ebenfalls die Geschichte des Staates 鲁 Lß beschreibt und fast den gleichen Zeitraum abdeckt, der Kommentar des Herrn Zuo (左传 Zu4 Zhuàn) wird meist den Frühlings- und Herbstannalen beigefügt. Beispiel Frühlings- und Herbstannalen (Übersetzung: James Legge, 187219) Third Year [Reign of Duke Zhuang] 1. In the duke=s third year, in spring, in the king=s first month, Ni joined an army of Qi in invading Wei. 2. In summer, in the fourth month, there was the burial of duke Zhuang of Song. 3. In the fifth month there was the burial of King Huan. 4. In autumn, the third brother of the marquis of Ji with the city of Hui under the protection of Qi. 5. In winter the duke halted in Huai. Das 礼记 L0 Jì Buch der Riten ist eine Sammlung, die vermutlich erst in der 汉 Hàn-Zeit zusammengestellt wurden. Es enthält Texte zu Alltagsnormen des Verhaltens, zu Bestattungs- und Trauerzeremonien sowie über das Adelssystem der 周 ZhÇu-Zeit, Opfer- 19 John Minford und Joseph Lau, An Anthology of Translations, Classical Chinese Literature, Vol 1 From Antiqity to the Tang Dynasty, Columbia University Press, The Chinese University of Hong Kong, 2000. ISBN 962-201-625-1, S. 163. 34 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE rituale, Kalender und Musikstücke. Zwei Konfuzius zugeschriebene Texte, 大学 Dà Xué Die Große Lehre (The Great Learning) und die 中庸 ZhÇng YÇng Maß und Mitte (The Doctrin of the Mean) waren ursprünglich im Buch der Riten enthalten. Beispiel (Übersetzung: James Legge 1885) Pride should not be allowed to grow; the desires should not be indulged; the will should not be gratified to the full; pleasure should not be carried to excess. ... Men of talents and virtue can be familiar with others and yet respect them; can stand in awe of others and yet love them. They love others and yet acknowledge the evil that is in them. They accumulate (wealth) and yet are able to part with it (to help the needy); they rest in what gives them satisfaction and yet can seek satisfaction elsewhere (when it is desirable to do so). 4. When you find wealth within your reach, do not (try to) get it by improper means; when you meet with calamity, do not (try to) escape from it by improper means. Do not seek for victory in small contentions; do not seek for more than your proper share. 5. Do not positively affirm what you have doubts about; and (when you have no doubts), do not let what you say appear (simply) as your own view. ... By the united action of heaven and earth all things spring up. Thus the ceremony of marriage is the beginning of a (line that shall last for a) myriad ages. The parties are of different surnames; thus those who are distant are brought together, and the separation (to be maintained between those who are of the same surname) is emphasised[1]. There must be sincerity in the marriage presents; and all communications (to the woman) must be good. She should be admonished to be upright and sincere. Faithfulness is requisite in all service of others, and faithfulness is (specially) the virtue of a wife. Once mated with her husband, all her life she will not change (her feeling of duty to him) and hence, when the husband dies she will not marry 35 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE (again). ... The sovereign and king orders the chief minister to send down his (lessons of) virtue to the millions of the people. ... Sons, in serving their parents, on the first crowing of the cock, should all wash their hands and rinse their mouths, comb their hair, draw over it the covering of silk, fix this with the hair-pin, bind the hair at the roots with the fillet, brush the dust from that which is left free, and then put on their caps, leaving the ends of the strings hanging down. They should then put on their squarely made black jackets, knee-covers, and girdles, fixing in the last their tablets. From the left and right of the girdle they should hang their articles for use:--on the left side, the duster and handkerchief, the knife and whetstone, the small spike, and the metal speculum for getting fire from the sun; on the right, the archer=s thimble. for the thumb and the armlet, the tube for writing instruments, the knife-case, the larger spike, and the borer for getting fire from wood. They should put on their leggings, and adjust their shoe-strings. Beispiel 大学 Dà Xué Die Große Lehre (The Great Learning) (Übersetzung: James Legge 1885): The ancients who wished to illustrate illustrious [erlauchte, erhabene] virtue throughout the kingdom, first ordered well their own states. Wishing to order well their states, they first regulated their families. Wishing to regulate their families, they first cultivated their persons. Wishing to cultivate their persons, they first rectified their hearts. Wishing to rectify their hearts, they first sought to be sincere in their thoughts.. Wishing to be sincere in their thoughts, they first extended to the utmost their knowledge. Such extension of knowledge lay in the investigation of things. Things being investigated, knowledge became complete. Their knowledge being complete, their thoughts were sincere, Their thoughts being sincere, their hearts were then rectified. Their 36 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE hearts being rectified, their persons were cultivated. Their persons being cultivated, their families were regulated. Their families being regulated, their states were rightly governed. Their states being rightly governed, the whole kingdom was made tranquil and happy. From the Son of Heaven down to the mass of people, all must consider the cultivation of the person the root of everything besides. It cannot be, when the root is neglected, that what should spring from it will be well ordered. It never has been the case that what was of great importance has been slightly cared for, and at the same time, that what was of slight importance has been greatly cared for. Nicht immer ist verständlich, was in den alten Texten steht. Ihr -bis heute- maßgeblicher Übersetzer, James Legge, schrieb einmal mit Blick auf das 中庸 ZhÇng YÇng Maß und Mitte: The whole chapter is eminently absurd, and gives a character of ridiculousness ... We wish that we had the writer [Konfuzius in diesem Fall] before us to question him; but if we had, it is not likely that he would be able to afford us much satisfaction.20 Beispiel 中庸 ZhÇng YÇng Maß und Mitte (The Doctrin of the Mean) (Übersetzung: James Legge 1885): While there are no stirrings of pleasure, anger, sorrow, or joy, the mind my be said to be in the state of Equilibrium. When those feelings have been stirred, and they act in their due degree, there ensues what may be called the state of Harmony. This Equilibrium is the great root from which grow all the human actings in the world, and this Harmony is the universal path which they all shoud pursue. 20 James Legge, The Four Books, New York, Reprint der ShanghaiAusgabe von 1923, 1966, S. 402. 37 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 孔子 K4ng Z0 Konfuzius, selbst lebte zwischen -550 und -479 im Staate 鲁 Lß, der heutigen Provinz 山东 Sh~ndÇng, in deren Stadt 曲阜 Qã Fù sich sein Grab findet. Er sah in der frühen 周 ZhÇuZeit die ideale staatliche Ordnung und glaubte, der einzige Weg, dies in seiner wirren und kriegerischen Zeit wieder zu erreichen wäre der, daß jeder Mensch im Rahmen fester, vorgegebener Beziehungen handelt: Der Herrscher sei Herrscher, der Untertan Untertan (君君臣臣 - jãn jãn chén chén) sagte er. Allerdings bestand Konfuzius darauf, daß der Herrscher ein Edler sein müsse, der gegenüber seinen Untertanen eine Fürsorgepflicht habe. Regierende und alle anderen Menschen müßten gemäß fester ethischer Grundsätze handeln, meinte er. Der ideale Mensch, der das tat, war in seinen Augen der Herrscher (君 jãn, was später zu Edler oder gentleman wurde) - ein durch und durch kultivierter Mensch. Das Ziel der Lehre des Konfuzius ist die Versittlichung des Menschen, was als unendliche Aufgabe begriffen wird. In drei Schritten soll die erfüllt werden: ! 明明德 míng míng dé = Klarmachen, was die reine Tugend überhaupt ist, ! 亲民 q§n mín = Den Menschen verbessern und ! 止於至善 zh0 yã zhì shàn = Immer wieder neu lernen, erst ruhen, wenn das hohe Ziel erreicht ist. In der Konfuzius von seinen Anhängern zugeschriebenen Schrift 大学 Dà Xué Die Große Lehre wird ein Acht-Punkte-Programm mit Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele angeführt: ! 格物 gé wù = Befasse dich mit den Dingen, um so zu ihrem Wesen zu gelangen, ! 致知 zhì zh§ = Erreiche die Erkenntnis, ! 诚意 chéng yì = Lege dir jederzeit Rechenschaft über deine Absichten ab, ! 正心 zhèng x§n = Erreiche die Reinheit des Herzens, ! 修身 xiã sh‘n = Bilde deine Persönlichkeit intellektuell und 38 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE physisch aus, ! 齐家 qí ji~ = Bringe deine eigenen Angelegenheiten in Ordnung, ! 治国 zhì guó = Ordne den Staat/die öffentlichen Angelegenheiten, ! 平天下 píng ti~n xià = Befriede die Welt. Da der Mensch immer mit anderen zusammen in einer Gemeinschaft lebt, soll deren Ordnung durch genau geregelte und VorbildBeziehungen der Menschen untereinander gesichert werden. Als insgesamt zwischen den Menschen einer Gemeinschaft/eines Staates mögliche Beziehungen definierte Konfuzius die 五论 wß lùn oder 五常 wß cháng fünf Beziehungen nämlich die zwischen: ! ! ! ! ! 君臣 jãn chén - Fürst und Untertan, 父子 fù z0 - Vater und Sohn, 兄弟 xiÇng dì - Älterer Bruder und jüngerer Bruder, 夫妇 fã fù - Ehemann und Ehefrau, 朋友 péng y4u - Freunde. In der Regel wird das jeweilige Beziehungspaar heute als eines der Über- bzw. Unterordnung gesehen, was aber vielleicht nicht unbedingt auf Konfuzius selbst zurückgehen muß, sondern autoritative Interpreten erst viel später in diese Beziehungspaare hineinlegten21. Der bekannteste Konfuzius zugeschriebene Text ist das 论语 Lùn Yß, die Gespräche. Das Büchlein besteht aus Konfuzius= Antworten auf Fragen seiner Schüler und Aussprüchen, die meist in der standardisierten Form: 子曰 z0 yu‘ Der Meister sagt dem Leser angeboten werden, sowie aus Texten über Konfuzius. Häufig beantwortet der Meister Fragen seiner Schüler, die seine philosophischen Begriffe und Anforderungen betreffen. 21 Lutz Geldsetzer, Hóng Hàn-d0ng ( Philosophie, Reklam 9689, 1998, S. 101. 39 ,-.), Grundlagen der chinesischen LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Der heute vorliegende Text entstand in der 汉 Hàn-Dynastie, also etwa fünfhundert Jahre nach Konfuzius. Der Inhalt geht kreuz und quer durcheinander, weder sind die einzelnen Teile/Kapitel überschrieben, noch werden die einzelnen Konzepte des Meisters thematisch zuammengefaßt. Sie tauchen vielmehr immer wieder an verschiedenen Stellen des Textes auf. Die Einteilung der Gespräche in zwanzig Kapitel (in denen die einzelnen Aussagen wiederum numeriert sind) bewirkt daher nur eine oberflächliche Ordnung. Inhaltlich kreisen die Gespräche vor allem darum, was einen 君子 jãn z0 Edlen ausmacht, worauf es im Leben eines Menschen ankommt oder wie eine gute Herrschaft aussehen muß. Beispiele (Übersetzung: Ralf Moritz22) ! Konfuzius sprach: Als ich fünfzehn war, war mein ganzer Wille aufs Lernen ausgerichtet. Mit dreißig Jahren stand ich fest. Mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr. Mit fünfzig kannte ich den Willen des Himmels. Als ich sechzig war, hatte ich ein feines Gehör, um das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche herauszuhören. Mit siebzig konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Maß zu überschreiten. (II,4) 子曰、吾十有五而志于学、三十而立、四十而不惑、五 十而知天命、六十而耳顺、七十而从心所欲不踰矩 z0 yu‘, wú shí y4u wß ér zhì yú xué, s~n shí ér lì, ì shí ér bú huò, wß shí ér zh§ ti~n mìng, liù shí ér r shùn, q§ shí ér cóng x§n su4 yù bù yú jß ! Konfuzius sprach: Dem Edlen geht es um innere Werte, der Gemeine hingegen ist auf Materielles aus. Der Edle denkt an die richtigen Vorbilder, der Gemeine strebt nach Gunst. (IV,11) ! Konfuzius sprach: Wer immer den eigenen Vorteil sucht, bekommt Ärger. (IV,12) ! Konfuzius sprach: Wie geht es doch abwärts mit mir. Schon lange ist mir 周公 ZhÇu GÇng [Herzog Zhou] nicht mehr im Traum erschienen. (VII,5) 22 Konfuzius, Gespräche, Reclam 9656, 1982. 40 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE ! Konfuzius sprach: Könnte man auf rechtem Wege reich werden, würde ich das auch wollen, und wenn ich dafür als Reitknecht dienen müßte. Da man dies aber nicht kann, folge ich meinen eigenen Neigungen. (VII,12) ! Das Haupt der Aristokratenfamilie Ji war noch reicher als der dem König unmittelbar nahestehende Hochadel. Ran Qiu23 trieb für ihn die Steuern ein und vermehrte so seinen Reichtum. Konfuzius bemerkte: *Dieser Ran Qiu hat nichts mehr mit uns zu tun. Ihr, meine Schüler, könnt die Trommeln schlagen und ihn angreifen.+ (XI,17) ! 子贡 Z0 Gòng fragte, woran man eine gute Regierung erkenne. Konfuzius antwortete: *Sie muß die Ernährung sichern. Muß ausreichend gegen Feinde gerüstet sein. Muß danach trachten, daß das Volk Vertrauen in die Regierung hat.+ Zi Gong fragte weiter: *Wenn man aber nun eines der drei Dinge aufgeben müßte, worauf könnte man am ehesten verzichten?+ Der Meister: *Auf die Rüstung.+ Zi Gong weiter: *Müßte nun wiederum eins von beiden aufgegeben werden, worauf sollte man dann noch verzichten?+ Konfuzius: *Auf die Ernährung. Ohne Nahrung muß man sterben. Doch seit jeher ist der Tod das Los aller Menschen. Wenn aber das Volk kein Vertrauen in die Regierung hat, kann der Staat nicht bestehen.+ (XII,7) ! 哀公 }i GÇng [Herrscher von 鲁 Lß] sprach zu [dem Schüler] 有若 Y4u Ruò: *Das ist kein gutes Jahr. Es brachte eine Mißernte, so daß Mangel herrscht. Was soll ich tun?+ You Ruo antwortete mit einer Gegenfrage: *Warum nicht die Steuern und Abgaben senken?+ Doch Ai Gong entgegnete: *Schon jetzt reichen die Steuern und Abgaben nicht aus. Wie könnte ich sie dann noch senken?+ Daraufhin sprach You Ruo: *Wenn das Volk keinen Mangel leidet, wie könnte dann der Herrscher darben? Hat das Volk aber kein gesichertes Auskommen, wieso kann dann der Herrscher in Wohlstand leben?+ (XII,9) ! 季康子 Jì K~ng Z0 wollte von Konfuzius wissen, wie regiert 23 Ein Schüler des Konfuzius, der zugleich Beamter im Dienste der mächtigen Ji-Sippe im Staate Lß war. / 41 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE werden solle. Dabei meinte er: *Sollte man nicht um einer guten Sache Sache willen alle jene töten, die nicht den rechten Weg gehen?+ Konfuzius entgegnete ihm: *Wieso müßt ihr töten, wenn Ihr regiert? Ihr selbst müßt das Gute nur wirklich wollen, dann wird auch das Volk gut werden. Der Herrscher ist dem Winde gleich. Der gewöhnliche Mann gleicht dem Gras. Bläst der Wind übers Gras, dann biegt es sich.+ (XII,19) ! 樊迟 Fán Chí wollte wissen, wie ein Feld zu bestellen sei. Doch Konfuzius meinte: *Darin bin ich nicht so bewandert wie ein erfahrener Bauer.+ Daraufhin bat der Schüler um Unterweisung im Gartenbau. Aber der Meister sprach: *Damit bin ich nicht so vertraut wie ein erfahrener Gärtner. Nachdem Fan Chi gegangen war, sagte Konfuzius: *Fan Chi denkt wahrhaftig wie die gewöhnlichen Leute. Werden oben die gewöhnlichen Regeln des Anstands, der Sitte und Ordnung geachtet, dann wird auch unten niemand wagen, ohne Achtung und Ergebenheit zu sein. Hat man oben ein richtiges Verhältnis zu Recht und Pflicht, dann wird sich im Volk niemand erkühnen, Ungehorsam zu zeigen. Wird oben die Aufrichtigkeit hochgehalten, dann wird es unten niemand wagen, unaufrichtig zu sein. Wenn aber die Zustände so sind, dann werden die Menschen aus allen vier Himmelsrichtungen, ihre Kinder auf dem Rücken tragend, herbeigelaufen kommen. Wieso braucht man dazu Kenntnis über den Ackerbau?+ (XIII,4) ! Jemand fragte den Meister: *Soll man mit 德 dé = Güte vergelten, wenn einem Unrecht geschieht?+ *Womit willst Du dann Güte vergelten? Unrecht ist mit Gerechtigkeit, Güte mit Güte zu vergelten+, entgegnete der Meister. (XIV, 34) ! Zi Zhang fragte Konfuzius, was es heiße, sittlich zu handeln. Der Meister antwortete: *Überall fünf Grundsätze verwirklichen - das ist Sittlichkeit.+ Zi Zhang wollte daraufhin wissen, was das für Grundsätze seien. Konfuzius sagte: *Höflichkeit, Großmut, Aufrichtigkeit, Eifer und Güte. Der Höfliche genießt mehr Achtung, durch Großmut gewinnt man Sympathie. Aufrichtigkeit schafft Vertrauen. Eifer bringt Erfolg. Wer Güte hat, kann anderer Menschen Herr und Leiter sein.+ (XVII,6) 42 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 孟子 Mèng Z0 Menzius (-372 bis -289), der zweite auch im Ausland dem Namen nach bekannte Philosoph, war ein Schüler der Lehre des Konfuzius, der sie im Sinne des Humanismus interpretierte. Er war der Ansicht, daß der Mensch im Kern seines Wesens gut sei und insofern beste Chancen bestünden, auch die Gesellschaft, den Staat, humanistisch zu gestalten. Ein Herrscher benötigt laut Menzius auch die zumindest stillschweigende Duldung der Beherrschten, also eine Legitimation der Herrschaft. Sollte diese sich jedoch als despotisch, unfähig oder in anderer Weise extravagant zeigen, so kann ihr die Legitimierung entzogen werden. Der Herrscher verliert sein 天命 ti~n mìng Mandat des Himmels. Wie Konfuzius sah auch Menzius in der idealisierten Vergangenheit der 周 ZhÇu-Zeit und in deren angeblich unbefleckten Herrschern das geeignete Vorbild, die Wirrnisse seiner Gegenwart der Streitenden Reiche zu heilen. Er hielt jeden Menschen für von Natur aus gut, weil er über Mitleid (恻隐 cè y0n), Schamgefühl (羞恶 xiã wù), Bescheidenheit (辞让 cí ràng) und die Fähigkeit verfüge, Recht und Unrecht (是非 shì f‘i) zu unterscheiden. Daran könne man ansetzen, um die gute Gesellschaft zu schaffen, denn von Natur aus vorhandenes ! ! ! ! 恻隐 cè y0n Mitleid führt zu 仁 rén Menschlichkeit, 恻隐 cè y0n Schamgefühl zu 义 yì Gerechtigkeit, 辞让 cí ràng Bescheidenheit zu 礼 l0 Sittlichkeit und 是非 shì f‘i Unterscheidungsvermögen (zwischen Recht und Unrecht) zu 智 zhì Weisheit. Wie sein Vorbild Konfuzius, dessen Lehre er systematisierte, scheiterte jedoch auch Menzius an den Realitäten des chinesischen Lebens: Kein Herrscher nahm je seinen angebotenen Rat an und beschäftigte ihn als Beamten. Sie hörten stattdessen lieber auf die skrupellosen, ausschließlich erfolgs-orientierten Ratschläge der 43 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 游说 yóu shuÇ24 umherziehenden Politikberater. Die Kanonisierung des Menzius in der späteren 汉 Hàn -Zeit als Säulenheiligen des gesellschaftlichen Lebens rückte vor allem seine Forderung nach kindlicher Pietät oder Respekt vor den Eltern, das 孝 xiào, an eine herausragende, vielleicht die oberste Stelle des Wertekanons. Das Kind, der Sohn, hat demnach die unbedingte Pflicht, seinen Eltern (insbesondere dem Vater als Oberhaupt) zu dienen und Gehorsam zu erweisen. Diese Über- und Unterordnung wurde außer auf die Freundes- auch auf die vier anderen der konfuzianischen Fünf Beziehungen übertragen und machte aus ihnen ein hierarchisches Verhältnis. In bezug auf die Eltern begründete 孝 xiào die kindliche Pietät die tiefverwurzelte Ahnenverehrung der Chinesen, die den toten (männlichen) Vorfahren entgegenzubringen ist. Die Lehren beider, des Konfuzius und des Menzius, versorgten die chinesische Gesellschaftsordnung mit dem ideologischen Rahmen eines auf Ethik gegründeten Beziehungsgeflechts. Die herrschenden wie die beherrschten Klassen der Gesellschaft nahmen dies als Basis des Staates und Zusammenlebens an, weiteten es im täglichen Leben und im Verlauf der Jahrhunderte aus - und hielten sich, zumindest was die Machthaber anlangte, doch genauso selten daran wie christliche Könige ihr Handeln an der Lehre der Nächstenliebe ausrichteten. Staat und Gesellschaft Chinas entwickelten sich auf dieser Basis in eine der europäischen fremde Richtung: Es gab keine unveräußerlichen Indivudualrechte, sondern nur eine jedem Menschen innewohnende Ethik. Recht und Gesetz konnten auf dieser Grundlage deshalb nie den Status erreichen, den sie in Europa einmal einnahmen, nämlich über den Menschen, auch über den Herrschern stehende Normen zu sein. Recht und Gesetz, wie ausführlich sie immer kodifiziert sind, dienten und dienen in China immer nur als Werkzeuge zur Exekution des Herrscherwillens. 24 Siehe oben: Strategen horizontaler und vertikaler Bündnisse ( zòng héng ji~). 44 012 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Der Menzius-Auslegung der konfuzianischen Ansichten entgegengesetzt waren die Doktrinen eines anderen Konfuzius-Schülers seiner Zeit, des 荀子 Xún Z0 (ca. 300 bis -237). Er sah im Menschen keineswegs einen guten Kern, sondern das gerade Gegenteil: Eigennutz und Bosheit. Nach 荀子 Xún Z0 war das Gute, das die Gesellschaft zu ihrem Fortbestehen unbedingt brauchte, deshalb nur zu erreichen, wenn die Mesnchen darin unterrichtet wurden und sie sich darein fügten, sich entsprechend ihrer sozialen Stellung zu bescheiden. Wegen des schlechten Kerns der Menschen sei dies jedoch nur durch eine authoritäre Regierung zu erreichen, nicht durch Appelle an das Gute oder Überzeugungsarbeit. Mit dieser Lehre konnte 荀子 Xún Z0 zum Stammvater einer anderen, vielleicht der tatsächlich wichtigsten Philosophenschule werden, die die chinesische Gesellschaft bis heute mindestens ebenso prägte und prägt wie die Konfuzianer, nämlich: 法家 f| ji~ Die Legalisten Die Doktrinen der Legalisten formulierten erstmals 韩非子 Hán F‘iz0 (gestorben ca. -233) und 李斯 L0 S§ (Kanzler im Staate 秦 Qín unter dem späteren Ersten Kaiser, gestorben ca. -208). Ihre Lehre sah die menschliche Natur als so schlecht und verkommen an, daß sie völlig unkorrigierbar sei. Der einzige Weg, mit diesen Leuten fertigzuwerden und den Staat in Ordnung zu halten bestand daher darin, der Gemeinschaft eine strenge Disziplin von oben aufzuoktrieren, was mittels authoritärer Vorschriften, Gesetze genannt, zu geschehen habe. Der Staat bzw. seine Organe, vor allem der Herrscher, die Überwachungsorgane und die Gerichte, die dieses Konzept durchzusetzen hatten, standen daher im Zentrum der legalistischen Aufmerksamkeit. Für die Herrschenden war der Legalismus damit die ideale Rechtfertigung ihres despotischen Tuns, und so wurde er zur praktischen Staatsphilosophie Chinas, wenngleich er während der 汉 Hàn-Zeit (-206 bis 220), mit Elementen des Konfuzianismus vermischt wurde. Dieses Amalgam ist bis heute weitgehend intakt geblieben. Vor allem zwei Namen, 商鞅 Sh~ng Y~ng (Lord Sh~ng, gest. ca. 45 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE -338) und 韩非子 Hàn F‘iz0 (ca. -280 bis -233), stehen für die praktische Anwendung einer- und die philosophische Ausformulierung andererseits der legalistischen Philosophie. 商鞅 Sh~ng Y~ng war es, der - 356 dem Herrscher von 秦 Qín die Einführung strengster Maßnahmen zur Kontrolle seiner Helfer und des Volkes vorschlug, die dieser annahm und umsetze25. Die Denk-Schule hält dafür, daß der Herrscher seine schlechten, eigennützigen Untertanen wie auch seine Helfer (Minister, Beamte) strengster Kontrolle unterwerfen muß, um sie im Zaum und sich an der Macht zu halten. Legalistische Ratschläge dienen der Sicherung von Herrschaft durch Unerbittlichkeit. Sie kreisen um drei zentrale Begriffe: ! 势 shì = Macht,, ! 术 shù = Methoden, sie zu erhalten, und die ! 法 f| = Vorschriften oder Gesetze, die diese Methoden in die Staatspraxis umsetzen. Aus letzterem, 法 f|, den Vorschriften, resultiert der Name dieser Schule: 法家 f| ji~.26 Beispiel 韩非 Hàn F‘i sagte: All the great matters of the ruler of men are matters either of law 法 f| or of methods 术 shù. The laws are compiled in documents, ensconced [vorgehalten] in government offices, and promulgated among all the people. The methods are concealed within the breasts, are deployed to meet all contingencies in government and to control covertly the servents. Thus the law works best of all when clearly revealed, while methods should 25 3456 Sh~ng Y~ng biàn f| - Sh~ng Y~ng ändert die Gesetze, wie es in chinesischen Geschichtsbüchern heißt. 26 Zur Vertiefung des Themas am besten geeignet: Kung-chuan Hsiao (übers. Von F.W. Morse), A History of Chinese Political Thought, Princeton University Press 1979. Und als übersetzten Originaltext: The Book of Lord Shang, übers. von J.J.L. Duyvendak, Arthur Probsthain, London 1928. 46 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE not be obvious.27 Zu den wichtigen 术 shù Methoden des Herrschers zählen die Bestellung und Beförderung von Beamten und die Bewertung ihrer Arbeit. An erster Stelle steht bei letzterem jedoch die Strafe, nicht die Belohnung, denn Aufgabe der Regierung sei es, das dem Menschen inhärente Schlechte zu begrenzen, nicht aber, eine (ohnehin nicht vorhandene) Moral aufzubauen und zu verbreiten. Hier entspricht die legalistische Lehre den Erkenntnissen des Italieners Machiavelli (1469 - 1527), der in seinem bekanntesten Werk, Der Fürst, eine entsprechende Frage des Herrschers so beantwortet: Der Fürst fragt: Ist es besser meine Untertanen lieben mich oder ist es besser, sie hassen mich? Machiavellia antwortete: Es ist besser, sie hassen dich, denn das hast Du in der Hand. Ob sie dich lieben, entscheiden sie jedoch selbst. Ein Herrscher im westlich der sechs anderen Streitenden Reiche gelegenen Staate 秦 Qín war es, der die Philosophie des Legalismus unter dem Einfluß des beratenden Lord 商鞅 Sh~ng Y~ng in Staatspolitik umsetzte. In 秦 Qín galt zum Beispiel: ! Einteilung des Volkes in Fünfer- und Zehnergruppen mit der Pflicht gegenseitiger Beaufsichtigung und Solidarhaftung, ! Todesstrafe bei versäumter Denunziation eines Vergehens, ! Doppelte Besteuerung von Haushalten mit mehr als zwei erwachsenen männlichen Mitgliedern (gegen die Großfamilie), ! Belohnung militärischer Verdienste durch hierarchische Titel (aber nicht: Lehen, die zu unabhängigen Staaten werden konnten), ! Bestrafung privaten Streites, ! Beschäftigung aller mit Ackerbau und Seidenzucht; Befreiung von öffentlichen Arbeiten bei hoher Produktion von Korn und Seide; Versklavung derer, die sekundären Beschäftigungen 27 Kung-chuan Hsiao (übers. Von F.W. Morse), A History of Chinese Political Thought, Princeton University Press 1979, S. 397. 47 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE nachgehen wie Handel, Kunsthandwerk, Gastwirte, Privatgelehrte u.a.), ! staatliche Zuteilung von Feld, Haus, Dienerschaft, Konkubinen und Bekleidung. Später kamen hinzu: ! Verbot des Zusammenlebens von Vater und Sohn, älterem und jüngerem Bruder im gleichen Haushalt, ! Ersetzung der feudalen [erblichen] Helfer des Herrschers durch Staatsbeamte ....28 Dem so reorganiserten 秦 Qín gelang es damit, eine effiziente Staatsmacht zu errichten und schließlich die Vorherrschaft über die anderen Streitenden Reiche zu erlangen. Beispiel, 商君书 Sh~ng Jãn Shã The Book of Lord Shang29 A weak people means a strong state, and a strong state means a weak people. Therefore, a country, which has the right way, is concerned with weakening the people. ... Being weak (弱 ruò), they are law-abiding; being licentious [ausschweifend], they let their ambition go too far; being weak they are serviceable, but if they let their ambition go too far, they will become strong. ... Farming, trade and office are the three permanent functions in a state. Farmers open up the soil, merchants import products, officials rule the people. These three functions give rise to parasites, six in number, which are called: care for old age, living on others, beauty, love, ambition, and virtuous [tugendhaft] conduct. If these six parasites find an attachement, there will be dismemberment. If farmers live in affluence [Überfluß], 28 Günther Debon, Werner Speiser, Chinesische Geisteswelt Zeugnisse aus drei Jahrtausenden, Hanau 1987, S. 95. 29 J.J.L. Duyvendak, The Book of Lord Shang, Reprint, San Francisco, 1974, S. 303 - 309 (Weakening the People). 48 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE they seek leisure in their old age; if merchants have illicit profits, there will be beauty and love, and these will harm the means for enforcing the law; if officials are set up, but are not utilized, ambition and virtuous conduct will be the end. ... If the law is crooked, order turns into disorder; if reliance is placed on virtue, there is much talking; if government measures are numerous, the state is in disorder, and if there is much talking the army is weak. But if the law is clear, government measures are limited; if reliance is placed on force, talking ceases; if government measures are limited, the country enjoys orderly administration, and if talking ceases, the army is strong. ... Now, to have a numerous population and a strong army is the great capital of an emperor or king, but if he does not have clear laws by which to keep them, he is next-door to peril and ruin. 道教 dào jiaò Daoismus [Taoismus] Auch der für das chinesische Denken so prägende 道教 dào jiaò Daoismus entstand in der Zeit der Streitenden Reiche. Seine Aussagen werden dem legendären Weisen 老子 L|o Z0 (Alter Meister, auch: 老旦 L|o Dàn) zugeschrieben, der ein Vorgänger des Konfuzius, und 庄子 Zhu~ng Z0 (-369 bis -286) gewesen sein soll. Zwei Linien sind beim Daoismus zu unterscheiden: ! Die Philosophie, die den Menschen bewegen will, sich in Übereinstimmung mit seiner Umwelt, der Natur, dem Kosmos, zu bewegen und nicht in diesen Lauf der Dinge regelnd einzugreifen, also 无为 wú wéi, nichts tun. Der Daoismus hat hier einen stark anti-staatlichen, anarchischen Zug. ! Die Religion, die sich -mit allem, was 49 78 cái shén Gott des Reichtums. Daher der 7 Neujahrsgruß: 9:; gÇng x0 f~ cái Glück & Reichtum. LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE dazugehört: Mönchen, Klöstern, Schriften, Kulten etc.- während der 汉 Hàn-Zeit entwickelte. Sie kam dem Naturell der chinesischen Bauernbevölkerung so sehr entgegen, daß sie zum bis heute blühenden Volkskult mit hunderten, ja vielleicht tausenden von Göttern wurde. Einen für all und jedes, zum Beispiel auch die Küche, das Feuer, gegen Zahnschmerzen etc. Der bekannteste ist bis heute der vielgebrauchte 财神 cái shén, der Gott des Reichtums. In den daoistischen Tempeln stehen ihre Standbilder noch heute und sind Ziel hilfesuchender Menschen. Der Daoismus als Philosophie zielt auf das Individuum in der Natur, im Universum, nicht aber auf die menschliche Gesellschaft oder den Staat. Das Lebensziel der Menschen sieht der Daoismus im reibungslosen Folgen des unerforschlichen Gangs der Natur, was er als 道 dào, Weg, bezeichnet. Damit haftet dem Daoisten etwas anarchisches, anti-staatliches an und steht er im kompletten Gegensatz zum Konfuzianer, der ja gerade die Ethik kultivieren und vorleben, seine Natur also pausenlos in a priori gestellte Anforderungen einpassen soll, die die Natur so gar nicht kennt. Damit bietet der Daoismus dem ständig aan sich arbeitenden Konfuzianer freilich auch die Möglichkeit, sich dann und wann vom furchtbar anstrengenden täglichen Veredeln zu erholen, ganz so, wie dies der Katholik im Fasching tut. Texte des Daoismus sind ! das 道德经 Dào Dé J§ng, Buch vom Weg und der Tugend, ! das 庄子 Zhu~ng Z0, das den Namen des Philosophen trägt, aber nur zum Teil auf diesen zurückgeht, ! das 淮南子 Huái Nán Z0. 道德经 Dào Dé J§§ng, Das Buch vom Weg und der Tugend ist der Haupttext des Daoismus und geht auf 老子 L|o Z0 (Laotse) zurück, der es jedoch nicht selbst verfaßt hat. Es entstand in der Zeit des Konfuzius. Die heute umlaufenden Versionen beruhen auf einem Text von ca. -350, dessen Autor nicht bekannt ist. Eine 1973 bei einer berühmten Ausgrabung (马王堆 M| Wáng Du§) gefundene Version trägt den Titel 德道经 Dé Dào J§ng. 50 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die englische Übersetzung The Way and its Power geht auf Arthur Waley zurück, der 道 dào mit Weg und 德 dé mit quality bzw. virtue übersetzte. Letzteres soll das sein, was die tausend Dinge des Universums ausmacht und ihnen ihre jeweilige Natur und Funktion verleiht. Das 道德经 Dào Dé J§ng ist eines der geheimnisvollsten (oder unsinnigsten?) Bücher der Menschheit und erfreut sich wegen der zahllosen Interpretationsmöglichkeiten bis heute auch in Europa unter Esoterikern großer Beliebtheit. Es betont die Notwendigkeit, die Naturgesetze des Universums zu verstehen; aber nicht um sie naturwissenschaftlich zu nutzen, sondern um in Harmonie mit diesen kreativen und nachhaltigen Kräften zu leben, dem 道 dào, das auch dem Menschen innewohnt, ihn ausmacht. Es ist ein Buch der Paradoxien, das Erleuchtung dem verspricht, der das Wissen zurückweist, Fortschritt dem, der nachgibt und Zufriedenheit dem, der verzichtet. Beispiele (Übersetzung: Ernst Schwarz30) 9. besser ist aufhören denn übererfüllen die klinge immerfort geschärft bleibt nicht lange klinge der saal mit gold und jade vollgestopft ist nicht vor räubern zu bewahren glanz und ehren mit hochmut gepaart ziehn sich selbst ins verderben zurückziehen nach getanem werk so ist das Dau des himmels 30 Laudse, Daudedsching, Leipzig 1978. 51 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 24. wer auf den zehen steht, steht nicht sicher wer große schritte macht, kommt nicht weit wer sich gern selbst zeigt, den übersieht man wer gerne recht behält, den überhört man wer auf verdienste pocht, schafft nichts verdienstvolles wer sich hervorhebt, verwirkt den vorrang im sinn des Dau gesprochen wäre das: schlemmen - nicht essen, stolzieren, nicht gehen und das erweckt bei allen wesen abscheu wer sich ans Dau hält handelt niemals so 36. was man verengen will muß man erweitern was man schwächen will muß man stärken was man stürzen will muß man erheben wo man nehmen will muß man geben das nenne ich: erkennen, ehe sich die dinge geklärt das weiche besiegt das harte der fisch steige nicht aus der tiefe scharfe waffen des staates zeige man nicht dem volke 57. das land regiert man mit regel und maß krieg führt man ohne regel mit list das reich aber erringt man ohne taten woher weiß ich, daß die welt so ist? daher: je mehr verbote um so ärmer das volk 52 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE je mehr scharfe waffen im volk um so wirrer der staat je geschickter die menschen um so mehr seltene waren je mehr gesetze um so mehr diebe und räuber darum sage der weise: ich tue nichts, und das volk wandelt sich von selbst ich verhalte mich still, und das volk findet das maß ich bleibe tatenlos, und das volk gelangt zu wohlstand ich bin begierdelos, und das volk findet zur unverdobenheit 庄子 Zhu~~ng Z00 ist -neben 老子 L|o Z0- der Ur-Typ des Daoisten, dessen Ansichten anti-staatlich, bisweilen anarchistisch sind. Dazu paßte sein Leben, wie es überliefert ist. Richard Wilhelm, der das Werk erstmals ins Deutsche übersetzte, faßt es in seinem Vorwort so zusammen: Sein Leben war vorzugsweise innerlich, doch war er weit entfernt, als Eremit oder Sonderling die Welt zu fliehen. Er war verheiratet, und über das Verhältnis zu seiner Frau sind mancherlei Sagen im Umlauf. Bei ihrem Tod benimmt er sich etwas exzentrisch. Da er keinen Wert darauf legt, als Fürstenknecht sein Brot zu verdienen [vgl. unten, Die Schildkröte] herrschen offenbar in seiner Familie häufig recht dürftige Verhältnisse, doch war diese Misere des Lebens nicht imstande, seine Gelassenheit zu beeinträchtigen. Der Schriftsteller Hermann Hesse schrieb über 庄子 Zhu~ng Z0: Dschuang Dsi ist der größte und glänzendste Poet unter den chinesischen Denkern, soweit wir sie kennen, zugleich der kühnste und witzigste Angreifer des Konfuzianismus. Die Lehre des Laotse freilich lernt man durch ihn wohl fühlen, aber nicht eigentlich kennen, er ist ein beweglicher und farboger Spiegel. Er ist eine zu starke Persönlichkeit, um eigentlich zum Schüler 53 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE und Apostel zu passen, und manchmal macht er mit seiner Beredsamkeit einen fast dialektisch-sophistischen Eindruck. Dafür ist er ein großer Dichter, ein Meister des Gleichnisses, das wir bei Laotse selber durchaus vermissen. Er gibt oft Farben und Lichter, deren Spiel nicht ganz mehr der heiligen Lehre entspricht; aber er gibt auch Fleisch und Blut, wo der reine Geist des Laotse uns unfaßbar wird und entgleitet. Von allen Büchern chinesischer Denker, die ich kenne, hat dieses am meisten Reiz und Klang31. Das 庄子 Zhu~ng Z0 zugeschriebene Werk enthält zahlreiche, einfach verständliche Parabeln und Annekdoten und erfreute sich gerade deshalb großer Beliebtheit im Volk. Nicht selten trösten diese Geschichten die im Leben Gescheiterten (oder die das jedenfalls von sich vermuten) wie zum Beispiel die über den knorrigen Baum (s.u.). Beispiele (Übersetzung: Richard Wilhelm32) Die Schildkröte Dschuang Dsï fischte einst am Flusse Pu. Da sandte der König von Tschu zwei hohe Beamte als Boten zu ihm und ließ ihm sagen, daß er ihn mit der Ordnung seines Reiches betrauen möchte. Dschuang Dsï behielt die Angelrute in der Hand und sprach, ohne sich umzusehen: *Ich habe gehört, daß es in Tschu eine Götterschildkröte gibt. Die ist nun schon dreitausend Jahre tot, und der König hält sie in einem Schrein mit seidenen Tüchern und birgt sie in den Hallen eines Tempels. Was meint Ihr nun, daß dieser Schildkröte lieber wäre: daß sie tot ist und ihre hinterlassenen Knochen also geehrt werden, oder daß sie noch lebte und ihren Schwanz im Schlamme nach sich zöge?+ 31 Zitiert nach: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Diederichs Gelbe Reihe, Köln 1986, ISBN 3-424-00574-6. 32 Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Diederichs Gelbe Reihe, Köln 1986, ISBN 3-424-00574-6, S. 69. 54 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die beiden Beamten sprachen: *Sie würde es wohl vorziehen zu leben und ihren Schwanz im Schlamme nach sich zu ziehen.+ Dschuang Dsï sprach: *Geht hin! Auch ich will lieber meinen Schwanz im Schlamme nach mir ziehen.+ Der knorrige Baum Meister Ki vom Südweiler wanderte zwischen den Hügeln von Schang. Da sah er einen Baum, der war größer als alle anderen. Tausend Viergespanne hätten in seinem Schatten Platz finden können. Der Meister Ki sprach: *Was für ein Baum ist das! Der hat gewiß ganz besonderes Holz.+ Er blickte nach oben. Da bemerkte er, daß seine Zweige krumm und knorrig waren, so daß sich keine Balken daraus machen ließen. Er blickte nach unten und bemerkte, daß seine großen Wurzeln nach allen Seiten auseinandergingen, so daß sich keine Särge daraus machen ließen. Leckte man an einem seiner Blätter, so bekam man einen scharfen, beißenden Geschmack in den Mund; roch man daran, so wurde man von dem starken Geruch drei Tage lang wie betäubt. Meister Ki sprach: *Das ist wirklich ein Baum, aus dem sich nichts machen läßt. Dadurch hat er seine Größe erreicht. Oh, das ist der Grund, warum der Mensch des Geistes unbrauchbar für das Leben ist.+ Schmetterlingstraum Einst träumte Dschuang Dschou, daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein 55 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.33 Weitere Denkrichtungen Neben den bisher dargestellten brachte die chaotische Zeit der Streitenden Reiche noch viele weitere Denk-Schulen hervor, die bis heute weltweit bekannt sind wie zum Beispiel die Schule des 阴阳 y§n-yáng und der damit in Verbindung stehenden Lehre von den 五行 wß xíng Fünf Elementen: 水 shu0 = Wasser, 火 hu4 = Feuer, 木 tß = Holz, 金 j§n = Metall und 土 tß = Erde. Diese Elemente bringt der Experte (Wahrsager) mit anderen Begriffen in Verbindung, woraus ein Netz von Beziehungen entsteht, aus dem Aussagen über Schicksale oder Zustände von Örtlichkeiten etc. gezogen werden. Grundlegend sieht das Zuordnungsund Beziehungsgeflecht (vertikal) so aus: Element Jahreszeit Himmelsrichtung = hu4 > tß ? j§n @ tß Wasser Feuer B xià Holz C chãn Metall D qiã Erde Winter Sommer Frühling Herbst G bi H nán I dÇng J x§ 4 Jahreszeiten Norden Süden M hóng Osten N q§ng Westen O bái Mitte schwarz rot grün/blau weiß gelb Q xián R kß S su~n T x§n U g~n bitter sauer scharf süß < shu0 A dÇng L h‘i Farbe Geschmack salzig EF sì jì K zhÇng P huáng Diese Beziehungen mit wichtigen Körperorganen in Verbindung gebracht bilden die Grundlage der chinesischen medizinischen Diagnostik: Organe 肾 shèn 心 x§n 肝 g~n 肺 fèi 脾 pí Niere Herz Leber Lunge Milz Basis für ihre Entstehung dieser Geheimwissenschaft war das Weis33 Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Diederichs Gelbe Reihe, Köln 1986, ISBN 3-424-00574-6, S. 52. 56 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE sagungsbuch 易经 Yì J§ng, das Buch der Wandlungen, das in ähnlicher Weise mit Kombinationen zweier Elemente (卦 guà) arbeitet, eines durchgehenden und eines unterbrochenen Striches: C a Ableitung der ` b~ guà 8 und BB. BB Sie symbolisieren die Diagramme aus dem bc tài jí Urprinzip. gegensätzlichen Prinzipien, die allen Dingen innewohnen sollen34 und leiten sich aus dem 太及 tài jí Symbol ab, das die gegensätzlichen Urprinzipien 阴 y§n und 阳 yáng in sich vereint: C = 阴 y§n und BB = 阳 yáng (阴 y§n = dunkel, kalt, weiblich und 阳 yáng = hell, licht, heiß, positiv, männlich). Das Ungleichgewicht von 阴 y§n und 阳 yáng in den Dingen (auch im Menschen) bewirkt die Entwicklung, ein zu großes Ungleichgewicht jedoch Chaos bzw. Krankheit. Die Anhänger der Lehre streben nach einem ausgeglichenen Zustand, der 和 hé Harmonie. Die Auffassungen dieser Schule gingen später sowohl in die Philosophie ein wie auch in das volkstümliche chinesische Denken, das mehr dem Aberglauben zuneigt und hier eine unendliche Spielwiese findet. Zu erwähnen ist schließlich noch die Schule des 墨子 Mò Z0 (-470 bis -391?) bzw. 墨翟 Mò Dí. Mò Z0 vertrat die Ansicht, daß alle Menschen gleich seien und dem Willen des Himmels dadurch zu genügen hätten, daß sie die universelle Liebe praktizierten. Alles, was man tue, solle nützlich sein, lehrte 墨子 Mò Z0, verurteilte die Lehre des Konfuzius und predigte Pazifismus. Das Volk solle den Herrschern gehorchen, die freilich dem Willen des Himmels zu folgen hätten. 34 VWXY \] \_ Z[ Z^ Chinesisch: wù bì y4u duì = in den Dingen muß es Gegensätzliches geben bzw.: , dú y§n bù sh‘ng, dú yáng bú zh|ng = wenn es nur Yin gibt, lebt nichts, wenn es nur Yang gibt, wächst nichts. 57 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE DYNASTISCHES CHINA 秦 Qín (-221 bis -207) Die Zeit der Wirren und Kriege endete damit, daß der im Westen gelegene Staat 秦 Qín schließlich auch den letzten der usprünglich sechs Mitbewerber um die Macht ausschaltete und damit ein Gebiet vereinte, das einen Großteil des heutigen OstChina ausmachte. Mit der Konsolidierung seiner Macht ernannte sich der 秦 QínHerrscher im Jahre -221 zum 始皇帝 Sh0 Huáng Dì Ersten dQín, nach der Vernichtung der anderen Kaiser, ein Titel, der bis dahin nur für die lengendäStaaten. ren Wesen der alten Zeit, vor allem den Gelben Kaiser reserviert war. Der Herrscher zeigte damit, in welche Reihe und Tradition er sich stellte 58 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Der neue Staat blieb natürlich nach den bewährten Grundsätzen organisiert, die 秦 Qín groß gemacht hatten, war absolut zentralistisch, vereinheitlichte die Münzen, Schriftzeichen und Wagenspurbreite35, folgte in Herrschaftsdingen den Grundsätzen der legalistischen Denkschule und verwarf weiter die Praxis erblicher Lehensstaaten zugunsten einer einheitlichen Beamten-Verwaltung mit hierarchischer Gliederung (Karriere, nicht Lehensland gab es als Belohnung). Die Stabilität der Herrschaft sollte weiter dadurch gesichert werden, daß andere als die legalistische Denk- und PhilosophieSchulen unterdrückt wurden. Es kam in diesem Zusammenhang zu der berühmten Verbrennung konfuzianischer Schriften und zum 焚书坑儒 fén shã k‘ng rú Begraben bei lebendigem Leib konfuzianischer Lehrer. Pausenlose Feldzüge vergrößerten das Territorium des Zentralstaates, wobei besonderes Augenmerk auch dessen Sicherung gegen von Norden einfallende nomadische Stämme galt. Zu diesem Zweck ließ der Herrscher die bereits vorhandenen Mauern, die die Vorgängerstaaten des neuen Reiches hatten anlegen lassen, zusammenfügen, so daß eine durchgehende Sicherung der nördlichen Grenze entstand. Folgende Dynastien, vor allem die 西汉 X§ Hàn Westlichen Hàn, 隋 Suí, 晋 Jìn, and 明 Míng, bauten diese Sicherung zur berühmten, 5.000 Kilometer langen 万里长城 wàn l0 cháng chéng Großen Mauer aus, dem Wahrzeichen Chinas. Sie erstreckt sich von der heutigen Provinz 黑龙江 H‘ilóngji~ng im Nordosten bis zur im Nordwesten gelegenen Provinz 甘肃 G~nsù. Anscheinend aber waren der Druck, den der Soldaten- und Knebelstaat auf alle Schichten der Bevölkerung ausübte, und die Last der Abgaben für die zahlreichen großen Bauprojekte (darunter das Grab des Kaisers bei der heutigen Stadt 西安 X§=~n) so unerträglich, daß es schon bald nach dem Tod des Ersten Kaisers im Jahre -210 zu Aufständen kam, die seinen nachfolgenden Sohn und 35 Wodurch ein einheitlicher Straßenbau möglich wurde und sich das Transportgewerbe gut entwickeln konnte. 59 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE mit ihm die kaum begonnene Dynastie schon wenige Jahre nach dem Triumph des 秦始皇帝 Qín Sh0 Huáng Dì wieder hinwegfegten. Obwohl die Dauer dieses ersten chinesischen Reiches mit nur vierzehn Jahren eigentlich nicht der Rede wert sein sollte, kann sein Einwirken auf die Entwicklung Chinas und alles Chinesischen kaum überschätzt werden. Im Bewußtsein der Menschen ist 秦 Qín bis heute die Geburtsstunde der Nation (um dieses westliche Konzept hier zu verwenden). Die schauerlichen Grausamkeiten des Ersten Kaisers jagen nicht nur Kindern eine Gänsehaut über, aber sie bewirken doch bis heute auch nationalistischen Stolz und Bewunderung bei den Chinesen, weshalb Star-Regisseur 张艺谋 Zh~ng Yìmóu seinen erfolgreichen Film (2003), der diesen Kaiser behandelt, 英雄 y§ng xióng Der Held nannte. Der ausgegrabene 兵马俑坑 b§ng m| y4ng k‘ng Grab-Vorhof mit Terrakotta-Pferden und Kriegern des 秦始皇帝 Qín Sh0 Huáng Dì-Monumental-Grabes (das selbst noch unberührt und mysteriös unter einem großen Hügel unweit davon liegt) ist heute das Ziel Zehntausender Touristen, die man vielleicht auch Pilger nennen könnnte, soweit sie Chinesen sind. Es darf bei der Einschätzung der Bedeutung von 秦 Qín freilich nicht vergessen werden, daß dieser Staat bereits vor der Reichsgründung -221 lange Zeit auf einem großen Stück des heutigen chinesischen Staatsgebietes bestand und dort sein rigides Herrschaftssystem ausübte. Seine große Bedeutung ergab sich deshalb letztlich doch aus der Dauer dieser Herrschaft und daraus, daß viele Maßnahmen des totalitär-legalistischen Regimes so tief und effizient in das alltägliche Leben der Menschen eingriffen, daß auch nachfolgende Dynastien sie trotz verbaler Verdammung als sehr nützlich beibehielten. Sie übernahmen zum Beispiel: ! das Prinzip des Zentralstaats, der von Beamten, nicht aber von erblichen Lehensfürsten, regiert wurde, und ! eingeteilt war nicht in Fürstentümer, sondern in Verwaltungsbezirke (quasi Provinzen), 60 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE ! die Vereinheitlichung der Schriftzeichen-Schreibweise, ! die Vereinheitlichung der Wagenspuren, ! die Vereinheitlichung der Münzen und vieles andere. d e Links: Unter der Qín-Herrschaft vereinheitlichte Münze, rechts davon die Münzen der vorherigen Einzelstaaten. Rechts oben: Schriftzeichen m| = Pferd der Einzelstaaten, darunter das vereinheitlichte Zeichen. Rechts unten: das duì in der dà zhuàn Großen Siegelschrift (Vor Qín-Schrifttype), Zeichen xi|o zhuàn der Kleinen Siegelschrift ( Qín-Schrifttyp) und die später daraus entwickelte Schrift lì, Vereinfachte Kanzleischrift. ih f gh j 61 d d LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 汉 [汉] Hàn (-206 bis 220) 西汉 X§ Hàn (-206 bis 9) 东汉 DÇng Hàn (23 bis 220) Nur ein kurzer Krieg war nötig, um die Herrschaft des Staates 秦 Qín über das vereinigte Reich schon nach ein paar Jahren wieder zu stürzen. Bewerkstelligt wurde dies -207 von einem Gouverneur des Reiches namens 刘邦 Liú B~ng, dem es gelang, eine Armee um sich zu scharen, den Nachfolger des Ersten Kaisers militärisch zu schlagen und sich schließlich auch gegen seine Helfer durchk Hàn-China. zusetzen und selbst zum Kaiser der neuen Dynastie zu machen. 刘邦 Liú B~ng gilt als der erste Herrscher, der es, aus einfachen Verhältnissen stammend, zum Dynastiegründer brachte. Als solcher wählte er als seinen Kaiser-Namen 高祖 G~o Zß, Ururgroßvater, höchster Ahn = Dynastiegründer. Die neuen Herrscher der 汉 Hàn (206 B.C.-A.D. 220) übernahmen das 秦 Qín-Territorium und richteten sich ihre Hauptstadt in 长安Cháng=~n ein, dem heutigen 西安 X§=~n, das fortan noch des öfteren eine wichtige Rolle als Hauptstadt Chinas spielen sollte. Die 汉 Hàn behielten viel von dem bei, was die vormaligen Herrscher eingeführt hatten, ließen jedoch ein wenig ab von der großen Zentralisierung der 秦 Qín und vergaben in einige Gebiete wieder Lehen. Eine bedeutsamere Kehrtwendung machten sie im Bereich der 62 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE geistigen Grundlagen ihrer Herrschaft, indem sie das konfuzianische Gedankengut zur Staatsdoktrin machten, gemischt allerdings mit Elementen des praktischen Legalismus. Der Ursprung des konfuzianischen Beamtentums liegt in dieser Zeit. Neu war die Einführung eines Prüfungssystems zur Auswahl dieser unentbehrlichen Helfer des Herrschers. Chinas erster und berühmtester Geschichtsschreiber, 司马迁 S§m| Qi~n36 (-145 bis ca. -87) lebte in der 汉 Hàn-Zeit und schrieb seine bis heute berühmten, in China immer wieder nachgedruckten 史记 Sh0jì Historischen Aufzeichnungen (Historical Records), die die Ereignisse chinesischer Geschichte von der 夏 Xià-Zeit angefangen bis zum 汉 Hàn-Kaiser 武帝 Wß Dì (-141 bis -87) erstmals und in detaillreicher Darstellung zusammentrugen37. Die Stabilität der politischen Herrschaft beförderte auch technische Neuerungen. Die Erfindung des Papiers und des Porzellans datieren in diese Zeit. Die 汉 Hàn-Dynastie, aus deren Namen die Chinesen ihre ethnische Bezeichnung 汉族 Hàn zú ableiten, tat einiges, um die Grenzen des Reiches vor allem nach Westen auszudehnen, wo sie bald bis in das Tarim Becken reichten, in der heutigen Provinz 新疆 X§n Ji~ng38, gelegen. So wurde ein relativ sicherer Karawanenweg möglich, auf dem Waren über Zentralasien bis nach Bagdad, and Alexandria (Ägypten) befördert werden konnten. Bekannt ist dieser Weg bis 36 bestehen. Der Nachname ist lm S§m|, einer der wenigen, die aus zwei Silben 37 Eine vollständige englische Übersetzung liegt derzeit nicht vor. Im Verlag Commercial Press Ltd., Hong Kong erschien 1974 eine Auswahl in englischer Sprache unter dem Titel Records of the Historien,übersetzt von Yang Hsien-yi (Yáng Xi~nyì) und Gladys Yang. Der berühmte US-Übersetzer Burton Watson hat mit einer vollständigen Übersetzung begonnen, erschienen sind jedoch bislang nur zwei Bände. nop 38 qrstuv wxy Offiziell: X§n Ji~ng Wéi Wú Œr Zú Zì Zhì Qã Autonomes Gebiet X§nji~ng der Uigurischen Nationalität. 63 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE heute unter dem Namen 丝路 s§ lù Seidenstraße39, denn es war hauptsächlich Seide, die hier bis nach Rom gelangte, das zur 汉 Hàn-Zeit in voller Blüte stand. k _} | z{ ~ Route der in der Hàn-Zeit entstandenen s§ chóu lù Seidenstraße: Von Cháng=~n nach Dùnhuáng, wo sie sich gabelte, und der Hauptstadt weiter nach Westen bis zum Mittelmeer und nach Rom führte. 汉 Hàn-Armeen gelangten am Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts auch nach Vietnam und Korea, wo sie Teile des Gebietes besetzten. Allerdings blieb die Anbindung so entfernt liegender Territorien unsicher. Das einmalige chinesische Institut des 朝贡 cháo gòng Tribusystems sollte hier größere Stabilität bringen: Den Nicht-Chinesen gestattete der Kaiser ihre Autonomie im Austausch für die Anerkennung einer 汉 Hàn-Oberherrschaft. Die Fortdauer der tributären Bindung dokumentierte die periodische Überbringung von Tribut-Geschenken an den Kaiser durch Delegationen aus den so an China gebundenen Gebieten. Nach 200 Jahren stabiler Herrschaft unterbrach ein Mann namens 王莽 Wáng M|ng den Gang der Dinge in den Jahren 9 bis 24. Nach seinem Sturz konnten die 汉 Hàn-Herrscher ihre Macht jedoch wieder restaurieren und weitere 200 Jahre fortsetzen. 王莽 Wáng M||ng In der traditionellen chinesischen Historiographie gilt 王莽 Wáng M|ng als Usurpator, als unrechtmäßiger Herrscher, der die legale Linie (der 汉 Hàn) unterbrach. Allerdings hält man ihm auch be- 39 Den Namen erfand der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts China bereiste und ausführlich beschrieb. Auch die chinesische Bezeichnung beruht auf dieser Namensgebung. 64 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE deutsame Reformen zugute, die darin bestanden, daß er die Texte der alten Philosophen, die unter dem Ersten Kaiser verbrannt worden waren, zur Legitimierung seiner Herrschaft wiederherstellte. 王莽 Wáng M|ng setzte aber auch wirtschaftliche Reformen durch wie die Beseitigung der Sklaverei und vor allem eine Landreform, die die großen Güter unter den Bauern aufteilte. Sogar eine regelrechte Wirtschaftspolitik schreibt man ihm zu, denn er veranlaßte, große staatliche Getreidereserven anzulegen, die in Zeiten der Verknappung verteilt werden konnten und so hohen Preisen entgegenwirkten. Die Wirtschaftsreformen führten indes zu erheblichem Chaos. Nach nur wenigen Jahren sah sich seine Herrschaft überdies der militärischen Opposition der Nachkommen der alten 汉 Hàn-Dynastie gegenüber. Eine Naturkatastrophe, ausgelöst durch Überschwemmungen des 黄河 Huáng Hé Gelben Flusses im Jahre 11 interpretierten landesweit aufständische Bauern, die 赤眉 chì méi Rote Augenbrauen40, im Jahre 18 als Entzug des himmlischen Mandates für 王莽 Wáng M|ng und führten zum Sturz seiner Herrschaft und zur Wiedererrichtung der unterbrochenen 汉 Hàn-Linie. Auch die 汉 Hàn holte freilich das Gesetz aller Dynastien ein: Korruption und andere mit dem himmlischen Mandat unvereinbare Laster griffen am Ende soweit um sich, daß die Herrschaft und ihre Beamten-Helfer die Kontrolle der in den lange stabilen Verhältnissen stark angewachsenen Bevölkerung nicht mehr aufrechterhalten konnten und ihr Regime im Jahre 220 zerfiel. Die 汉 Hàn gelten als die erste wirkliche Dynastie in der chinesischen Geschichte, mit der die traditionellen Werte Chinas verk Seidengewand aus einem Hàn-Grab _ bunden werden, die Kaiser 武帝 nahe der heutigen Stadt Wß Dì in den langen 68 Jahren Chángsh~. 40 Die Bauern hatten ihre Stirn rot angemalt, um von den Regierungstruppen unterscheidbar zu sein 65 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE seiner Regierung (-155 bis -87) zur legitimatorischen Grundlage seiner Herrschaft machte: ! den Konfuzianismus auf Basis der Fünf Schriften, plus ! die deutlichen Vorschriften (Gesetze) der Legalisten sowie ! das Beamtentum mit einem allgemeinen, nicht diskriminatorischen Prüfungssystem als Zugang. Letzteres wurde gegen Ende der östlichen 汉 Hàn, um 220, von 曹丕 Cáo P§, Sohn des 曹操 Cáo Cáo (s.u.) und Herrscher des nördlich gelegenen 魏 Wèi, erstmals eingeführt. Um die Staatsverwaltung zu verbessern, sollten die Kandidaten nur nach ihren Fähigkeiten ausgewählt werden (唯才是举 wéi cái shì jß allein die Fähigkeit hebt hervor, sagte 曹操 Cáo Cáo), weshalb in den Verwaltungseinheiten die hoffnungsvollsten Personen als Kandidaten ausgewählt wurden. 中正 zhÇng zhèng fair sollte das Verfahren sein, Anwärter nur entsprechend ihrer Talente ausgewählt und die Beamtenhierarchie in 九品 jiß p0n neun Grade eingeteilt werden, woraus das System seinen Namen bezog: 九品中正制 jiß p0n zhÇng zhèng zhì - also Faires Auswahlsystem der Neun Grade. Die neun Grade, die fortan, bis zum Sturz des kaiserlichen Systems 1911, die Hierarchie der Beamten bestimmten, lesen sich fast wie ein Bewertungssystem heutiger sogenannter rating Agenturen und waren die folgenden: ! ! ! ! ! ! ! ! ! 上上 shàng shàng = Oberster Oberer 上中 shàng zhÇng = Mittlerer Oberer 上下 shàng xià = Unterer Oberer 中上 zhÇng shàng = Oberer Mittlerer 中中 zhÇng zhÇng = Mittlerer Mittlerer 中下 zhÇng xià = Unterer Mittlerer 下上 xià shàng = Oberer Unterer 下中 xià zhÇng = Mittlerer Unterer 下下 xià xià = Unterer Unterer 66 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Unter dem ersten Kaiser der 隋 Suì-Dynastie (581 - 618) wurde dieses System durch ein dann bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts geltendes Prüfungsverfahren für Beamte (科举制 k‘ jß zhì, s.u.) ersetzt. Ihre hierarchische Einteilung in neun Ränge blieb jedoch erhalten. 67 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 三国 [三国] S~n Guó Die Drei Reiche (220 bis 280) 魏 Wèi (220 bis 265) 蜀 Shß (221 bis 263) 吴 Wú (222 bis 280) Dem Zusammenbruch der 汉 Hàn folgte eine vierhundertjährige Zeit des Chaos, symbolisiert durch das Herrschen sogenannter warlords oder Militärmachthaber. Am Beginn dieser Phase standen die 三国 S~n Guó Drei Reiche, wie der Oberbegriff für die viele Jahre neben S~n Guó, Die Drei Reiche. einander bestehenden Staaten 魏 Wèi im Norden, 蜀 Shß im Süd-Westen und 吴 Wú im Süden lautet. Bis heute berühmt und allen Chinesen präsent ist diese Periode durch den (später entstandenen) volkstümlichen Roman 三国演义 S~n Guó Y|n Yì (Romance of the Three Kingdoms, Die Drei Reiche41), der die endlosen militärischen und politischen Auseinandersetzungen zwischen den Führern dieser Staaten -Helden und Bösewichter- schildert und der chinesischen Bewußtseins-, Geschichtsund Traditionsbildung reichlich Material lieferte, das bis heute in der Bevölkerung sehr lebendig ist. Es sind diese Geschichten von Helden, von Freundschaft, Treue, Loyalität und Feindschaft, Intrigen und Verrat, von Strategien und Kampf, die bis heute den Stoff chinesischer Phantasien und Weltsicht bilden. 41 Im Insel Verlag ist -als Taschenbuch- eine gekürzte deutsche Übersetzung unter dem Titel Die Drei Reiche von Franz Kuhn erschienen. 68 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Neben dem Roman leben die Drei Reiche und ihre positiven und negativen Helden in zahllosen Theaterstücken, volkstümlichen Opern fort: ! 曹操 Cáo Cáo (kluger Bösewicht und Herrscher über das nördliche 魏 Wèi), ! 孙权 Sãn Quán (der kluge Herrscher von 吴 Wú im Osten), ! 刘备 Liú Beì, der edle und legitime Nachfahre der 汉 Hàn und Herrscher im westlichen 蜀 Shß sowie ! dessen Truppenführer, der schlaue Stratege und Berater 诸葛亮 Zhãgé Liàng. Ihre Kämpfe, diplomatischen Winkelzüge, Listen und Intrigen sind in vielen bis heute gebräuchlichen 成语 chéng yß Vier-ZeichenSprichwörtern verewigt. 三国演义, S~n Guó Y|n Yì (Die Drei Reiche) Der Roman gehört zu den bedeutendsten Werken der chinesischen Literatur, im Westen bisweilen mit Homers Illias verglichen, und ist schon immer praktisch jedem Chinesen bekannt, heute entweder durch Lektüre, durch comics, Karten- oder Computerspiele oder eine der vielen Verfilmungen, früher durch zahlreiche Opernstücke. Der Verfasser 罗贯中 Luó GuànzhÇng (etwa 1330 bis 1400) schrieb ihn im 14. Jahrhundert auf Basis der offiziellen Dynastiegeschichte (三国志 S~n Guó Zhì, Verfasser: 陈寿 Chén Shòu) sowie dazugehörender Kommentare und umlaufender volkstümlicher Erzählungen. Die ursprünglich 240 Kapitel wurden im 17. Jahrhundert auf 120 gekürzt. Berühmt ist der im ersten Kapitel (Der Treueschwur im Pfirsichgarten) beschriebene Schwur zwischen dem legitimen Erben der niedergehenden 汉 Hàn-Dynastie, dem Herrscher von 蜀 Shß, 刘备 Liú Beì, und seinen Getreuen 张飞 Zh~ng F‘i und 关羽 Gu~n Yß, ein Ritual das fortan auch in Geheimgesellschaften das Zusammenhalten bis in den Tod symbolisierte. Jeder halbwegs gebildete Chinese kennt auch den ersten Satz 69 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE des Romans auswendig, weil er ein scheinbar historisches Gesetz der chinesischen Geschichte auf den Punkt bringt : Für die Dinge der Welt gilt: Was lange geteilt war, muß vereint werden und was lange vereint war, wird geteilt 说话天下大势,分久必合,合久必分 shuÇ huà ti~n xià dà shì, fèn jiß bì hé, hé jiß bì fèn 魏 Wèi, im Norden, verfügte in der Auseinandersetzung der drei Staaten über die größten Reserven und setzte sich schließlich im Jahre 263 gegen das südwestliche, im heutigen 四川 Sìchuán gelegene 蜀 Shß durch. Die Freude darüber währte allerdings nicht lange unter den Nachfahren des 曹操 Cáo Cáo, denn der Sohn des siegreichen Generals zwang sie alsbald, zu seinen Gunsten abzutreten, womit es zur Gründung einer neuen Herrschaft kam. 70 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 晋 Jìn (265 bis 420) 西晋 X§ Jìn Westliche Jìn (265 bis 316) 东晋 DÇng Jìn Östliche Jìn (317 bis 420) Den neuen Herren gelang es im Jahre 280 auch das dritte der Drei Reiche, den Staat 吴 Wú im Südwesten, zu besiegen und so wieder eine -zumindest äußerlichzentrale HerrDas Gebiet der Jìn (Chin in Wade-Giles-Umschrift). schaft in China zu etablieren. Allerdings scheiterten die neuen Machthaber daran, Institutionen herauszubilden, die ein längeres Überdauern als 晋 JìnDynastie ermöglicht hätten. Das ursprünglich die Fähigkeiten der Beamten-Kandidaten fair bewertende 九品中正制 jiß p0n zhÇng zhèng zhì Prüfungssystem zum Beispiel degenerierte rasch zu einer Möglichkeit für die herrschenden Familien, ihre Angehörigen unterzubringen, womit, sie, durch die Hintertür, einen quasi-Erbadel einführten. Große Ländereien hatte das Herrscherhaus an die Prinzen abgegeben, was unter diesen zu teils blutigen Erb-Auseinandersetzungen führte und der Stabilität des Staates nicht dienlich war. Den Todesstoß versetzten den 晋 Jìn schließlich die zahlenmäßig starken Verbände von 匈奴 xiÇng nú (bisweilen fälschlicherweise als Hunnen übersetzt) Nomaden, die seit längerem auf chinesischem Gebiet angesiedelt worden waren, um so ihre dauernden Einfälle zu verhindern. Sie dienten oft als militärische Hilfstruppen und erhoben sich schließlich gegen die 晋 Jìn. 71 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Im Jahre 311 besetzten sie die Hauptstadt 洛阳 Luòyáng und 316 auch 长安 Cháng=~n. Die nächsten hundert Jahre lang verwandelten die (teils sinisierten) Nomaden das Land nördlich des Jangtse in ein einziges Schlachtfeld Während der X§ Jìn vorgenomme Ansiedlungen wie der XiÇng Nú inGrenz-/Nomadenvölker mit den entsprechen- außerchinesischer chinesischem Kerngebiet. den Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft. Eine große Anzahl der herrschenden 晋 Jìn flüchtete ins südliche 南京 Nánj§ng (damals: 健康 Jiànk~ng) und gründete dort eine Art Exilregierung, die 东晋 DÇng Jìn Östliche Jìn-Herrschaft. 72 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 南北朝 Nán Bi Cháo Südliche und Nördliche Dynastien (420 bis 581) 南朝 Nán Cháo Südliche Dynastien 宋 Sòng (420 bis 479) 齐 Qí (479 bis 502) 梁 Liáng (502 bis 557) 陈 Chén (557 bis 589) 北朝 Bi Cháo Nördliche Dynastien 北魏 Bi Wèi (386 bis 534) 东魏 DÇng Wèi (534 bis 550) 西魏 X§ Wèi (535 bis 557) 北齐 Bi Qí (550 bis 577) 北周 Bi ZhÇu (557 bis 581) Vier weitere sogenannte Dynastien folgten ab 420 der Östlichen 晋 Jìn in 南京 Nánj§ng: ! ! ! ! 宋 Sòng (420 bis 479), 齐 Qí (479 bis 502), 梁 Liáng (502 bis 557) und 陈 Chén (557 bis 589)42 allesamt als 南朝 Nán Cháo Südliche Dynastien bezeichnet. Als Gründer traten immer Generäle in Erscheinung, die ihre Herrschaft jedoch nur solange aufrechterhalten konnten, wie sie sich persönlich darum kümmerten. Es gelang ihnen nicht, eine Erbfolge für die Zeit nach ihrem Tod zu sichern. Die Stärke der landbesitzenden Aristokratie war die hauptsächliche Ursache für diese Diskontinuität. Es hatten sich mächtige Familien gebildet, die anhand von Stammbäumen ihre Bedeutung nachwiesen, nur untereinander heirateten und ihre Abkömmlinge 42 Die Darstellung folgt weitgehend: Patricia Buckley Ebrey, China, Cambridge Illustrated History, Cambridge University Press, 1999, S. 90ff. Das Buch ist auch ins Chinesische übertragen und im Frühjahr 2001 im Verlag erschienen (ISBN 7-80603-493-5/K 115). 73 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE im Rahmen des 九品中正制 jiß p0n zhÇng zhèng zhì des NeunGrade-Beamtensystems in den wichtigsten Ämtern unterbrachten. In den Augen dieser Familien waren die Herrscher-Generäle nur Emporkömmlinge, gegen die sie ihre eigenen Interessen recht gut durchzusetzten vermochten. Allerdings bewahrten diese gentryFamilien sich und dem Land die in der 汉 Hàn-Zeit ausgebildete chinesische Kultur, so daß diese, nicht zuletzt in dem Beamtensystem, fortbestehen konnte. Für Südchina hatte die Einrichtung der Hauptstadt in 南京 Nánj§ng einen vorteilhaften Einfluß auf die Entwicklung seiner Wirtschaft und Gesellschaft, denn die Herrscher mußten ein System einführen, das es ihnen erlaubte, die nötigen Mittel zur Aufrechterhaltung eines höfischen, zivilen wie militärischen dynastischen Lebens aufzubringen. 北朝 Bi Cháo Nördliche Dynastien Im Norden kämpften derweil zahlreiche Militärmachthaber um die Vorherrschaft, bis sich schließlich in der Mitte des 5. Jahrhunderts ein aus der Mandschurei (heutiger Nordosten Chinas) -also von außerhalb des chinesischen Gebietes- stammender Clan durchsetzte und in der heutigen Provinz 山西 Sh~nx§ die sogenannte 北魏 Bi Wèi Nördliche Wèi-Dynastie gründete, um von dort aus immer größere Teile chinesischen Gebietes unter ihre Kontrolle zu bringen. Wie im Süden so stellte sich auch hier alsbald das Problem, mit Hilfe von Steuern und ausgebildeten Beamten die staatliche Herrschaft zu sichern, was der mandschurische Stamm nicht ohne die Hilfe der auch zahlenmäßig weit überlegenen Chinesen bewerkstelligen konnte. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts sahen sich diese Machthaber jedoch bereits als echte Chinesen, beriefen sich auf die 汉 Hàn und verlegten ihre Hauptstadt weiter südlich, nämlich in das immer noch zerstörte 洛阳 Luòyáng, das sie wieder aufbauen ließen. Rebellen und aufständische Grenztruppen beendeten die Dynastie, besetzten 洛阳 Luòyáng und massakrierten 2.000 Beamte. Nach Jahren des Chaos bildeten sich zwei neue Herrschafts74 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE zentren aus, die sich Mitte des 6. Jahrhunderts als 北齐 Bi Qí Nördliche Qí und 北周 Bi ZhÇu Nördliche ZhÇu bezeichneten. Letztere eroberten alsbald im Süden das Gebiet der heutigen Provinz 四川 Sìchuán und zerstörten 577 auch die 北齐 Bi Qí Nördliche Qí, so daß Nordchina wieder vereint war. Allerdings usurpierte schon wenige Jahre später (581) ein General den Thron. Er vernichtete in der Folge auch den noch im Süden gelegenen Staat 陈 Chén und nannte seine Herrschaft fortan 隋 SuìDynastie. 75 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 隋 Suì (581 bis 618) Nur knapp vier Jahrzehnte hatte die 隋 Suì-Dynastie das Mandat des Himmels. Sie tat sich durch eine allzu tyrannische Herrschaft und eine überdurchschnittliche Ausplünderung der Bevölkerung hervor. Letztere mußte beim Bau riesiger Projekte zwangsHerrschaftsgebiet der Suì-Dynastie (rot). weise mitarbeiten wie dem 大运河 dà yùn hé Großen Kanal, der in den Jahren 605 bis 609 zwischen 洛阳 Luòyáng und 扬州YángzhÇu am Jangtse gegraben wurde43, und beim Wiederaufbau der Großen Mauer. Kostspielige und nicht erfolgreiche militärische Expeditionen nach Korea im frühen 7. Jahrhundert besiegelten schließlich das Schicksal der 隋 Suì auf die traditionelle Weise: Aufstände, Illoyalität, Mord. Wegen der Grausamkeit des dà yùn hé Großen zweiten Herrschers verglei- Verlauf des Kanals von Ji~ngdã (heute: chen Chinesen die 隋 Suì häuYángzhÇu) nach Luòyáng. 43 Später erfolgte eine Verlängerung nach Süden bis nach und Norden bis kurz vor Peking. 76 HángzhÇu LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE fig mit dem Regime des Ersten Kaisers. Wie diesem wird den 隋 Suì jedoch positiv angerechnet, das Land, nach der dreihundertjährigen, auf die 汉 Hàn folgende Zerfallsperiode (三国 S~n Guó Drei Reiche, 晋 Jìn , 南北朝 Nán Bi Cháo) erstmals wieder geeint zu haben. Insofern wird die Dynastie vor allem als eine gesehen, die der folgenden ihre Grundlagen schuf, so daß diese -neben den 汉 Hàn- als eine der bedeutendsten in das chinesische Geschichtsbewußtsein eingehen konnte, die 唐 Táng. 77 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 唐 Táng (618 bis 907) Ein Statthalter aus der bedeutenden Garnisonsstadt 太原 Tàiyuán (heute Provinz: 陕西 Sh~nx§) namens 李渊 L0 Yu~n stürzte schließlich den 隋 Suì-Herrscher und begründete mit sich selbst als erstem Kaiser und unter dem Namen 高祖 G~o Zß die neue Dynastie, die er 唐 Táng nannte. Historiker sehen die 唐 Táng mit ihrer Hauptstadt 长安 Cháng=~n gemeinhin als einen Höhepunkt der Táng-China. chinesischen Geschichte an, gleichrangig mit der 汉 Hàn-Zeit oder ihr womöglich noch überlegen. Das den 唐 Táng anfangs gehörende Staatsgebiet dehnten die ersten Herrscher durch militärische Expansion noch über die 汉 Hàn-Grenzen hinweg aus. Intensive Außenkontakte beförderten das Hereinkommen neuer Güter, Kulturen und Religionen wie des Buddhismus aus Indien (wo er zu Zeiten des Konfuzius entstanden war), ja sogar christlichen Gedankengut aus dem Nahen Osten (Nestorianer). Buddhismus Schon im 2. Jahrhundert hatte der 佛教 fó jiào Buddhismus, aus Indien kommend über zentralasiatische Königreiche Eingang in China gefunden (mit 长安 Cháng=~n und 洛阳 Luòy~ng als Zentren). Einer der bis heute bei Alt und Jung beliebtesten Romane, 西 游记 X§ Yóu Jì Die Reise nach dem Westen, erzählt die sehr aben78 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE teuerliche, von zahllosen Geistern bevölkerte Geschichte des Mönches 唐僧 Táng S‘ng und seiner Begleiter (zu denen der Affenkönig 孙悟空 Sãn WùkÇng gehört, der, weil er im 天 Der Weg des Buddhismus nach Osten: aus Indien 宫ti~n gÇng Him (damals: ti~n zhú) über die zentralasiatischen Regionen nach Cháng=~n. melspalast Chaos angerichtet hatte, zur Bewährung auf die Erde verbannt worden war), die die heiligen buddhistischen Schriften aus Indien nach China brachten. Unter den chaotioschen Bedingungen einer nicht vorhandenen Zentralmacht mit verbindlicher Staatsideologie, wie dies so lange während der Zeit der Drei Reiche, der 晋 Jìn und der Nördlichen und Südlichen Dynastien der Fall gewesen war, konnte sich der von außen kommende Buddhismus konkurrenzlos ausbreiten. Vielleicht fand er auch gerade deshalb so starken Halt, weil er sich in diesen unruhigen und möderischen Zeiten mit den Fragen des Leidens und des Todes befaßte wie sonst keine andere Glaubensrichtung im Land. Bereits zu Beginn der 唐 Táng-Herrschaft gab es eine riesige Anzahl von buddhistischen Klöstern und Mönchen überall im Land. Der Bevölkerung fiel es auch deshalb leicht, im Buddhismus eine Abart des weit verbreiteten und beliebten 道教 dào ji~o Daoismus zu sehen, weil die Übersetzer der fremden (indischen) Schriften bereits bekannte daoistische Begriffe verwendeten, um buddhistsche Aussagen ins Chinesische zu übertragen. Hinzu kam, daß ja der chinesische Volksglaube über den 道教 dào ji~o Daoismus bereits eine große Affinität zum Mystischen hatte, was die Aufnahme des Budhismus ebenso erleichterte wie die Eigenart der Chinesen, alles, was sie anspricht, aufzunehmen, mit den vorhandenen Dingen zu mischen und alles zusammen dann fried79 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE lich nebeneinander weiterbestehen zu lassen. (Europäer bezeichnen dies heute vielfach als pragmatisch und sehen es als positiv. Vielleicht trug dieser Volkscharakter der Chinesen entscheidend dazu bei, daß sie in Religionssachen nie missionarisch oder intolerant auftraten und in Religionskriegen aufeinander losgingen.) Der wohl größte Lehrer des Buddhismus in China war 慧远 Huì Yu~n (334 - 416), der vor seinem Übertritt in den konfuzianischen wie daoistischen Schriften ausgebildet worden war. Er gründete zu Beginn des 5. Jahrhunderts ein Kloster und baute sich eine Anhängerschaft auf, die er in den buddhistischen Konzentrationstechniken unterrichtete. Von ihm stammt das Werk Warum sich Mönche nicht vor Königen verbeugen44, das die neue Lehre auf Staatsferne halten sollte. Allerdings suchte 慧远 Huì Yu~n alsbald den deshalb mißtrauischen Machthabern die neue Lehre dadurch akzeptabel zu machen, daß er betonte, Buddhisten seien wegen ihrer Glaubensziele gute Untertanen. Im Unterschied zum europäischen Christentum bietet der Buddhismus seinen Gläubigen keinen Gott an, der ihnen -bei Einhaltung seiner Regeln im Leben- nach dem Tode eine Belohnung in Form des ewigen Lebens im Paradies zukommen läßt. Höchstes Ziel des Buddhismus ist -im Gegenteil- das vollständige Verschwinden aus allem Dasein, der Eingang ins Nirwana. Dieses Ziel kann jedoch nur erreicht werden, lehrte der erste (Gautama) Buddha, wenn der Mensch allen sinnlichen Genüssen entsagt. Wem das in seinem Leben nicht gelinge, der werde immer wieder geboren - auch in Gestalt von Tieren. Aus letzterem folgen für die Buddhisten die unbedingte Achtung aller Lebewesen, Tiere eingeschlossen, und vegetarische Diät. Besonders zu verehren seien die Bodhisattvas, buddhistische Heilige, die aufgrund ihres makellosen Lebens wohl in das Nirvana eingehen könnten, auf dieses höchste Ziel aber uneigennützig verzichteten, um anderen Menschen zu helfen. 44 ¡¢£¤¥¦ sh~ mén bú jìng wàng zh lún. 80 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Wirtschaft und Gesellschaft Die politische Einigung, feste standardisierte und codifizierte Herrschaftsstrukturen, der 唐律 Táng Lǜ Gesetzescode von 653 mit ca. 500 Artikeln (Strafen für bestimmte Vergehen), sowie eine große Offenheit der 唐 Táng-Herrscher nach außen bewirkten einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Dazu trug die Öffnung des Großen Kanals als Nord-Süd-Verkehrsweg ebenso bei wie der beträchtliche, über die Seidenstraße abgewickelte Handel mit der Welt im Westen. Tee, im Süden des Landes angebaut und dort bis dahin eher als wachhaltende Medizin angesehen, entwickelte sich zum allgemeinen chinesischen Getränk der Zeit. Die Küstenstädte 广州 Gu|ngzhÇu (Kanton) im Süden, 泉州 QuánzhÇu und 福州 FúzhÇu im Osten wurden zu bedeutenden Start- und Anlaufhäfen für den Überseehandel mit Südostasien und den arabischen Ländern. Wegen der großen chinesischen Furcht vor dem Meer, blieb der jedoch weitgehend in der Hand von Arabern. Eine der sogenannten Vier Großen Erfindungen45 fällt in die 唐 Táng-Zeit, der 雕版印刷 di~o b|n yìn shu~ Blocksatz bzw. druck. Die Zeichen einer ganzen Buchseite wurden in Spiegelschrift auf Holzplatten gekerbt, mit denen man dann Papierbögen bedruckte. So konnten die Chinesen bereits ª«¬ Buchdruck während der relativ schnell große BuchTáng-Zeit: Papierbögen werden auf die auflagen drucken, als in EuroHolztafel mit den eingekehrbten Zeichen pa wenige Einzelexemplare gepreßt. noch mühsam und zeitraubend von Hand geschrieben wurden. Nicht zuletzt deshalb wurde die 唐 45 §¨© sì dà f~ míng, dazu gehören die Erfindungen des Papiers, des Drucks, des Kompasses und des Pulvers. Chinesen sind darauf heute besonders stolz, weil diese Dinge in Europa erst später aufkamen und nehmen gerne für sich in Anspruch, sie der Welt sozusagen geschenkt zu haben. 81 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Táng-Zeit auch zu einer, in der die bis heute bedeutendsten chinesischen Dichter lebten wie 李白 L0 Bái (701 - 762) und 杜甫 Dù Fß (712 - 770). Eine Zeile aus einem bekannten Gedicht dieser beiden auswendig aufgesagt, dürfte jedem Ausländer den dann chinesischerseits sicher ehrlich gemeinten Ehrentitel 中国通 ZhÇng Guó tÇng old China hand einbringen. Die 唐 Táng-Dynastie gilt als kultureller Höhepunkt des Kaiserreiches, China wurde in dieser Zeit das bedeutendste Land Asiens. Seine starke Anziehungskraft und die Weltoffenheit der 唐 TángHerrscher brachten erstmals auch zahllose Ausländer nach China, die sich meist in der Hauptstadt 长安 Cháng=~n niederließen und dort ihre eigene Kultur verbreiteten: Araber, Perser, Japaner, Türken, Tibeter, Koreaner, ja selbst aus dem Nahen Osten kommende Christen, die Sekte der Nestorianer. Seine Blütezeit erlebte 唐 Táng-China unter vier Herrschern, ! dem zweiten Kaiser 太宗 Tài ZÇng (626 bis 649), ! seinem Nachfolger 高宗 G~o ZÇng (649 bis 683), ! der einzigen Kaiserin, die jemals auf dem chinesischen Thron saß, 武则天 Wß Zéti~n (690 bis 705), und ! ihrem Enkel, Kaiser 玄宗 Xuán ZÇng (712 bis 756). Der letztere, 玄宗 Xuán ZÇng, freilich markierte wohl den Höheund Wendepunkt der Dynastie. Im Alter von 60 Jahren verliebte er sich noch so heftig in eine seiner vielen Frauen (er hatte 30 Söhne und 29 Töchter gezeugt, heißt es), die Kurtisane 杨贵妃 Yáng Guìf‘i46, daß er auch wichtigere Dinge des Staates nicht mehr ernst nahm. 杨贵妃 Yáng Guìf‘i aber unterhielt derweil auch gute Beziehungen zu 安禄山 }n Lùsh~n, einem Militärgouverneur nicht-chinesischer Herkunft. Der total verliebte Kaiser überließ diesem, vermittelt durch seine Kurtisane 杨贵妃 Yáng Guìf‘i, große Kompetenzen, wies ihm gar immer mehr Truppen zu, und so kam, was kommen mußte: Im Jahre 755 rebellierte 安禄山 }n Lùsh~n 46 ­® f‘izi = kaiserliche Konkubine. 82 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE und marschierte mit 160.000 Mann eigener Truppen auf 洛阳 Luòyáng und dann die Hauptstadt 长安 Cháng=~n. Der Kaiser floh nach 成都 Chéngdã, wurde von seinen loyalen Truppenführern jedoch zunächst gezwungen, 杨贵妃 Yáng Guìf‘i eigenhändig zu erwürgen. Darüber zerbrach der mittlerweile 70jährige alte Mann, dankte ab und überließ einem Sohn das Regieren. Auch in China war das ein Stoff, aus dem Theaterstücke und Opern gemacht wurden. Wie bekannt die Geschichte des verliebten Kaisers auch heute noch ist, beweist der Internet-Suchdienst google, der fast 40.000 Treffer für das Stichwort 杨贵妃 Yáng Guìf‘i anzeigt. Das 科举制 k‘ jß zhì Prüfungssystem für Beamte Die 唐 Táng perfektionierten auch das System der Beamtenprüfungen, das von nun an 科举制 k‘ jß zhì genannt wurde. Die Herrscher waren sich im klaren darüber, daß nur ein stark zentralisierter Staatsapparat, den gut ausgebildete Beamte als Helfer des Herrschers -auch in den entfernten Provinzen- am Laufen hielten, ihnen die Macht gegenüber den weiter starken Aristokraten-Familien und Generälen bewahren konnte. Das festgelegten Regeln folgende System erwies sich dabei auch als gutes Mittel, auseinanderstrebende Interessen der Aristokratenfamilien im Norden und Süden im Sinne des Zentralstaates zusammenzuhalten, indem es keinem von ihnen ein Übergewicht verschaffte. Die 官 gu~n höheren Beamten (auch: Mandarine von mandare, portugiesisch für anweisen) waren das Herrschaftspersonal des kaiserlichen China. In Europa kannte man diese Einrichtung noch nicht. Hauptzweck der Rekrutierung von Beamten durch anonyme, hierarchisch abgestufte Prüfungen, an denen sich jeder beteiligen konnte, war es, einen Zerfall des Herrschaftssystems zu vermeiden, wie es bei erblichen Titeln (Lehenssystem in Europa) zu befürchten stand. Die jahrhundertelange Praktizierung dieses Systems der Auswahl und hierarchischen Einsetzung von Herrschaftspersonal erzeugte eine ständig bereitstehende, Dynastien, ja selbst Fremdherrschaften überdauernde Beamtenschaft. Sie garantierte letztlich die große Kontinuität des chinesischen Staates. Schon die 汉 Hàn hatten damit begonnen, ein System von 对策 83 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE duì cè Tests zu praktizieren, um unter den Besten des Landes die Herrschaftshelfer auszuwählen. Der Inhalt der Prüfungen bezog sich dabei auf das Wie des Regierens gemäß den Aussagen in den klassischen Schriften. Die Zeiten der Tests waren jedoch unregelmäßig. Die 晋 Jìn etablierten dann mit dem 九品中正制 jiß p0n zhÇng zhèng zhì Neunstufen-Auswahlsystem ein etwas elaborierteres Verfahren, um die besten Staatsdiener zu ermitteln. Die 唐 Táng nun bauten das Prüfungssystem weiter aus und unterschieden auch zwischen Prüfungen für die Auswahl von 文官 wén gu~n zivilen Mandarinen und 武官 wß gu~n, solchen für den militärischen Bereich. Die Prüfungen fungierten wie Siebe, wurden in festen Zeitabständen und hierarchisch abgestuft auf Kreis-, Provinzund Zentralebene (bis zur Abschaffung des Systems im Jahre 1905) abgehalten und standen unter der zentralen Kontrolle des kaiserlichen 吏部 lì bù, Personalministerium, später des 礼部 l0 bù, Ministerium für Riten. Die beliebtesten Abschlüsse waren Beamtenprüfung in der ¯ Sòng-Zeit. der ! 秀才 xiù cai = Grad und Titel der Prüfung auf Kreisebene, ! 进士 jìn shì = Grad und Titel der zentralen kaiserlichen Prüfung in Peking, ! 明经 míng j§ng = Gelehrter der klassischen Texte, ! 明法 míng f| = Gelehrter des Rechtswesens, ! 明算 míng suàn = Gelehrter der Mathematik. Das höchste Ansehen genossen die 进士 jìn shì und die 明经 míng j§ng. Normalerweise fanden die Prüfungen jährlich statt. Bis zu 2.000 Bewerber beteiligten sich daran, von denen etwa 1 Prozent bestand und beim Staat angestellt wurde. 84 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die Rebellion des 安禄山 }n Lùsh~n, die nach seinem Tod sein Nachfolger 史思明 Sh0 Sìmíng fortführte47, war der Wendepunkt für die 唐 Táng, von nun ab ging es in der üblichen Weise mit Korruption und wirtschaftlichem Chaos rasch bergab: Mitte des 8. Jahrhunderts zeigten militärische Niederlagen unter anderem gegen arabische Heere im Westen, in Zentralasien, den Anfang vom Ende der 唐 Táng-Herrlichkeit an. Der folgende wirtschaftliche Niedergang brachte dann das Aus für Weltoffenheit und religiöse Toleranz: Fremdenfeindlichkeit begann sich zu regen und Buddhisten und andere Religionen wurden um 841 teils arger Verfolgung ausgesetzt, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen: Die Klöster waren reich, der Kaiser jedoch mittlerweile arm. Das Ende der 唐 Táng begann sich um 860 abzuzeichnen, als die erste große Hungerrevolte von Bauern in der Küstenprovinz 浙江 Zhèji~ng ausbrach. Eine weitere folgte 874, der sich später sogar Kaufleute anschlossen. Einer der führenden Aufständischen, 黄巢 Huáng Cháo, eroberte und brandschatzte 广州 Gu~ngzhÇu (Kanton). Anschließend führte er sein Heer -augestattet mit den Schätzen dieser reichen Handelsstadt- nach Norden, wo er 880 die mächtige Hauptstadt 长安 Cháng=~n (das heutige 西安 X§=~n) vollständig zerstörte, die nach der Flucht des Kaisers dort verbliebenen Angehörigen des Herrscherhauses umbrachte und sich selbst zum Kaiser machte. 黄巢 Huáng Cháo war so der erste Führer einer Bauernrevolte, dem das gelang. In der offiziellen Geschichtsschreibung Chinas gilt er heute als Held. Die machtlosen 唐 Táng-Herrscher suchten während dieser Zeit ihr Heil in militärischer Zusammenarbeit gegen die Aufständischen mit nicht-chinesischen Turk-Stämmen, konnten ihr Ende damit aber nicht aufhalten, sondern wurden schließlich, nach fast 300jähriger Herrschaft, von einem ihrer barbarischen Bündnispartner endgültig beseitigt. China verfiel erneut in eine Zeit der politischen Zersplitterung. 47 Daher der Name °±² }n Sh0 zh§ luàn, das }n Sh0 Chaos. 85 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 五代十国 Wß Dài Shí Guó Fünf Dynastien und Zehn Staaten (907 bis 960) 后梁 Hòu Liáng (907 bis 923) 后唐 Hòu Táng (923 bis 936) 后晋 Hòu Jìn (936 bis 947) 后汉 Hòu Hàn (947 bis 950) 后周 Hòu ZhÇu (951 bis 960) Der Zerfall der 唐 Táng-Herrschaft hinterließ ein staatliches Chaos in Form mehrerer, zeitlich aufeinanderfolgender sogenannter Dynastien, die sich teils die Namen angesehener Vorgänger gaben, um sich so einen Schein von Legitimität zu verschaffen. Der gesamte Norden Chinas wurde in dieser Zeit von militärischen Auseinandersetzungen geprägt. Bedeutsam war die vertragliche Abtretung von sechzehn Präfekturen innerhalb der Großen Mauer also im chinesischen Kernland- an das mongolische Reitervolk der ³´µ¶ - ein zersplittertes China. Khitan, die dadurch, praktisch ins chinesische Haus geholt, eine gute (Taiwan, hier als ·¸ Liú Qiú, gehörte damals jedoch nicht zu Basis für die spätere Eroberung China.) weiterer chinesischer Gebiete erhielten, was 916 schließlich zur Errichtung der 辽 Liáo-Dynastie (s.u.) führte Die Kultur und große Teile der politischen Herrschaftstechniken der 唐 Táng blieben jedoch in Nordchina und im -wie meist- ruhigeren Süden in den Köpfen vieler Menschen präsent und erwiesen sich so als stabiliserende, die chaotischen Zeiten überdauernde und China eine Identität stiftende Erbschaft. 86 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 宋 Sòng (960 bis 1279) 北宋 Bi Sòng Nördliche Sòng (960 bis 1127) 南宋 Nán Sòng Südliche Sòng (1127 bis 1279) Im Jahre 960 etablierte sich eine neue Macht, der die Einigung des zersplitterten Landes gelang, die 宋 Sòng (960 1279). Allerdings teilte sich, wegen im Norden einfallender Nomaden, diese Herrschaft nach bereits etwa 150 Jahren in eine 北宋 Bi Sòng Nördliche Sòng, (960 - 1127) und eine 南宋 Nán Sòng Südliche Sòng (1127 1279). Den Gründern der 宋 Sòng gelang es, wieder eiSong China. ne effektive Verwaltung durch zivile Beamte aufzubauen. Damit banden sie die regionalen Aristokratenfamilien und Generäle an sich und die Zentrale und stabilisierten so ihre Herrschaft. Dies führte zu einer bemerkenswerten Entwicklung städtischer Geschäftszentren im Reich, geprägt von Handel und Produktion, Märkten und einer -neben den Mandarinen, Grundbesitzern und Bauern- neuen gesellschaftlichen Schicht, den Kaufleuten. Mit der Zunahme und Ausbreitung des Handels über das gesamte Herrschaftsgebiet, spielten die Kaufleute eine zunehmend selbstbewußte Rolle. Die neue Klasse wollte Einfluß nehmen und organisierte sich in den größeren Städten im Rahmen von ersten 行会 háng huì Gilden, Vorläufer der 商会 sh~ng huì Kammern, die dem Staat gegenüber die Interessen der Mitglieder zum Beispiel an niedrigen Steuern wahrnahmen. 87 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die starke wirtschaftliche Entwicklung brachte neue Gewerbe wie Makler und Lagerhaus-Vermieter und bislang nicht dagewesene Unternehmensformen hervor, wie zum Beispiel Partnerschaften oder gar die Trennung zwischen Eigentümer und FirmenManagement. Das Kreditgewerbe wuchs so mächtig, daß ein schon zu 唐 Táng-Zeiten bestehendes 纸币保险 zh0 bì b|o xi|n Zertifikat-System, das ein Herumtragen schwerer Metallmünzen durch QuasiPapiergeld überflüssig machte, unter den 宋 Papiergeld-Zertifikat Sòng weiterentwickelt der Nördlichen ... werden konnte: Zunächst erhielten einige Geschäfte ein Monopol zur systematischen Herausgabe solcher MünzErsatz-Zertifikate, für die jeweils Metallgeld ... und Südlichen ¯ hinterlegt werden mußte. Im Jahre 1120 nahm Sòng. der Staat dies in die eigenen Hände und begann mit der weltweit ersten Ausgabe von Papiergeld. Kulturell knüpften die 宋 Sòng an alles an, was für die 唐 Táng einen hohen Stellenwert gehabt hatte, und verfeinerten es. Das Menschen-Ideal war der Gelehrte, der Dichter, Maler, 书 法家 shã f| ji~ Kalligraph und Staatsmann in einer Person. Die Intellektuellen wandten sich erneut den konfuzianischen Klassikern und den idealisierten Gesellschaften des Altertums zu (wie es ein paar Jahrhunderte später, in der Renaissance auch in Europa geschah). Der Buddhismus blieb weitgehend als fremd und unchinesisch verfemt. Stattdessen entwickelten Philosophen wie 朱憙 Zhã X§ (1130-1200) eine neue Staatsideologie, den Neo-Konfuzianismus, die in typisch chinesischem Pragmatismus das anti-metaphysische konfuzianische mit dem metaphysischen daoistischen und buddhistischen Gedankengut kombinierte, und zu jener, bis zum Ende des dynastischen China im 20. Jahrhundert vorherrschenden rigiden 88 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Staatsdoktrin machte, die für die Herrschenden den Vorzug hatte, daß sie den Untertanen klarmachte, wer (zurecht) oben und wer (zurecht) unten war, wer befahl und wer zu gehorchen hatte, wer bestellte und wer zahlte. Die 宋 Sòng-Einigung Chinas erfolgte unter 赵匡胤 Zhào Ku~ngyìn, einem General der 后周 Hòu ZhÇu Späteren ZhÇu (siehe oben, Fünf Dynastien), der sich als 太祖 Tài Zß zum ersten 宋 Sòng-Kaiser (960-976) machte, nachdem er die anderen Herrscher Zug um Zug ausgeschaltet und eine Zentralmacht im chinesischen Stil (mit Literaten-Beamten, die aus den üblichen Prüfungen hervorgingen) aufgerichtet hatte. Der erste 宋 Sòng-Kaiser 太祖 Tài Zß bezog auch den Süden in das Einigungswerk ein, statt seine Kräfte ausschließlich im Norden gegen die Nomaden oder die Khitan aufzureiben und erreichte so eine erneute Einigung des chinesischen Reiches. Hauptstadt der Dynastie wurde 开封 K~if‘ng (heute Provinz 河南 Hénán), das sich, was seine Größe anlangte, bald mit der 唐 Táng-Hauptstadt 长安 Cháng=~n messen konnte, und sich wie jene bald zu einem bedeutenden Handelszentrum entwickelte. Die Jurchen, ein Vorläufervolk der Mandschus, die 1644 China eroberten und die letzte dynastische Herrschaft, die 清 Q§ng, errichteten, vertrieben die 宋 Sòng 1127 aus Nordchina und auch ihrer Hauptstadt 开封 K~if‘ng. Wie andere Dynastien zuvor setzten die geflohenen 宋 Sòng-Herrscher ihr Regime für noch einmal 150 Jahre vom südöstlich am Meer gelegenen 杭州 HángzhÇu aus wenigstens über Südchina fort, bevor sie von den Mongolen (siehe unten) endgültig auch dort entmachtet wurden. Das Trauma des 唐 Táng-Niedergangs verursachte unter den 宋 Sòng-Mandarinen eine große Debatte darüber, welche Grundlagen ein Staat haben müsse, damit er fest und beständig sei. Befördert wurde sie durch ein sehr offenes kulturelles Klima und eine bis dahin ungekannte Beschäftigung mit der Geschichte Chinas aber auch naturwissenschaftlichen Gegebenheiten und der Mathematik. Der bereits verbreitete Buchdruck erlebte durch neu aufgekommene Techniken einen weiteren Aufschwung, was sich wiederum sehr befruchtend auf die intellektuelle Auseinandersetzung auswirkte. 89 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Der 宋 Sòng-Staat scheint im Vergleich zu den vorangegangenen Dynastien, jedenfalls bis zur Flucht vor den einfallenden Jurchen, auch ein recht hohes Maß an Objektivität und Klarheit in der Herrschaftsorganisation gehabt zu haben. Die zentrale Macht über das Reich sicherte ein Netz von Informations-, Kommandound Kontrollstellen. Am Hof war die Herrschaftsausübung so gestaltet, daß die klassischen Intriganten (Eunuchen, Günstlinge, Kaiserin, Kurtisanen und Anhang) nicht so einflußreich waren wie sonst. Der Kaiser saß einem Staatsrat aus fünf bis neun Mitgliedern vor, auf den sogar Außenstehende mit Vorschlägen und Kritik einen gewissen Einfluß nehmen konnten. Das Steuersystem war effektiv, beschränkte sich nicht nur auf die Landwirtschaft, sondern fand auch Wege, den prosperierenden Handel und die Manufakturen mit einzubeziehen und wurde nicht generell als ungerecht empfunden. Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Technik und Wissenschaft florierten unter den 宋 Sòng wie nie zuvor. In ihre Zeit fallen auch zwei weitere der klassischen Vier Großen Erfindungen Chinas, nämlich die des Schießpulvers, das als 飞火 f‘i hu4 fliegendes Feuer sogar für militärische Zwecke eingesetzt wurde (erstmals erwähnt: 1044, Europa: 1285), und die des Kompasses (1119), der den mit großen Schiffen im Überseehandel engagierten 宋 SòngKaufleuten, deren Routen weit nach Südostasien hineinreichten, gute Dienste leistete. In puncto Reformen tat sich, gefördert durch den sechsten 宋 Sòng-Kaiser, den erst 20jährigen 神宗 Shén ZÇng (1067-1085) besonders ein bekannter Dichter und Historiker namens 王安石 Wáng }nshí (1021 bis 1086) hervor, indem er zwischen 1069 und 1073 weit über den Leisten seines Handwerks hinausging und -als Minister- in einem 万言书 wàn yán shã48 Memorandum der 48 Ein Titel, der bis heute bekannt ist und immer noch gerne in aktuellen politischen Auseinandersetzungen verwendet wird. So legten konservative Parteimitglieder der KPCh 1995 ihre Anwürfe gegen politisch reformerische Ansichten ebenfalls in einem Dokument nieder, das den Titel Memorandum der Zehntausend Wörter trug. Vgl. die Gegen-Kritik der Reformer in (M| ¹º»¼½¾ 90 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Zehntausend Wörter von der Regierung ein Handeln im Sinne des Volkes verlangte, basierend auf den ethischen Grundsätzen des Konfuzianismus. Konkret forderte 王安石 Wáng }nshí Maßnahmen, die denen glichen, die der Reformer und Namensvetter 王莽 Wáng M|ng bereits während der 汉 Hàn-Zeit kurzzeitig umgesetzt hatte wie zum Beispiel staatliche Marktinterventionen bei zu hohen Preisen und Steuerreformen zugunsten der Armen, die Einführung staatlicher Schulen, eine Reform des Beamten-Prüfungssystems, die es praktischer ausrichtete, und anderes. Mit seinem Eifer brachte 王安石 Wáng }nshí jedoch die Stützen des Regimes, die so wie es war von ihm profitierten, gegen sich auf: Beamte, Großgrundbesitzer und Kaufleute. Nach dem Tod seines Protektors, des Kaisers, resignierte er 1076 und trat zurück (oder wurde zurückgetreten). Die intellektuelle Auseinandersetzung mit seinen Reformen aber dauerte noch lange, bis ins 12. Jahrhundert an. Selbst heute noch ist der Name 王安石 Wáng }nshí als der eines Sozialreformers Chinesen geläufig. Die bekanntesten seiner Gegner waren solche Berühmtheiten der Zeit wie 欧阳修 Æuyáng Xiã und 司马光 S§m| Gu~ng, Historiker und Konfuzianer, sowie 朱憙 Zhã X§, der Begründer des Neo-Konfuzianismus. 道学 dào xué Neo Konfuzianismus Diese Denkrichtung, die in der 宋 Sòng-Zeit aufkam und dann bis zum Ende des dynastischen China als Staatsideologie fortlebte, verbindet den klassischen Konfuzius, der ethisches Denken und praktische Staats- (Herrschafts-) organisation verbinden wollte, mit dem spekulativen, abergläubischen Element, dem die Chinesen weit mehr zuneigen. Meister 孔 K4ng selbst hatte Göttern, Geistern und nebulösen Kräften in der Natur immer ablehnend gegenübergestanden, weil er meinte, es lohne nicht, sich mit Dingen zu befassen, die man ohnehin nicht wissen könne. Allerdings gab es eine Hintertür, die Lìchéng, Ji~o F‘ng [Klingen kreuzen]). 91 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE es gestattete, die unmystische Lehre des Konfuzius mit dem VolksMystizismus zu verbinden: Das 易经 Yì J§ng, Buch der Wandlungen, ein der Wahrsagerei dienendes Mysterien-Werk, wurde schon früh dem Konfuzius zugeschrieben, war zumindest, weil ein Teil des Werkes von Konfuzius stammen soll, Bestandteil des Kanons der 五经 wß j§ng Fünf Schriften49. Die Neo-Konfuzianer nutzten nun gerade dieses Werk, um die Lehre des Meisters im 11. und 12. Jahrhundert wieder zu Ehren zu bringen. Damit wollten sie dem volkstümlichen Buddhismus, für den sie nicht allzuviel übrig hatten, Paroli bieten. Die Neo-Konfuzianer sahen im Buddhismus eine fremde, nicht-chinesische, ja eine Barbaren-Religion, was für sie schon dadurch bewiesen war, daß die an den Grenzen lebenden Nomadenstämme wie zum Beispiel die Mongolen meist den Buddhismus anhingen. Der aller Herrschaft feindlich oder wenigstens indifferent gegenüberstehende, auf das Jenseits orientierte Buddhismus hatte seit seiner Einführung im 2. Jahrhundert große Fortschritte in dem zerrissenen Lande gemacht und viel Einfluß gewonnen, bis infolge der Reichseinigung unter den 唐 Táng wieder eine Staatsideologie gebraucht wurde, die der Buddhismus gerade nicht bietet. Deshalb hatten die 唐 Táng den Konfuzianuismus über die Inhalte der Beamtenprüfungen wieder aufgenommen und zum Ende ihrer Herrschaft sogar damit begonnen, gewaltsam und mit fremdenfeindlichen Auswüchsen gegen den mächtigen und verbreiteten Buddhismus vorzugehen. Zu Beginn der 宋 Sòng begannen einige Gelehrte, den 易经 Yì J§ng-Mystizismus mit der Lehre des Meisters 孔 K4ng zu verbinden und so eine neue Ideologie zu schaffen, die sie 道学 dào xué nannten. Sie wird im Westen als Neokonfuzianismus bezeichnet. Eine Schlüsselrolle spielte darin die Behauptung, daß allen Dingen eine Lebenskraft innewohne, 气 qì genannt, die durch eine vergleichbare Kraft, 理 l0, das Prinzip genannt, ergänzt werde. Der ¿À Sh§ J§ng Buch der Lieder, ÁÀ Shã J§ng Buch der Urkunden, Âà L0 Jì Buch der Riten, ÄÀ Yì J§ng Buch der Wandlungen, ÅÆ Chãn Qiã 49 (Frühlings- und Herbstanalen). 92 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Kampf zwischen den beiden Kräften entscheide nun, so meinten die Neokonfuzianer, ob der Mensch eher gut oder eher schlecht sei. Mensch und Moral, so die Lehre, bestünden aus dem 气 qì, doch werde dies vom schlechteren, zumindest unzuverlässigen 理 l0 reguliert, dem deshalb alle erzieherische Aufmerksamkeit zu gelten habe. Mit diesem Konzept war es nun möglich zu erklären, warum es neben guten eben auch schlechte Menschen gab, obwohl doch die Konfuzianer einst gelehrt hatten, daß der Mensch im Kern gut sei und sich auf dieser Basis vervollkommen könne. Die neue Ideologie rechtfertigte so die Ungleichheit zwischen den Menschen, die ihre Ursache in den Disharmonien des dem Individuum innewohnenden 理 l0 mit ihrer Natur hatte, dem 气 qì. Auf Basis dieser Annahme stellten die Neokonfuzianer nun ihr Erziehungssystem zusammen, das entscheidende Werkzeug, mit dem auf das 理 l0 einzuwirken war, um die Harmonie zwischen den beiden Kräften herzustellen. Mittel dazu war ihnen ein System von Verhaltensregeln (礼 l0 Riten, genannt), die dem Individuum seinen (meist unteren) Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie zuwiesen, ihm 仁 rén, Menschlichkeit, anerzogen. So diente der Neokonfuzianismus also in erster Linie dazu, die Gesellschaft stabil zu halten, indem jeder (vor allem die untenn denen das naturgemäß etwas schwerer fällt als den oben) seinen Platz als naturgegeben akzeptierte.50 朱憙 Zhã X§ formulierte dieses Gemisch in zahlreichen Werken -viele davon zur chinesischen Geschichte- zu dem in sich geschlossenen System des 道学 dào xué Neokonfuzianismus, der dann bis zum Ende des kaiserlichen China als Staatsdoktrin fungierte. Diese Theorie des 朱憙 Zhã X§ wurde 1313 als alleingültige Basis auch für die Beamtenprüfungen fixiert. 50 Der bekannte Sinologe Wolfram Eberhard erklärt das Aufkommen des Neokonfuzianismus mit dem Entstehen neuer Klassen und Herrschaften in der chinesischen Gesellschaft jener Zeit. Vgl. Wolfram Eberhard, Geschichte Chinas, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1971, S. 265. 93 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Gemeinhin geben Chinesen dem Kaiser 徽宗 Hu§ ZÇng (1100 bis 1126) die Schuld dafür, daß diese kulturell und wirtschaftlich entwickelste aller chinesischen Dynastien schließlich doch verloren ging: Er habe sich zu sehr um seine Gedichte, Kalligraphien und Bilder sowie seine starken daoistischen Überzeugungen gekümmert, heißt es, und dabei wohl die große Gefahr übersehen, die die Jurchen darstellten, ein ostmandschurischer Stamm, der sich von Landwirtschaft, Viehzucht und Jagd ernährte. Im Jahre 1115 griffen diese Jurchen einen anderen, weiter südlich lebenden Stamm, die Khitan, an, die ihren Staat 辽 Liáo nannten und den 宋 Sòng schon lange ein Ärgernis waren. 宋 Sòng-Kaiser 徽宗 Hu§ ZÇng hielt den Angriff der Jurchen für eine günstige Gelegenheit, sich die Khitan vom Hals zu schaffen und verbündete sich mit den Jurchen, um das Khitan-Territorium zu teilen. Doch bald zerfiel diese chinesisch-barbarische Allianz, die Jurchen wandten sich sogar gegen die Chinesen und griffen 1126 die 宋 Sòng-Hauptstadt 开封 K~if‘ng an, nahmen sie ein und den Kaiser sowie Tausende aus seinem Hofstaat gefangen. 徽宗 Hu§ ZÇng starb zehn Jahre später, immer noch in Gefangenschaft der Barbaren. 宋 Sòng-Loyalisten waren derweil in den Süden geflohen, wo sie einen seiner jüngeren Söhne zum Kaiser machten und eben jene Jurchen um Frieden baten, von denen sie verjagt worden waren und die weiterhin Eltern, Frau, Brüder und andere Verwandte dieses Kaisers in ihrer Gewalt hielten. Es gelang ihnen, ihre Herrschaft in 杭州 HángzhÇu zu stabilisieren Südliche ¯ Sòng mit der Hauptstadt Ç und wenigstens die Gebiete Lín=~n = provisorischer Frieden, das heutige südlich des 淮 Huái HángzhÇu. 94 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Flusses unter ihrer Kontrolle zu behalten. In den folgenden Jahrzehnten bis zu ihrem endgültigen Ende verloren die 南宋 Nán Sòng Südlichen Sòng zwar ihr altes Herrschaftsgebiet im Norden nicht aus den Augen, doch betrieben sie meist nur eine Beschwichtigungspolitik gegenüber den JurchenEroberern, die ihren Staat mittlerweile 金 J§n nannten. Dabei demütigte sich diese vielleicht feinste chinesische Dynastie soweit, den Barbaren nach Abschluß eines Friedensvertrages sogar Tribut zu übersenden und den Anführer des einzigen ernsthafen militärischen Vorstoßes, den deshalb bis heute gerühmten Helden-General 岳飞 Yuè F‘i, nach ersten Erfolgen zurückzurufen und sogar hinzurichten. Seinen Kopf schickten sie den 金 J§n-Jurchen. Die heutigen chinesischen Geschichtsbücher feiern 岳飞 Yuè F‘i natürlich als Kämpfer gegen die nördlichen Aggressoren und schreiben ihm den Verdienst zu, wenigstens das Schlimmste für die chinesische Dynastie verhindert zu haben. Der oben erwähnte 司马光 S§m| Gu~ng verfaßte (nach dem 汉 Hàn-zeitlichen 司马迁 S§m| Qi~n) während der Nördlichen 宋 Sòng-Herrschaft das zweite überragende Geschichtswerk der Chinesen, den资治通鉴 z§ zhì tÇng jiàn Spiegel der Herrschaft. Das Werk resümiert in 294 Bänden die Zeit von den Streitenden Reichen bis zur 宋 Sòng, einen Zeitraum von fast 1.400 Jahren chinesischer Geschichte. 司马光 S§m| Gu~ng legte dabei besonderen Wert auf die Darstellung der Ursachen des Aufstiegs und Niedergangs der Dynastien, die Machtkämpfe am Hofe und militärischen Maßnahmen der Herrscher. Das zu seiner Zeit sehr kontroverse Werk entging nur knapp seiner Vernichtung. Es gehörte in den 60er und 70er Jahren zur Lieblingslektüre Maos, aus der dieser offenbar vielfältige Anregungen für seine eigene Machtausübung (und -erhaltung) zog. Das Werk ist heute in vielfältigen Ausführungen in jeder größeren Buchhandlung Chinas erhältlich. 95 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 辽 [辽] Liáo (916 bis 1125) Schon zu Beginn der Existenz von Staaten auf dem Gebiet des heutigen China und dokumentarisch verbürgt zu Zeiten der 秦 Qín und der folgenden 汉 Hàn wurden die nomadischen Steppenbewohner im Norden von Nord-China unter den È Liáo. den Chinesen als Bedrohung wahrgenommen. Der Bau von Schutz-Mauern durch die aus der zerfallenden 周 ZhÇu-Herrschaft hervorgegangenen Einzelstaaten, deren bereits bestehende Einzelstücke der 秦 Qín-Kaiser zur Großen Mauer verbinden ließ, und die spätere Herrscher bis hin zu den 明 Míng immer wieder restaurierten, geht gerade auf diese beständige Gefahr einfallender Nomaden zurück. Eines dieser nicht-chinesischen (汉 Hàn) Nomadenvölker außerhalb der Großen Mauer, waren die im Nordosten Chinas ansässigen Khitan. Ihnen gelang es zu Beginn des 10. Jahrhunderts, ihr Reich nach und nach in Gebiete sogar südlich der Mauer auszudehnen, wobei sie sich chinesischer Beamter und Militärs bedienten, die mit ihnen zusammenarbeiteten. Die wichtigste Kithan-Stadt im Nordosten war das heutige 哈 尔滨 H~=èrb§n Harbin, der Süden ihres Herrschaftsgebietes wurde von 燕京 Yànj§ng (heute: 北京 Bij§ng/ Peking) aus verwaltet. Im Jahre 1004 erreichten es die 辽 Liáo, wie die Khitan ihre Herrschaft nannten, daß ihnen die im Süden fortexistierenden 宋 Sòng-Chinesen, wie den Jurchen, ebenfalls Tribut in Form von Seide- und Silberlieferungen zahlten - ein weiterer schwerer Schlag für chinesisches Selbstbewußtsein: Die 天子 ti~n z0 Söhne des Himmels zahlen Tribut an Barbaren! Der Vertrag von 澶渊 96 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Chányu~n (1005), in dem das geregelt wurde, ist als der erste sozusagen internationale Vertrag Chinas überhaupt, also mit einem anderen Staat, in die Geschichte eingegangen. Selbst übernahmen die Khitan die Herrschaftsformen und -kulte der Chinesen für ihren Staat und reihen sich vielleicht deshalb in den chinesischen Dynastie-Tabellen ein als wären sie keine Barbaren gewesen. 97 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 金 J§n (1115 bis 1234) Von den 辽 Liáo übernahmen die bereits erwähnten Jurchen die Herrschaft, die Vorfahren der späteren Mandschus. Sie verlegten die Hauptstadt nach Peking und nannten ihre Herrschaft 金 J§n. Wie bei den 辽 Liáo-Khitan fand auch hier eine weitgehende Adaption chinesischer Sitten statt, und es kam wie bei den 辽 Liáo mit den im Süden weiterexistierenden 宋 Sòng zum Austausch, sogar zu einem weiteren Friedensvertrag mit Tributzahlungen der Chinesen auch an diese Barbaren. Der Einfall der Mongolen unter Kublai Khan bereitete dem 金 J§n-Regime ein Ende. 98 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 元 Yuán (1271 bis 1368) In der Mitte des 13. Jahrhunderts hatten die Mongolen Nordchina, Korea und die muslimischen Königreiche in Zentralasien ihrer Herrschaft unterworfen. Im Westen waren sie bis weit nach Europa vorgedrungen, das sich gerade von den Folgen der von den Hunnen im vierten und fünften Jahrhundert ausgelöDas Reich der ÉYuán Mongolen. sten grundstürzenden Völkerwanderung zu erholen begann, aber in seiner Entwicklung noch weit zurückgeworfen war. Der Großsohn des berüchtigten Gingis Kahn (ca. 1167 bis 1227) und Führer aller Mongolenstämme, Kublai Khan (1215 bis 1294), machte sich in den Jahren 1276 bis 1279 daran, die noch über Südchina herrschenden 宋 Sòng anzugreifen und zu entmachten. Bereits vorher, 1271, aber hatte Kublai eine nach chinesischem Vorbild geformte Dynastie gegründet, die er 元 Yuán, Ursprung, nannte, und die, nach der endgültigen Niederlage der Südlichen 宋 Sòng, als erste Fremdherrschaft ganz China regierte. Die Mongolen, ein Reitervolk ohne Staatstradition und Regierungstechnik, trauten den Chinesen nicht und hielten sie deshalb von wichtigen und einflußreichen Positionen im Staat fern, die sie mit ihren eigenen Leuten oder Fremden, teils aus Zentralasien kommend, besetzten. Sie teilten die Bevölkerung in vier Kategorien ein, mit sich selbst natürlich als der höchsten. Es folgten türkisch-sprechende Völker, danach die 汉 Hàn-Chinesen und als viertes und letztes die 99 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 南人 nán rén, Süd-Leute, die den dortigen 宋 Sòng unterstehenden Chinesen, denen größtes Mißtrauen galt. Da es den Mongolen an eigener Erfahrung in Sachen Staatsaufbau und Herrschaftsorganisation in einem bäuerlichen Land mangelte, restaurierten sie das während der 辽 Liáo- und 金 J§n- Wirrnisse (nach der 宋 Sòng-Flucht aus Nordchina) nicht mehr praktizierte Beamtensystem der 唐 Táng und 宋 Sòng mitsamt den dazugehörigen Prüfungen in den konfuzianischen Klassikern. Nicht nur das alte chinesische Herrschaftssystem stellten die 元 Yuán-Mongolen so wieder her, sondern auch die wirtschaftlichen Grundlagen des einheitlichen Reiches: Straßen, Kanäle (der Große Kanal wurde instandgesetzt und bis nach Peking verlängert) und andere Infrastrukturprojekte ließen sie in Form großer öffentlicher Arbeiten anlegen und restaurieren, Getreidespeicher bauen und füllen, um Hungersnöten vorzubeugen. Die ausgedehnten Verbindungen des riesigen Mongolenreiches nach Westasien, ja bis nach Europa, ermöglichten es, daß ganz wie zu Zeiten der 唐 Táng wieder viele Wirtschafts- und Kulturgüter aus diesen Gebieten nach China gelangten wie zum Beispiel Musikinstrumente, die so Eingang fanden in die chinesische Bühnenkunst. Auf den gleichen Wegen kam auch der Islam in dieser Zeit nach Nord- und Südwest China, und der Lamaismus, die tibetische Version des Buddhismus, entwickelte sich unter der Mongolenherrschaft ebenfalls gut. Bis heute von großer Bedeutung ist die Anlage der Hauptstadt des 元 Yuán-Reiches: 大都 Dà Dã (heute: 北京 Bij§ng), von den Mongolen Kambaluc genannt, die Stadt des großen Khan. Als Hauptstadt übernommen wurde der Ort von den vorhergehenden 金 J§n. Neu war die Anlage eines Kaiserpalastes in strenger Nord-SüdAusrichtung mitsamt künstlicher Seen, Hügel und Parks fast genau an der Stelle, wo er auch heute noch in Peking zu finden ist. Plan und Ausführung des Palastes gehen auf Kublai selbst zurück. Die ethnographische Spannweite des riesigen 元 Yuán-Reiches beförderte eine große Weltoffenheit und einen intensiveren Austausch technischer Errungenschaften zwischen Asien und Europa: Chinesische Erfindungen wie Drucktechnik, Porzellanherstellung, 100 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Spielkarten und medizinische Bücher gelangten in dieser Zeit nach Europa, während europäische Glasscheiben und Emaille in China Eingang fanden. Die inzwischen mächtige katholische Kirche in Rom hatte schon vor dem Beginn der 元 Yuán-Zeit ihre ersten missionarischen Fühler nach China ausgestreckt, als im Jahre 1246 einer der ersten Franziskaner, Giovanni da Piano, mit einer Botschaft des Papstes im Karakorum-Gebirge (heutige chinesisch-pakistanische Grenze) auftauchte. Er schaffte es aber noch nicht bis zum Hof des Großen Kahn zu gelangen. Die Europäer wußten damals noch nichts von China, aber die Christen waren fest davon überzeugt, daß ihr Paradies irgendwo im Osten lag und weit am östlichen Ende des europäischen Kontinents auch ein riesiges christliches Reich bestand, das Herrschaftsgebiet des Priesters Johannes, mit dem sie Verbindung aufnehmen wollten. In den Jahren 1253 bis 1255 machte sich deshalb der nächste Papst-Abgesandte auf die Reise: Wilhelm von Rubruck, doch ist unklar, ob er es bis nach Peking schaffte. 1294 aber erreichte der erste päpstliche Abgesandte die Stadt, wo ihn die mongolischen Herrscher freundlich aufnahmen: Giovanni da Montecorvino. Wenige Jahre später, 1303, kam ihm der erste Deutsche in China zur Hilfe: Arnold von Köln. Insgesamt errichteten diese Franziskaner drei Kirchen in der Stadt und 1307 machte der Papst Montecorvino zum Erzbischof von Kambaluc (Peking). Etliche weitere Missionare folgten bis zum Ende der Mongolenherrschaft, einige kehrten sogar mit Berichten aus dem geheimnisvollen Land im Fernen Osten nach Rom zurück. Der bis heute bekannteste Reisende ist aber der venezianische Kaufmannssohn Marco Polo, der 1275 in Kambaluc eintraf und China (das Mongolenreich) erst nach siebzehn Jahren, 1292, per Schiff wieder in Richtung Italien verließ. Sechs Jahre später, als er dort wegen der Wirren norditalienischer Machtkämpfe im Gefängnis gelandet war, erzählte er einem Mitgefangenen seine China-Reise- und Abenteuergeschichte. 101 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Der schrieb sie 1298 auf, und der Bericht wurde ein paar Jahrzehnte später unter dem Titel Il Millione zum mittelalterlichen Bestseller in Europa. Marco Polos Erzählungen prägten fortan für Jahrhunderte die europäischen China-Wahrnehmung und tun dies in gewisser Hinsicht auch Die Reiseroute des Marco Polo. heute noch. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der Venezianer tatsächlich in China gewesen war (woran ernsthafte Zweifel bestehen) und dort (als hoher Beamter des Khan) getan, gesehen und erlebt hatte, was sein Bericht enthält. Als jemand, der Europas Wahrnehmung von China geprägt hat, waren und bleiben er und sein Bericht von großer Bedeutung. Die Herrschaft der Mongolen endete nach nicht einmal hundert Jahren im üblichen Dynastie-Ende-Chaos von Mißwirtschaft, Hungersnöten und Bauernaufständen, kurz, wie die Chinesen es nennen und fürchten: 天下大乱 ti~n xià dà luàn - große Unordnung unter dem Himmel. Der Anführer einer solchen Rebellion, ein armer (und zudem, wie es heißt, abgrundhäßlicher) Bauer, der siegreicher Aufständischen-General wurde, war 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng. Er machte sich 1368 zum ersten Kaiser einer neuen, nun wieder chinesischen Dynastie, der 明 Míng. 102 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 明 Míng (1368 bis 1644) Noch im jugendlichen Alter war 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng als Mönch in ein Kloster eingetreten, nachdem seine verarmten Eltern während eines der verheerenden Bettwechsel des Gelben Flusses ums Leben gekommen waren. 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng hatte also, bevor er der Gründerkaiser der neuen Dynastie wurde, Armut und Elend des Lebens der chinesischen Bauern viele Jahre lang am eigenen Leibe Map of Míng-China. erfahren. Einige seiner Geschwister sollen von den Eltern sogar weggeben worden sein, und er selbst konnte diesen, so heißt es, nicht einmal einen Sarg beschaffen, um sie ordentlich zu beerdigen - eine schlimme Schande, wenn man die zentrale Bedeutung der Elternverehrung bedenkt, die dem wichtigen chinesischen Konzept des 孝 xiào und der Ahnenverehrung zugrundeliegt. Mit Beginn der Bauern-Unruhen schloß sich 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng 1352 der von 郭子兴 GuÇ Z0xìng geführten 红巾军 hóng j§n jãn Armee der Roten Turbane an , in der er sich langsam aber sicher nach oben arbeitete (nicht zuletzt, indem er die Pflegetochter des Anführers heiratete). 1355 übernahm er, nach dessen Tod, die Führung der Aufständischen. Schon ein Jahr später eroberte er 南京 Nánj§ng (Nanking) und vertrieb schließlich 1368 die 元 Yuán-Mongolen mit seiner 250.000-Mann-Armee aus 大都 Dà Dã (Peking), wo er sodann den monglischen Kaiserpalast schleifen ließ und seine neue Dynastie proklamierte. 103 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Als 国号 guó hào Regierungsnamen wählte er 大明 Dà Míng Großes Licht51. Seine eigene Regierungszeit stellte er, der nach seinem Tod den 庙号 miào hào Tempelnamen 太祖 Tài Zß erhielt, unter die kämpferische Devise 洪武 Hóng Wß Großes Militär. Zur Hauptstadt dieser neuen, nach langer Zeit wieder einmal chinesischen Dynastie machte er die Stadt 应天 Y0ng Ti~n, das spätere (und heutige) 南京 Nánj§ng (Nanking), was Südliche Hauptstadt bedeutet. Erstmals hatte damit eine chinesische Herrschaft ihren Regierungssitz südlich des Jangtse gelegt. Die 明 Míng-Armeen brachten in der Folge nicht nur den größten Teil des chinesischen Kernlandes von ihrer Basis 南京 Nánj§ng aus nach und nach unter ihre Kontrolle, sondern stießen später bis nach 安南 }nnán Annam, wie der Norden Vietnams hieß, vor. Chinas heutiger Südwesten, die Provinzen 云南 Yúnnán und 贵州 GuìzhÇu, wurden so erst unter den 明 Míng vollständig in das chinesische Staatsgebiet einbezogen und in der Folge, im 15. und 16. Jahrhundert, durch die systematische Ansiedlung von 汉 hàn Chinesen aus anderen Provinzen wie 山东 Sh~ndÇng und 山西 Sh~nx§ sinisiert. Der 太祖 Tài Zß-Gründungskaiser hielt ein rigides Staatsregiment, das sich gegen Beamte, Literaten, Eunuchen und Reiche richtete: Wer nicht gehorchte, wurde umgehend bestraft. Sein Ideal war eine andere Welt als die, die er kennengelernt hatte. Er wollte Gehorsam und hierarchische Unterordnung durchsetzen, Beamte hatten zu knien, wenn sie mit ihm sprachen, und 太祖 Tài Zß zögerte nicht, sie zu schlagen, wenn er meinte, daß sie es verdienten. Andererseits trachtete er wohl danach, die Lasten des sogenannten einfachen Volkes zu erleichtern. Die Armee zum Beispiel wurde nicht aus dem Staatshaushalt bezahlt, sondern hatte sich mit Hilfe den Soldaten zugewiesener Landflächen selbst zu unterhalten. 51 Dies geht möglicherweise auf die religiösen Grundlagen der Roten Turbane zurück, die ein Gemisch aus Konfuzianismus, Daoismus und einer Spielart des Buddhismus bestanden. Letztere betonte den Kampf zwischen dem Dunkel und dem Licht. 104 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Der Palast-Bürokratie brachte 太祖 Tài Zß größtes Mißtrauen entgegen, insbesondere den 宦官 huàn gu~n Eunuchen, den verschnittenen kaiserlichen Hausverwaltern und notorischen Hofintriganten, denen es verboten wurde, Lesen und Schreiben zu erlernen. Händlern und Reichen mißtraute der Kaiser ebenso, besteuerte sie heftig und siedelte Tausende zwangshalber, der besseren Kontrolle wegen, in die Hauptstadt um. 120 Literaten-Beamte, die kurz nach dem Beginn seiner Regentschaft aus den höchstrangigen 进士 jìn shì Prüfungen hervorgegangen waren, beschimpfte er als Phrasendrescher. Er stoppte die Beamtenprüfungen jahrelang, edierte später, nach Wiederaufnahme des Systems, die Prüf-Schriften wie das 孟子 Mèng Z0 Buch Menzius und ließ einmal einen Prüfer hinrichten, weil der es zugelassen hatte, daß sämtliche 进士 jìn shì-Prüflinge aus dem reichen Süden kamen. Inhaltlich richtete er die Prüfungen auf einen sehr schmalen Ausschnitt des konfuzianischen Kanons aus, den die Kandidaten überdies nur im Sinne der neokonfuzianischen Interpretation des 朱憙 Zhã X§ zu behandeln hatten. Der Prüfungsstoff stammte nurmehr aus vier klassischen Büchern, nämlich: ! 论语 Lún Yß Gespräche [Konfuzius], ! 孟子 Méng Z0 Menzius und dem von den Neokonfuzianern besonders geschätzten ! ZhÇng YÇng 中庸 Maß und Mitte (The Doctrin of the Mean) des Konfuzius sowie die ! 大学 Dà Xué Große Lehre ebenfalls von Konfuzius. In ihren Examensaufsätzen, die etwa 600 Schriftzeichen umfaßten, hatten die Kandidaten einzelne, ihnen von den Prüfern vorgegebene Sätze aus einem dieser Werke zu interpretieren. Und zwar ab 1487 (bis zur Abschaffung dieser Art Prüfung im Jahre 1905) in Form des sogenannten 八股文 b~ gß wén Achtgliedrigen Aufsatzes, der seinen Namen daraus bezog, daß die vier Glieder des Hauptteils, 股 105 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE gß = Abschnitt52, genannt, je wiederum zweigeteilt waren, das Werk also aus insgesamt acht Teilen bestand. Die Gesamtgliederung eines solchen Prüfungsaufsatzes sah immer so aus: ! 破题 pò tí - das Thema knacken, in zwei Sätzen seine Essenz erläutern, ! 承题 chng tí - das Thema aufnehmen, ! 起讲 q0 ji|ng - mit der Erörterung beginnen, ! 入手 rù sh4u - beginnen mit den vier 股 gß Abschnitten des Hauptteils, nämlich: ! 起股 q0 gß - einleitender Abschnitt, ! 中股 zhÇng gß - zentraler Abschnitt, ! 后股 hòu gß - hinterer Abschnitt und ! 束股 shù gß - abschließender Abschnitt. Es blieb das Bestreben der 明 Míng, ihre Herrschaftshelfer, die Beamten, nicht nur aus den vermögenden und damit gebildetsten Familien des Landes zu beziehen. Sie wollten deshalb auch in entlegenen Gebieten Kandidaten rekrutieren, führten Quoten für die Provinzen ein, um regionale Übergewichte zu vermeiden, und schufen schließlich, um die Auswahl zu erweitern, eine neue, unterste Gelehrtenschicht ein, die lokal geprüften 生员 sh‘ng yuán, die volkstümlich 秀才 xiù cai genant wurden. Wer diesen Titel errungen hatte, durfte bereits eine eigene Kleidung tragen, war von den Arbeitsdiensten befreit und erhielt bisweilen sogar ein Stipendium. Im 16. Jahrhundert gab es bereits ca. 100.000 dieser 生员 sh‘ng yuán / 秀才 xiù cai. Ihnen stand als nächstes die ProvinzPrüfung offen, die sie bei Bestehen zu 举人 jß rén machte, also Kandidaten, die in der Hauptstadt an der alle drei Jahre durchgeführten höchsten Prüfung teilnehmen durften, die den Grad eines 进士 jìn shì verlieh, der den Weg in höchste kaiserliche Ämter frei machte. Viele der strengen Vorschriften des Dynastiebegründers wie die 52 Das Zeichen ging auch in die Aktie ein: 106 ÊË gß fèn Ì LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE gegen die Palast-Eunuchen wurden von seinen Nachfolgen jedoch immer weniger eingehalten, so daß die Eunuchen beispielsweise innerhalb weniger Jahrzehnte nicht nur wieder Lesen und Schreiben lernten, sondern bald sogar eigene Schulen unterhielten und schließlich alles, was im Palast an Geschäften anstand, unter ihre Kontrolle bekamen. Im letzten Jahrhundert der 明 Míng war ihre Anzahl landesweit auf 70.000 angewachsen, allein in der Hauptstadt fanden sich nicht weniger als 10.000. Während der sehr langen Herrschaft (1573 bis 1620) eines der letzten 明 Míng-Kaiser, 万历 Wàn Lì, der sich überhaupt nicht mehr um irgendwelche Regierungsaufgaben kümmerte, hatten die Eunuchen vollständig freie Hand am Hofe und im Lande53, was immer ein Zeichen des bevorstehenden Untergangs war. Die von Dynastiegründer 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng 1368 besiegten Mongolen waren nicht vernichtet worden, sondern nur nach Norden, in ihre alte Heimat, geflohen, wo sie weiterhin eine Bedrohung des neuen Reiches darstellten und die ständige Wachsamkeit der 明 Míng erforderten. Die trugen dieser Gefahr vor allem durch zwei Maßnahmen Rechnung: Zum einen verlegte Kaiser 永乐 Y4ng Lè 1421 die Hauptstadt von 南京 Nánj§ng nach 北京 Bij§ng (Peking), das so Nördliche Hauptstadt wurde, um eine bessere Verteidigung zu organisieren. Zum anderen machten sich die 明 Míng ab 1449 an die Rekonstruktion der mittlerweile weithin verfallenen Großen Mauer, nachdem eine bedeutende, vom damaligen Kaiser selbst angeführte Schlacht gegen die Mongolen verloren worden und der Kaiser samt Hofstaat in mongolische Gefangenschaft geraten war. Ihre heute sichtbare Form erhielt die Mauer also erst im 15. Jahrhundert. In dessen erster Hälfte erreichte die 明 Míng-Herrschaft ihren Zenit, markiert durch ein reichhaltiges Kulturleben, ein geradezu explodierendes Buch- und Verlagswesen, zahllose Außenkontakte mit den umliegenden Völkern sowie durch die sieben Übersee- ÍÎ 53 Einen guten, auch detailreichen Einblick in die Zeit des Wàn Lì Kaisers gibt: Ray Huang, 1587 A Year of No Significance The Ming Dynasty in Decline, Yale University Press1981. ISBN 0-300-02884-9. 107 LERN-UNTERLAGEN Reiserouten des Admirals CHINESISCHE GESCHICHTE ÏÐ Zhèng Hé zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Expeditionen des Moslem-Eunuchen-Admirals 郑和 Zhèng Hé, der zwischen 140554 und 1433 auf Weisung des Kaisers 永乐 Y4ng Lè, mit Hunderten riesiger Schiffe und etwa 27.000 Mann vom Hafen 刘家 Liúji~ an der JangtseMündung aus, entlang der Küsten Vietnams, Thailands, Singapurs, Burmas, Sri Lankas, Indiens bis nach Arabien und an das Horn von Afrika segelte. Von dort brachte er unter Ð von Ï Zhèng anderem eine Giraffe mit, die lange am Pekinger Die Hé nach Peking mitgebrachte Giraffe Hof als glücksbringendes 麒麟 qí lín chinesi- ( ©Míng-Bild). sches Einhorn gehalten wurde. Die zahllosen südostasiatischen Herrscher, die über die 郑和 Zhèng Hé-Expeditionen mit den 明 Míng in Kontakt gekommen waren, schickten fortan Delegationen mit 进贡 jìn gòng Tribut an den Kaiserhof in Peking, was dort das Gefühl verstärkte, die ganze Welt blicke zu ihm auf, er sei das zivilisierte Zentrum der Welt. Bis heute ist es nicht nur chinesischen Historikern ein Rätsel, warum die 明 Míng dieses In-den-Blick-Nehmen der Welt, das die Expeditionen des 郑和 Zhèng Hé am deutlichsten zeigten, mit dem 54 Zum 600. Jahrestag 2005 stehen große offizielle Feiern in China an. 108 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Tod des 永乐 Y4ng Lè-Kaisers umgehend beendeten, um sich fortan mit dem zu begnügen, was sie ohnehin schon hatten: ein riesiges Reich mit 100 Millionen chinesischen Bauern-Untertanen. Zweifellos gab es Widerstand in der neo-konfuzianischen Beamtenschaft. Auch die Kosten dürften eine Rolle gespielt haben, denn als mit Schätzen reich beladener Eroberer war Admiral 郑和 Zhèng Hé nicht an den Hof zurückgekehrt, eine Rendite warfen die Reisen nicht ab. Im Gegenteil hatte er auf den Stationen seines Weges anscheinend mehr Kostbarkeiten verteilt als eingenommen. So blieb das 明 Míng-Reich auf sich selbst fixiert und die Herrscher Chinas gewöhnten es sich an, in ihrer Gesellschaft die beste aller möglichen zu sehen und mit dem Ausland nicht (wie es die Europäer jetzt zu tun begannen) als Abenteurer, Eroberer oder auf Basis eines Handelsaustausches, sondern, von oben herab, in Form von (eher symblischen als wertvollen) Tributen zu verkehren. Dabei hätten die 明 Míng die große Chance gehabt, China im 15., 16. Jahrhundert auf einen anderen als den eingeschlagenen Weg der Selbstisolierung zu bringen, denn es war am anderen Ende des Kontinents, in Europa, die Zeit der großen Entdeckungsreisen angebrochen, die zahlreiche Gold und Kostbarkeiten suchende Abenteurer, Entdecker und in ihrem Gefolge auch Händler nach Osten, an die chinesische Küste, brachte. Auch Columbus, der Amerika nur zufällig entdeckte, war eigentlich, was wenig bekannt ist, auf der Suche nach China gewesen. Er hatte deshalb die Beschreibung des Landes durch Marco Polo intensiv studiert und sogar einen Brief des spanischen Königs dabei, den er dem Großen Khan überreichen wollte. In einem Tagebucheintrag nach seiner vermeintlichen Ankunft in Asien, schrieb er am 21. Oktober 1492: ... I have already decided to go to the mainland and to the city of Quisay [Hangzhou] and give your Highnesses= letters to the Great Khan and ask for a reply and return with it.55 55 Zitiert nach: William Atwell, Ming China and the emerging world economy, c. 1470 - 1650, in: Denis Twichett and Fredericl W. Mote (ed.), The 109 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Schon der 太祖 Tài Zß-Gründungskaiser aber hatte einen privaten Außenhandel zugunsten rein tributärer Beziehungen verboten. Und wie die auf Befehl beendeten Reisen des 郑和 Zhèng Hé zeigten, hielten sich auch seine Nachfolger -mit Ausnahme des 永乐 Y4ng Lè-Kaisers- an diese Politik. Ab dem 16. Jahrhundert jedoch war die Abkapselung so strikt nicht mehr aufrechtzuerhalten, denn immer mehr Fremde tauchten, handeltreibend und abenteuersuchend, an der langen chinesischen Küste auf: Japaner, Portugiesen, Spanier, Holländer. Im Verein mit chinesischen Händlern, die Reichtum ebenso attraktiv fanden, brachen sie das wohlgeordnete System der Pekinger Herrscher nach und nach auf. Schließlich gewährte der Kaiser den Portugiesen, die seit 1520 immer wieder versucht hatten, nach China hineinzukommen, 1577 sogar eine eigene Handelsstation in 澳门 Àomén Macao, um sie aus dem Inland herauszuhalten (und als Belohnung für portugiesische Hilfe im Kampf gegen japanische Piraten). Die Jesuiten in China In der Mitte des 16. Jahrhunderts begann der Orden der Jesuiten (Gesellschaft Jesu) sich missionarisch für Japan und bald auch für China zu interessieren, das man als noch verschlossenes Ursprungsland der japanischen Kultur betrachtete. Im Jahre 1582 kam ihr erster Vertreter, Matteo Ricci, über die portugiesische Besitzung Macao nach Südchina und begann dort mit der Verbreitung des ChristenMatteo Ricci, 1552-1610, in tums. Mandarin-Kleidung und mit Um die Erlaubnis zu erhalten, sich nieseiner Weltkarte. derzulassen, hatte Ricci die zuständigen Mandarine mit Geschenken europäischer Herkunft wie Uhren und Prismen, die es in China nicht gab, bestochen. Nach mehreren weitgehend erfolglosen Jahren in der Tracht buddhistischer Cambridge History of China, Vol 8, Cambridge University Press 1998, S. 377. 110 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Mönche gelangte er schließlich zu der Auffassung, daß die Verbreitung seines Glaubens nur gelingen würde, wenn er von oben, also über die Bekehrung des Kaisers selbst oder zumindest hoher Beamter, unter das Volk gebracht würde. Deshalb verließ Ricci den Süden des Landes und machte sich auf den Weg nach Peking, das er 1601 nach abenteuerlichen Reisen und einem längeren Zwischenaufenthalt in Nanking erreichte56. Durch das Tragen der Kleidung von Mandarinen paßten sich die jesuitischen Missionare äußerlich ihrer Zielgruppe an. Ricci, der den chinesischen Namen 利 Lì (= Ricci) 马窦 M|dòu (= Matteo) angenommen hatte, verfügte offenbar über ein phänomenales Gedächtnis und brachte es im Chinesischen -in Wort und Schriftso weit, daß er ohne Probleme mit den Literaten des Landes verkehren und sogar philosophische Texte im offiziellen Stil verfassen konnte, die gedruckt, zirkuliert und weithin unter den Mandarinen diskutiert wurden. Gleichzeitig nutzte er sein umfassendes europäisches Wissen in Astronomie, Mathematik, Geographie und anderen Naturwissenschaften, um sich für die Chinesen interessant zu machen und auf dieser Basis den katholischen Glauben zu verbreiten. Es gelang Ricci jedoch nicht, in Peking, wo er von 1601 bis zu seinem Tod lebte) zum 明 Míng-Kaiser 万历 Wàn Lì selbst vorzudringen, der gleichwohl von seiner Anwesenheit wußte, über seine Beamten auch zahlreiche Geschenke Riccis entgegennahm, sich aber dennoch weigerte, ihn persönlich zu empfangen. 1610 starb Ricci und wurde in Peking begraben. Sein Grab (und das vieler seiner Nachfolger und Glaubensbrüder) ist dort bis heute zu besichtigen, es liegt am Östlichen Zweiten Ring, auf dem Gelän 56 Die Geschichte Riccis in China schildert -auf Grundlage seiner vielen Berichte- sehr anschaulich und spannend: Vincent Cronin, The Wise Man from the West, The Harvill Press, London, 1955. Die sehr interessanten China-Berichte Riccis liegen in einer englischen Zusammenfassung/Übersetzung vor: L.J. Gallagher, S.J., The China That Was - China As Discovered by the Jesuits at the Close of the Sixteenth Century, The Bruce Publishing Co. Milwaukee, 1942. 111 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE de der Pekinger Parteischule57. Von seinem Wirken bis heute geblieben sind die chinesischen Bezeichnungen der Erdteile und vieler Länder (darunter Europa als 欧逻 Æu Luó und Deutschland als 德国 Dé Guó), denn sie waren von Ricci vergeben worden, als er die erste, von ihm Matteo Riccis Weltkarte für den chinesischen ¶ØÙ wàn guó quá tú. Kaiser: Í selbst angefertigte Weltkarte unter dem Titel 坤与万国全图 kãn yß wàn guó quán tú Vollständige Karte aller Länder der Erde58 in China einführte. Als christlicher Missionar scheiterte Ricci, seine Lehre wurde nur von sehr wenigen Chinesen angenommen. Wegen seiner umfassenden Kenntnisse der Mathematik, Naturwissenschaften, Astronomie und Geographie, wegen seines grandiosen Gedächtnisses59 und seines fabelhaften Chinesisch war 利马窦 Lì M|dòu unter den Literaten und Mandarinen aber sehr bekannt geworden und ist bis heute unter diesem Namen vielen Chinesen ein Begriff. Sein größter (manche sagen: sein einziger) Missionserfolg war die Taufe des höfischen Großsekretärs 徐光启 Xú Gu~ngq0, der als Paul Hsu mit seinem Einfluß zwar nicht Ricci selbst, wohl aber seinem Nachfolger den Weg zum Kaiser ebnete. ÑÒÓÔÕÖ 57 Die seit einiger Zeit unter dem Namen Bij§ng Xíng Zhèng Xué Yuàn Beijing Administrative College als Schule für Staatsangestellte firmiert. 58 Die Erde hier als × kãn,dem Orakelzeichen für Erde. 59 Das Jonathan Spence zur Basis seiner Ricci-Arbeit nimmt: The Memory Palace of Matteo Ricci, Penguin Books, 1983. 112 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Erst mit dem Machtantritt der nicht-chinesischen 清 Q§ng Mandschus 1644 setzte die große Zeit der Jesuiten in China ein. Die Grundlage legte der deutsche Nachfolger Riccis, Adam Schall von Bell60, der gemeinsam mit dem Konvertiten Paul Hsu den unkorrekten chinesischen Kalender berichtigte und dafür vom ersten 清 Q§ng-Kaiser 顺治 Shùn Zhì zum Hofastronomen ernannt wurde. Auf Basis dieses Brückenkopfes gelang es nachfolgenden Jesuiten, das Vertrauen auch des zweiten und bedeutendsten Mandschu-Kaisers, 康熙 K~ng X§, zu gewinnen, bei dem der belgische Jesuitenpater Ferdinand Verbiest61 viele Jahre als Lehrer und sogar militärischer Berater täglich ein und aus ging. Allerdings beruhten die Erfolge der jesuitischen Arbeit nicht auf der Missionierung chinesischer Seelen, sondern darauf, daß sie sich den chinesischen bzw. mandschurischen Gegebenheiten fast vollständig anpaßten und den größten Teil ihrer Zeit mit -in China nicht bekannten- naturwissenschaftlichen und anderen, eher weltlichen Dingen zubrachten - einschließlich des Baus von Kanonen. Dies erregte zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Mißfallen des Papstes und eskalierte zum sogenannten Riten-Streit, der mit der päpstlich verfügten Auflösung der Gesellschaft Jesu im Jahre 1773 endete. Schon zuvor hatten die Jesuiten jedoch unter dem 康熙 K~ng X§-Sohn und Nachfolger 雍正 YÇng Zhèng vielerlei Repressionen erfahren, als sie auf Anweisung des Papstes darauf bestanden, daß bekehrte Chinesen ihren Ritus der Ahnenverehrung aufgaben, den Rom als heidnisch verdammt und den chinesischen Christen verboten hatte. Dies sah wiederum der Kaiser als Einmischung in seine Angelegenheiten, die er nicht hinzunehmen bereit war. Bis zur Auflösung des Ordens waren fast 500 Jesuiten in China tätig gewesen und hatten dabei enorme Mengen europäischen Wissens in Naturwissenschaft, Technik, Geographie, Malerei und Architektur in das Land gebracht. Getauft aber hatten sie in den hundert Jahren ihrer China-Mission nur etwa 200.000 Chinesen. 60 61 ÚÛÜ T~ng Ruòwàng. Þß Nán Huáirén. Chinesisch: Ý Chinesisch: 113 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Einen wesentlich größeren Erfolg hingegen erzielten sie mit ihren Berichten aus und über China in Europa, wo sie im 18. Jahrhundert die breite Bewegung der chinoiserie auslösten. Schon bei der Ankunft Riccis in China, 1582, hatte die 明 MíngDynastie nach 200 Jahren ihren Macht- und Kultur-Höhepunkt überschritten. Immer wieder fielen die von ihnen gestürzten Mongolen im Norden ein, stifteten die Japaner in Korea Unruhe und machten sich als Seeräuber entlang der chinesischen Küste einen sehr schlechten Namen am Hof - 倭寇 wÇ kòu wurden sie seither genannt - japanische Banditen. Hinzu kamen Naturkatastrophen, insbesondere Mißernten, ausgelöst vor allem durch die Kleine Eiszeit, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Ernteerträge nicht nur in China drastisch einbrechen ließ. Die Staatsfinanzen näherten sich dem Bankrott, als der Zufluß von Silber aus dem Außenhandel zur Mitte des 17. Jahrhunderts aufhörte. Grund waren behindernde Maßnahmen in Japan und durch die Spanier auf den Philippinen. Erst Unruhen, dann Aufstände, schließlich Niedergang der Dynastie waren wie immer die unvermeidliche Folge. 1642 öffnete eine Rebellengruppe die Deiche am Gelben Fluß, was eine verheerende Überschwemmung, Chaos und Seuchen mit Hunderttausenden von Toten zur Folge hatte. Den erfolgreichsten Aufstand organiserte ein ehemaliger Schafhirte namens 李自成 L0 Zìchéng, der bald die Provinzen 湖北 Húbi, 河南 Hénán und 陕西Sh|nx§ besetzt hatte und seine Truppen 1644 durch 山西 Sh~nx§ und 河北 Hébi nach Peking führte, wo der letzte 明 Míng-Kaiser sich am Kohlehügel hinter dem Kaiserpalast an einem Baum erhängte,um seiner Gefangennahme zu entgehen. Der entscheidende Erfolg aber, Gründer einer neuen chinesischen Dynastie zu werden, blieb 李自成 L0 Zìchéng versagt, denn jenseits der Großen Mauer im Nordosten waren die 满族人 m|n zú rén Mandschus, ein kleines Reitervolk, zur Stelle, um die Nachfolge der 明 Míng anzutreten. 114 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 清 Q§ng (1644 bis 1911) Schon bevor sie China als neue Herrscher übernahmen, hatten die Mandschus, die keine 汉 Hàn Chinesen waren, deren Kultur in vielerlei Hinsicht adaptiert und praktizierten sie in ihrem Ende des 16. Jahrhunderts gegründeten Staatswesen außerhalb der Großen Mauer, im Nordosten. Die Mandschus hielten sich für Nachkommen der Jurchen, die -zeitgleich zur Südlichen 宋 Sòng- als àQ§ng-China. 金 J§n (1115 bis 1234) bereits über Nordchina geherrscht hatten. Ihr erster Gebieter nach der so erlangten Seßhaftigkeit, Nurhaci, organisierte die Mandschu-Bevölkerung in vier, später acht militärischen Abteilungen, die jeweils durch eine farbige Fahne gekennzeichnet waren und deshalb als 旗 qì Banner bezeichnet wurden. Kleidung, Farben und Fahnen der áâ b~ qí Acht Mandschu-Banner. Die Mandschus schufen sich nun auch eine eigene BuchstabenSchrift, die auf dem Mongolischen basierte, kopierten chinesische Gesetze sowie andere wichtige Schriften und übernahmen in ihrem neuen Staat nach und nach immer mehr chinesische Praktiken wie zum Beispiel auch die Tempel-Rituale des Kaisers und das System der Beamtenprüfungen. 115 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die religiösen Rituale der chinesischen Herrscher hatten bereits in der 秦 Qín-Zeit festere Formen angenommen, als die 五岳 Wß Yuè fünf heiligen Berge zu wichtigen Orten ihrer Ausführung gemacht wurden: ! der östliche Berg - 泰山 Tài Sh~n in der Provinz 山东 Sh~ndÇng, ! der südliche 衡山 Héng Sh~n in 湖南 Húnán, ! der zentrale 嵩山 SÇng Sh~n in 河南 Hénán, ! der westliche 华山 Huá Sh~n in 陕西 Sh|nx§ und ! der nördliche 恆山 Héng Sh~n in 山西 Sh~nx§. Später ließen Kaiser Tempel errichten, wo sie in ritualisierter Form Opfer brachten. Der 明 Míng-Kaiser 永乐 Y4nglè zum Beispiel ließ 1420 den 天坛 Ti~n Tán Himmelstempel in Peking bauen, wo fortan am Jahresende für eine gute Ernte geopfert wurde, eines der wichtigsten Rituale des Kaisers. 明 Míng- und 清 Q§ng-Kaiser errichteten innerhalb des Palastes in Peking den kaiserlichen 太庙 tài miào Ahnentempel und in den (damaligen) Vororten der Stadt den: ! ! ! ! 日坛 rì tán Sonnenaltar, 月坛 yuè tán Mondaltar, 地坛 dì tán Erdaltar und 先农坛 xi~n nóng tán Landwirtschaftsaltar, wo der Herrscher fortan in regelmäßigen Abständen wichtige Opferrituale vollzog. Der Sohn Nurhacis, der aus dem Reitervolk der Mand- © Peking während der Míng-Zeit mit Verbotener Stadt (gelb) und Kaiserpalast (rot) im Zentrum sowie: Erd-, Mond-, Sonnen-Altar im Norden, Westen und Osten und dem Himmels- und Erdaltar (heute: ti~n tán Himmelstempel) im Süden. ã 116 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE schus eine schlagkräftige, organiserte Truppe geformt hatte, ging in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als der 明 Míng-Niedergang sich beschleunigte, noch weiter in der Übernahme chinesischer Einrichtungen, stellte auch vermehrt überlaufende chinesische Generäle und Beamte in seinem Herrschaftsbereich ein und rief schließlich -noch vor dem Einmarsch in chinesisches Gebietdie eigene Dynastie der großen Reinheit aus, die 清 Q§ng, womit er seine größeren Ambitionen deutlich machte, die auf eine Herrschaft über China zielten. 1644, mit dem Marsch des Rebellenführers 李自成 L0 Zìchéng auf Peking und dem Selbstmord des letzten 明 Míng-Kaisers konfrontiert, wußte ausgerechnet der für die Verteidigung gen Norden, gegen die Mandschus, zuständige 明 Míng-General 吴三桂 Wú S~nguì keinen anderen Rat, als Mandschu-Truppen von jenseits der Mauer als Helfer zur Wiederherstellung der Ordnung hereinzulassen. Tatsächlich besiegten diese die Rebellen in ganz Nordchina, brachten 李自成 L0 Zìchéng so um seinen Triumph, blieben jedoch als neue Herrscher in Peking, wo für die Einwohner nun eine harte Zeit der Diskriminierung begann. Als eine der ersten Maßnahmen siedelten die Mandschus alle Chinesen in einen südlichen Teil der Hauptstadt um, der fortan Chinesenstadt genannt wurde. Sie selbst blieben im nördlichen Teil, der sogenannten Tartarenstadt. Beide Stadthälften waren vom Umland und gegeneinander durch eine gewaltige Mauer getrennt, von der heute nur noch das 前门 Qián Mén genannte Tor (eigentlich: 正阳门 zhèng yàng mén), südlich des Tian=anmen, vorhanden ist. (Die Mauer wurde in den schziger Jahren abgerissen, heute verläuft auf ihrem Fundament die Zweite Ringstraße.) Die Tausenden Eunuchen entließen die neuen Herrscher umgehend und besetzten die Verwaltungsposten mit ihnen loyalen Chinesen, die sie zum Teil aus ihrem alten Staatszentrum im heutigen 辽东 LiáodÇng mitgebracht hatten. Die Mandschus konfiszierten große Ländereien für ihre Armee und eigenen Banner-Aristokraten. Ein Jahr nach Beginn ihrer Herrschaft befahlen sie -bei Androhung der Todesstrafe- allen männlichen Chinesen, sich innerhalb von zehn Tagen die Haare am vor117 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE deren Kopfteil bis zur Stirn zu rasieren und hinten einen Zopf wachsen zu lassen. So sollten sie ihre Unterwerfung unter die neuen Herrscher öffentlich bezeugen. Von größtem Mißtrauen gegen die Chinesen erfüllt, führten die neuen Herrscher weitere diskriminierende Maßnahmen ein wie das Verbot für Chinesen, in Mandschu-Gebiete einzuwandern oder Mandschus zu heiraten. Den eigene Leuten wiederum war es verboten, körperliche Arbeit oder Handelstätigkeiten auszuüben. Chinesische Beamte, die weiter zahlreich den neuen Herrschern dienten, erhielten einen Mandschu-Aufpasser zur Seite. Der militärische Widerstand gegen die Expansion der Mandschu-Herrschaft nach Süden hielt noch bis etwa 1670 an. Als bekanntester 明 Míng-Loyalist ging 郑成功 Zhèng ChénggÇng, von den Holländern mit dem Namen Koxinga versehen und als Piratenkönig betrachtet, in die Geschichte ein. Zum einen, weil er im Auftrag des nach Süden geflohenen 明 Míng-Prinzen den vorrückenden Mandschus militärischen Widerstand leistete, zum anderen aber, weil er, die eigene Niederlage alsbald vor Augen, schließlich mit vielen Anhängern auf die Insel 台湾 Táiw~n flüchtete und dort eine quasi-chinesische, 明 Míng-loyale Herrschaft etablierte. Nach seinem Tod hielten seine Nachfolger diese noch einige Jahre aufrecht, bis die Mandschus 1683 nach 台湾 Táiw~n übersetzten, die 郑成功 Zhèng ChénggÇng-Nachkommen entmachteten und die Insel ihrem chinesischen Herrschaftsgebiet als Teil der Provinz 福建 Fújiàn einverleibten. Seither gilt 台湾 Táiw~n als chinesisches Gebiet. (Zur Provinz wurde es erst 1885 erhoben, als japanische Ambitionen auf die Insel erkennbar geworden waren.) Zwar übernahmen die Mandschus bei der Verwaltung ihres nunmehr riesigen Reiches viele Praktiken der vorhergehenden chinesischen Herrschaft, unterschieden sich jedoch wie fast alle Fremdherrschaften zunächst in einem wichtigen Punkt von den Chinesen: Sie waren weltoffen. Vor allem der lange herrschende und sehr berühmte zweite Kaiser der Dynastie, 康熙 K~ng X§ (1654 bis 1722, Regierungszeit: 1662 bis 1722), zeichnete sich dadurch aus. 118 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Er gewährte den Jesuiten einen immensen Einfluß am Hofe und beförderte so das Einströmen zahlreicher europäischer, für China neuer Erkenntnisse in den Naturwissenschaften. Doch auch um die überkommene chinesische Kultur erwarb er sich große Verdienste. Ein unter seiner Herrschaft fertiggestelltes und nach ihm benanntes Schriftzeichen-Lexikon, das 康熙字典 K~ng X§ Zì Di|n, mit insgesamt 47.000 Zeichen, hatte æçèé K~ng X§ Zì Di|n, Erstausgabe. durch seinen vereinfachten 部首 bù sh4u Index der Radikale (deren Gesamtzahl von ursprünglich über 500 auf 214 reduziert wurde), die ein Nachschlagen gesuchter Schriftzeichen überhaupt erst ermöglichen, große Bedeutung für die Weiterentwicklung des Systems der chinesischen Zeichen.62 Durch eine starke Expansion nach Norden und Westen vergrößerten die Mandschus nicht nur das chinesische Gebiet, indem sie die Mongolei dazugewannen, die heutige Provinz 新疆 X§nji~ng Sinkiang (Neue Grenze) sowie Tibet, sondern sie sicherten durch die Eingliederung der Nomaden und Tibeter in ihr Herrschaftsgebiet auch endlich die ewig unsicheren Nord- und Westgrenzen Chinas. Nie vorher und nie nachher war das chinesische Reich so groß und so befriedet wie im 18. Jahrhundert unter den Mandschus. Allerdings sollte die wahre Bedrohung des chinesischen Kaisertums gar nicht an den Nord- und Westgrenzen auftauchen, sondern an der Küste im Süden und Osten des Landes, wo mit Beginn des 19. Jahrhunderts 毛鬼 máo gßi haarige Teufel, europäische und später auch amerikanische Glückritter, Händler, Missionare und schließlich Diplomaten des wirtschaftlich und System der chinesischen Zeichen und der Erläuterung von 200 ä å bù sh4uZum Radikalen siehe: Jörg-M. Rudolph, Das Größte Geheimnis Chinas, 62 Teil I und II in: Sju Tsai No. 36 und 37 unter: www.xiucai.oai.de . 119 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE militärisch erstarkenden Europas in ständig größerer Zahl über den 洋 yáng = Ozean per Schiff anlandeten. Wie immer in China, ging es aber auch mit der Mandschu-Dynastie bereits nach wenigen herausragenden Kaisern rasch bergab. Für die 清 Q§ng mehrten sich die Anzeichen dafür mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, als das Land erneut, in mehreren Provinzen, von großen Bauernunruhen und -aufständen erschüttert wurde und an den Küsten das Piratenunwesen wieder auflebte. Die zunächst stabile Entwicklung des Reiches hatte im frühen 18. Jahrhundert zu einem enormen Anwachsen der Bevölkerung geführt. Allein zwischen 1802 und 1834 kamen 100 Millionen Menschen hinzu. Die wirtschaftliche Entwicklung jedoch hielt weder mit diesem Wachstum noch mit der starken territorialen Ausdehnung des Reiches Schritt. Das Herrschaftssystem verkrustete zunehmend und kapselte sich schließlich in großer Arroganz vom dynamischen, sich industrialisierenden und dann nach China als Absatzmarkt drängenden Europa ab. Wir brauchen Eure Waren nicht, ließ der 1793: Empfang der ersten englischen ChinaDelegation durch Kaiser êë î Qián Lóng in dritte Nachfolger (Uren- seiner Sommerresidenz ìí bì shß sh~n zhu~ng in ï Rèhé (heute: ðñ Chéngdé). kel) des 康熙 K~ng X§ Kaisers, 乾隆 Qián Lóng, Lord Macartney, dem Abgesandten des englischen Königs George III, ausrichten, der ihn 1793 in seiner Sommerfrische aufsuchte, dem ca. 200 Kilometer nördlich von Peking gelegenen 热河 Rèhé (heute: 承德 Chéngdé)63. England wollte diplomatische und Handelsbeziehungen mit dem 63 Eine phantastische, enthüllende und höchst amüsante Schilderung der Mission (aus englischen und chinesischen Quellen und mit größter Nutzanwenung auch für heutige China-Kontakte) ist Alain Peyrefitte gelungen: The Immobile Empire, New York, Knopf, Random House, 1992. ISBN: 0394586549. 120 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE chinesischen Reich herstellen, doch dieser erste, in großem Respekt unternommene Versuch scheiterte vollständig an der abweisenden Haltung des chinesischen Kaisers und seiner Beamten. Unverrichteter Dinge mußte Macartney wieder abziehen und die lange Rückreise antreten, und als 1816/17 eine zweite britische Delegation unter William Pitt Amherst nach Peking kam, lehnte es der 乾隆 Qián Lóng nachgefolgte Kaiser sogar ab, ihn überhaupt zu empfangen. Erfolglos und zudem gedemütigt mußte auch Amherst wieder abziehen. In Großbritannien bereiteten diese Fehlschläge vor allem in der am Handel mit China interessierten Kaufmannschaft der Auffassung den Boden, daß man mit den unwilligen Chinesen dann eben anders umgehen müsse. Ihre Lobby sorgte dann dafür, daß die gewaltsame Öffnung Chinas ab etwa 1820, auf dem Programm der britischen Politik stand. Die 蛮夷 mán yí Barbaren kommen Im Bewußtsein der mandschu-chinesischen Herrscher bestand die Welt aus ihrem chinesischen Reich, das sie als hochkultiviert ansahen, und umliegenden Barbarenvölkern, die ihnen um so unkultivierter erschienen, je weiter sie von China weg und damit in immer größerer kultureller Finsternis lebten. Eine groteske Fehleinschätzung der tatsächlichen Entwicklungen und Kräfteverhältnisse in der Welt. Gleichwohl war es schon tausend Jahre früher zu vielfältigen, bisweilen sogar sehr intensiven Kontakten mit Fremden vom westlichen Ende des asiatischen Kontinents gekommen - über die Seidenstraße mit Persern, Arabern, ja, sogar Europäern, falls Marco Polo China tatsächlich erreicht hatte. Während der 唐 Táng-Zeit hatten sich sogar Tausende ausländischer Händler und sogar christliche Missionare (Nestorianer, eine Sekte, die im Nahen Osten bestand) in der Hauptstadt der Dynastie angesiedelt, die anscheinend ein rechtes Völkergemisch gewesen sein muß. Über das Meer im Osten kamen Japaner und ebenfalls per Schiff arabische Überseehändler. 121 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Als Europäer im 16. Jahrhundert mit ihren Entdeckungsfahrten in die Welt begannen, landeten im Süden Chinas Portugiesen, Spanier, Holländer und schließlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrt Briten an, die mittlerweile die Vorherrschaft in Europa inne- und ein riesiges Kolonialreich auch in Asien (Indien) errichtet hatten. Allerdings gingen alle diese Begegnungen stets von den Fremden aus, die nach China hereinkamen. Chinesen selbst verließen vor 1860 ihr Land -mit einer Ausnahme64- nie in offiziellem Auftrag. Europas Abenteuerlust, Geldgier, Entdeckergeist und Missionarstum waren ihnen fremd. Die konfuzianische Selbstkultivierung galt, so gesehen, auch für das Land als solches. Wer aber zu ihnen hereinkam, der tat das in den Augen der Herrscher und ihrer Helfer, der Mandarine, als Überbringer von 贡品 gòng p0n Tribut, also jemand, der den Kaiser als seinen höchsten Souverän und China als höchste Kulturmacht der Welt anerkannte und im Grunde von Chinas Größe profitierte. In jedem Fall blieben die Fremden in China immer strenger und mißtrauischer Kontrolle unterworfen und wurden bis zum Opiumkrieg 1842 regelmäßig auch wieder hinausgeworfen, wenn sie zum Beispiel ihre Handelsgeschäfte in Kanton abgeschlossen hatten. Diese Sicht der Überordnung Chinas über den Rest der Welt mochte bis ins 16. Jahrhundert noch hingegangen sein, denn vor allem der Einfall der Hunnen im 5. Jahrhundert, der die gewaltige Völkerwanderung auslöste65, sowie der Mongolensturm Mitte des 13. Jahrhunderts hatten Europas Entwicklung, die in Griechenland und Rom so große Höhen erreicht hatte, aufgehalten, ja sogar weit zurückgeworfen. Als um 1520 die ersten Portugiesen (dann Spanier und Hollän- 64 òó ôõ Der Admiral [ ] Zhèng Hé, der zwischen 1405 und 1433 mit einer Flotte großer Schiffe bis an die afrikanische Küste segelte, war eine einmalige Ausnahme (und der Mann überdies ein Muslim). Siehe oben unter Míng. © 65 Die Hunnen wurden 451 in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (Frankreich) geschlagen und verschwanden anschließend spurlos. 122 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE der) vor der chinesischen Südküste auftauchten und ins Land hinein wollten, um Reichtümer aufzuspüren und Handel zu treiben, war dies den Chinesen kein Anlaß zu fragen, wer die Fremden eigentlich waren, woher sie kamen, welchen Stand in Wissenschaft und Technik sie erreicht hatten usw. Sie waren nicht neugierig. Zwar ging man bisweilen auf ihre Handelsanliegen ein, doch suchten die 明 Míng-Herrscher sie vor allem abzuwehren und draußen zu halten. Nach Peking, an den Hof, sollten sie auf keinen Fall kommen, und die, die es doch geschafft hatten, nahmen meist kein gutes Ende wie der Portugiese Pirès, der um 1520 als einer der ersten Besucher dort am Ende in einem chinesischen Gefängnis umkam.66 So entging den Chinesen, daß sie es in Europa nicht nur mit einer anderen, sondern mit einer expansiven Hochkultur zu tun hatten, die die ganze Welt in den Blick nahm und die selbstbewußt Anerkennung als Gleichberechtigter erwartete (wie die europäischen Fürsten es im Umgang miteinander gewohnt waren) und die überdies von christlichem Sendungsbewußtsein und Geldgier beseelt war. Europäer fragten nicht danach, ob andere Völker sie willkommen hießen oder nicht. Sie waren es gewohnt, sich in anderen Teilen der Welt (Afrika und später Süd- und Nordamerika) durchzusetzen - wenn es sein mußte eben mit Gewalt. Dabei hätte man es am Kaiserhof in Peking ab etwa 1600 besser wissen können, denn zu dieser Zeit begannen die Jesuiten damit, China von Süden aus zu missionieren. Mattheo Ricci, der ab 1601 sogar in Peking wirkte, und seine Mitstreiter waren dabei äußerst gebildete Vertreter Europas, exzellent bewandert in Naturwissenschaften, Mathematik, Technik, Astronomie und Geographie. Und die Jesuiten trugen dieses Wissen in Form von technischen und wissenschaftlichen Geschenken für hohe Beamte, über Publikationen (zum Beispiel Riccis Weltkarte) und Unterrichtung aktiv in 66 Eine sehr detailreiche und konzise Darstellung der ausländischen Versuche, mit China in Kontakt zu treten: Nigel Cameron, Barbarians and Mandarins Thirteen Centuries of Western Travellers in China, Oxford University Press (China) Ltd., 1970. 123 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE die Oberschicht der chinesischen Gesellschaft hinein. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatten sie sich damit am Mandschu-chinesischen Kaiserhof sogar eine äußerst einflußreiche Stellung verschafft: Ferdinand Verbiest, der Nach-Nachfolger Riccis, ging beim 康熙 K~ng X§-Kaiser täglich ein und aus. Aber die in Peking Herrschenden übernahmen weder die geographischen Erkenntnisse der Jesuiten auf Dauer, noch zogen sie aus derem Wirken den Schluß, daß Europa ihnen in technischwissenschaftlicher Hinsicht überlegen war und so eine Gefahr darstellen könnte. Nach der Ausweisung der Gesellschaft Jesu gegen Ende des 18. Jahrhunderts igelte sich die Dynastie ein. Vom Wirken der europäischen Missionare blieb nichts übrig, ihre überbrachten und zeitweilig geschätzten Erkenntnisse fielen in Vergessenheit. Die Chinesen gingen wieder dazu über, statt der realistischen Weltkarte, die Ricci ihnen gezeichnet hatte, ihre eigenen absurden Erzeugnisse zu benutzen und sich in arrogantem Überlegenheitsgefühl von Europa abzukapseln. Dort beschleunigte sich im grundstürzenden Zeitalter der Aufklärung (18. Jahrhundert) gerade die wissenschaftliche, technische und gesellschaftliche Entwicklung rasant: Die Religion verlor ihre Bedeutung, nicht Glauben, sondern Wissen war gefragt, die Naturwissenschaften begannen sich stürmisch zu entwickeln. Montesquieu, Rousseau und andere begannen, die Organisation des Staates als Privateigentum eines Monarchen zu hinterfragen und boten andere Gesellschaftsmodelle, eine andere Organisation des Staates an. Die Französische Revolution 1789 versetzte der überkommenen Welt Europas den ersten, schweren Schlag. Handwerksbetriebe wuchsen unter aktiver Förderung durch den Staat der Könige und Fürsten zu Manufakturen und schließlich, nach der Erfindung der Dampfmaschine, zu Industrien. Im Außenhandel herrschte das Prinzip des Merkantilismus: der Staat fungierte, als aktiver Förderer und Magd der Wirtschaft, achtete auf einen Überschuß. Eine neue, sehr aktive, sehr reiche, sehr dynamische und aggressive gesellschaftliche Klasse entstand: Unternehmer, Kapitalisten, die Besitzer der neuen Fabriken, in denen bald Tausende von Arbeitern mit großen Maschinen immer mehr 124 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Handelsgüter erzeugten, die auf die inländischen und, als diese nicht mehr reichten, zunehmend auf die ausländischen Märkte geworfen wurden. Die produzierte Warenmenge wuchs so stark, daß sich die Gewinner des Systems bald auf die Suche nach neuen Absatzmärkten nicht nur in der europäischen Nachbarschaft, sondern sogar in ferneren Ländern machten. Von China wußte man -dank Marco Polo und portugiesischer und holländischer Seefahrer- und Händlerberichte nicht zuletzt dank der Jesuiten- seit ein paar hundert Jahren, daß es groß, reich, von enorm vielen Menschen bewohnt und im Unterschied zu Afrika und Südamerika sogar zivilisiert war. Die China-Berichte der Jesuiten hatten im Europa des 18. Jahrhunderts sogar eine gewaltige Bewunderung Chinas bewirkt und eine Welle der Chinoiserie über den Kontinent und durch dessen Herrscherhäuser rauschen lassen, wie alte Porzellan-Designs und chinesische Teehäuser in fürstlichen Parks wie Sansoucis und vielen anderen noch heute zeigen. Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz hatten auch das Herrschaftssystem der Chinesen, den Staat, idealisiert und als rationale Herrschaft des Geistes, der Philosophen, beschrieben. Es wäre besser, sagte Leibniz, chinesische Missionare kämen nach Europa statt umgekehrt. So war es nicht überraschend, daß China am Ende des 18. Jahrhunderts ins Blickfeld auch der Kapitalisten und Herrscher Europas geriet. 1783 schickte der britische König George III seinen StarDiplomaten Lord Macartney auf die einjährige Seereise ins Mittelreich, um dort, mit dem Kaiser von China persönlich, Verträge über diplomatische und Handelsbeziehungen abzuschließen. Doch Kaiser 乾隆 Qián Lóng wies ihn brüsk ab. Gedemütigt (er hatte nach langem Zögern anscheinend zwar nicht den 磕头 k‘ [hart stoßen] tóu [Kopf]) Koutau vor dem Kaiser vollzogen, aber wohl doch mehr Unterwerfung gezeigt, als er zuzugeben bereit 125 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE war67), reiste Macartney wieder zurück nach London68, wo er -trotz allem beeindruckt- in seinen Bericht über die Begegnung mit dem chinesischen Kaiser schrieb: Thus, have I seen King Salomon in all his glory. Napoleon Bonaparte, der französische Revolutions-Kaiser, der sich sehr mit China beschäftigt hatte, war so sehr von dem Riesenland beeindruckt, das er dem britischen Gesandten Amhurst 1817, als der von seiner gescheiterten Mission zurückkehrte und auf St. Helena den dort gefangenen Napoleon zu einer Unterredung aufsuchte, sagte, es wäre besser, China in Ruhe lassen: Es sei ein schlafender Drache, und wenn der sich erhebe, werde die Welt erzittern. So lautete -mehr mit Blick auf einen militärischen Zusammenstoß als auf die Wirtschaft- sein Diktum69, nachdem Amherst ihm dargelegt hatte, daß China wohl nur mit Gewalt zu öffnen sein werde. Schon lange waren die Europäer an chinesischen Waren wie Porzellan, Seide, Tee und 大黄 dà huáng Rhabarber interessiert, die die Kaufleute in Kanton in immer größeren Mengen einkauften und als Luxuswaren nach Europa brachten. Die Bedingungen, unter denen sie dies jedoch tun mußten, waren mit dem (relativ) freien Handel in Europa nicht vergleichbar. Der mandschu-chinesische Staat, der Kaiser und seine Beamten, hielt nicht nur das Land, sondern auch seine Wirtschaft unter fester Kontrolle. So durften die Europäer sich noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer nur 67 Diesen Verdacht äußert jedenfalls Nigel Cameron, Barbarians and Mandarins Thirteen Centuries f Western Travellers to China, Oxford University Press (China) Ltd. Hong Kong, 1970, S. 302-303. 68 Der Verlauf der Reise ist offiziell und von Teilnehmern, darunter ein Maler, ausführlich beschrieben worden. Der erste China-Reisebericht eines Deutschen in deutscher Sprache stammt von dem deutschen Teilnehmer der Expedition, vgl.: Johannes Christian Hüttner, Nachricht von der Britischen Gesandtschaftsreise durchChina und einen Teil der Tartarei, herausgegeben von Sabine Dabringhaus, Jan Thorbecke Verlag Sigmaringen, 1996. 69 Peyrefitte berichtet von der Begegnung Amherst - Napoleon in seinem Buch The Immobile Empire, New York, Knopf, Random House, 1992. ISBN: 0394586549. 126 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE wenige Monate lang in Südchina und dort nur auf einer kleinen Fluß-Insel vor 广州 Gu~ngzhÇu (Kanton), aufhalten und ausschließlich mit den vom Kaiser lizensierten Mandarinen, die sie Cohong nannten (von chin.: 公行 gÇng háng = offiziell ermächtigte Firma), Handel treiben. Ins Landesinnere durften sie nicht reisen und nach Ó Cohong ö gÇng háng in Kanton. wenigen Monaten hatten sie Kanton bis zur nächsten Handelssaison- wieder zu verlassen. Sie überwinterten dann, weil der Weg nach Europa viel zu weit war, in der portugiesischen Enklave 澳门 Àomén Macao. Im Laufe der Jahre vergrößerte sich unter diesen Bedingungen, dem sogenannten Canton System, der chinesische Handelsüberschuß laufend. Die Europäer kauften immer mehr Tee, Seide, Porzellan und Rhabarber, während sie ihre eigenen, industriell erzeugten Massenwaren in China kaum absetzen konnten. Immer mehr Silber, mit dem die Chinesen bezahlt wurden, floß so von Europa nach China, was vor allem in London, bei der East India Company, die den englischen Asienhandel monopolisierte, zunehmenden Unmut verursachte. Mit dem Opium fand diese Firma gegen Ende des 18. Jahrhunderts schließlich aber doch eine Ware, die sie in China gut absetzen konnte. In immer größeren Mengen brachten ihre Schoner das Rauschgift aus der britischen Kolonie Indien vor die chinesische Küste und in ihre Kantoner Lagerhäuser, von wo es chinesische Beamte und Kaufleute ins Inland verbrachten und für einen ordentlichen Gewinn verkauften. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte dieser Opiumhandel solche Ausmaße angenommen, daß die Gesundheit der chinesischen Bevölkerung flächendeckend sichtlichen Schaden nahm. Der Kaiser verbot nun den Rauschgiftimport, und befahl dem Gouverneur der Provinzen 湖北 Húbi und 湖南 Húnán, 林 则徐 Lín Zéxú, sein Verbot gegen die Ausländer durchzusetzen. Das tat 林 Lín 1839. Er zwang die uneinsichtigen englischen Kaufleute in Kanton zur Herausgabe ihrer Opiumkisten und ließ sie verbrennen. 127 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die, ohnehin seit langem unzufrieden mit ihrem fehlenden Warenabsatz und Spielraum in China, wandten sich unter der Parole des free trade! Freihandels um Hilfe an ihre Regierung und erreichten alsbald ein militärisches Vorgehen gegen China. Ein britisches Expeditionskorps nahm zunächst Kanton und 1842 auch 上海 Shàngh|i. Diesen 1. Opiumkrieg beendete der Vertrag von Nanking, in dem die problemlos geschlagene chinesische Regierung den Engländern zahlreiche Zugeständnisse machen mußte wie die Abtretung der Insel Hongkong (von wo aus nun unbehelligt der verbotene Opiumhandel organisiert werden konnte) und die Öffnung weiterer Hafenstädte für den ausländischen Handel. Die bekannteste geöffnete Stadt wurde in den Jahren danach 上海 Shàngh|i, das bis zum Ende der dreißiger Jahres des 20. Jahrhunderts unter ausländischer Verwaltung blieb und noch heute vom Geist dieser Entwicklung beseelt ist. In einem zweiten Waffengang (sog. 2. Opiumkrieg, 1858 1860), den diesmal England und Frankreich gemeinsam führten, suchten sich die Europäer weitere Vorteile zu sichern, da in den Jahren nach dem 1. Opiumkrieg keine nennenswerten Fortschritte bei der wirtschaftlichen Durchdringung Chinas gemacht worden waren. Das Hauptziel der europäischen Unternehmen, die an der Spitze des Drangs nach China standen, war die wirtschaftliche Öffnung und Nutzung des riesigen chinesischen Marktes, den sie schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so sahen. Die Ursache für ihre ausbleibenden Absatzerfolge meinten sie in den unkooperativen Maßnahmen der chinesischen Herrschaft zu erkennen, gegen die sich folglich ihr Zorn richtete. Sie verlangten von ihren eigenen Regierungen zuhause deshalb die gewaltsame Durchsetzung des Freihandels in China, womit sie freilich nur die Durchsetzung zahlreicher Sonderrechte für sich selbst meinten. Die Stellung der ausländischen Kaufleute (1842 bis ca. 1940) Der amerikanische Sinologe John K. Fairbank unterscheidet drei Phasen ausländischer Anwesenheit in China, die er zeitlich und inhaltlich wie folgt festmacht: 128 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 1842 bis 1860: Aufbau des Systems der Vertragshäfen in China; 1860 bis 1890: Die 通商口岸 tÇng sh~ng k4u=àn Vertragshäfen werden zu westlichen städtischen Zentren, zu europäischchinesischen Hybrid-Kulturen mit Ausstrahlung in ihr Umland, also ins innere China hinein. 1890 bis 1920: Die ausländischen Einflüsse steigern sich zu einer Flut, die den traditionellen chinesischen Stil und Staat unterspült. Liberalismus kehrt ein, eine bürgerliche chinesische Klasse entsteht. Hochphase ausländischen Einflusses in China. Erst die japanische Invasion ab 1937 sowie der Sieg der Kommunisten 1949 beendeten dieses System70. Treibende Kraft bei der Expansion ausländischer Vorrechte in China war die herrschende Klasse Englands, die aus kaum mehr als ca. 500 aristokratischen Familien bestand, sowie die Lobby der gierigen Kaufleute, die ihre Regierung unter dem Schlachtruf des Freihandels zur Aktion brachten. In bezug auf China taten sich an ihrer Spitze die Herren William Jardine (Schotte), James Matheson und John Dent hervor71. Ziel der Briten ab 1842 war die Durchsetzung allgemeiner Handelsprinzipien, wie sie auch in Europa zwischen souveränen Staaten galten. Zum Beispiel: ! Sicherheit und Schutz für Personen und Eigentum (Art. 1, Nanking-Vertrag). ! Aufenthaltsrecht für Briten in China bzw. in den Vertragshäfen. ! Unbeschränkter Handel mit allen Chinesen, die dies wünschten (Art. 2 und 5). ! Öffentlich bekanntgemachte Zollsätze. Die erstmalige Umsetzung dieser Ziele erfolgte im Vertrag von 70 John K. Fairbank, *The Creation of the Treaty System+, Cambridge History of China, Band 10, S. 214. 71 Ebd., S. 215. 129 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Nanking (南京 Nánj§ng), geschlossen auf Basis militärischer Siege der Briten über das chinesische Kaiserreich (1. Opiumkrieg) am 29.8.1842 an Bord eines britischen Kriegsschiffes (Verhandlungsführer auf seiten der Briten: Sir Henry Pottinger). Dieser Vertrag bestimmte im einzelnen: ! China zahlt eine Entschädigung in Höhe von 21.000.000 $ für das verbrannte Opium, ! fünf chinesische Häfen sind für den Handel zu öffnen: 广州 Gu|ngzhÇu Kanton, 厦门 Xiàmén (damals: Amoy), 福州 FúzhÇu , 宁波 NíngbÇ und 上海 Shàngh|i, ! gleichberechtigter Kontakt zwischen ranggleichen Beamten beider Staaten (= Schluß mit der chinesischen Überheblichkeit gegenüber den Barbaren), ! Einrichtung britischer Konsulate in den geöffneten Hafenstädten, ! Abschaffung des cohong (公行 gÇng háng) Handelsmonopols, ! einheitlicher, moderater Zoll auf importierte/exportierte Waren (5 Prozent), ! Abtretung der Insel Hongkong (香港 Xi~ngg~ng) an Großbritannien (auf alle Zeiten). Die Taktik der Mandschus in den Jahren nach dem ihnen mit Gewalt aufgezwungenen Vertrag von Nanking bestand im Hinhalten der Ausländer72. Sie machten sich dabei die Fremdheit des chinesischen Staates und Lebens für die Ausländer zunutze. Zum Beispiel, indem sie die von den Europäern durchgesetzten niedrigen Import-Zollsätze dadurch unterliefen, daß den ausländischen Waren beim Weitertransport im Inland an zahlreichen Stellen weitere Zölle (der sogenannte 厘金 lí j§n oder: Likin) auferlegt wurden, wovon die Briten zunächst gar keine Ahnung hatten. Ergebnis war 72 Sehr anschaulich in der britisch-chinesischen Korrespondenz zu sehen: J.Y. Wong, Anglo-Chinese Relations 1839-1860, A Calendar of Chinese Documents in the British Foreign Office Records, Oxford University Press,1983. 130 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE eine ungeahnte Verteuerung und daraus folgend ein schlechter Absatz der Waren wenn sie den Endabnehmer erreichten. Der Freihandel konnte so nicht verwirklicht werden73. Die Chancen der Fremden, mit den völlig andersartigen Bedingungen der chinesischen Schriftzeichen-Welt zurechtzukommen, waren denkbar schlecht. Ihre Bewegungsfreiheit im Lande weiteten sie zwar im 19. Jahrhundert ständig aus, zuletzt unterlagen sie nicht einmal mehr chinesischem Recht, aber genützt hat ihnen das nur wenig, denn im Zweifelsfalle standen immer die unergründlichen Schriftzeichen zwischen ihnen und der chinesischen Umgebung. Ohne Helfer und Mittelsleute ging für die Europäer gar nichts. Dies war die Zeit, als die ersten China-Spezialisten/consultants aufkamen, meist ziemlich undurchschaubare, abenteuerliche Gesellen mit Chinesisch- und Landes-Kenntnissen wie der deutsche Missionar Karl Friedrich August Gützlaff (1803-1851). Die Chinesen verachteten (offiziell) die Ausländer aus einem Gefühl der kulturellen Überlegenheit heraus. In ihren Augen stellten sie Materielles, den Handel, ihre Geldgier, über die von Konfuzius definierten wesentlichen Dinge des Lebens (das Edle im Individuum auszubilden, gut und selbstlos zu sein - wenigstens dem äußeren Schein nach). Schlimmer noch: Diese Kaufleute konnten sogar die Beamten ihres Staates daheim unter Druck setzen, sie dazu bringen, ihren Wünschen zu genügen - eine glatte Umkehr der chinesischen Hierarchie-Ordnung, die Kaufleute ganz weit hinten in der Hierarchie der Ehrenmänner ansiedelte. (Diese Haltung, von der sie fest überzeugt waren,hielt sie freilich niemals davon ab, die Geschenke und Bestechungsgelder der ausländischen Geschäfleute anzunehmen, ihnen gegen Bezahlung die chinesische Welt zu öffnen, ja ihnen diese sogar zu verkaufen bzw. sich selbst auf diesem Gebiet zu betätigen. Der norwegische Dramtiker Henrik Ibsen (1828-1906) befaßte sich in seinen Theaterstücken mit einer solchen Haltung, die auch in Europa anzutreffen ist. Er nannte sie Lebenslüge.) Die Einzelheiten der Ausführung der Nanking-Vertragsbestimmungen verhandelten beide Seiten bis 1843 (General Regu73 Ebd., S. 221. 131 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE lations of Trade, 22.7.1843), anschließend wurden die Vertragshäfen nach und nach geöffnet: ! ! ! ! ! 广州 Gu|ngzhÇu Kanton (27.7.1843), 厦门 Xiàmén (Amoy) (2.11.), 上海 Shàngh|i (17.11.), 宁波 NíngbÇ (1.1.1844), 福州 FúzhÇu (Juni 1844). Auch Amerika (3.7.1844) und Frankreich (24.10.1844) schlossen auf der Basis des Nanking-Vertrages ähnliche Abkommen mit China. Kleine Gemeinden von Ausländern siedelten sich bald in den geöffneten Hafenstädten an. Diese ersten Expatriates wohnten immer zusammen, getrennt von den mittlerweile verachteten Chinesen, meist direkt am Wasser, dem Bund, bei ihren Lagerhäusern, den sogenannten Godowns. Die Gemeinden bestanden aus Kaufleuten, Konsuln und protestantischen Missionaren. Die größte Anziehungskraft unter den geöffneten Hafenstädten entwickelte alsbald Shanghai, wo bereits kurz nach dessen Öffnung 1842 etwa 500 Ausländer lebten und sich ca. 200 Firmen niedergelassen hatten, deren Brot- und Buttergeschäft das Opium war. Nach der chinesischen Zollstatistik, die wie der gesamte Zoll bald von Ausländern, nicht von Chinesen, geführt wurde, betrug die Anzahl der Briten, Amerikaner, Franzosen und Deutschen in China 1903 ca. 11.000, im Jahre 1921 ca. 21.000 (hinzu kamen 1903 ca. 360 Russen, 1921, nach der Oktober-Revolution, aber bereits ca. 70.000 plus 5.000 bzw. 144.000 Japaner).74 Alle Angelegenheiten der Ausländer unterstanden der sogenannten 领事裁判 l0ng shì cái pàn Konsulargerichtsbarkeit, was bedeutete, daß chinesische Behörden und Beamte ihre oder die Aktivitäten ihrer Firmen nicht beschränken, regulieren, lizensieren oder besteuern durften. Die Ausländer standen 治外法权 zhì wài 74 Albert Feuerwerker, *The Foreign Presence in China+, Cambridge History of China, Band 12, S. 148. 132 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE f| quán außerhalb des chinesischen Rechts, waren off limits. Sie bewegten sich in China völlig frei und unbehelligt von der chinesischen Verwaltung. Ihre Rechtsstreitigkeiten kamen nicht vor chinesische Gerichte, sondern wurden von den Konsuln der jeweiligen Länder nach derem Recht (oder konsularischem Gutdünken) entschieden. Im Schatten der so gedeckten direkten geschäftlichen ChinaAktivitäten siedelten sich im Laufe der Jahre weitere Tätigkeiten an, die die chinesischen Behörden ebenfalls nicht beeinflussen konnten wie zum Beispiel ein eigenes ausländisches Pressewesen. Eine Studie zu diesem System der Exterritorialität faßt die Position der Ausländer so zusammen: The basic original right of freedom from Chinese court jurisdiction had been extended and broadened to include freedom from Chinese administrative control except in matters explicitly provided for in the treaties.75 Sämtliche Geschäftsaktivitäten der ausländischen 大班 dà b~n taipan (Bezeichnung für die Chefs der ausländischen Firmen) in China konnten -trotz aller Freiheiten- dennoch nur mit Hilfe von sogenannten 买办 m|i bàn Kompradoren abgewickelt werden, Chinesen, die weitgehend selbstständig sämtliche geschäftlichen Aufgaben im Interesse der Ausländer erledigten. Sie waren in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das entscheidende Bindeglied zwischen dem Geschäft des Ausländers und dem chinesischem Markt. Ohne sie lief nichts. Warum dies so war, beschreibt der amerikanische Journalist, Geschäftsmann und wahre China-Kenner Carl Crow im Kapitel The Lordly Compradore seines Buches über die Geschichte der Ausländer in China. Dies war, so Crow, die Situation des ausländischen Kaufmanns im Lande der Schriftzeichen: 75 John Carter Vincent, The extraterritorial system in China: final phase, zit. nach: Albert Feuerwerker, *The Foreign Presence in China+, Cambridge History of China, Band 12, S. 151. 133 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE The foreign merchant in fact was equipped with nothing more than a cargo of opium, furs or sandlewood, or a few barrels of Spanish dollars and a desire to trade with the Chinese. He did not know how or where to secure the cargoes of tea and other Chinese commodities or what he should pay for them. He had only general and often mistaken ideas as to what the Chinese might want to buy. The problem of finding markets in the interior for the sale of goods or the purchase of produce; of packing and inland transportation and the complicated transit taxes were all mysteries ...76 Hier nun kam der Komprador ins Spiel, die Brücke, die den Ausländer zum Geschäft führte. Der Name entstammt dem portugiesischen compra, was kaufen heißt und darauf hindeutet, daß die ersten Kompradoren vermutlich etwas für die Ausländer -wahrscheinlich Tee- aufkauften. Der Komprador war auch der Erfinder des pidgin English, was sich ableitet aus business English. In dieser Kauderwelsch (long time no see) verkehrte er mit seinem Chef, etwa so, wie Carl Crow es unsterblich festgehalten hat: Taipan: *How fashion that chow-chow cargo he just now stop godown inside?+ Comprador: *Lat cargo he no can walkee just now. Lat man Kong Tai he no got ploper sclew.+ Taipan: *How come you talkee sclew no ploper? My have got sclew paper safe inside.+ Comprador: *Aiyah! Lat sclew paper he no can do. Lat sclew man he have go Ningpo more far.+ Crow bezeichnete dies als *perfectly intelligible to any old resident+ und übersetzt den Inhalt so: The inquiry was about the reason why a shipment of mixed cargo (chow-chow) was still in the godown (warehouse). The compradore replied that the cargo could not be moved (walkee) 76 Carl Crow, Foreign Devils in the Flowery Kingdom, Popular Bok Company Shanghai, o.J., ca. 1940, S. 33. 134 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE because the security (sclew) of Kong Tai, the purchaser, was not in order. To the taipan=s assertion that he had the security in his safe the compradore replied that it was now worthless because the man who had guaranteed payment for the cargo -=sclew man had gobe Ningpo more far=- which was the local idiom for stating that he had defaulted and run away from his creditors.77 Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein galt dieses System, daß es dem europäischen oder amerikanischen Expatriate gestattete, ein Leben des Müßiggangs auf Pferderennbahnen und in den zahlreichen Clubs der geöffneten Hafenstädte (vor allem: Shanghai) zu führen. Ihn kümmerte China nicht, weder Sprache noch Land interessierten ihn und mußten dies auch gar nicht, denn: Alle Arbeit erledigte der Komprador-Chinese. Die beim Import und Export von Gütern anfallenden Formalitäten waren ohnenhin Sache der ausländischen Konsuln, nicht chinesischer Behörden, in den Vertragshäfen. Der Konsul wiederum konnte diese Rolle nur dank seiner Dolmetscher spielen, aus deren Kreis später sehr bekannte Persönlichkeiten hervorgingen wie Robert Hart (fünfzig Jahre lang Chef des chinesischen Seezolls), Francis Wade, der zusammen mit Thomas Giles das erste einheitliche, allgemein verwendete Umschriftverfahren für chinesische Schriftzeichen entwickelte, das Wade-Giles System, und andere. In letzter Instanz abgesichert waren die Aktivitäten der Ausländer in China durch ihre Kanonenboote, die in den Häfen lagen und gegen die Chinesen eingriffen, wenn ein Konsul wirklich einmal nicht mehr weiter kam und dies verlangte. In kurzer Zeit entstand zwischen den Ausländern und den häufig alles andere als korruptionsfreien chinesischen Verwaltungsbeamten eine Klasse chinesischer Desparados, die teils mit den Ausländern zusammenarbeiteten, jedenfalls wie die Kompradoren durch sie Geld verdienten, teils aber auch bald ihrer eigenen Wege 77 Carl Crow, Foreign Devils in the Flowery Kingdom, Popular Book Co. Shanghai, ca. 1937, S. 35. Ein herrliches Buch! 135 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE gingen: der Keim eines chinesischen Bürgertums.78. In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt Shanghai am schnellsten von allen Vertragshäfen, bis sie schließlich der zentrale Handels- und Geschäftsknoten Chinas, ja ganz Asiens wurde. Ausländer verwalteten die Geschäfts-Stadt völlig selbständig und allein, was die lokalen Chinesen gerne akzeptierten, da es auch ihren entfesselten Geldgelüsten entgegenkam. Die Stadt war de facto unabhängig79. Das Zollwesen zum Beispiel kontrollierten die Ausländer über die Konsuln bzw. den Leiter des Seezollwesens, Sir Robert Hart.80 Letztlich wegen der chinesischen Intransigenz in allen Dingen, die die Engländer interessierten, kam es 1856 zum sogenannten 2. Opiumkrieg oder Lorcha [Transportschiff] Arrow-Krieg, der sich in Kanton aus einem Zwischenfall um das unter britischer Flagge segelnde Schiff Arrow entzündete. Englisch-französische Truppen öffneten in der Folge gewaltsam die vehement ausländerfeindliche Stadt Kanton und marschierten 1858 sogar auf Peking, das bis dahin noch ausländerfrei gewesen war. Ziel der Engländer war es, das Kaiserhaus zu zwingen, die Bestimmungen des Nanking-Vertrages von 1842 landesweit durchzusetzen, insbesondere in Kanton, wo die chinesische Bevölkerung während der gesamten sechzehn Jahre seit dem 1. Opiumkrieg den Briten soviel Widerstand geleistet hatte, daß kein Ausländer die eigentliche Stadt hatte betreten können. Deshalb wollten die Engländer eine Gesandtschaft (Botschaft) in Peking errichten, um über die Zentralregierung Einfluß auf das intransigente Verhalten lokaler Behörden zu nehmen. Schließlich wollte man nicht jedes Mal wieder einen Krieg anfangen, nur um diese oder jene neue 78 John K. Fairbank, *The Creation of the Treaty System+, Cambridge History of China, Band 10, S. 237. 79 John K. Fairbank, *The Creation of the Treaty System+, Cambridge History of China, Band 10, S. 240. 80 Eine schöne Schilderung der Stadt und der Zustände in dieser Zeit (bis zur Besetzung durch Japan), in: Stella Dong, Shanghai 1842 - 19949 The Rise and Fall of a Decadent City, Harper Collins 2000, ISBN 0-688-15798-X. 136 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Forderung durchzusetzen. Die Chinesen (Mandschus) hingegen wollten -wie sechzig Jahre zuvor, als Lord Macartney dies schon einmal vorgeschlagen hatteeine Anwesenheit der Ausländer in der Hauptstadt auf jeden Fall verhindern. Deshalb unterschrieben sie angesichts der militärischen Überlegenheit Englands und Frankreichs 1858 den Vertrag von Tientsin (天津 Ti~nj§n), der u.a. die Öffnung von weiteren elf Städten für den internationalen Handel festlegte sowie die Erlaubnis für ausländische Schiffe, den Yangtse 长江 Cháng Ji~ng (oder 扬子江 Yáng Z0 Ji~ng) zu befahren und so auch in das Hinterland vorzudringen. Der Einrichtung diplomatischer Vertretungen der Ausländer aber widersetzten sie sich weiterhin: Wie konnten der Kaiser von China oder seine Mandarine jemals gleichberechtigt mit den Barbaren, wie die Ausländer immer noch ganz offiziell hießen, verkehren? So marschierten die englischen und französischen Truppen von Tianjin aus nach Peking weiter, wo sie, um den Widerstand der Regierung endgültig zu brechen und ein Exempel zu statuieren, den kaiserlichen Sommerpalast 圆明园 Yuán Míng Yuán81 zuerst plünderten und dann zusammenschossen. Der 清 Qíng-Regierung blieb nun nichts anderes übrig als die Ansiedlung ausländischer Legationen (Botschaften) in der Hauptstadt zu genehmigen sowie den Grundsatz zu akzeptieren, über diese Vertretungen in gleichberechtigter (nicht tributärer) Weise mit den Ausländern (nicht mehr: Barbaren) zu verkehren. Die Europäer hatten die Chinesen mores gelehrt, nun endgültig ihre Überlegenheit demonstriert und ihr Prinzip des gleichberechtigten Nationalstaates auch in China eingeführt. Wobei von tatsächlicher Gleichberechtigung angesichts ihrer Sonder- und Herrenreiterstellung natürlich überhaupt keine Rede sein konnte. Auf Basis der Verträge von Nanking (1842) und Tientsin (1858) Ðø Yí Hé Yuán Sommerpalast. Der Nicht zu verwechseln mit dem ÷ ù©ø Yuán Míng Yuán war im Auftrag des Kaisers êë Qián Lóng von dem 81 Jesuitenpater Guiseppe Castiglione (1688 bis 1766) im 18. Jahrhundert als Parkanlage mit vielen Gebäuden im europäischen Stil konzipiert worden. 137 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE konnten Ausländer nun unbehelligt von chinesischer Souveränität in den bedeutendsten Städten Chinas -selbst im Hinterland, zum Beispiel in 武汉 Wßhàn82- leben und dort im Schutz von Extraterritorialität und Konsular-Gerichtsbarkeit Geschäfte nach ihrem eigenen Recht und Gusto betreiben. Ausländische Importgüter mußten nur einmal, an der Grenze, verzollt werden (nach den Tarifen und Kungeleien eines nicht von der chinesischen Regierung kontrollierten Zollwesens) und durften anschließend, beim Weitertransport, nicht mehr besteuert, d.h. verteuert werden (was die Chinesen natürlich auf ihre Weise dennoch regelten). Die priviligierte Stellung der Ausländer in China läßt sich an einigen juristischen Begriffen jener Jahre festmachen, die bis zum Ende der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahhunderts gültig blieben: 最惠国 zuì huì guó Meistbegünstigung: Jede Vergünstigung, die eine Macht der hilflosen chinesischen Regierung abpreßte wie zum Beispiel eine Gebietsabtretung, berecjtigt automatisch jeden anderen interessierten Staat, sich etwas Gleichwertiges vom chinesischen Land anzueignen. 通商口岸 tÇng sh~ng k4u=~n Vertragshafen oder treaty port: So hießen alle Hafenstädte, die entlang der Küste oder schiffbarer Gewässer dem ausländischen Handel und damit ausländischen Händlern zugänglich waren. Hier war ein Büro des chinesischen Seezolls eingerichtet (der unter ausländischer Verwaltung stand). Den Ausländern vorbehaltene Bezirke gab es in diesen Städten offiziell nicht, doch siedelten diese meist zusammen in bestimmten Gebieten. Nach 1860 durften Ausländer zwar frei in China herumreisen, Wohnen und Handel jedoch waren nur in den Vertragshäfen gestattet. (Missionare durften hingegen überall in China wohnen, Land erwerben und verpachten und natürlich- auch missionieren. 居留地 jù liú dì Niederlassung, settlement: hießen die Stadtteile 82 Damals: úû Hànk4u. 138 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE der Vertragshäfen, die unter Kontrolle der dort lebenden Ausländer standen, angeführt meist durch einen Konsul. Sie waren von den umliegenden chinesischen Gebieten und deren Verwaltung getrennte Einheiten mit eigenem ausländischem Stadtrat (dem in Shanghai zum Beispiel bis zum Ende der dreißiger Jahre auch keine Chinesen angehörten) und eigener Verwaltung, die sich um alles kümmerte - Sicherheit (Polizei), Infrastruktur etc.- und dafür Steuern einzog. Ausländern und Chinesen war es gestattet, dort Landeigentum zu erwerben. Niederlassungen waren, kurz, chinesischer Boden unter ausländischer Kontrolle. 租界 zã jiè Konzessionen: waren de facto Kolonialgebiete der Ausländer in China (das als Land dem Schicksal, Kolonie zu werden, entging - es war zu groß und die Konkurrenz der Ausländer untereinander zu heftig). Das jeweilige KonzessionsTerritorium war von der chinesischen Regierung meist auf Zeit (zum Beispiel 99 Jahre wie im Falle des deutschen Tsingtaos [青岛 Q§ngd|o]) gepachtet83 worden und unterstand einem Konsul. Juristisch, soweit dies überhaupt eine Rolle spielte, konnte hier Chinesen oder anderen Nationalitäten der Zutritt, das Wohnen oder der Erwerb von Grund und Boden verboten werden. Ansonsten entsprachen die Konzessionen den Niederlassungen. 治外法权 zhì wài f| quán Exterritorialität: ist ein Schlüsselbegriff, der die Sonderstellung der Ausländer in China umfassend bezeichnet. Er bedeutete, daß sie nicht der chinesischen Rechtsprechung unterstanden - ein fundamentaler Unterschied zu heute. Selbst Streitigkeiten mit Chinesen wurden nach ausländischem Recht entschieden (soweit Recht dabei überhaupt eine Rolle spielte!). Eigenartigerweise entsprach eine solche Sonderstellung teilweise auch mandschu-chinesischen Wünschen: Man wollte mit den Händeln der Barbaren einfach nichts zu tun haben, weshalb bereits im ersten Vertrag mit einem anderen Staat, den die chinesische Regierung überhaupt 83 Es ist zumindest sehr zweifelhaft, ob jemals eine Pacht gezahlt wurde. 139 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE abschloß, dem Vertrag von Nerchinsk (mit Rußland, 1689), festgelegt worden war, daß jede Seite selbst für ihre jeweiligen Bürger verantwortlich sein sollte. Das bedeutete für die Ausländer, daß sie, obwohl in China lebend, weiterhin dem Recht ihres Heimatstaates unterstanden. Ihr oberster Gerichtsherr war ihr jeweiliger Konsul. Das Ganze bewirkte einen unübersichtlichen Flickenteppich des Rechts, denn zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren immerhin 18 Staaten auf dieser Basis in China mit Konsuln vertreten: Groß Britannien, Frankreich, die Vereinigten Staaten, Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Brasilien, Dänemark, Italien, Japan, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Peru, Portugal, Rußland, Spanien und Schweden. Es ist klar, daß unter diesen Bedingungen die Ausländer, mit einem Wort, in China tun und lassen konnten, was sie wollten. Einer erfolgreichen wirtschaftlichen Durchdringung des größten Marktes der Welt stand anscheinend nichts mehr im Wege. Freilich blieben sie stets in der Minderheit, auch wenn ihre Zahl wie Ende der 1920er Jahre in Shanghai auf 60.000 stieg. Ihre Exklaven waren dennoch Welten für sich, weil die Ausländer hier alles ansiedelten, was sie in der fremden chinesischen Umgebung vermißten aber für nötig hielten: Gerichte, Polizeieiheiten, die sie selbst befehligten, ja bisweilen sogar kasernierte eigene Militäreinheiten samt eigenen Kanonenbooten, die für den Fall der Fälle im Hafen vor Anker lagen. Die Infrastruktur, Wasser- und Stromversorgung, Straßen, das Bauwesen und die Anlage von öffentlichen Parks (eine Einrichtung, die die Chinesen bis dahin gar nicht kannten), lag ebenfalls in ausländischen Händen und wurde nach ihren Vorstellungen gestaltet. Shanghais berühmte Uferstraße, den Bund (chinesisch: 外滩 wài t~n), wurde nicht nur von ausländischen Investoren und Architekten gebaut und von ausländischen Firmen benutzt, sondern auch auf Beschluß des ausländischen Stadtrates angelegt. Chinesen hatten damit gar nichts zu tun. Selbst wenn diese Gebiete flächenmäßig klein waren (das größte, die internationale Niederlassung in Shanghai, erreichte ca. 10 Quadratkilometer) und von vergleichsweise wenigen Auslän140 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE dern in einem Meer von Chinesen bewohnt waren, hatten sie doch eine erhebliche Ausstrahlung auf die chinesische Gesellschaft. Zum Beispiel schon dadurch, daß revolutionäre chinesische Elemente, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend radikal gegen die Mandschu-Herrschaft vorgehen wollten und später auch die Kommunisten, sich dort relativ frei bewegen und organisieren konnten und vor Verfolgung weitgehend sicher waren. Das galt selbst für manche Kriminelle, die in den zwanziger und dreißiger Jahren Shanghai sein ganz besonderes Flair verschafften. Für die republikanische chinesische Regierung boten die ausländischen Enklaven schließlich in den dreißiger Jahren den Vorteil, viele Geldgeschäfte dem Zugriff der japanischen Besatzer im Nordosten und Osten zu entziehen. 1894 brachte einen weiteren, tiefgreifenden und nachhaltigen Schock für China, als der Krieg gegen das angreifende Japan verlorenging. Im folgenden Vertrag von Shimonoseki (chin.: 马关 M|gu~n) mußte die Regierung nicht nur Korea und Taiwan an die 倭寇 wÇ kòu kurzbeinigen Seeräuber, wie der Schimpfname für Japaner lautet, abtreten, sondern den Japanern und -Meistbegünstigung- damit auch den anderen Ausländern gestatten, neben Firmen-Vertretungen und Handelsgesellschaften in den Vertragshäfen nun auch produzierendes Gewerbe, Fabriken, in China zu etablieren. Das war bis dahin verboten gewesen, aber natürlich gleichwohl bereits geschehen. Zur Jahrhundertwende hatte China damit seinen wohl tiefsten Punkt in der Rangliste der Nationen erreicht. Die Industriestaaten nahmen es überhaupt nicht mehr ernst und verfuhren im Lande nach Belieben. Das kaiserliche China stand vor seinem Untergang. 141 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Innere Ursachen des Untergangs Nicht die Konfrontation mit den Europäern aber bewirkte in erster Linie den Nieder- und schließlich den Untergang des kaiserlichen Chinas, sondern die Unfähigkeit oder der Unwille der Herrschenden, ihren Staat in Ordnung zu halten, der Bevölkerung ein Überleben zu sichern.. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die beste Zeit der MandschuDynastie für China längst vorbei. Nicht nur die Europäer an den Küsten und die Russen im Nordosten nagten am Reich, sondern Karte des üý Taiping-Aufstandes, 1851-1864. ein gigantischer Aufstand im Inneren bedrohte zwischen 1851 und 1864 die 清 Q§ngHerrschaft in ihren Grundfesten. Peking konnte die 太平 Tài Píng (Ruhe und Frieden) Rebellion letztlich nur mit aktiver militärischer Hilfe der Ausländer in Shanghai niederschlagen, denn die Fremden glaubten, daß sie mit den schwachen Mandschus besser führen als mit womöglich siegreichen chinesischen Rebellen, obwohl diese ihnen mit ihrer aus dem christlichen Glauben krude zusammengemixten europäisch-chinesischen Ideologie-Melange scheinbar näherstanden als die eigenartigen Manschus. Häufig bereits war es in der chinesischen Geschichte zu großen, von Geheimgesellschaften organisierten Aufständen gegen die herrschenden Dynastien gekommen, nicht selten mit Erfolg wie die 黄巾军 Huáng J§n Jãn Armee der Gelben Turbane (stürzten die 汉 142 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Hàn), die 白莲教 Bái Lián Ji~o Sekte Weißer Lotus (stürzten die 元 Yuán) oder Bauernführer 李自成 L0 Zìchéng, der de facto die 明 Míng-Herrschaft beendete, den die einmarschierenden Mandschus jedoch um die Früchte seines Sieges brachten. Einen tiefen Eindruck auf alle folgenden Herrscher (inclusive die der Volksrepublik) hinterließen auch die gescheiterten, gleichwohl immer sehr gefährlichen Revolten wie die des 安禄山 }n Lùsh~n gegen die 唐 Táng und andere. Die 太平 Tài Píng Rebellion Mitte des 19. Jahrhunderts ging wie viele ihrer Vorgänger auf einen charismatischen, die Bauernmassen anziehenden und organisierenden Führer zurück. In diesem Falle hieß der Mann 洪秀全 Hóng Xiùquán. Er gehörte dem Volksstamm der 客家人 Kè Ji~ Hakka an (= Gäste-Volk, in Südostchina ansässig, aber sehr mobil und deshalb immer bei anderen Volksgruppen zu Gast), war durch die Beamtenprüfung gefallen und bekam anschließend religiöse Visionen, die sich aus den völlig un-chinesischen Bibel-Geschichten und Illustrationen ableiteten, die die Mitte des 19. Jahrhunerts zahlreich in China wirkenden christlichen Missionare verbreiteten: Ein alter Mann mit langem Bart (= Gott) und ein jüngerer (= Jesus) hätten ihm befohlen, die Dämonen (= Mandschus) in China auszurotten, verkündete 洪秀全 Hóng Xiùquán. Er war anschließend sogar überzeugt davon, daß er der jüngere Bruder Jesus= sei, ließ sich taufen und in christlichen Zeremonien unterweisen, wobei er sich vor allem auf das Alte Testament der Bibel stützte. Seine sich rasch bildende Anhängerschar forderte er auf, Götterbilder in den Tempeln zu zerstören, kein Opium zu rauchen und keinen Alkohol zu trinken. Das Füßebinden der Frauen und Prostitution sollten verboten werden. Die fremden Mandschus sah er als menschgewordene Inkarnation des Teufels, gegen die er die Chinesen mobilisierte. Damit war er Staatsfeind. Der Ausgangspunkt des Aufstandes, Südchina, bot Mitte des 19. Jahrhunderts ein wirtschaftlich-soziales Umfeld, das einer Rebellion sehr dienlich war: schlechte wirtschaftliche Lebensbedingungen der Bevölkerung, weit verbreiteter Opiumkonsum mit dem daraus folgenden Verfall der sozialen Ordnung und Verelendung 143 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE sowie eine in Südchina von jeher überdurchschnittliche Fremdenfeindlichkeit. Schon 1850 hatte 洪秀全 Hóng Xiùquán ca. 20.000 treue Anhänger um sich gesammelt, die von der Provinz 广西 Gu~ngx§ aus zunächst gegen lokale Banditenbanden, bald aber auch gegen kaiserliche Truppen vorgingen. Der Erfolg war durchschlagend. Ermutigt nahm 洪秀全 Hóng Xiùquán nun den Ruf Stürzt die Dynastie! in sein Mobilisierungsprogramm auf und erklärte sich selbst zum König eines, seines, Himmlischen Reiches. 1853 erreichte die aufständische Armee 南京 Nanking, wo sie die Mandschu-Garnison und alle anderen Mandschus umbrachten und eine eigene Regierung gründeten. Das verkündete Ziel der Himmlischen Rebellen war die Schaffung einer neuen Gesellschaft der Gleichheit - verkörpert in gleichem Bodenbesitz ebenso wie der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Beamtenprüfungen wurden als solche beibehalten, jedoch inhaltlich auf die Lehre des 洪秀全 Hóng Xiùquán sowie die Bibel gestützt. Ein Jahrzehnt herrschten die Taiping nun von Nanking aus über ganz Zentral- und Südchina, und die Mandschu-Dynastie hatte allen Grund, sich größte Sorgen um ihren Fortbestand zu machen. Allerdings gelang es den Taiping nicht, die Unterstützung der chinesischen Oberschicht aus Großgrundbesitzern und Beamten, der sogenannten 士绅 shì sh‘n Gentry zu gewinnen. Auch die ausländischen Missionare und anderen Ausländer in China unterstützten die Rebellen trotz deren anscheinend christlicher Ideologie nicht. 1860 und 1862 versuchten die Taiping-Truppen zweimal Shanghai zu erobern, scheiterten jedoch an der heftigen und aktiven Gegenwehr nicht zuletzt der Ausländer selbst, die die kaiserliche Regierung in Peking mit militärischem Rat, militärischer Tat sowie Geld und Waffen unterstützten, da sie die Aufständischen als große Gefahr für sich und ihre China-Vorhaben ansahen. Der ausbleibende Enderfolg und innere Auseinandersetzungen schwächten nun die Rebellen, und der Anführer der kaiserlichen Truppen, der Chinese 曾国藩 Z‘ng Guóf~n, begann von der Pro144 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE vinz 湖南 Húnán aus mit einer von ihm selbst neuaufgestellten Armee zunehmend erfolgreich gegen die Taiping vorzugehen. Dennoch dauerte es bis zur Einnahme von deren Hauptstadt Nanking noch gut zehn Jahre. Der Kampf war erbarmungslos, man geht heute von gut 20 Millionen Toten aus. Der wirtschaftliche Schaden für China und vor allem seine Staatsfinanzen war gewaltig. Nach der Niederwerfung der Taiping erhoben sich sich indessen in anderen Landesteilen weitere Rebellen-Organisationen wie die nordchinesischen 捻子 Ni|n Zì sowie muslimische (im Nordwesten) und 苗族 Miáo-Aufständische im Südwesten, die teils auf Loslösung der von ihnen beherrschten Gebiete von China zielten. Das Reich drohte zu zerfallen. Vier weitere Jahre benötigten 曾国藩 Z‘ng Guóf~n und sein Protegé/Schüler 李鸿章 L0 Hóngzh~ng, um auch diese Rebellionen niederzuschlagen und der Mandschu-Herrschaft das Gefühl zu geben, die Lage wieder unter Kontrolle zu haben. Gerade dies indessen war zunehmend weniger der Fall. Ähnlich wie die 唐 Táng die 安禄山 }n Lùsh~n Rebellion nur dadurch überstanden, daß sie lokalen Machthabern größere regionale Selbständigkeit gewährten, so standen am Ende des Taiping-Aufstandes zwei starke regionale und regional-kommandierte Armeen die des 曾国藩 Z‘ng Guóf~n in 湖南 Húnán (die sogenannte 湘军 Xi~ng-Armee, 湘 xi~ng = Kurzzeichen für 湖南 Húnán) und die des 李鸿章 L0 Hóngzh~ng in der Provinz 安徽 }nhu§ (die sogenannte 淮军 Huái-Armee). Die gehörten zwar der kaiserlichen Armee an, doch wurden nun, erstmals seit Beginn der MandschuHerrschaft, bedeutende Truppen von Chinesen und nicht von Mandschus kommandiert. Vor allem 李鸿章 L0 Hóngzh~ng, der seinen Mentor 曾国藩 Z‘ng Guóf~n um drei Jahrzehnte überlebte, erlangte auf dieser Basis eine beispiellos mächtige Position im China des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Allerdings blieb er ein loyaler Beamter der regierenden Mandschus, und vielleicht ist er gerade deshalb eine bis 145 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE heute negative Figur in der chinesischen Historiographie84. Der Beginn der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts markierte so für die Mandschu-Herrschaft den Anfang vom Ende. Bedrängt von den im Süden mit militärischer Gewalt, Rauschgift und Sonderrechten immer heftiger agierenden Europäern, die im sogenannten Zweiten Opiumkrieg 1860 schließlich bis in die bis dahin noch fremdenfreie Hauptstadt Peking vordrangen, und von den Russen, die im Nordosten immer größere Gebiete für sich abtrennten, begann nun, im Gefolge des langewährenden Taiping-Aufstandes die Ordnung auch im Innern zusammenzubrechen. Einen vernichtenden Schlag für das hergebrachte chinesische Überlegenheitsgefühl anderen Völkern gegenüber verursachte 1860 der Einzug der englisch-französischen Opiumkrieg-II-Truppen in Peking, gekrönt von der Plünderung und Brandschatzung des kaiserlichen 圆明园 Yuán Míng Yuán Palastes. In der Folge mußte die Dynastie die europäischen und anderen Barbaren als gleichberechtigte Staaten anerkennen und ihnen gestatten, Gesandtschaften (Botschaften) nahe dem Kaiserpalast zu unterhalten. Und die dort residierenden Gesandten/Botschafter beanspruchten, mit ihren chinesischen Gegenübern von gleich zu gleich zu verkehren eine unerhörte Neuerung für die chinesischen Beamten. Anwesenheit und Aktivitäten dieser Diplomaten , die ständig mit immer weitergehenderen Forderungen zum Vorteil ihrer jeweiligen Staaten (und zum Nachteil Chinas) vorstellig wurden85, machten es bald vollends unmöglich, sich weiter darüber hinwegzutäuschen, daß China dem Westen weder militärisch, noch industriell oder kulturell etwas entgegenzusetzen hatte. 84 þÿ ж So löste die TV-Serie z4u xiàng gòng hé guó Auf dem Weg zur Republik, die die letzten Jahre der Mandschu-Dynastie dramatisierte und in L0 Hóngzh~ng naturgemäß eine zentrale Rolle spielte, im Frühjahr der 2003 heftigste Kontroversen um seine Darstellung bis in höchste ZK-Kreise aus. Die Serie wurde schließlich abgesetzt. 85 Sehr plastisch und konkret, in Tagebuchform, für die Zeit April 1896 bis September 1897 beschrieben von der Frau des damaligen deutschen Botschafters, Elisabeth von Heyking in: Tagebücher aus vier Weltteilen, 1886-1904. 146 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Überdies begann die Herrschaftselite im Gegenzug nun selbst Diplomaten und Studenten in europäische Staaten und nach Amerika zu entsenden und konnte alsbald in deren Berichten nachlesen, wie die Fremden organisiert waren und sich ihre Staaten im Zuge der Industrialisierung rasant fortentwickelten. Mit Ausnahme des Mandschu-Kaiserhofes, der von 1861 de facto nicht mehr vom Kaiser, sondern von der Kaiserinwitwe 慈禧 Cí X0 (Konkubine des 1861 gestorbenen Kaisers 咸丰 Xián F‘ng) beherrscht wurde, brachte der Niedergang jedoch einige hohe chinesische Beamte wie zunächst vor allem 李鸿章 L0 Hóngzh~ng und später auch Vertreter der intellektuellen Elite dazu, sich langsam mit den Realitäten der Welt und der Rolle Chinas darin zu beschäftigen. Sie erkannten bald daß ihr Land in puncto Technik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft -also eigentlich in jeder Hinsicht- weit, sehr weit, hinter Europa und Amerika zurückgeblieben war. Ihre Unterlegenheit anzuerkennen war für die Herrscher Chinas, die sich seit jeher als Gipfel der menschlichen Entwicklung betrachteten und in allen anderen Völkern nur Barbaren sahen, nicht leicht. Am ehesten gelangten noch chinesische Aktivisten zu dieser Einsicht, die die Schuld für den beklagenswerten Zustand ihres Landes immerhin noch anderen, nämlich den Mandschus, anlasten konnten, die für sie selbst ja ebenfalls Fremdherrscher und Barbaren waren und ihnen, den 汉 Hàn, in despotischer und sie erniedrigender Weise gegenübertraten. Nach dem verlorenen sogenannten Zweiten Opiumkrieg und der Festsetzung der Fremden in der Hauptstadt Peking, vis-a-vis des Kaiserpalastes, war die Frage ab 1861 nicht mehr ob, sondern was und wie in China zu reformieren war. Anregungen dazu lieferten vor allem jene die im Zuge der erzwungenen Aufnahme diplomatischer Beziehungen als Botschafter, Dolmetscher, Botschaftsmitarbeiter aber auch als Studenten nach Amerika und Europa (später auch ins sich rasch industrialisierende Japan) kamen.Diese Beamten und Studenten waren die ersten Chinesen, die mit interessierten Augen diese ihnen völlig fremde Welt betrachteten und ihre Eindrücke und Verwirrungen 147 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE (zum Beispiel über die höfliche und respektvolle Behandlung von Frauen, über öffentliche Parks, die Straßen usw.) in Berichten zusammenfaßten86. Reformversuche der Herrschenden setzten mit dem Antritt des neuen (Kind-)Kaisers 同治 Tóng Zhì 1861 ein87 und hielten unter der Bezeichnung 自强运动 zì qi|ng yùn dòng Selbststärkungsbewegung bis 1895 an, als China den Krieg gegen Japan verlor und einen demütigenden Frieden mit dem früheren Tributbringer unterzeichnen mußte. Während der ursprüngliche Begriff 自强 zì qi|ng Selbststärkung auf das 易经 Yì J§ng Buch der Wandlungen zurückging, in dem es heißt, man solle den Kreislauf der Natur als Vorbild nehmen, um aus eigener Kraft dauernd Fortschritte zu machen, verweist die andere Bezeichnung dieser Reformbewegung, 洋务运动 yáng wù yùn dòng, Bewegung [zur Einführung] ausländischer [= 洋 yáng = Ozean] Dinge, darauf, worum es den Protagonisten wirklich ging: die Übernahme europäischer Technik, Waffen etc., um damit letztlich die chinesische Welt zu bewahren. Im Unterschied zu Japan jedoch, das in der sogenannten MeijiRestauration etwa zur gleichen Zeit sämtliche Errungenschaften des Westens, Technik, Organisation, Wissenschaft, Recht, radikal und ohne Vorbehalte und ins Land hereinließ und in der Gesellschaft systematisch umsetzte, was die japanische Gesellschaft in nur dreißig Jahren soweit modernisierte, daß sie zur stärksten Macht in Asien wurde, blieben die Chinesen Opfer ihrer 86 ñ Einer der ersten war Zh~ng Déyí, der seine Eindrücke in einem ausführlichen Tagebuch festhielt: Diary of a Chinese Diplomat, Panda Books, Peking 1992 ISBN 0-8351-2082-1. Eine sehr interessante Sammlung von Berichten auch in: Chinese Impressions of the West in: Renditions A ChineseEnglish Translation Magazine, No. 53 & 54, Hongkong ISSN 0377-3515 und in: Feng Chen, Die Entdeckung des Westens, Chinas erste Botschafter in Europa, 1866 - 1894, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-596-601657. Die sehr schöne Geschichte des vermutlich ersten Chinesen in Europa, den es bereits lange vorher, 1722, im Gefolge eines zurückreisenden jesuitischen Missionars nach dort verschlagen hatte, schrieb Joanthan Spence auf: The Question of Hu, Vintage Books 1988, ISBN 0-679-72580-6. 87 Den die Kaiserinwitwe Cí X0 als de-facto-Herrscherin vertrat. 148 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE hergebrachten kulturellen Arroganz, blieben in Halbherzigkeiten stecken und scheiterten die radikaleren Reformer am Widerstand der Mandschus und der eng mit ihnen verbundenen obersten Machthaber in der Beamtenschaft. Die Reformbewegung brachte zwar erstmals ein chinesisches Außenministerium (总理各国通商事务衙门 z4ng l0 gè guó tÇng sh~ng shì wù yá mén - Allgemeines Büro für die HandelsAngelegenheiten aller Länder, abgekürzt zu 总理衙门 z4ng l0 yá mén) sowie die erste Fremdsprachenschule Chinas hervor, erschöpfte sich aber ansonsten weitgehend im Einkauf ausländischer Maschinen88, Militärtechnik sowie von Produkten des Telegrafieund Eisenbahnwesens, von denen man annahm, daß sie den Kern der europäischen Stärke ausmachten. Einher damit ging die erste Aufnahme einer Anleihe in Großbritannien im Januar 1865, als die chinesische Regierung einen Kredit in Höhe von 1,4 Millionen Pfund aufnahm. Die wichtigsten Vertreter der Reformbewegung in diesen Jahren waren die Bezwinger der Taiping-Rebellen, 曾国藩 Z‘ng Guóf~n und besonders sein Schüler 李鸿章 L0 Hóngzh~ng. Er vor allem sorgte dafür, daß Werften, Telegrafenbüros, Industrien und Fremdsprachenschulen errichtet wurden, ausländische Ingenieure als Berater ins Land kamen und zahlreiche Kanonen, Maschinen und Anlagen importiert wurden, um China so stark zu machen, daß es den ausländischen Ansprüchen entgegentreten konnte. Glatt vonstatten ging all dies nicht, immer wieder traten Cliquen am Hof oder in den Provinzen gegen diese Art von Verwestlichung auf. Die Gegner hatten es umso leichter mit Kritik, als die Reformer nicht wenigen Illusionen anhingen und zum Beispiel glaubten, schon nach kurzem Studium und Üben würde es möglich sein, innerhalb von zwanzig bis dreißig Tagen ein großes Kriegsschiff bauen zu können. 曾国藩 Z‘ng Guóf~n selbst schrieb in einer Eingabe an den Kaiser: 88 ¶ Im Auftrag von Z‘ng Guóf~n reiste Yung Wing (Róng Hóng) im Dezember 1863 als einer der ersten chinesischen Maschineneinkäufer nach Amerika. 149 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Nachdem wir [Waffen und Schiffe] gekauft haben, sollten wir einsichtige Gelehrte und geschickte Techniker suchen, damit sie sich zuerst an diesen Gegenständen üben und dann versuchen, sie herzustellen. Nach ein oder zwei Jahren können die Dampfer ... den Plänen Eurer Majestät dienlich sein89. Nachbauen, kopieren, das schien (schon) damals der schnellste und kürzeste Weg zum Erfolg. Es klappte jedoch nicht. Nachdem sich die Protagonisten ein Jahrzehnt mit den Waffen abgemüht hatten -zahlreiche Fabriken entstanden in dieser Zeit- waren sie an dem Punkt angekommen, wo es am Geld fehlte. Die Macht, so erkannten sie nun, beruhte wohl eher auf Reichtum, auf Kapital, wovon es in China nicht genügend gebe So verlegten sie sich auf die Errichtung eigener Wirtschaftsunternehmen, wollten Eisenbahnen bauen, Telegrafenleitungen anlegen, Handel treiben. 李鸿章 L0 Hóngzh~ng veranlaßte 1880 den Bau des ersten Telegraphenamtes Chinas in 天津 Ti~nj§n und 1887 (ebenfalls dort) die Gründung der ersten Eisenbahngesellschaft. Ein anderer mächtiger Gouverneur jener Zeit, 张之洞 Zh~ng Zh§dòng, ließ das erste moderne Stahlwerk in 湖北 Húbi bauen. Doch 李鸿章 L0 Hóngzh~ng selbst war es, der schließlich zu der Erkenntnis gelangte, daß es so schnell nicht gehen würde mit der Modernisierung Chinas. In einem resignierenden Bericht an den Kaiser schrieb er: Was China in Nachahmung hergestellt hat, ist immer das alte Modell (des Westens) ... Auch wenn [wir die Ausländer] nach dem neuesten Modell fragen, es fleißig untersuchen und nachahmen, entwickeln die Europäer ein paar Jahre später wieder ein neues. China ist wieder zurückgeblieben.90 89 Kuo Heng-yü, China und die Barbaren, Pfullingen 1967, S. 61. 90 Kuo Heng-yü, China und die Barbaren, Pfullingen 1967, S. 63. 150 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Offenbar mußte noch etwas anderes geschehen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten so immer mehr in Japan und den USA, weniger Europa, ausgebildete Intellektuelle für radikale politische Maßnahmen ein, für den Sturz der fremden Dynastie als einzige Rettungsmöglichkeit Chinas. Die extremsten unter ihnen wie 瞿秋 白 Qú Qiãbái (1899 - 1935 und sicher auch Mao Tse-tung) sahen später die Wurzel der Rückständigkeit ihres Landes sogar in seiner ureigensten Kultur, in den Schriftzeichen, die er als *die 龌龊 wò chuò dreckigste, 恶劣 è liè abstoßendste und 混蛋 hùn dàn verkommenste 毛坑 máo k‘ng Kloake des Mittelalters+91. Qú Qiãbái. bezeichnete. Am 清 Q§ng-Hof hielt die Kaiserinwitwe 慈禧 Cí X0 ab 1861 bis zu ihrem Tod 1908 das Heft meist fest in der Hand. Die Kaiser 同治 TÇng Zhì (regierte von 1862 bis 1875) und 光绪 Gu~ng Xù (regierte von 1875 bis 1908) hatten in dieser Periode mit Ausnahme der sogenannten Reformen der Hundert Tage im Jahre 1898 (s.u.), nichts zu sagen. Politische Reformer und erst recht die Revolutionäre verfolgte sie unnachsichtig, während der Hof den immer hektischeren Aktivitäten und Forderungen der Europäer und bald auch der Japaner hilflos gegenüberstand und deren fortwährend steigenden Ansprüchen nach Konzessionen und weiteren Sonderrechten in China stets nachgab. Zwei Ereignisse markierten das Scheitern des ersten chinesischen Reformversuches, der Selbststärkungsbewegung: die Niederlage im Krieg mit Frankreich in Südchina 1884-85, wo die Franzosen wegen ihrer Interessen im tributpflichtigen Vietnam mit China in Konflikt gerieten und innerhalb einer Stunde die in einer Selbststärkungs-Werft in 福州 FúzhÇu (Provinz 福建 Fújiàn) gebauten chinesischen Kriegsschiffe zu zerstören. Gravierender jedoch war die Niederlage im Krieg gegen Japan, denn sie zerstörte 91 690. Qú Qiãbái Wén Jí S Qú Qiãbái Werke, Beijing 1953, 2, S. 151 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE auch die letzten Reste chinesischen Selbstbewußtseins. Krieg mit Japan ... Japanisch-chinesische Kontakte sind sehr alt, lassen sich bis in das 3. Jahrhundert, also die 汉 Hàn- und nachfolgende 三国 S~n GuóZeit nachweisen, als über chinesische Kolonien in Korea erste Kontakte zustandekamen. Als Bezeichnung für die Japaner wurde der Begriff 倭人 wÇ rén Kurzbeinige oder Zwerge verwendet, der als Schimpfwort bis heute in China bekannt geblieben ist. Die Verbindung festigte sich in der Folgezeit, weil die Japaner die Schriftzeichen und im 6. Jahrhundert auch den Buddhismus aus China übernahmen. Im Jahre 607 gelangte eine japanische Tributdelegation nach China und während der 唐 Táng-Dynastie sinisierten die japanischen Herrscher Staat und Gesellschaft vollständig bis hin zum layout ihrer neuen Hauptstadt Nara, das sie von 长安 Cháng=~n übernahmen. Dieser starke Einfluß Chinas blieb bis in das 10. Jahrhundert erhalten, schwächte sich dann etwas ab und verstärkte sich während der 明 Míng-Zeit erneut. Allerdings fallen in die Zeit ab dem 12. Jahrhundert auch die ersten Mißtöne im Verhältnis der beiden Staaten. Japanische Piraten, von den Chinesen mit dem Gattungsbegriff 倭寇 wÇ kòu kurzbeinige Räuber, genannt, machten die Küsten von Korea bis nach Indochina so unsicher, daß dreimal chinesische Delegationen nach Japan reisten, um sich dort zu beschweren. Ende des 16. Jahrhunderts entwickelten japanische Herrscher dann einen größeren Appetit auf China und fielen mit dem Ziel von Landeroberungen in Korea ein. Erst am 鸭绿 Y~lù-Fluß, der noch heute heute die Grenze zwischen China und Korea bildet, konnten 明 Ming-Armeen sie aufhalten. Zur gleichen Zeit, wie die chinesischen Herrscher Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auch Japan mit den europäisch-amerikaischen Wünschen nach Handel, Öffnung und gleichberechtigten Beziehungen konfrontiert. Nach anfänglicher Abwehr jedoch kapitulierte es 1868 -ganz im Gegensatz zu China. Die alten Herrscher traten ab und neue, die sogenannten Meiji betrieben eine Restauration genannte Erneuerung Japans. Planvoll und vollständig 152 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE paßten sie ihr Land den europäischen und amerikanischen Vorbildern in Wirtschaft, Technik, Recht und Militär92 an. Rasch wuchs Japan nun bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zum industriell und militärisch stärksten Staat Asiens heran. Und schon 1870 mußten die Chinesen sich erneut mit Japans Ansprüchen und Expansion auseinandersetzen, als das Land die südwestlich gelegenen, China tributpflichtigen Ryukyu Inseln (chinesisch: 钓鱼台群岛 Diào Yú Tái Qún D|o) beanspruchte. Anschließend fiel der Blick Japans erneut auf Chinas treuesten Vasallenstaaten, Korea. 1876 erzwang es dessen Öffnung und schickte, als eine Rebellion in Korea ausbrach, Soldaten in das Land. Dasselbe tat die chinesische Regierung, die sich für ihren Vasallen verantwortlich fühlte. Es kam zu militärischen Auseinandersetzungen, die Japaner versenkten zunächst einen chinesischen Dampfer und danach, am 17. September 1894, als es zum japanisch-chinesischen Krieg gekommen war, die gesamte chinesische 北洋舰队 bi yáng jiàn duì Nord-Flotte vor der Mündung des 鸭绿 Y~lù-Flusses an der 辽东 Liáo DÇng Halbinsel. Diese Niederlage war insbesondere deshalb eine schwere Demütigung Chinas, als Japan immer als Vasall betrachtet worden war und die Nord-Flotte, ein Ergebnis der industriellen Reformanstrengungen des 李鸿章 L0 Hóngzh~ng gewesen war, der Stolz Chinas. Japanische Truppen besetzten die Insel 台湾 Táiw~n und chinesische Gebiete in 山东 Sh~ndÇng und auf der Halbinsel 辽东 Liáo DÇng, die als Landbrücke zur geplanten Besetzung des gesamten chinesischen Nordostens, der sogenannten Mandschurei dienen sollte. Die vernichtend geschlagenen Chinesen schickten den als Kanzler agierenden 李鸿章 L0 Hóngzh~ng selbst zu den Friedensverhandlungen in die japanische Stadt Shimonoseki (chin.: 马关 M|gu~n), wo er am 17. April 1895 im gleichnamigen Vertrag die 92 Sehr anschauliche Beschreibung der Öffnung Japans in: Gertrude C. Schwebell (Hrg.), Die Geburt des modernen Japan in Augenzeugenberichten, dtv, München 1970, ISBN 3-423-02708-8. 153 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE japanischen Friedensbedingungen akzeptierte und unterschrieb. Seither gilt er in China als 卖国贼 mài guó zéi, eine Bezeichnung, die bis heute das schlimmste Schimpfwort für innenpolitische Gegner ist. Im Vertrag von Shimonoseki suchte Japan sich die gemachten Eroberungen in China und die Besetzung Koreas zu sichern. Eine diplomatische Intervention Rußlands, Frankreichs und Deutschlands, die in 山东 Sh~ndÇng (Deutschland) und auf der Halbinsel 辽东 Liáo DÇng (Rußland) selbst sogenannte Pachtgebiete anstrebten und deshalb eine japanische Präsenz nicht wünschten, sorgte jedoch dafür, daß Japan diese Eroberungen wieder zurückgegeben mußte. Es behielt aber 台湾 Táiw~n und Korea und durfte fortan Fabriken in China gründen. ... und Reformen der Hundert Tage Erstmals war China damit auch von einer asiatischen Macht geschlagen worden, einem Ex-Vasallen obendrein, und seine dramatische Schwäche lag offen vor aller Augen, auch denen chinesischer Intellektueller und Reformatoren. Es kam zu einer ersten Protestaktion in der Hauptstadt Peking, die das Nachgeben der Regierung gegenüber ausländischen Forderungen anprangerte. 1.200 Beamtenprüflinge, die dort gerade die 进士 jìn shì Prüfung ablegten, versammelten sich und unterschrieben ein 万言书 wàn yán shã Memorandum der 10.000 Worte, das die Zurückweisung des Friedensvertrages verlangte und die Fortführung des Kampfes gegen Japan forderte. Anführer dieser ersten, im westlichen Stil vorgetragenen chinesischen Protestaktion gegen die eigene Regierung waren zwei Männer, die bis heute als große Reform-Denker in China bekannt und verehrt geblieben sind: 康有为 K~ng Y4uwéi, der Verfasser des Memorandums der 10.000 Worte, und sein Schüler 梁启超 Liáng Q0ch~o93. 93 Über beide sowie andere chinesische Reform-Intellektuelle am Ende der Kaiserzeit berichtet sehr lesenswert: Jonathan Spence, The Gate of Heavenly Peace, The Chinese and Their Revolution, 1895-1980, Penguin Books 1982, 154 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 康有为 K~ng Y4uwéi (1858-1927) hatte um 1880 herum die traditionelle Laufbahn eines chinesischen Beamtenanwärters in der Provinz 广东 Gu~ngdÇng begonnen. Eine seiner Schriften erregte bald in der Welt der chinesischen konfuzianischen Gelehrten grosses Aufsehen und machte seinen Namen in ganz China bekannt. Besuche in Hongkong æ K~ng Y4uwéi. und Shanghai 1882 überzeugten ihn dann davon, daß China der Macht der Europäer nichts entgegenzusetzen hatte und auch ihr arrogantes Abtun als Barbaren nichts nützen würde. Er begann sich mit der Frage zu beschäftigen, was den Westen stark gemacht hatte und war bald der festen Überzeugung, daß nur gesellschaftliche Reformen China retten konnten. Nach der Niederlage seines Landes im Krieg gegen Frankreich unterbreitete er 1888 sein erstes Memorandum. Ohne Erfolg, denn es wurde, wie viele folgende, von der Beamtenschaft abgeblockt und erreichte den Kaiser 光绪 Gu~ng Xù erst gar nicht. Ein zweites Memorandum1895 wies der Hof zurück, da der Vertrag von Shimonoseki, so die Begründung, ja bereits unterschrieben sei. So kehrte 康有为 K~ng Y4uwéi zunächst unverrichteter Dinge in seine Heimatprovinz zurück. Im Gefolge des japanisch-chinesischen Krieges waren zwei andere Mächte aktiv geworden und hatten sich chinesische Gebiete angeeignet: Deutschland (besetzte 1897 die Bucht von 胶州 Ji~ozhÇu und die dortige Ansiedlung 青岛 Q§ngd|o) und Rußland (erhielt die auf der Halbinsel 辽东 gelegene Hafenstadt 旅顺 Lǚ shùn, [damals: Port Arthur], heute zu 大连 Dàlián gehörend, sowie eine Eisenbahnkonzession in der Mandschurei). Offenbar gab es nach der Niederlage gegen Japan kein Halten mehr: Wer wollte, kam und nahm von China, was er wünschte, die Regierung (meist in der Person des damals mächtigsten chinesischen Politikers 李鸿章 L0 Hóngzh~ng) gewährte es. ISBN 0-14-00.6279-3, erstes und zweites Kapitel. 155 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die neuerlichen Konzessionen an Deutschland und Rußland veranlaßten 康有为 K~ng Y4uwéi, erneut nach Peking zu fahren, um eine weitere Petition einzureichen, in der er Reformen vorschlug, die sich an denen Japans und Rußlands orientierten. Diesmal nun gelang es ihm tatsächlich, in einem Treffen mit 李鸿章 L0 Hóngzh~ng seine Ideen darzulegen und sogar dem Kaiser 光绪 Gu~ng Xù vorzutragen, der sich zu diesem Zeitpunkt etwas vom Einfluß der Kaiserinwitwe 慈禧 Cí X0 freigemacht hatte. Und der 27jährige Kaiser war gewillt, seinen Vorschlägen zu folgen! Er erließ in den hundert Tagen zwischen Juni und September 189894 in bezug auf die Institutionen des Landes, das Erziehungswesen, das Militär, die Wirtschaft etc. einen Reformerlaß nach dem anderen. Diese Unruhe brachte am Hofe zahlreiche Interessengruppen und Nutznießer des bestehenden Systems gegen den Kaiser auf. 慈禧 Cí X0, die seit 1889 ihre Regentschaft zugunsten des jungen 光绪 Gu~ng Xù aufgegeben hatte, schloß sich ihnen an und entmachte diesen am 21. September 1898 de facto in einem coup d=état. Der Kaiser lebte bis zu seinem Tod 1908 fortan unter Hausarrest. Zuvor war es ihm jedoch gelungen, 康有为 K~ng Y4uwéi zu warnen, so daß diesem und seinem Mitstreiter und ehemaligen Schüler 梁启超 Liáng Q0ch~o die Flucht gelang. Andere wurden ermordet. Bis zu ihrem Tod 1908 (einen Tag nach dem des Kaisers) hielt nun die Kaiserinwitwe 慈禧 Cí X0 in China das Heft fest in der Hand. In Wahrheit allerding war das Land zum willenlosen Spielball aller interessierten ausländischen Mächte geworden. Die Verhältnisse im Innern der Mandschu-Dynastie versteinerten, die Kräfte einer möglichen Erneuerung wie 康有为 K~ng Y4uwéi und andere waren für Jahre im Exil kaltgestellt. 94 Nach dem traditionellen chinesischen Kalender, der Jahre und Jahreszeiten nach einem System von Kombinationen der 10 ti~n g~n Himmelsstämme mit den 12 dì zhi Erdzweigen vornimmt, war dies die Zeit des wù xã, weshalb die chinesische Bezeichnung der Reformen der 100 Tage wù xã biàn f| ist, die Zahl 100 also nicht darin vorkommt. 156 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Der Boxeraufstand In der Bevölkerung kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem weiteren großen Aufstand, der 义和团运动 yì hé tuán yùn dòng der Bewegung für Gerechtigkeit und Einigkeit. Die gebräuchlichere Bezeichnung im Westen -Boxer- erhielten die Aufständischen wegen des Geheimbundes, der am Anfang stand und sich 义和拳 yì hé quán Fäuste der Harmonie und Gerechtigkeit nannte, was auf ihre dem 功夫 gÇng fã nicht unähnlichen Kampfübungen zurückging. Die einigende und viele Chinesen mitreißende Ideologie bestand aus einem Gemisch von Schamanismus und Fremdenfeindlichkeit. Letztere projizierte alle Übel Chinas auf die Anwesenheit der Fremden, ein Sündenbock-Mechanismus, der politisch auch in anderen Kulturen ein oft gebräuchliches Mobilisierungsmittel ist. Ihren Ausgangspunkt nahm diese aus weitgehend ungebildeten, landlosen Bauern beschickte, mystischen Überzeugungen anhängende Bewegung in der Provinz 山东 Sh~ndÇng, wo sie sich der Unterstützung des dortigen Gouverneurs erfreute. Sie richtete sich in Abstufungen zunächst gegen die Fremden (Ausländer), dann gegen Chinesen, die dem christlichen Glauben anhingen und schließlich gegen Chinesen, die ausländische Güter kauften. Sie richtete sich aber nicht, wie die Bewegung der Taiping gegen die China beherrschenden Mandschus. Im Herst 1897 ermordeten Boxer zwei deutsche Missionare in der Provinz 山东 Sh~ndÇng, was die Besetzung der Bucht von 胶州 Ji~ozhÇu (Kiautschou) durch deutsche Truppen zur Folge hatte und anschließend in die Abtretung der Stadt 青岛 Q§ngd|o (Tsingtao) als sogenanntes Pachtgebiet an Deutschland mündete. Der Pekinger Kaiserhof, vor allem die de facto-Herrscherin 慈禧 Cí X0, suchte die Boxer-Bewegung, als sie bereits eine gewisse Größe erreicht hatte, gegen die sich immer weiter ausbreitenden, mit Sonderrechten aller Art versehenen Fremden im Lande zu richten und förderte sie heimlich. Die Boxer gewannen so zunehmend an Stärke und ihre Armee zog schließlich gegen das Herz der Fremden in China, das Gesandtschafts- (Botschafts-) Viertel südöstlich des Kaiserpalastes in Peking. 157 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Am 20. Juni 1900 ermordete unweit davon ein Anhänger der Boxer den deutschen Gesandten Clemens von Ketteler auf offener Straße. Anschließend belagerten und beschossen die Aufständischen wochenlang das Gesandtschaftsviertel, das sie dabei dem Erdboden gleichmachten. Trotzdem hielten die Diplomaten und ihre Familienangehörigen in den zerstörten Gebäuden aus, bis eine von acht Mächten95 (darunter auch Deutschland) gebildete Armee Peking erreichte, die Aufständischen vertrieb, den verlassenen Kaiserpalast plünderte (慈禧 Cí X0 und ihr Hofstaat waren vor den Kämpfen nach 西安 X§=~n geflohen) und Peking anschießend besetzt hielt. China wurde von den siegreichen Mächten im sogenannten Boxer-Protokoll (7. September 1901) gezwungen, eine weitere gewaltige Summe Reparationen als Entschädigung an die Ausländer zu zahlen, alle Beamten, die die Aufständischen unterstützt hatten, zu bestrafen, seine militärischen Einrichtungen zu reduzieren und der dauerhaften Stationierung ausländischer Truppen im Pekinger Gesandtschaftsviertel zuzustimmen. Deutschland, das sich besonders großspurig engagiert hatte (Kaiser Wilhelm II hatte die Soldaten am 27. Juli 1900 in Bremerhaven mit einer Hunnenrede96 auf die Reise nach China geschickt) verlangte überdies die Entsendung einer offiziellen chinesischen Sühnedelegation nach Berlin, die sich dort für die Ermordung des Gesandten zu entschuldigen hatte, und die Errichtung 95 Darunter 8.000 japanische, 4.800 russische, 3.000 britische, 2.100 amerikanische Soldaten sowie solche aus Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien. Den Chinesen bis heute immer noch gut als b~ guó lián jãn Armee der acht verbündeten Staaten bekannt. á ¶ 96 Diese Bezeichnung geht auf diese Passage der Rede zurück: Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen! (Nach: Nordwestdeutsche Zeitung, Bremerhaven, 28. Juli 1900. Der Reichsanzeiger, Berlin, veröffentlichte eine andere Version der Rede, in der diese Passage nicht ganz so ausführlich erscheint: Führt eure Waffen so, daß auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen. 158 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE eines acht Meter hohen und 16 Meter breiten marmornen Sühnetores an der Stelle in Peking, wo der Mord am Gesandten von Ketteler ausgeführt worden war97. Unter der Leitung eines Bruders des Kaiser, des Prinzen 醇王 Chún Wáng (载沣 Zàif‘ng), kam die Delegation im September 1901 nach Potsdam und überreichte dort dem Kaiser die chinesische Sühne-Botschaft. Mit der Unterzeichnung des Boxerprotokolls und vielleicht am besten symbolisiert durch die sogenannte Sühnedelegation nach Deutschland hatte das kaiserliche China den Tiefpunkt seiner internationalen Stellung erreicht. Für jeden sichtbar war es so tief gesunken, daß auch seine Lebenslüge von seiner allen anderen überlegenen Kultur bei seinen eigenen Vertretern nicht mehr überzeugend war. China lag -vor der ganzen Welt- im Staub! Unter den zahlreichen Befürwortern von Reformen in Staat und Gesellschaft, die häufig aus der konfuzianischen Beamtentradition kamen und deren Vorschläge sich nie entschieden genug daraus lösen konnten, führte diese Entwicklung zu einer Radikalisierung. Erstmals traten nun Revolutionäre auf, die entschieden mit dem Hergebrachten brechen wollten und sich in ihrer Agitation dafür auch weniger an die herrschende Klasse wandten als an die Bevölkerung selbst, ein unerhörter Vorgang. Der 19jährige 邹容 ZÇu Róng [Tsou Jung] war einer der ersten, bekanntesten und vor allem: radikalsten. In seinem flammenden Manifest 革命军 gé míng jãn Revolutionäre Armee rief, nein: schrie er -vom ausländisch beherrschten Shanghai aus- seinen Landsleuten zu: Sweep away millennia of despotism in all its forms, throw off millennia of slavishness, annihilate the five million and more of 97 Der Bogen steht heute, natürlich mit anderer Inschrift, im Sun Yat-senPark, westlich des Kaiserpalastes. 159 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE the furry and horned Manchu race, cleanse ourselves of 260 years of harsh and unremitting pain, so that the soil of the Chinese subcontinent is made immaculate, and the descendants of the Yellow Emperor will all Die ZÇu Róng gé míng jãn - become Washingtons. Then they revolutionäre Armee. will return from the dead to life again, they will emerge from the Eighteen Levels of Hell and rise to the Thirty Three mansions of Heaven, in all their magnificence and richness to arrive at their zenith, the unique and incomparable of goals - revolution. How sublime is revolution, how majestic! I follow thereupon the line of the Great Wall, scale the Kunlun Mountains, travel the length of the Yangzi, follow to its source the Yellow River. I plant the standard of independence, ring the bell of freedom. My voice re-echos from heaven to earth, I crack my temples and split my throat in crying out to my fellow-countrymen: revolution is inevitable for China today. It is inevitable if the Manchu yoke is to be thrown off; it is inevitable if China is to be independent; it is inevitable is to take its place as a powerful nation on the globe; it is inevitable if China is to survive for long in the new world of the 20th century; it is inevitable if China is to be a great country in the world and play the leading role. Stand up for Revolution! Fellow-countrymen, are there any of you whether old or in middle years, in your prime of life or young, be it man or woman, who is talking of revolution or working actively for revolution? Fellow countrymen, assist each other and live for each other in revolution. I here cry at the top of my voice to spread the principles of revolution throughout the land. Revolution is the universal principle of evolution. Revolution is the essence of the struggle for survival of destruction in a time of transition. Revolution submits to heaven and responds to men's needs.2 Revolution rejects what is 160 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE corrupt and keeps the good. Revolution is the advance from barbarism to civilization. Revolution turns slaves into masters. Für diesen Text wurde 邹容 ZÇu Róng verhaftet und eingesperrt. Er starb 1905 im Gefängnis. Noch heute wird in China vielfach und offiziell dieses Mannes in positiver Weise gedacht, seine 革命军 gé míng jãn Revolutionäre Armee bezeichnet die offizielle Nachrichtenagentur Ende 2002 sogar als Chinas Manifest der Menschenrechte98. !"#$%&'() * +, ( 2002-11-22 15:36): 1903 /89 " &'-./0¶12 45¶67 :;<= >?3 3 @5¶ !IJ >KL @ض¨Ó=100 AÍ 3 B 3CD5¶/ !EFGH" 3 ΰÐ[\/Ô]^ MNON P7/ Q5$ жR3L=S ©TUV /WXYZ _Ð`a 3bcde=fM7gh[Ôijklmno 3pqrstuvwxy z{|}~v 21t~ p ¡¢£v¤}¥¦§¨©ª«¬ ­®¯° ±² ³´´. 98 161 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 中华民国 [中华民国] ZhÇng Huá Mín Guó Republik China (1911 bis 1949) Sun Yat-sen (孙逸仙 Sãn Yìxi~n, 孙文 Sãn Wén, 孙中山 Sãn ZhÇngsh~n). Als wichtigster Anführer der intellektuellen Umstürzler galt ab der Jahrhundertwende der Arzt Sun Yat-sen, der jedoch im Unterschied zu anderen bekannten Reformern wie 康有为 K~ng Y4uwéi oder 梁启超 Liáng Q0ch~o gerade nicht aus der Tradition konfuzianischer Literatenbeamter kam, und vielleicht deshalb als einziger dieser Aktivisten ein umfassendes politisches, wirtschaftliches und kulturelles Rezept für China ausgearbeitet hatte, das er 三民主义 s~n mín zhß yì Drei Volksprinzipien nannte. Das Programm beinhaltete Suns Ansichten zu den drei von ihm für die Rettung Chinas als entscheidend angesehenen Themen Sun Yat-sen. ! 民族 mín zú = Nationalismus, ! 民权 mín quán = Rechte des Volkes und ! 民生 mín sh‘ng = Volkswohlfahrt. Es zielte auf Chinas internationale Gleichberechtigung sowie die Beseitigung der Mandschu-Fremdherrschaft und der Monarchie überhaupt, auf die Einführung eines parlamentarischen Systems und auf wirtschaftliche Reformen und Kontrolle des Kapitals. Es war Sun Yat-sens Studium der europäischen Gesellschaften, das diesem Programm zugrundelag. Dabei hatte er die Meinung vor allem sozialistischer Kritiker der bestehenden europäischen Staatsorganisation übernommen, wonach dort eben nicht alles so ideal und vernünftig sei, wie viele andere chinesische Reformer in ihrer Verzweifelung angesichts der europäischen Überlegenheit auf allen 162 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Gebieten annahmen. Sun, der sich meist im Ausland aufhielt (Japan, Europa), gründete 1894 in Hawaii die 兴中会 xíng zhÇng huì Gesellschaft zur Wiederbelebung Chinas die erste von vielen noch folgenden Organisationen, die seine Vorstellungen umsetzen sollten, und beteiligte sich ab dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an zahlreichen anderen Vereinigungen, die den Sturz der Mandschus zum Ziel hatten. 1911 schloß er sich schließlich einer neuen politischen Partei, der 国民党 Guó Mín D|ng (Kuomintang) an, die jedoch bereits 1913 vom auf den Sturz der Mandschu-Dynastie folgenden Machthaber 袁世凯 Yuán Shìk|i verboten wurde. 1923 reorganisierte Sun diese Partei mit Hilfe der Kommunistischen Internationale (Komintern), der Weltorganisation der Kommunistischen Parteien mit Sitz in Moskau (s.u.). Hauptziel der Kuomintang war es, zunächst das chinesische Territorium unter eine zentrale Herrschaft zu bringen, denn das Land war nach der Abdankung der Mandschus 1911 (Verkündung der Republik China: 1.1.1912, begleitet von der Einführung des westlichen Kalenders) in von einzelnen Militärmachthabern (warlords) beherrschte Gebiete zerfallen. Zu diesem Zweck stellte Sun mit Hilfe der Komintern in Südchina eine Armee auf, verbündete sich mit der 1921 ebenfalls von der Komintern gegründeten 中国 共产党 ZhÇng Guó Gòng Ch|n D|ng Kommunistischen Partei Chinas und bereitete einen Nordfeldzug zur Einigung Chinas vor. Die warlords sollten militärisch besiegt werden. Sun Yat-sen erlebte den Erfolg des 北伐战争 bi fá zhàn zh‘ng Nordfeldzuges über die Militärmachthaber jedoch nicht mehr. Er starb 1925. Sein Nachfolger wurde 蒋介石 Ji|ng Jièshí (Tschiang Kai-schek, Chiang Kai-shek), der bis dahin Leiter der Kantoner Militärschule der Partei gewesen war. Mit dem eigentlichen Sturz der Mandschu-Dynastie, der Abdankung des Letzten Kaisers, des sechsjährigen 溥仪 Pß Yí, und der Ausrufung der Republik China 1911 bzw 1912 hatte der Vater der chinesischen Republik Sun Yat-sen indessen direkt nicht viel zu tun, weil er sich auch zu diesem Zeitpunkt, wie meist während 163 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE seines Lebens, im Ausland aufhielt. Das Mandschu-Regime selbst war im Jahre 1908 an ein quasi natürliches Ende gekommen, als der Kaiser 光绪 Gu~ng Xù starb und anderntags auch die Regentin und eigentliche Machthaberin, 慈禧 Cí X0. Das Ableben beider lag so eng zusammen, daß an einen Zufall nur schwer zu glauben ist. Vielleicht hat die Regentin den erst 30jährigen Kaiser, der sich 1898 ja als reformanfällig (Reformen der Hundert Tage) erwiesen hatte, umbringen lassen. Als Nachfolger auf dem Thron war (unter einer Regentschaft) ein dreijähriges Kind vorgesehen: 溥仪 Pß Yí, der es wegen seiner Kooperation mit der japanischen Besatzungsmacht in den dreißiger und vierziger Jahren und weil er sein Leben als Gefangener (und sogenannter erfolgreich Umerzogener) in der VR China als Gärtner beschloß, als Letzter Kaiser von China zu literarischer und filmischer Berühmtheit brachte. Die Noch-Herrschenden in Peking beugten sich nach dem Tode des Kaisers und der Kaiserinwitwe 1908 etwas mehr den Forderungen der für Reformen eintretenden Gruppen und versprachen den Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie. Im Jahre 1909 wurde auch tatsächlich eine Provinzversammlung, 1910 eine Beratende Nationalversammlung in Peking einberufen, für 1913 die Bildung eines Parlaments versprochen. Im April 1911 stellte der für den Kind-Kaiser 溥仪 Pß Yí handelnde Regent der Öffentlichkeit (soweit davon in China die Rede sein konnte) ein Kabinett vor, das jedoch ausschließlich aus Mitgliedern der Dynastie bestand, was zur Folge hatte, daß alle Reformkräfte sich einmal mehr enttäuscht nun auch von diesen Reform-Mandschus abwandten und fortan bereit waren, jeden zu unterstützen, der das Regime gewaltsam beseitigen würde. Der konkrete Anlaß dazu kam im Jahre 1911. Eine wichtige Truppenverlegung von 武昌 Wßch~ng, heute Teil der Stadt 武汉 Wßhàn, Provinz 湖北 Húbi, in die Provinz 四川 Sìchu~n war der äußere Anlaß. Am 10. Oktober genügte die Revolte von gerade einmal 300 dieser Soldaten in 武昌 Wßch~ng, denen sich jedoch rasch andere 164 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Truppenteile anschlossen, die Stadt innerhalb eines einzigen Tages einzunehmen, eine Militärregierung für die Provinz auszurufen und gleich noch die Republik China dazu. Am 17.10.gewannen die Aufständischen eine Schlacht gegen kaisertreue Truppen, woraufhin sich Aufständische in anderen Provinzen ihrem Vorbild anschlossen. Eine Provinz nach der anderen sagte sich nun von der Mandschu-Herrschaft los und erklärte sich gar für unabhängig. China zerfiel in einen Flickenteppich de facto unabhängiger Gebiete. Diese Ereignisse gelten bis heute als Revolution, ihr Datum, der 10. Oktober, oder 双十 shu~ng shí = Doppelzehn, als offizieller Gründungstag der Republik China. Da das Jahr der Revolution -1911im chinesischen 农历 nóng lì Mondkalender durch den 天干 ti~n g~n Himmelsstamm 辛 x§n und den 地 支 di zhi Erdzweig 亥 hài markiert wurde, ging das Ereignis als 辛亥 X§n Hài Revolution in die chinesischen Geschichtsbücher ein. Die Dynastie war damit de facto (aber noch nicht de jure, qua Abdankung) am Ende. Ihre Spieler waren auch noch da und setzten ihre allerletzte Hoffnung auf einen ihrer wichtigsten Militärführer, den General 袁世凯 Yuán Shìk|i, den sie nun zum Premier ernannten und zu Verhandlungen mit den Republik-Befürwortern im Süden ermächtigten. Aus Furcht vor einem Eingreifen der Fremden im Lande willigten die, obgleich bereits Sieger, in Gespräche ein, die am Ende dazu führten, daß 袁世凯 Yuán Shìk|i tatsächlich zum Präsidenten Chinas werden konnte. Die Mandschus verkündeten daraufhin am 12. Februar 1912, nach einem Vierteljahrtausend der Herrschaft über China, ihre Abdankung, nachdem ihnen zugesichert worden war, daß ihnen genügend Geld und Besitz verbleiben würden. Die Abdankungserklärung des dynastischen China lautete: The Whole Country is tending towards a republican form of government. It is the Will of Heaven, and it is certain that we could not reject the people=s desire for the sake of one family=s honor and glory. We, the Emperor, hand over the sovereignty to 165 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE the people. We decide the form of government to be a constitutional republic. In this time of transition, in order to unite the South and the North, We appoint 袁世凯 Yuan Shi-kai to organize a provisional government, consulting the people=s army regarding the union of the five peoples, Manchus, Chinese, Mongolians, Mohammedans, and Tibetans. These peoples jointly constitute the great State of 中华民国 Chung Hwa Ming-Kuo [a republic of China]. We retire to a peaceful life and will enjoy the respectful treatment of the nation. This was signed by the Emperor; by 袁世凯 Yuan Shi-kai as Prime Minister; and also by the other Ministers. Nicht lange nach der Revolte am 10.10. und noch vor der Bestellung des 袁世凯 Yuán Shìk|i zum Präsidenten war Ende 1911 auch Sun Yatsen aus Amerika nach China zurückgekehrt. Er begab sich sofort ins revolutionäre Zentrum nach 武汉 Wßhàn und gründete eine eigene provisorische republikanische Zentralregierung. Am 29.12.1911 wurde Sun zum ersten provisorischen Präsidenten der Republik China gewählt und trat dieses Amt am 1.1.1912 an. Verbunden war dies mit der Ersetzung des bis dahin gültigen 夏历 xià lì chinesischen Mondkalenders (wegen seiner teilweisen Bezugnahme auf landwirtschaftliche Daten meist 农历 nóng lì = Bauernkalender genannt und bei diesen heute noch im Parallelgebrauch) durch den christlich-westlichen Sonnen-Kalender. Das Jahr 1912 zählte darin jedoch als Jahr eins der Republik China, und bis 1949 blieb dies die Jahreszählung in chinesischen Datumsangaben, zum Beispiel in Zeitungen: 民国十四年七月一日 mín guó shí sì nián q§ rì = 1.7.14 = 1.7.1925). Das in den Februar oder späten Januar fallende wichtigste Fest der Chinesen, das Neujahrsfest des traditionellen 农历 nóng lì Mondkalenders, das zugunsten des westlichen 1. Januar entfallen mußte, wurde bei dieser Gelegenheit zum 春节 chãn ji‘ Frühlingsfest umdeklariert. Der entmachtete Mandschu-Hof und sein Beamten- und Eunu166 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE chenapparat befanden sich zu diesem Zeitpunkt, da Sun Yat-sen im Süden Präsident wurde und eine Regierung bildete, immer noch im Pekinger Kaiserpalast, und 袁世凯 Yuán Shìk~i befehligte die Truppen (die Sun Yat-sen nicht hatte). Um ihn, das war klar, kamen Sun und die Revolutionäre im Süden, die über keine eigenen Soldaten verfügten, nicht vorbei. So boten sie 袁世凯 Yuán Shìk|i an, die Präsidentschaft der Republik zu übernehmen und der neuen Staatsform Chinas so zum landesweiten Durchbruch zu verhelfen. 袁 Yuán willigte ein, verriet aber schon 1913 die Republik, als er, nach den ersten Parlamentwahlen Chinas, den Organisator der Kuomintang-Wahlsieger, 宋教仁 Sòng Ji~orén, umbringen ließ. Den in einigen Provinzen nun gegen ihn einsetzenden Widerstand schlug er µ¶· Yuán Shìk~i. militärisch nieder und stand alsbald als starker Mann Chinas da, was ihm selbst soweit zu Kopf stieg, daß er sich Ende 1915 zum Kaiser einer neuen Dynastie ausrief, die am 1. Januar 1916 beginnen sollte. Dieses Problem löste sich jedoch schon im Sommer 1916 von selbst, als 袁 Yuán überraschend starb. Viele andere Fragen jedoch blieben offen, insbesondere die, wer denn nun in China das Sagen hatte. Die südchinesischen Revolutionäre jedenfalls waren nicht in der Lage, die Gelegenheit zu nutzen, ihnen fehlten Truppen, um einen Machtanspruch im ganzen Lande durchzusetzen. So füllten einzelne Militärführer, sogenannte warlords, in ihren jeweiligen Regionen (Provinzen) das Machtvakuum - meist gegeneinander kämpfend und jeweils kräftig unterstützt von unterschiedlichen ausländischen Mächten, die über diese Schützlinge ihre Interessen in China zu wahren suchten. Das Land zerfiel in einen Flickenteppich von faktischen Kleinstaaten wie häufig nach dem Niedergang einer lange herrschenden Dynastie. Gangsterbanden hatten überall freie Hand. Gebiete, die die Mandschus dem chinesischen Reich einverleibt, aber kulturell nicht integriert hatten 167 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE wie die Mongolei, Sinkiang und Tibet erklärten sich (teils mit ausländischer Förderung und Unterstützung) für unabhängig. In der Hauptstadt Peking agierte eine sogenannte Zentralregierung, die nichts zu sagen hatte. Wieder einmal war ein Zustand erreicht, der viele Chinesen an den ersten Satz ihres berühmten Romans 三国演义, S~n Guó Y|n Yì Die Drei Reiche denken ließ: Für die Dinge der Welt gilt: Was lange geteilt war, muß vereint werden und was lange vereint war, wird geteilt 说话天下大势,分久必合,合久必分 shuÇ huà ti~n xià dà shì, fèn jiß bì hé, hé jiß bì fèn Während sich so die blanke Anarchie in China ausbreitete, waren die Europäer am westlichen Ende der eurasischen Landmasse auf ihrem Kontinent mit dem europäischen Bürgerkrieg, dem Ersten Weltkrieg, beschäftigt, was ihren Zugriff auf China etwas lockerte und so einer anderen neu aufstrebenden Macht Gelegenheit gab, das Vakuum zu füllen. Japan nutzte sofort die Gunst der Stunde des Kriegsausbruchs 1914, um seinen Zugriff auf China auszuweiten. Bereits 1895 hatte es -wenn auch nur teilweise erfolgreich- damit begonnen, sich chinesisches Gebiet einzuverleiben, als es den Tributstaat Korea dem Namen nach unabhängig in Wahrheit zu seiner Kolonie machte und die Insel 台湾 Táiw~n -seit 1873 eine Provinz Chinasbesetzte und als Kolonialgebiet behielt. Acht Jahre später, 1904, besiegte Japan sogar das (in chinesischen Augen) europäische Rußland, das sich die Mandschurei aneignen wollte (die Japan gerne selber gehabt hätte) und schaffte dadurch, was 1894/95 wegen der deutsch-russisch-französischen Intervention mißglückt war, die Besitznahme der an Korea grenzenden chinesischen Halbinsel 辽东 LiáodÇng mit der wichtigen Hafenstadt 大连 Dàlián99, 99 Die Mandschurei, auf die es die Japaner eigentlich abgesehen hatten, bekamen sie nicht, weil u.a. Deutschland gegen eine entsprechende Klausel im Friedensvertrag von Shimonoseki erfolgreich *Einspruch+ erhoben. 168 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE die bis dahin den Russen gehört hatte. Schon in den ersten Kriegswochen des Herbstes 1914 marschierten japanische Truppen -Tokio hatte sich zum Verbündeten Englands und Frankreichs gemacht- in der Provinz 山东 Sh~ndÇng ein und besetzten nach kurzem Kampf 青岛 Q§ngd|o (Tsingtao). Damit war die deutsche China-Präsenz nach nur siebzehn Jahren beendet. Die gefangenen Deutschen wurden nach Japan abtransportiert und blieben bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dort interniert. Die (nominelle) Regierung der Republik China in Peking erklärte noch am 14. August 1917 Deutschland offiziell den Krieg. Chinesische Soldaten griffen zwar nicht in die Kämpfe ein, aber die Regierung hatte (gegen Bezahlung, die sie freilich nie erhielt) 140.000 Arbeiter nach Frankreich geschickt, wo sie Schiffe entund beluden, Schützengräben aushoben, Leichen auf den Schlachtfeldern einsammelten und andere kriegs- und sonstwie wichtige Dienste verrichteten. Am Ende des Krieges trat damit die interessante Situation ein, daß das bis dahin von Europa geschundene China plötzlich Sieger über eine ehemalige Kolonialmacht war! Chinesische Vertreter reisten denn auch voller Selbstvertrauen nach Versailles, um mit den anderen Siegern über die Nachkriegsordnung Europas und das weitere Schicksal Deutschlands zu beschließen. Von wirklichem Interesse für sie war allerdings nur die Frage, was nun mit der ehemals deutschen China-Besitzung in 山东 Sh~ndÇng geschehen sollte (bzw., bei erfolgreicher Regelung dieses Problems, mit den Sonderrechten auch der anderen ImperialMächte im Lande!). Natürlich ging man davon aus, daß dieses nun von Japan besetzte Land zurückgegeben werden würde. Zur Überraschung der Regierung, vor allem aber der seit dem Sturz der Mandschus ohnehin in Dauer-Aufruhr stehenden zahlreichen politischen Gruppen und Parteien, die sich in China gebildet hatten, beschloß die Versailler Konferenz jedoch nicht, wie erwartet, das ehemals deutsche Kolonialgebiet an China zurückzugeben, sondern an - Japan. In Geheimabsprachen mit Großbritannien, Frankreich und Italien hatten die Japaner sich dieses Ergebnis 169 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE gesichert. Die anderen Mächte mit eigenen Besitzungen in China, England und Frankreich vor allem, hatten kein Interesse an einem Rückgabe-Präzedenzfall. Sie fürchteten, daß die so ermutigten, ohnehin in Aufbruchstimmung stehenden Chinesen, als nächstes dann womöglich auch ihre Konzessionen zurückfordern könnten. Sie nahmen deshalb lieber Japan in ihren Club auf, als China Gleichberechtigung zu gewähren, ein Land, mit dem sie seit achtzig Jahren nach Belieben verfuhren. So schnell sterben alte Gewohnheiten nicht. Außerdem erhofften sie sich von Japan ein Gegengewicht gegen die revolutionären Kommunisten, die 1917 in Rußland an die Macht gekommen waren und bald damit begonnen hatten, ihrer eigenen Isolation dadurch entgegenzuwirken, daß sie den Chinesen Ouvertüren machten und zum Beispiel 1920 feierlich verkündeten, daß Sowjetrußland auf alle zarischen Vorrechte in China verzichte100. Das war bei den vielen Unzufriedenen und Gekränkten dort sehr gut angekommen, auch bei Sun Yatsen. Als nun die Nachricht aus Versailles die Hauptstadt Peking erreichte, daß die deutsche Kolonie nicht an China, zurück, sondern an Japan weitergegeben werde, löste sie am 4. Mai 1919 einen Proteststurm unter den Studenten der Peking Universität aus, der als 五四运动 wß sì yùn dòng Bewegung des Vierten Mai ein bis heute offiziell und tatsächlich ein höchst bedeutsames Geschichtsdatum in China markiert. In Demonstrationen vor dem 天安门 Ti~n=~nmén, dem südlichen Eingangstor zur 紫禁成 z0 jìn chéng Verbotenen Stadt101 (einen Platz gab es dort damals nicht), forderten Tausende in der ersten Großdemonstration Chinas, daß die Regierung diese Entscheidung der Versailler Konferenz zurückweise und durchsetze, daß die Bucht von 胶州 Ji~ozhÇu mit der Stadt 青岛 Q§ngd|o zurückgegeben werde. 100 Dabei vermied es die Lenin-Regierung freilich, auch die von Rußland im Laufe der Zeit annektierten chinesischen Gebiete, an China zurückzugeben. 101 der das Nicht zu verwechseln mit dem Eingang zum eigentlichen Kaiserpalast, ¸¹ wß mén ist. 170 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Der Protest weitete sich schnell auf andere Städte aus und wurde bald nicht mehr nur von der Intelligentsia der Hauptstadt getragen, sondern auch von der entstehenden bürgerlichen und der Arbeiterklasse in anderen Städten (in Peking gab es keine Industrie - nur Beamte). Die Proteste ebbten zwar bald wieder ab, ohne, daß sie ihr Ziel erreicht hätten. Immerhin jedoch weigerte sich die Regierung, den Versailler Vertrag zu unterschreiben und blieb, bis zu einem Separatfrieden, mit Deutschland im Kriegszustand. Die Demonstranten des 4. Mai bewirkten in der Folge einen enormen Aufschwung der schon vorher unter Intellektuellen virulenten sogenannten 新文化运动 x§n wén huà yùn dòng Bewegung der Neuen Kultur. Mit Macht brachen sich nun, beflügelt durch die weggefallene Unterdrückung der fremden Mandschu-Despotie einerseits und den vom Sieg der Revolution in Rußland ausgehenden Anregungen und Hoffnungen andererseits Anschauungen unter den Aktivisten Bahn, die Demokratie als Staatsform, Übernahme westlicher Wissenschaft und Technik, kurz die Modernisierung Chinas forderten. Eine zentrale Rolle in der Bewegung der Neuen Kultur spielte der an der Peking Universität als 文科学长 wén k‘ xué zh|ng Dekan für Literatur arbeitende 陈独秀 Chén Dúxiù, der seit 1915 allen Erneuerern mit seiner Zeitschrift 新青年 X§n Q§ng Nián Neue Jugend ein Forum bot, in dem er auch selbst politisch publizierte. Der Name war Programm. Wie 陈独秀 Chén Dúxiù in der ersten Nummer schrieb, sei es nun an der Zeit, mit den konfu- Die erste Ausgabe der » Reform-Zeitschrift º zianischen Dogmen zu brechen, zuerst mit x§n q§ng nián Neue Jugend. dem, das Jugend dem Alter zu gehorchen habe: Jugend, schrieb er, ist wie der frühe Frühling, wie die auf- 171 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE steigende Sonne ... wie eine frisch geschärfte Klinge102. Die Jugend solle daher nicht ihre Zeit damit vertun, mit den Alten über dies und jenes zu diskutieren, sondern selbst denken und es nicht zulassen, daß sie von den Alten zurückgehalten werde. Und: Wir müssen uns vollkommen darüber im klaren sein, daß Konfuzianismus und ... die neue Gesellschaft, der neue Staat, unvereinbar sind103. 陈独秀 Chén Dúxiù holte im Laufe der Zeit weitere, im Ausland ausgebildete intellektuelle Köpfe der Reformen, ja der Revolution an die Universität, wie 胡适 Hú Shì, der sich nachhaltig dafür einsetzte, mit dem 古文 gß wén klassischen Schreibstil aufzuhören und Zeitungen und Bücher stattdessen in der Umgangssprache zu schreiben. Eine tote Sprache, sagte er, kann keine lebendige Literatur hervorbringen104. Bald erschien daraufhin die 新青年 X§n Q§ng Nián Neue Jugend in Umgangssprache. Und einer der ersten Schriftsteller mit gesellschaftlichem Anspruch, der seine, die chinesische Gesellschaft scharf und kritisch beschreibenden Werke in dieser Form verfaßte, war Chinas bald bekanntester Literat des Zwanzigsten Jahrhunderts, 鲁迅 Lß Xùn [Lu Hsun]. In der Februar-Ausgabe 1919 der 新青年 X§n Q§ng Nián Neue Jugend veröffentlichte 李大钊 L0 Dàzh~o, Leiter der Bibliothek der Peking Universität, eine Einführung in die marxistische Gesellschaftstheorie, die damit erstmals Eingang in China fand, und der viele Intellektuelle wegen der Oktoberrevolution in Rußland und ihrer Desillusionierung mit den westlichen Staaten, die China in Versailles verraten hatten, große Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Bald entstanden marxistische Studiengruppen, und auch 陈 独秀 Chén Dúxiù wurde ein Anhänger der kommunistischen Revolution. Er kündigte an der Universität und ging nach Shanghai, wo unter dem Schutz der ausländischen Machthaber ein besseres Arbeiten in dieser Richtung möglich war. 102 103 104 »¼½¾, ¼¿À¼ÁÂúÄÅÆ. ÇÅȺÉÊ, º Ë, ºÌÍÎÏÐÃÑÒ, ÎÏΩÓÔÃÕÖ. ×ØÙÚÎÛÜÝØÞ. 172 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Auch ein Mann aus der Provinz 湖南 Húnán namens 毛泽东 Máo ZédÇng [Mao Tse-tung] veröffentlichte 1917 in der 新青年 X§n Q§ng Nián Neue Jugend seinen ersten Aufsatz: 体育之研究 t§ yù zh§ yán jiã Eine Studie in Leibeserziehung - für die Zeit ein durchaus revolutionäres Stück, das mit dem für Maos Denken bald programmatischen Satz begann: Unserer Nation fehlt es an Stärke. Der militärische Geist wird nicht ermutigt105. In neu entstandenen Zeitschriften seiner Heimatprovinz wie der 湘江评论 Xi~ng Ji~ng P§ng Lún Xiang Fluß Rundschau, die er im Sommer 1919 gründete, schrieb Mao weiter gegen die alte Gesellschaft an, ohne jedoch zu wissen, wie eine neue genau aussehen sollte. Das begann sich freilich zu ändern, als er 1919 aus seinem Heimatort nach Peking kam, wo er an der Peking Universität dem Bibliothekar 李大钊 L0 Dàzh~o vorgestellt wurde, der ihm eine Tätigkeit als Hilfskraft in der Bibliothek vermittelte. Die erste Einheitsfront (1923 bis 1927) Sun Yat-sen nahm im Jahre 1921 direkten Kontakt zur Kommunistischen Internationale (Komintern) in Moskau auf, um Hilfe beim organisatorischen und programmatischen Aufbau einer neuen Kuomintang-Partei zu erhalten. Die Hilfe wurde in Form von Beratern gewährt und führte zu einer Organisationsform der Partei, die dem Lenin=schen Konzept einer kommunistischen Partei folgte: Es gab ein Zentralkomitee und die Mitglieder unterlagen dem militärischen Grundsatz von Befehl und Gehorsam (in der Parteisprache): Die Mehrheit hat sich der Minderheit zu fügen, die unteren Parteieinheiten den oberen, gefaßte Beschlüsse sind ohne Wenn und Aber auszuführen, auch von Mitgliedern, die dagegen stimmen. Dies -organisatorisch und praktisch umgesetzt- ist das Rezept für eine (im wahrsten Sinne des Wortes) höchst schlag105 ßàá}âãÎä. 173 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE kräftige Partei, zumal, wenn sie auch noch über eine eigene Armee verfügt und zahlreiche Mitglieder hat, was beides bald der Fall war. Zur gleichen Zeit jedoch halfen andere Komintern-Berater bei der Gründung der 中国共产党 ZhÇng Guó Gòng Ch|n D|ng Kommunistischen Partei Chinas, die in Form eines ersten Parteitages von 12 Delegierten, darunter Mao, der Bibliothekar 李大钊 L0 Dàzh~o und der ehemalige Professor der Peking Universität und Gründer und Herausgeber der Neuen Jugend, 陈独秀 Chén Dúxiù, am 23. Juli, 1921 in Shanghai erfolgte106 und einherging mit ihrer Aufnahme als Sektion China in die kommunistische Weltorganisation Komintern. Damit unterstanden die chinesische KP, die damals knapp 60 Mitglieder hatte, und ihre Politik den Weisungen aus Moskau. Generalsekretär der KP wurde Professor 陈独秀 Chén Dúxiù107. Leider gab es damit nun gleich zwei revolutionäre Parteien in China, was die Moskauer Strategen der Weltrevolution nicht als optimal ansahen. Aus diesem Grund sorgte 1923 ein weiterer Abgesandter der Komintern dafür, daß beide Parteien zu einer außergewöhnlich engen Zusammenarbeit kamen, die so aussah, daß Mitglieder der KP gleichzeitig Mitglieder der Kuomintang sein konnten. Bis in die Führungsgremien der Kuomintang ging diese sonderbare Kooperation - auch Mao war dort eine Weile Mitglied! Dies nannten die Kommunisten Einheitsfront - beide Parteien würden nun einheitlich für das nächste politische Ziel in China kämpfen, nämlich die Militärmachthaber, die das Land zersplittert hielten, zu beseitigen und China zu einer einigen, tatsächlichen Republik zu machen. Als entscheidendes Instrument dazu sahen alle Beteiligten den 106 Der offizielle Gründungstag ist der 1. Juli, der in China zwar kein Feiertag ist, aber eine Gelegenheit für die Parteiführung bietet, die jeweils letzten Gewißheiten bzw. ideologischen Neuerungen zu verkünden. 107 Eine konzise Darstellung der Parteigeschichte gibt zum Beispiel die Cambridge History of China, Band 12: Jerome Chen, The Chinese Communist Movement to 1927 (S. 505-526) und Band 13, The Communist Movement 19271937, S. 168-229. 174 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Aufbau einer eigenen Partei-Armee (国民革命军 guó mín gé mìng jãn = Nationalrevolutionäre Armee) an, die baldmöglichst in einem militärischen Feldzug gegen die warlords im Norden das Werk der Einheit Chinas vollenden sollte. Auf der Flußinsel 黄埔 Huáng Pú nahe Kanton gründete die Kuomintang deshalb im Mai 1924 eine Militärschule zur Offiziersausbildung, die als Whampoa Military Academy berühmt wurde. Militärischer Direktor der Akademie wurde ein gewisser 蒋介石 Ji|ng Jiéshí, besser bekannt als Tschiang Kai-schek (engl.: Chiang Kai-shek), dem (wegen der Einheitsfront) als Politkommissar ein Kommunist namens 周恩来 ZhÇu ÷nlái (Tschu En-lai, engl.: Chou En-lai) zur Hand ging, der spätere langjährige Außenminister und Premier der Volksrepublik und (außer Mao) einzige Altkader, der sämtliche politischen Kämpfe und Säuberungen der KP bis zu seinem Tod 1976 heil überstand. Im Juli 1926 begann die Nationalrevolutionäre Armee, kommandiert von Tschiang Kai-schek, in einer Stärke von 10.000 Mann den 北伐 bi fá Nordfeldzug von ihrer Basis in der Provinz 广东 Gu~ngdÇng aus. Schon bald konnte 长沙 Chángsh~, die Hauptstadt der Provinz 湖南 Húnán, besetzt werden. Im September 1926 fiel der wichtige Nord-Süd-Verkehrsknotenpunkt 武汉 Wßhàn, im Dezember 福州 FúzhÇu, die Hauptstadt der Ost-Provinz 福建 Fújiàn, und schließlich im März 1927 南京 Nánj§ng (Nanking) und dann das Ausländer-Eldorado 上海 Shàngh|i. 1928 wurde auch Peking eingenommen. Zur Hauptstadt Chinas aber machte Tschiang Kaischek Nanking, wo er am 18. April 1927 die 国民政府 guó mín zhèng fß Nationalregierung gründete. 北京 Bij§ng verlor sein Hauptstadt-Suffix 京 j§ng und wurde bis zum Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg 1949 mit einem 平 p§ng getröstet: Die Stadt hieß nun 北平 Bip§ng (engl.: Peiping). Erster Bürgerkrieg in China (1927 - 1937) Obwohl der Nordfeldzug scheinbar von Kuomintang (Nationalisten) und Kommunistischer Partei gemeinsam, in der sogenannten 统一战线 tÇng y§ zhàn xiàn Einheitsfront organisiert und 175 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE durchgeführt wurde, hatten sich schon in der frühen Phase dieser seltsamen Kooperation zahlreiche Konflikte zwischen beiden Parteien ergeben, die hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Gestaltung Chinas nach dem Sieg über die warlords völlig gegensätzliche Auffassungen vertraten. Insbesondere nach dem Tod des Übervaters Sun Yat-sen 1925 und der Machtübernahme des streng antikommunistischen (aus dem Shanghaier Gangstermilieu aufgestiegenen) Tschiang Kai-schek gerieten beide Parteien zunehmend auf Konfrontationskurs, der zunächst innerhalb der KP zur Ausbildung von zwei Fraktionen führte. Zum einen gab es die Parteiführung in Shanghai, die sich weitab vom militärischen Geschehen im Inland und damit auch der chinesischen Wirklichkeit aufhielt, eigentlich sogar isoliert war und im wesentlichen den Anweisungen der Komintern in Moskau folgte, die freilich auch nicht so genau wußte, wie in China die Dinge lagen. Dort hatte mittlerweile auch Stalin das Sagen, ein Mann der sich gerade in bezug auf China für besonders kompetent hielt und ständig und aktiv mit Weisungen zum weiteren Vorgehen der KP eingriff. Stalins Linie zielte darauf, die Kooperation der KP mit der Kuomintang um jeden Preis zu erhalten. Er glaubte nicht, daß es der schwachen KP Chinas angesichts des verheerend rückständigen Zustandes der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft gelingen konnte, eine Revolution allein zum Sieg zu führen. Und selbst wenn, so wäre das in den Augen Stalins gar nicht wünschenswert gewesen. Sein Festhalten an der Zusammenarbeit um jeden Preis führte dazu, daß die KP-Führung in Shanghai, die diese Moskauer Politik 1 : 1 exekutierte, es der zunehmend anti-kommunistisch agierenden Kuomintang-Führung gegenüber an jeder Vorsicht fehlen ließ, Tschiang Kai-schek nicht entschieden gegenübertrat, ihn zu besänftigen suchte und deshalb eigene KP-Aktionen im Inland zum Beispiel zur Unterstützung aufständischer Bauern, die sich gegen Großgrundbesitzer richteten-, verhindern wollte, um die Kuomintang nur ja nicht zu reizen. Auf der anderen Seite standen jedoch Parteimitglieder, die, wie 176 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Mao Zedong, der Gründungs- und ZK-Mitglied war, auf dem chinesischen Lande agierten, und vor allem in der Provinz 湖南 Húnán Aufstände und Aktionen der Bauern, ja sogar Streiks von Arbeitern gegen Großgrundbesitzer und lokale Machthaber förderten und führten und dabei erkannten, welch großes revolutionäres Potential in den chinesischen Bauernmassen steckte. Dieser Teil der KP, der mangels ständiger Verbindung mit der Zentrale in Shanghai weitgehend auf eigene Faust agierte, war dabei so erfolgreich, daß er im Laufe der Zeit ein immer größeres Selbstbewußtsein entwickelte. Mao, der Mann vor Ort, vertrat aufgrund seiner praktischen Beobachungen bereits in dieser Phase der auslaufenden Zusammenarbeit mit der Kuomintang (1926/27) eine ganz andere politische Linie als seine Leitungsgenossen in Shanghai. So war er keineswegs der Ansicht, daß man Tschiang Kai-schek trauen könne oder daß es klug sei, die eigenen revolutionären Parteiziele ganz hinter den Erhalt der sogenannten Einheitsfront zurückzustellen und zum Beispiel die aufständischen Bauern zu zügeln. Mao hielt im Gegenteil daran fest, daß die chinesischen Bauern eine große Kraftquelle für die Revolution seien108, während die KPFührung in Shanghai allein die Arbeiter in den chinesischen Städten als revolutionäre Klasse ansah, so wie sie es in ihren Marxismus-Leninismus-Kursen auf der Moskauer Parteischule gelernt hatte. Arbeiter aber gab es nicht viele in China, weshalb man noch warten und gut mit der Kuomintang zusammenarbeiten müsse. Diese unterschiedlichen Auffassungen über den weiteren Weg der Partei führten Mao und die Genossen in Shanghai umso mehr in Konflikt, wie sich Tschiang Kai-schek mit zunehmenden Fortschritten beim Nordfeldzug immer offener anti-kommunistisch 108 Zur Stützung dieser seiner Auffassung schrieb Mao seine ersten beiden bekannten kommunistischen Parteidokumente: Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft (März 1927) und ein Jahr später, bereits direkt gegen die aktuelle Politik der damaligen Parteiführung gerichtet, seinen Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan, die als die ersten beiden Beiträge in den Kanon seiner Werke aufgenommen wurden. Mao Tsetung, Ausgewählte Werke Band I, deutsche Ausgabe, Peking, 1968. 177 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE gebärdete. Zum direkten militärischen Vorgehen gegen den Verbündeten ging Tschiang im April 1927 über, nachdem seine Truppen Shanghai eingenommen hatten. Gemeinsam mit den chinesischen Gangster-Banden der Shanghaier Unterwelt109, der er selbst entstammte, ging Tschiang innerhalb der Stadt gegen alles vor, was nach Kommunisten, Gewerkschaftern und Linken aussah. Auf offener Straße wurden Menschen angehalten und an Ort und Stelle umgebracht. Es kam zu regelrechten Massakern, Leichen türmten sich in der Stadt. Im Ergebnis war damit die Zusammenarbeit KP-Kuomintang beendet, die KP-Organisation in Shanghai weitgehend zerschlagen, und Tschiang Kai-schek in Süd-, Ost- und Nordchina zum alleinigen Herrscher Chinas geworden. In Form einiger Aufstände, bei denen die zentralchinesischen Parteigliederungen eine entscheidende Rolle spielten, versuchten Komintern und KP-Führung daraufhin im Sommer 1927 das Geschick zu wenden. Sie stützten sich dabei auf bewaffnete Parteiverbände, die Mitte der zwanziger Jahre unter Mao Tse-tung und anderen in den zentralen Provinzen 湖南 Húnán und 湖北 Húbi aufgebaut worden waren. Am 1. August kam es in der Stadt 南昌 Nánch~ng (Provinz 江西 Ji~ngx§) zu einer ersten Rebellion von 30.000 Soldaten, die von 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, 贺龙 Hè Lóng, 叶挺 Yè T0ng, 朱德 Zhã Dé und 刘伯承 Liú Bóchéng angeführt wurden, Kommandeure, die allesamt bis zu ihrem Tod in den 70er Jahren eine wichtige Rolle in der chinesischen Politik spielten. Es gelang den Aufständischen tatsächlich, die Stadt 南昌 Nánch~ng vorübergehend zu besetzen und ein Revolutionskomitee zu gründen. Einige Tage später zog die Armee jedoch aus der Stadt ab und südwärts, wo sie im Oktober von Kuomintang-Truppen besiegt 109 Die Situation dieser von Ausländischen Geschäftsleuten beherrschten Stadt beschreibt sehr anschaulich: Stelly Dong, Shanghai 1842-1949, The Rise and Fall of a Decadent City, Harper Collins Publishers, New York 2000, ISBN 0688-15798-X, vor allem die Kapitel City of Transformations und Capitalists, Warlords and Thieves. 178 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE wurde. Ein Teil der Resttruppen flüchtete sich dann unter Führung von 朱德 Zhã Dé in das zentralchinesische 井冈山 J0ngg~ngsh~n Gebirge, wo er im April 1928 eintraf. Empfangen wurden die Truppen von Mao Zedong, der dort mit seinen eigenen Leuten eine Basis aufgebaut hatte. Der 1. August, der Tag des 南昌 Nánch~ng-Aufstandes, gilt bis heute als Gründungstag der chinesischen Armee, der heute 解放军 ji fàng jãn genannten Volksbefreiungsarmee, ein Name, den sie aber erst 1946 erhielt. Mao selbst organisierte im ZK-Auftrag und mit ca. 5 000 Mann im Grenzgebiet der Provinzen 湖南 Húnán und 江西 Ji~ngx§ (Provinzkürzel: 湘赣 xi~ng gàn) am 9. September 1927 den 秋 收起义 qiã shÇu q0 yì, der als Herbsternteaufstand bekannt ist. Zunächst war es das Ziel, Städte, darunter die Provinzhauptstadt 长沙 Chángsh~, anzugreifen, doch sah Mao dies rasch als illusorisch an und dirigierte seine Truppen in das von feindlichen Kräften nicht kontrollierte, abgelegene und unzugängliche Berggebiet des 井冈山 J0ngg~ngsh~n Gebirges in der Provinz 江西 Ji~ngx§, das sie im Oktober 1927 erreichten. Mit der Vereinigung dieser Truppen Maos mit den unter 朱德 Zhã Dé im Frühjahr 1928 dorthin geflüchteten Einheiten, die fortan als Rote Armee firmierten, begann die eigentliche chinesische Revolution, die mit diesen letztlich erfolgreichen Besonderheiten in die Geschichtsbücher eingegangen ist: ! Der Devise 枪杆子里面出政权 qi~ng g~n zì l0 miàn chã zhèng quán Die politische Macht kommt aus den Läufen der Gewehre, ! mit einer Bauernarmee, ! ländlichen Stützpunktgebieten (Staaten im Staate) und ! der Einkreisung und Eroberung der Städte vom Lande her. Nach einigen weiteren Fehlversuchen, Städte mit militärischer Gewalt anzugreifen und so eine Revolution in China zu entfachen, beschränkte sich Mao in den Jahren bis 1934 darauf, eine sogenannte 中华苏维埃共和国 Chinesische Sowjetrepublik aufzu179 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE bauen, die de facto ein KP-Staat in Zentralchina war, mit allem, was dazugehörte: einer Armee, einer Verfassung, einer eigenen Währung, eigenen Briefmarken usw.110. Diesen Zustand wollte die antikommunistische Nationalregierung unter Tschiang Kai-schek natürlich nicht hinnehmen und mobilisierte ab 1928 ihre eigenen Truppen gegen diese Gebiete Ausrottung der kommunistischen Banditen lautete die Devise. Ziel war es, durch eine Einkreisung und Ausrottung der Rebellen Gesamtchina unter die Kontrolle der Kuomintang zu bringen. Geschickt, mit Guerillataktiken, wehrten die Mao-Truppen lange Zeit die Angreifer ab, bis es diese, beraten durch den deutschen General Alexander von Falkenhausen, mit einer neuen Taktik im Herbst 1934 schafften, Sowjet-Gebiet zu erobern. Im Oktober des Jahres entzogen sich die Resttruppen und Mao selbst der vollständigen Vernichtung und begannen eine wilde und verlustreiche Flucht, die später als 长征 cháng zh‘ng Langer Marsch in die Geschichte und die Mythen Chinas einging. Zweite Einheitsfront (1937 bis 1945) Am Abend des 10. Oktober 1934 brachen die kommunistischen Truppen, insgesamt ca. 80.000 Männer und Frauen, nahe der Hauptstadt des größten Sowjetgebietes, 瑞金 Ruìj§n, Provinz 江西 Ji~ngx§, zu der schließlich 25.000 li (12.500 km) langen sogenannten strategischen Verlegung auf, die eher ein Irrweg flüchtender Soldaten kreuz und quer durch Zentral- und Südwest- schließlich nach Nordchina war als die planvolle Verlegung einer großen Armee. Durch ein gutes Dutzend Provinzen führte der Lange Marsch der ständig vom Feind verfolgten und immer weiter dezimierten, verelendeten Truppen, bevor nach einem Jahr schließlich ein kläglicher Rest von 7.000 Mann nahe der nordchinesischen Stadt 110 Eine gute Übersicht über deren Umfang und Bedeutung vermittelt die Dokumentensammlung Räte China - Dokumente der chinesischen Revolution (1927-31), herausgegeben von Manfred Hinz, Ullstein Verlag, Frankfurt, Berlin, Wien, 1973, ISBN 3 548 03003 3. 180 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 延安 Yán=~n, Provinz 陕西 Sh|nx§, ankam. Unterwegs jedoch war die auf dem Marsch anwesende KPFührung vom 15. bis zum 17. Januar 1935 in der Stadt 遵义 Zãnyi, Provinz 贵州 GuìzhÇu, zu einer sogenannten erweiterten Sitzung des Politbüros zusammengekommen. Erweitert hieß, daß es auch Teilnehmer gab, die dem Gremium gar nicht angehörten, während andererseits große Teile der tatsächlichen Parteiführung nicht teilnahmen. Der Generalsekretär und andere hielten sich nämlich im 上海 Shàngh|ier Untergrund oder gar in Moskau auf. Es waren dies Leute, die als sogenannte 28 Bolschewiken weiter die von Mao als verhängnisvoll angesehenen Moskauer Direktiven getreulich umzusetzen suchten, obwohl sie damit bereits ein um das andere Mal gescheitert waren, ja, die Partei an den Rand der Vernichtung gebracht hatten. Auf der 遵义 Zãnyi-Sitzung, die sich im Nachhinein als eine der wichtigsten der KP überhaupt herausstellte, kritisierte Mao die Politik der Komintern und Stalins sowie der städtischen Parteiführung und machte sie für das fast vollkommene desaster der Partei verantwortlich. Nicht zuletzt aufgrund der von ihm arrangierten Teilnehmerliste der Tagung, setzte Mao sich mit seinen Ansichten durch. Das Ergebnis war die Absetzung der bisherigen, moskautreuen Führung und die Etablierung Maos als faktischer Parteiführer, auch wenn er nicht Generalsekretär und noch nicht 主席 zhß xí, Vorsitzender, wurde. Bedeutsam war die Konferenz wegen der fortan wirksamen Abwendung der KP Chinas von äußeren Einflüssen, konkret: solchen aus der Sowjetunion. Von nun an war die Führung unter dem Einfluß Mao Tse-tungs entschlossen, ihre Politik und Strategie allein, entsprechend der, wie sie sagte, konkreten Bedingungen Chinas, auszuarbeiten. Die Partei Maos war eine selbständige und unabhängige Partei geworden. Sie blieb dies -mit erheblichen Konsequenzen für die internationale Politik vor allem ab Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts (s.u.)- bis heute. Während der wilden Flucht der Kommunisten hatte Japan seine Aktivitäten zur Besetzung Chinas verstärkt. Schon seit seinem Sieg 181 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE über Rußland 1905 hatte es sich einen dominierenden Einfluß in Nordostchina (südliche Mandschurei) verschafft, wo auch bereits Truppen stationiert waren. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte es sich vom ersten Präsidenten 袁世凯 Yuán Shìk|i zahlreiche wirtschaftliche Vorzugspositionen in China geben lassen. Ende der zwanziger Jahre waren, unter Ausnutzung des chinesischen Chaos, die Truppen in der Mandschurei wieder aktiv geworden, um das japanische Einflußgebiet auszuweiten. 1931 und 1932 beschleunigte Japan seine Versuche, weitere chinesische Gebiete in Besitz zu nehmen, besetzte kurzfristig die mandschurische Hauptstadt 沈阳 Shnyáng und griff später vier Monate lang sogar die Ausländerstadt 上海 Shàngh|i an. Schließlich setzte es 1931 den letzten Mandschukaiser 溥仪 Pß Yí als Oberhaupt eines von Tokio selbst geschaffenen mandschurischen Separat- und Marionttenstaates namens Mandschukuo ein. Damit gehörte der chinesische Nordosten Japan. All dies hatte, erst recht vor dem Hintergrund des ohnehin seit dem Krieg von 1894/95 sehr schlechten bilateralen Verhältnisses, zu einer massiven anti-japanischen, sehr nationalistischen Stimmung in wichtigen Teilen der chinesischen Bevölkerung geführt, die nun immer lauter von der Tschiang Kai-schek-Regierung verlangten, sich der japanischen Expansion endlich militärisch zu widersetzen. Tschiang glaubte jedoch, daß erstens seine Armee der japanischen weit unterlegen war und zweitens zunächst einmal die kommunistsichen Störenfriede der sogenannten nationalen Einheit besiegt werden müßten. Aus diesem Grunde mobilisierte er seine Truppen weiter gegen die KP und ließ die Japaner de facto gewähren. Genau hier erkannte Mao einen wichtigen, vielleicht entscheidenden Ansatzpunkt, um wieder in die Offensive zu gelangen und öffentliche Unterstützung zu finden. Kurz nach der Ankunft der jämmerlichen Reste seiner Roten Armee im Norden der Provinz 陕西 Sh|nx§ sprach Mao Ende Dezember 1935 erstmals über den Kampf gegen Japan: Die grundlegende Besonderheit der gegenwärtigen Lage, sagte er vor Parteiaktivisten, besteht darin, daß der japanische Imperialismus 182 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE bestrebt ist, China in seine Kolonie zu verwandeln111. Mao rief auf, erneut eine nationale Einheitsfront gegen Japan zu bilden und dahinter alle Differenzen und Feindseligkeiten der Vergangenheit zurücktreten zu lassen. Es komme nicht darauf an, daß die Kräfte der Revolution makellos sauber blieben. Trotz allem, was geschehen war, setzte sich Mao damit für eine erneute Kooperation KP Kuomintang ein! Tschiang Kai-schek jedoch kümmerte sich nicht um dieses Angebot einer anti-japanischen Einheitsfront, sondern mobilisierte weiter ausschließlich gegen die KP. Bei einer Inspektion seiner gegen den kommunistischen Stützpunkt in Stellung gebrachten Truppen in 西安 X§=~n im Dezember 1936 zeigte sich jedoch, daß Maos Aufruf sogar bei zweien seiner Generäle auf fruchtbaren Boden gefallen war - sie verhafteten ihn und waren bereit, ihn der KP auszuliefern. Deren Führung jedoch unterdrückte ihre Rachegelüste und befürwortete seine Freilassung gegen das Versprechen, von nun an den Kampf gegen Japan aufzunehmen und zu diesem Zweck eine erneute Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei einzugehen. Wie zum Beweis der Richtigkeit dieser Politik Maos, begann die japanische Armee nur ein halbes Jahr später, am 7. Juli 1937, mit einem inszenierten Zwischenfall an der südwestlich Pekings gelegenen 卢沟桥 LúgÇuqiáo (Marco-Polo-) Brücke ihren unverhüllten, breit angelegten Angriff zur Eroberung ganz Chinas. Von Nord- nach Südchina marschierte Japans Armee, erreichte im Spätsommer das Yangtse-Delta, schloß im Oktober 1937 die Besetzung Nordchinas ab, eroberte gegen heftigen chinesischen Widerstand im November 1937 上海 Shàngh|i, bei dessen Verteidigung ca. 250.000 der besten Truppen Tschiang Kai-scheks vernichtet wurden, und wandte sich anschließend gegen die chinesische Hauptstadt Nanking, die sie am 13. Dezember 1937 besetzte und in einer siebenwöchigen Gewalt- und Plünderungsorgie - das 南京屠杀 Nánj§ng tú sh~ Massaker von Nan111 Mao Tse-tung Ausgewählte Werke, Band I, Verlag für Fremdsprachige Literatur, Peking, 1968, S. 177. 183 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE king- terrorisierte. 300.000 Chinesen kamen dabei ums Leben. Im Verlauf des Jahres 1938 vollendeten die Japaner ihre Eroberung ganz Ostchinas, Tschiangs Regierung zog sich nach 重庆 Chóngqìng, im westlichen 四川 Sìchu~n gelegen, zurück, das damit zur neuen Hauptstadt Chinas wurde. Hier begann eine harte Zeit für die eingekesselte Regierung, denn in den Folgejahren eroberten die japanischen Truppen auch ganz Südostasien -Hongkong, Singapur, Burma- und schnitten damit alle Hilfslieferungen für China ab. Nur ein Trumpf blieb in der Hand Tschiang Kai-scheks: Die japanische Expansion in Asien traf zunehmend auf amerikanische Ablehnung, womit China fast automatisch zum natürlichen Verbündeten der USA aufstieg. Der japanische Überfall auf die in Pearl Harbour, Hawaii, stationierte US-Flotte am 7. Dezember 1941 markkiierte dann den direkten Kriegseintritt der Vereinigten Staaten in Asien. Tatsächlich sah US-Präsident Roosevelt in China fortan einen wichtigen Verbündeten gegen Japan und wünschte, daß es zu einer Vormacht in Asien aufsteige. Deshalb setzte er es, gegen den Widerstand Churchills- durch, daß Tschiang an wichtigen Kriegskonferenzen der Verbündeten als Alliierter teilnahm; zum Beispiel an der Konferenz von Kairo und der Konferenz von Jalta. Außerdem sorgte Roosevelt dafür, daß China auch in der Nachkriegsordnung eine gewichtige Rolle spielen konnte, indem er es zum Ständigen Mitglied des Sicherheitsrates der neugeschaffenen Vereinten Nationen machte. So wurde aus dem heruntergekommenen, rückständigen und tief gedemütigten China, mit dem vor allem die europäischen Mächte seit einhundert Jahren nach Belieben umgesprungen waren, im Handumdrehen eine Großmacht. Jedenfalls dem Anschein nach. Und nachdem die beiden US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki Japan im August 1945 zur Kapitulation gezwungen hatten, konnte sich China -wie schon nach dem Ersten Weltkrieg- wieder zu den Siegern zählen. Die Frage war nur: welches China? Das Tschiangs? Oder das Maos? Letzterer hatte es im Verlauf der jahrelangen japanischen Besetzung nämlich klug verstanden, nicht nur sein Territorium mit der Hauptstadt 延安 Yán=~n auszuweiten und de facto erneut einen 184 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Staat im Staate aufzubauen. Auch eine starke KP-Armee gab es wieder und -vielleicht am Wichtigsten- erheblichen Einfluß auf die Köpfe vieler chinesischer Bauern und Intelletueller sowie die von zahllosen Sympatisanten in Amerika, denn die kommunistischen Truppen reklamierten für sich, mit aller Kraft (und eigentlich auch ohne die Nationalrmee Tschiangs) gegen die Japaner zu kämpfen. Mit der Kooperation der beiden Parteien KP und Kumintang war es tatsächlich auch bei diesem zweiten Versuch nach den zwanziger Jahren nicht weit her. Im Gefolge des 西安事件 X§=~n shì jiàn Sian-Zwischenfalls vom Dezember 1936 war es zwar zu einer gewissen Gemeinsamkeit im Kampf gegen Japan gekommen. So unterstellten die Kommunisten ihre Armeen dem Oberkommando der Regierung und änderten deren Namen von Rote Armee in ein neutrales 八路军 b~ lù jãn Achte Route Armee und 新四军 x§n sì jãn Neue Vierte Armee. In der Hauptstadt 重庆 Chóngqìng vertrat auch ein alter Bekannter Tschiang Kai-scheks aus den Tagen der Whampoa Miluitärakademie, 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, als Quasi-Botschafter die KP. Doch schon Anfang 1941 war es wieder zu militärischen Auseinandersetzungen der sogenannten Verbündeten gekommen, die sich von da ab häuften. In öffentlichen Erklärungen für die chinesische Bevölkerung aber auch für die amerikanischen Alliierten bezichtigten sich die Partner dann gegenseitig, die wahren Schuldigen zu sein, die Einheitsfront zu verraten. Nachdem indessen 1945 mit Japan der einzige Einigungsgrund gänzlich weggefallen war, gab es bald kein Halten mehr. Ein Wettrennen der beiden Parteien um die Beherrschung Chinas begann, das begleitet wurde von zahllosen amerikanischen Vermittlungsbemühungen. Bürgerkrieg 1945 bis 1949 Nach ihrer Ankunft in Nord-陕西 Sh|nx§ 1935 schien die vollständige Beseitigung der Kommunistischen Partei und ihrer Truppen nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die kläglichen Reste, die die Flucht aus dem einst beeindruckenden, sogenannten 185 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Sowjetgebiet überlebt hatten, schienen keine Chance gegen die Regierungstruppen zu haben. Japans Krieg gegen China ab Sommer 1937 und der Sian-Zwischenfall vom Dezember 1936, erlaubten es Tschiang Kai-schek jedoch nicht, den Beweis dafür anzutreten, so daß Mao die nötige Zeit fand, in Nordchina erneut einen Staat im Staate aufzubauen mit allen Zutaten, die dafür nötig waren und die man schon aus der Zeit der frühen dreißiger Jahre kannte. Hauptstadt dieses Staates wurde die Stadt 延安 Yán=~n, Provinz 陕西 Sh|nx§. Hier lebten ab 1936 Mao und die anderen KP-Führer ein für den Außenstehenden anscheinend sehr einfaches, volkstümliches Leben. Man wohnte wie die Bauern in Erdhölen, die in die lehmigen Berghänge gegraben waren, aß das Essen der Bauern und jeder kannte jeden und ging mit jedem um, die Ideale eines Lebens in Einfachheit und Gleichheit schienen verwirklicht. Schulen wurden aufgebaut, später sogar eine Universität, es gab Theater- und andere Kulturgruppen und Bildungsveranstaltungen aller Art, auf denen nicht selten Mao selbst Vorträge hielt. Der amerikanische Journalist Edgar Snow besuchte als erster Ausländer das Gebiet und hatte dabei sehr viel Gelegenheit mit Mao und den anderen Führern zu sprechen. Seine ausführlichen Notizen und Beschreibungen, darunter eine Biographie Maos, die dieser ihm selbst berichtet hatte, fanden Eingang in sein bis heute berühmtes Buch Red Star over China, das einen gewaltigen Einfluß auf die amerikanische Wahrnehmung der chinesischen Kommunisten nahm. Trotz der sich gnadenlos in China entfaltenden japanischen Kriegsmaschine hatten Mao und seine Getreuen in 延安 Yán=~n ein paar Jahre Zeit und Muße, sich erstmals intensiv mit der ideologischen Parteivergangenheit, den zwanziger Jahren, auseinanderzusetzen, mit den damaligen Führern, denen die Fehler angelastet wurden, endgültig abzurechnen und dabei wichtige Grundsteine eines neuen, eigenständigen, chinesisch-kommunistischen Glaubensbekenntnisses auszulegen, auf denen die Partei grundsätzlich bis heute ruht. In zahlreichen Schriften dieser Zeit arbeitete Mao (mit Hilfe 186 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE seines Sekretärs 陈伯达 Chén Bódá) diese Basis aus, die vor allem in einer sogenannten Massenlinie bestand, was bedeutete, daß die Parteifunktionäre bei den chinesischen Bauern, der wichtigsten Kraft für die Revolution, zu lernen hätten. Es gelang Mao, sich mit dieser Linie in der Partei vollständig durchzusetzen und dabei alle seine Gegner auszuschalten, bevor dies es mit ihm taten. Auch dieser innerparteiliche Kampf zweier Linien , wie er fortan genannt wurde, gehörte zu seinem Konzept des Parteilebens: Immer gäbe es zwei Linien, eine rechte und eine linke, eine des Opportunismus, der Anbiederung an den Feind, und eine des Ungestüms und Abenteurertums, die miteinander um die Vorherrschaft in der Partei kämpften. Dies sei aber -so Mao, der damit ganz in der Tradition der 阴阳 Y§n und Yáng-Theorie und des Neokonfuzianismus stand- völlig normal: Nicht die Harmonie treibe die Entwicklung voran, sondern der Kampf der Gegensätze, die jedem Ding innewohnten. Von entscheidender Wichtigkeit sei es, dies anzuerkennen und immer offensiv zu vertreten. Die Mao-KP war somit in seinen Augen kein Hort der warmen Gemeinsamkeiten, sondern ein Kampffeld politischer Auseinandersetzungen -路线斗争 lù xiàn d4u zh‘ng Linienkämpfe- die genau das spiegeln, was auch den Kurs der Gesellschaft bestimme: die Auseinandersetzung zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse: Klassenkampf. So konnte jeder, der die falsche Linie vertrat und die Auseinandersetzung verlor, rasch zum Klassenfeind werden, obwohl er eben noch Genosse gewesen war. Mao selbst hielt bis zu seinem Tod 1976 an diesen Postulaten fest und wandte sie oft und stets erfolgreich, zum Nachteil seiner innerparteilichen Gegner an. Der im April 1945 in 延安 Yán=~n abgehaltene 7. Parteitag der KP Chinas brachte diese Konsolidierungs- und Neuausrichtungsphase zu einem vorläufigen Abschluß und bestätigte dies durch die Wahl Maos zum nun auch formalen Vorsitzenden des Zentralkomitees der Partei und die Aufnahme seiner politischen Ansichten als 毛泽东思想 Máo ZédÇng s§ xi|ng Mao Zedong-Ideen in die Parteisatzung. Als die japanischen Truppen im Herbst 1945 überall in China 187 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE kapitulierten, ! stand die KP somit auf einem eigenständigen, den, wie sie sagte, chinesischen Bedingungen angepaßten ideologischen Fundament, ! hatte den festen Willen zur Macht, ! verfügte über eine wiedererstarkte eigene Armee und ! mit der Sowjetunion, die die letzten Kriegstage genutzt hatte, in der Mandschurei einzumarschieren, über einen helfenden Verbündeten nahebei. Schon bei der Entwaffnung der ca. zwei Millionen japanischen Soldaten (eine Million war der Sowjetunion in die Hände gefallen) begann der Kampf mit der Regierung um die bessere Ausgangsposition für das, was unweigerlich kommen würde: der abschliessende Machtkampf um die Beherrschung Chinas. Die USA beförderten zunächst über 100.000 Kuomintang-Regierungssoldaten in die süd- und ostchinesischen Küstenstädte, um ihnen so rasch eine günstige Ausgangsposition zu verschaffen, und entsandten gleichzeitig eigene Truppe unter anderem nach Peking und 天津 Ti~nj§n, um hier die Stellung für die Regierung zu halten. Im Nordosten demontierten derweil die Russen soviel von den japanischen Industrianlagen, wie sie konnten und brachten sie in die Sowjetunion, überließen aber gleichzeitig die japanischen Waffen der KP-Armee. Bis 1947 hielten parallel dazu amerikanische Vermittlungsbemühungen zwischen KP und Kuomintang an, die darauf hinausliefen, daß beide Parteien die chinesische Regierung bilden sollten. Höhe- und Ausgangspunkt dieser Aktivitäten war das Zusammentreffen der Todfeinde Mao und Tschiang zu den 重庆谈判 Chóngq§ng tàn pàn Verhandlungen in der Noch-Hauptstadt 重庆 Chóngq§ng am 28. August 1945. Freilich hatte keine der beiden, von US-Botschafter Patrick Hurley an den Verhandlungstisch gebrachten Seiten die Absicht, tatsächlich irgendwelche Gemeinsamkeiten zu vereinbaren. Mao war -wie Tschiang- überzeugt, über 188 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE die wahren Absichten des Partners genug zu wissen, um die Gespräche nur als Mittel zu nutzen, der Öffentlichkeit dessen Hinterhältigkeit zu beweisen.112 Kluge Truppenbewegungen der als Fanal am 1. Mai 1946 in Volksbefreiungsarmee umbenannten kommunistischen Einheiten und eine effektive Öffentlichkeitsarbeit auf der einen, kommunistischen Seite, bodenlos korrupte und despotische Verhältnisse in der Verwaltung sowie hohe Inflation und wirtschaftliches Chaos auf der anderen, der Kuomintang-Regierungsseite führten ab 1947 dazu, daß die von der Regierung 共匪 gòng fi kommunistische Banditen genannten KP-Truppen ab 1947 zunehmend die Oberhand in den Kämpfen erlangten. Schon im Folgejahr 1948 gestand sich Tschiang die sichere Niederlage ein und veranlaßte den Auf- und Ausbau der Insel 台湾 Táiw~n zum letzten Rückzugsgebiet113 der Regierung der Republik China. Zu diesen Vorbereitungen gehörte die Übersiedlung von Hunderttausenden verdienter Anhänger, Beamter, Militärs und Funktionäre sowie zahlloser, in Tausenden Kisten verpackter historischer Schätze aus dem ehemaligen Kaiserpalast114, die bis heute im 台湾故宫博物院 Táiw~n gù gÇng bó wù yuàn Taiwaner Palastmuseum in Taipei ausgestellt sind. Sie sollten, nach der Niederlage in China, der auf der Insel weitergeführten Republik China als Legitimation dienen. 112 Eine sehr gute Übersicht über diese Periode bis zum Ende der Republik China im Herbst 1949 gibt die vom US-State Department im August 1949 herausgegebene Sammlung offizieller US-Dokumente: United States Relations With China, With Special Reference to the Period 1944-1949, die als The China White Paper sehr bekannt wurde. 113 Die Insel, die von 1897 bis zur japanischen Kapitulation 1945 eine japanische Kolonie gewesen war, hatte US-Präsident Roosevelt 1941 auf der Kairoer Konferenz dem dort teilnehmenden und dies fordernden Tschiang Kaischek zugesprochen. 114 Die Preziosen, ca. 200.000 Stücke, Bilderrollen, Kalligraphien, Porzellan etc., waren schon 1931, als offensichtlich geworden war, daß Japan China besetzen wollte, aus dem Kaiserpalast heraus- und zunächst nach Shàngh|i, dann nach Sìchu~n, nach dem Ende des Krieges wieder nach Nanking verbracht worden. åæ çè 189 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE In einer für alle Beteiligten wohl überraschenden Rasanz zerfiel die Herrschaft Tschiang Kai-scheks ab dem Spätherbst 1948. Von Norden kommend überrannten die kommunistischen Truppen das Land und die millionenstarke Nationalarmee in einem atemberaubenden, von der Führung selbst nicht erwarteten glatten Siegeszug: Im Oktober 1948 fiel die Stadt 长春 Chángchãn, im Januar 1949 天津 Ti~nj§n, dann 北平 Bip§ng (Peiping). Die alte (und bald wieder neue) Hauptstadt übergab der KuomintangKommandeur kampflos, was die desolate und aussichtslose Lage der Regierung zeigte. Am 25. März 1949 nahm die KP-Führung dort ihren Sitz. Am 27. Mai fiel Chinas wichtigste und größte Stadt -上海 Shàngh|i. Im November 1949 wurde 重庆 Chóngq§ng genommen und am 8. Dezember verkündete die Kuomintang-Regierung ihren Rückzug nach Taipei. Tschiang Kai-schek trat von seinen Ämtern zurück. 190 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 中华人民共和国 ZhÇng Huá Rén Mín Gòng Hé Guó Volksrepublik China (1949 bis heute) Der Sieges-Sturmlauf der KP-Truppen in den Jahren 1947, 1948 und 1949 war zunächst nicht das Resultat ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit im Vergleich zu Tschiangs Armee oder ihrer besseren Ausrüstung. Das Gegenteil war anfangs der Fall. Eine bedeutsame Rolle spielten die klügere Strategie und Taktik der Kommunisten, vor allem zu Beginn der offenen Auseinandersetzungen, als Tschiang Kai-schek seine weit überlegenen Streitkräfte erneut gegen das von ihnen beherrschte Gebiet zusammengezogen hatte, um zu vollenden, was 1934 nicht gelungen war - die 围剿 wéi ji|o Einkreisung und Ausrottung der KP-Truppen. Dieses Vorhaben vereitelten außer Mao, der Vorsitzende des Revolutionären Militärausschusses des Chinesischen Volkes115, und 朱德 Zhã Dé, der Oberbefehlshaber der Volksbefreiungsarmee116, auch die Kommandeure der großen kommunistischen Operationen gegen die Tschiang-Armee, die zwischen Frühjahr 1947 und Herbst 1948 den Bürgerkrieg militärisch entschieden. Zu nennen sind hier: ! 彭德怀 Péng Déhuái und 贺龙 Hè Lóng, Kommandeure der Nordwestarmee, die im März 1947 mit einer List die Offensive der Regierungstruppen im Raum 延安 Yán=~n zerschlug. ! 林彪 Lín Bi~o, Befehlshaber der ersten großen kommunistischen Operation, der West- 辽宁Liáonìng- 沈阳 Shnyáng-Operation, die so viele Kuomintang-Truppen in Nordostchina vernichtete, das erstmals eine zahlenmäßige Überlegenheit der KP gegeben war, die nun überdies die riesige Mandschurei besaß und dort direkten Kontakt zur Sowjetarmee 115 yuán huì. 116 éstêëìÊíî zhÇng guó rén mín gé mìng jãn shìw‘i éïðñòó zhÇng guó rén mín jifàng jãn z4ng s§ l0ng. 191 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE bekam. Dieser Sieg schuf die Voraussetzungen für den folgenden Aufmarsch gegen 天津 Ti~nj§n und Peking Ende 1948. ! 陈毅 Chén Yì, Befehlshaber der 淮海 Huái H|i-Operation, die im Herbst 1948 Ostchina in die Hand der KP brachte. Im Ergebnis standen ihre Truppen damit vor den Toren der KuomintangHauptstadt Nanking. Diese erfolgreiche Operation hatte den de facto Zusammenbruch der Regierungsarmee und den Rücktritt Tschiangs zur unmittelbaren Folge. Alle diese Truppenführer spielten in den ersten zwanzig Jahren der Volksrepublik China eine wichtige innenpolitische Rolle im Machtgefüge der Partei, bis Mao sie ab Ende der 50er Jahre einen nach dem anderen entmachtete, weil sie nicht (mehr) mit seinen politisch-revolutionären Vorstellungen, die auf eine völlige Beseitigung der überkommenen chinesischen Kultur zielten, übereinstimmten (s.u.). Die bedeutendste Ursache für Maos raschen militärischen Erfolg im Bürgerkrieg war jedoch die Tatsache, daß Tschiang Kai-scheks Regime -nach einer Phase der Hoffnung, die auf die japanische Kapitulation folgte- seine Herrschafts-Legitimation sehr schnell und weitgehend in der chinesischen Bevölkerung, in seiner Armee, bei den Soldaten und schließlich auch bei der amerikanischen Regierung verspielt hatte. Im letzten Jahr der Republik China lag die Wirtschaft des Landes, das sich de facto seit den frühen zwanziger Jahren unablässig im Kriegszustand (mit sich selbst oder mit Japan) befunden hatte, in Trümmern. Die Inflation schoß in immer neue Höhen, Korruption und Willkür der Beamten und Parteifunktionäre aller Ebenen waren in den Augen vieler grenzenllos geworden und ein wichtiger Grund dafür, daß Hoffnungslosigkeit mit Blick auf die eigene Zukunft, aber auch die des Landes grassierte. Der Zustand entsprach ganz demjenigen, der in der Geschichte Chinas immer zum 革命 gé mìng Entzug des Mandats des Himmels geführt hatte. Nur hieß 革命 gé mìng inzwischen, so weit war China bereits modernisiert: Revolution. 192 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Im Vergleich dazu gab die Kommunistische Partei in ihrer scheinbaren Schlichtheit ein Bild der Unschuld, des Redlichen und Unverdorbenen ab. Das war die Situation, in der die KP die Macht über das bevölkerungsreichste Land der Erde übernahm. Am 1. Oktober 1949 rief Mao in Peking, vom Rostrum des 天安门 Ti~n=~nmén den neuen chinesischen Staat aus, die Volksrepublik China. In seiner Rede sagte er den Satz, auf den viele gewartet hatten und der bis heute die -inzwischen selbstverständliche- Leitlinie chinesischer Politik abgibt: 中国人民站起来了 zhÇng guó rén mín zhàn q0 lái le - das chinesische Volk ist aufgestanden. Mit anderen Worten: In China bestimmen nun Chinesen, niemand sonst. Von jetzt ab muß die restliche Welt die Würde China anerkennen und sich dem Land gegenüber entsprechend verhalten. Eine neue Gesellschaft scheitert (1949 bis 1971) Eine andere, bis heute sehr gängige Metapher für das, was geschehen war, ist die Bezeichnung des neuen Staates als 新中国 x§n zhÇng guó - Neues China. Die Nation, ein Viertel der Menschheit, war nun, vierzig Jahre nach dem Sturz der mandschurischen Fremd-Dynastie, erstmals wieder unter einer effektiven, das ganze Land beherrschenden Zentralmacht geeint und nach gut 150 Jahren außerdem frei von jeglicher ausländischer Einmischung in seine staatlichen Belange. Wie würde sich das ganz im Sinne Napoleons 1817- nun aufgeweckte und wache Riesenland entwickeln? Und welche Konsequenzen würde das für den Rest der Welt haben? Die neuen Herrscher hatten in den vergangenen zwei Jahrzehnten ihres Kampfes viele praktische Erfahrungen im Verwalten eines Gemeinwesens gesammelt und wußten daher recht gut, wie Macht zu organisieren war. Sie hatten sozusagen einen fliegenden Start: Vom ersten Tag an besaßen sie eine eigene Armee, einen eigenen Geheimdienst, Schulen und Universitäten, eine landesweit arbeitende, zentral und militärisch geführte Parteiorganisation sowie politische Institutionen, die ihren Herrschaftswillen umsetzten. Die Jahre des Überlebenskampfes hatten sie überdies äußerst vorsich193 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE tig, mißtrauisch und gnadenlos gemacht - Tugenden, die sie -bei Strafe des Untergangs- einzuhalten fest entschlossen waren. Die neuen Herrscher besaßen aber nicht nur diese Mittel, sondern auch eine westliche Ideologie und soziale Vorstellungen, wie das Neue China aussehen sollte - letztlich so wie die Sowjetunion: sozialistisch und kommunistisch und vor allem: industrialisiert Am Beginn der radikalen Umgestaltung Chinas stand außerdem die Liquidierung der Träger des Alten China, die sozialen Stützen der Gesellschaft, die seine Struktur ausgemacht und seine legitimatorische Ideologie bestimmt hatten, der sogenannten Eliten in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft (hier vor allem Großgrundbesitzer, Industrielle gab es nur wenige). Sie wurden zu Beginn der fünfziger Jahre politisch ganz und physisch fast vollständig ausgeschaltet. In dieser Radikalität lag ein wichtiger Unterschied zu früheren Dynastiewechseln, als auch einfache Bauern, untere Beamte oder Militärführer die Macht übernommen hatten, der personale Herrschaftsapparat der Vorgänger jedoch erhalten blieb und die chinesische Kontinuität auch äußerlich bewahrte. 1949 jedoch war ein vollständiger Neuanfang. Die Gründung der Volksrepublik China markierte einen radikalen Bruch mit der bisherigen chinesischen Gesellschaft. Den neuen Herren war -nicht zuletzt aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung am MarxismusLeninismus- abei auch klar, daß es nun darauf ankam, die sogenannten Produktivkräfte zu entwickeln, das legitimatorische Hauptziel des Kommunismus. Sie wollten China unter allen Umständen industrialisieren. Nur aus dieser Quelle würde ihnen die Kraft zuwachsen, auf der Bühne der Nach-Weltkriegsmächte zu agieren, sich selbst und China (wieder) zu anerkannten, gleichberechtigten und eines Tages auch globalen Mitspielern zu machen, die Schande der letzten einhundert Jahre abzuwaschen. Und China vielleicht sogar zur Nummer Eins zu machen? Im Rahmen ihrer politischen Reorganisation des Staates ersetzte die KP-Führung die alten Herrschaftsstrukturen durch ihre neuen, am sowjetischen Vorbild orientierten und seit den dreißiger Jahren in den sogenannten befreiten Gebieten schon vor 1949 jahrelang 194 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE eingeübten. Drei Institutionen spielen hier -von Städten über Kreise, Provinzen bis hinauf zur nationalen Ebene- auch heute noch die maßgebliche Rolle: ! 中国共产党 ZhÇng Guó Gòng Ch|n D|ng - Kommunistische Partei Chinas. Sie ist mit heute ca. 70 Millionen, in sogenannten Zellen an ihren Arbeitsplätzen -Unternehmen, Büros, Organisationen, Ämtern, Schulen, Universitäten etc. organisierten Mitgliedern die alles bestimmende Kraft im Lande. Die Partei ist nach dem Lenin=schen Prinzip strikt hierarchisch aufgebaut, die obere Einheit befiehlt der unteren, ihre Beschlüsse müssen ausgeführt werden, ob man sie individuell teilt oder nicht. Nominell höchstes Gremium ist der 中国共产党全国 代表大会 zhÇng guó gòng ch|n d|ng quán guó dài bi|o dà huì Parteitag, der unter Mao nur sehr unregelmäßig, seit seinem Tod aber alle fünf Jahre zusammentritt. In der Zeit dazwischen trifft sich das vom Parteitag gewählte 中央委员会 zhÇng y~ng wi yuán huì Zentralkomitee (ZK) der Partei (meist einmal jährlich, im Herbst). Öfter tritt das vom ZK gewählte 中央政 治局 zhÇng y~ng zhèng zhì jú Politbüro des Zentralkomitees zusammen, noch öfter der 中央政治局常务委员会 zhÇng y~ng zhèng zhì jú cháng wù w‘i yuán huì Ständige Ausschuß des Politbüros des Zentralkomitees, in dem heute die neun höchsten Machthaber Chinas sitzen, die über alles im Lande entscheiden (können). Bei der Machtübernahme der KP im Jahre 1949 gehörten diesem Gremium nur fünf Personen an: 毛泽东 Máo ZédÇng, 刘少奇 Liú Sh|oqí, 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, 朱德 Zhã Dé und 陈云 Chén Yún. Später kam auch 邓小平 Dèng Xi|op§ng (als Generalsekretär) dazu. ! 全国人民代表大会 quán guó rén mín dài bi|o dà huì Nationaler Volkskongreß. Dies ist das Parlament Chinas bzw. der jeweiligen Gebietskörperschaft. Auf nationaler Ebene tritt es jährlich (im Frühjahr) für zwei Wochen zusammen, alle fünf Jahre erfolgt eine sogenannte Neuwahl (ohne daß es freilich einen landesweiten oder überhaupt einen öffentlichen Wahl195 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE kampf gibt bzw. andere Parteien sich um Sitze bewerben könnten). Während dieser Tagungen hören die ca. 3.000 Abgeordneten den Bericht der Regierung den der Premier vorträgt, und diskutieren anschließend in diversen sogenannten 工作小组 gÇng zuò xi|o zß Arbeitsgruppen. Der Volkskongreß verabschiedet die national gültigen Gesetze und wählt die Regierung Chinas, den sogenannten 国务院 guó wù yuán - Staatsrat (Kabinett), dem die Ministerien als Abteilungen unterstehen, sowie den 总理 z4ng l0 Premierminister (Ministerpräsident, entspricht dem Bundeskanzler) und den 国家主席 gu4 ji~ zhß xí Staats-Vorsitzenden (= Präsidenten, Staatsoberhaupt). Zwischen den Tagungen des Volkskongresses übernimmt der Ständige Ausschuß des Nationalen Volkskongresses die Zuständigkeit des Parlaments. Der Vorsitzende des Ständigen Ausschusses (= Parlamentspräsident) ist die No. 2 in der chinesischen Machthierarchie, nach dem Staatsvorsitzenden und vor dem Premier. Der Volkskongreß beschließt selbstverständlich nur, was die KP-Führung (= neun Mitglieder des Ständigen Ausschuß des Politbüros des Zentralkomitees) gutheißt. ! 中国人民政治协商会议 zhÇng guó rén mín zhèng zhì xié shàng huìyì - Politische Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes. Die Organisation, die ähnlich strukturiert ist wie der Volkskongreß (mit Ständigem Ausschuß, Ablegern auf Provinzund darunter liegenden Ebenen etc.) dient offiziell als ein die regierende und alles bestimmende KP -vom Nicht-Kommunistischen-Standpunkt aus beratendes Organ und hat seine Wurzel bereits in der Zeit vor 1949. In der Konsultativkonferenz sind deshalb bekannte Persönlichkeiten als Ehrenmänner/frauen aus (Privat-)Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft vertreten, die nicht unbedingt KP-Mitglieder sind. Seit der Gründung der Konsultativkonferenz dient das Gremien der Partei dazu, eine sogenannte 统一战线 t4ng y§ zhàn xiàn Einheitsfront mit Nicht-Kommunisten herzustellen, um so der KP-Alleinherrschaft eine Schein-Legitimation als von allen Bevölkerungsgruppen unterstützte herrschende Partei zu verschaffen. 196 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Zügig brach die Partei zu Beginn der 50er Jahre zunächst den verbliebenen politischen Widerstand und brachte anschließend das Finanzwesen (Banken, Versicherungen), die Industrie und den Handel unter ihre Kontrolle. Diesen Zwecken dienten in den Jahren 1950 bis 1952 die beiden ersten einer ganzen Reihe noch folgender sogenannter Massenbewegungen, die alle nach dem gleichen, von Mao in den vierziger Jahren in 延安 Yán=~n entwickelten Schema abliefen: ! Die KP-Führung definiert eine negative Auswahl von Personen oder Gruppen (zum Beispiel Kapitalisten, Spekulanten, Steuerhinterzieher, Abweichler von der offiziellen Parteilinie oder Konterrevolutionäre etc. und ! brandmarkt sie und ihr angebliches Tun in der Öffentlichkeit als negative Taten/Pläne einer kleinen Minderheit gesellschafts/parteischädlicher Elemente. ! Auf dieser Basis putschen die Propagandawerkzeuge wie Zeitungen, Radio, Lautsprecheranlagen etc. und die Parteifunktionäre aller Ebenen vor Ort sodann die übrige Bevölkerung (auch zum Beispiel Angehörige der Beschuldigten) im Rahmen großer und kleiner Veranstaltungen auf (an denen die bekämpften Personen oft selbst als Beschuldigte teilnehmen). Sie werden hier kritisiert und von den Massen verurteilt bis sie keinen Einfluß mehr in der Gesellschaft haben, entweder weil sie sozial diskreditiert oder wirtschaftlich enteignet sind, ihre Positionen verloren haben oder -alles zusammen- tot sind. Im Rahmen der 镇压反革命运动 zhèn y~ f|n gé mìng yùn dòng Bewegung zur Unterdrückung der Konterrevolutionäre (1950), der ersten vieler noch folgender solcher Bewegungen im Landesmaßstab, nahm die KP -vor allem in den Dörfern- ihre Feinde aus dem Bürgerkrieg ins Visier und entmachtete sie vollends: Kuomintang-Funktionäre, sogenannte Großgrundbesitzer und andere. In den Jahren 1951 und 1952 folgte dann -vor allem in den grossen Städten- die sogenannte 三反五反运动 s~n f|n wß f|n yùn dòng Drei-Anti und Fünf-Anti Bewegung, die die Enteignung der 197 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE industriellen und Handels-Kapitalisten zum Ziel hatte und ebenfalls nach dem Schema der Massenmobilisierung organisiert war. Trotz der schädlichen Rolle, die die sowjetische Führung (konkret: Stalin) während der gesamten Zeit des militärischen Machtkampfes in China für die KP gespielt hatte, und trotz des Kurses der Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die die chinesische Parteiführung um Mao deshalb seit den vierziger Jahren grundsätzlich verfolgte, sah sie nach der Machtergreifung die Sowjetunion als ihren besten und natürlichen Verbündeten an. Nur wenige Wochen nach der Ausrufung der Volksrepublik reiste Mao selbst deshalb schon im Dezember 1949 per Zug nach Moskau, um dort über die zukünftige Zusammenarbeit, konkret: Hilfe, zu verhandeln. (Es war seine erste Auslandsreise überhaupt, der 1957 nur noch eine zweite, ebenfalls nach Moskau, folgte.) Zu diesem Zeitpunkt war der Kalte Krieg zwischen den ehemaligen Kriegsalliierten USA und UdSSR bereits ausgebrochen (Berlin Blockade 1948-49) und Moskau kam ein Verbündeter von der Größe und zentralen Rolle Chinas in Asien gerade recht, um dort gegen die USA in die Vorhand zu kommen. In Washington hatte derweil die Niederlage Tschiang Kaischeks gegen Mao tiefe Gräben zwischen Regierung und Opposition, aber auch in der sehr großen sinophilen amerikanischen Öffentlichkeit gerissen und eine heftige Debatte darüber verursacht, wer Schuld sei am Verlust Chinas117. Die offizielle China-Linie der amerikanischen Regierung zur Jahreswende 1949/50 war deshalb eine der Neutralität - natürlich die Abwendung vom kommunistischen China, aber auch ein enttäuschtes Fallenlassen des ehemaligen engen, wichtigen und so stark geförderten Verbündeten Tschiang Kai-schek auf Taiwan. Washington war in bezug auf China paralysiert. Am 5. Januar 1950 verkündete US-Präsident Truman, daß seine 117 Ausdruck dieser heftigen Auseinandersetzung war das sogenannte China White Paper (offiziell: United States Relations With China), das die Trueman-Regierung herausgab, um mit einer Unmenge auch interner und diplomatischer Papiere zu beweisen, daß sie nicht Schuld war am Verlust Chinas. Die Dokumente druckte die Stanford University Press 1967 nach. 198 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Regierung sich nicht in den chinesischen Bürgerkrieg einmischen werde und Taiwan (Formosa) -wie auf der Konferenz von Kairo118 beschlossen- als zu China gehöriges Territorium ansehe. Vor diesem Hintergrund mußten alle Beteiligten -Stalin, Mao, Tschiang- davon ausgehen, daß die Vereinigten Staaten sich einer Invasion Taiwans durch Pekinger Truppen nicht widersetzen würden. Allerdings vermied es die US-Regierung unter dem Einfluß prominenter Tschiang-Freunde weiterhin, den neuen Staat, die Volksrepublik China, diplomatisch anzuerkennen. Nicht nur das: Der amerikanische UNO-Vertreter im Sicherheitsrat stimmte auch nicht dem sowjetischen Antrag zu, den Tschiang Kai-schek/ Republik China-Vertreter dort auszuschließen, wie es die KP seit Herbst 1949 immer wieder verlangte. Und als am 13. Januar 1950 ein erneuter Ausschluß-/Aufnahme-Antrag Pekings im Sicherheitsrat (eingebracht über die Sowjetunion) am US-Veto scheiterte, verkündete die Sowjetunion, daß sie das Gremium nun solange boykottieren werde, wie der Tschiang-Kai-schek-Vertreter dort den Platz Chinas einnehme. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich Mao immer noch in Moskau auf, wo er insgesamt fast drei Monate blieb und damit den wohl längsten Staatsbesuch aller Zeiten absolvierte. Anders als viele im Westen, die hier zwei Freunde an keinem guten Werk arbeiten Mao und Stalin in Moskau, 1950. sahen, mißtraute aber Stalin dem Sieger im chinesischen Bürgerkrieg sehr und war nicht so ohne weiteres bereit, Mao mit allzufreigiebiger Hilfe zur Seite zu treten. Mao seinerseits hatte seit dem Ende der zwanziger Jahre genügend schlechte Erfahrungen mit Stalins China-Politik gemacht, um nicht 118 Kriegskonferenz zwischen den USA (Roosevelt), Großbritannien (Churchill) und China (Tschiang Kai-schek) in Kairo, die in einem kurzen Kommuniqué vom 1. Dezember 1943 verkündete, daß die seit 1895 japanisch besetzte Insel Formosa /(Taiwan) nach der japanischen Kapitulation an China zurückzugeben sei. Darauf hatte Tschiang Kai-schek bestanden. 199 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE auf der Hut zu sein. Mit großer Beharlichkeit und viel Geduld gelang es ihm und dem schließlich nachgereisten 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, Stalin einen 30jährigen Vertrag über Freundschaft und gegenseitige Hilfe abzuringen, der China Kredite und umfangreiche sowjetische Wirtschaftshilfe beim Aufbau der für entscheidend wichtig gehaltenen Schwerindustrie zusagte. Das westliche Lager aber nahm diese Vereinbarung und erst recht den ungewöhnlich langen Aufenthalt Maos in Moskau als Ausdruck besten Einvernehmens, enger Zusammenarbeit und fester Verbundenheit zweier kommunistischer Bruderstaaten wahr und begann in dem Block eine Bedrohung zu sehen. Dieses Gefühl wurde zur Gewißheit, als Ende Juni 1950 Truppen des sowjetisch beeinflußten Nordkoreas die Trennlinie zum (amerikanisch beeinflußten) Südkorea überschritten und diesen Landesteil innerhalb kürzester Zeit überrollten. Die USA reagierten sofort und brachten im UNO-Sicherheitsrat eine Resolution durch, die militärische UN-Hilfe für Südkorea legitimierte (die Sowjetunion war wegen ihres Boykotts nicht anwesend, so daß sie kein Veto einlegen konnte). Weiterhin redefinierte die Truman-Administration umgehend die Sicherheitsinteressen der USA in Asien neu, die nun, in Abkehr von dem, was erst ein paar Monate zuvor verkündet worden war, die Insel Taiwan mit einschlossen. Auf dieser Basis entsandte Washington sodann zum Schutz Taiwans vor einer chinesischen Invasion die 7. Flotte in die 台湾海峡 Táiw~n h|i xiá Taiwan Straße, um eine Invasion der Insel durch die KP-Truppen zu verhindern. Kaum jemand im Westen hatte zu diesem Zeitpunkt einen Zweifel daran, daß der nordkoreanische Blitzkrieg von Moskau und Peking, womöglich gemeinsam während des langen Mao-Besuches, geplant worden war. Das Neue China stand als aggressive Macht da! Vollends in den Status eines internationalen Paria (für den Westen) fiel es dann im Oktober 1950, als Millionen-Mann starke chinesische Truppen (sogenannte Volksfreiwillige) den Grenzfluß 鸭绿 Y~lù nach Nordkorea überquerten, um die gegen die UNO/US-Truppen, mittlerweile in große Bedrängnis geratene nordko200 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE reanische Invsionsarmee militärisch zu unterstützen. Unter riesigen Opfern gelang es den Chinesen auch tatsächlich, die UNO-/USStreitmacht, die schon weit im Norden Koreas, unweit der chinesischen Grenze stand, wieder hinter die ursprüngliche Trennlinie des 38. Breitengrades zurückzudrängen, wo sich die Front bis heute eingefroren ist. Für die internationale Position Chinas wie auch für seine politische und wirtschaftliche Entwicklung hatte das aktive militärischen Eingreifen in den Koreakrieg einschneidende Folgen. Vor allem in dieser Hinsicht: ! es verzehrte die letzten wirtschaftlichen Kräfte des von jahrelangem Bürgerkrieg und japanischer Besetzung ohnehin ausgelaugten Landes; ! es führte zur jahrzehntelangen Isolierung Chinas von den westlichen Industriestaaten, denn Peking wurde als militanter Aggressor (gefährlicher noch als die Russen) gesehen und mit wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen belegt; ! die KP in Peking ihrerseits fühlte sich und ihr Regime fortan akut von außen bedroht und verschärfte deshalb Tempo und Drastik der Unterdrückung und Kontrolle im Inland; ! China stand nun fest im sowjetischen Block, dem einzigen Verbündeten (wie Mao später sagte, beseitigte das aktive Eingreifen in Korea Stalins Mißtrauen ihm gegenüber); ! Taiwan bzw. das Tschiang-Kai-schek Regime, das dort als Republik China die Legitimität der chinesischen Regierung bedrohte und herausforderte, erlangte die diplomatische, militärische und politische Unterstützung der Vereinigten Staaten, wurde zum Verbündeten, blieb als Vertreter Chinas im Sicherheitsrat der UN und behielt diese herausgehobene Position zu den USA 20 Jahre lang bis 1971. Innenpolitisch hingegen trug der Erfolg der chinesischen Streitkräfte in Korea zu einem immensen Ansehens- und Legitimitätsschub des KP-Regimes bei: Erstmals seit 1840 hatten chinesische Streitkräfte eine militärische Auseinandersetzung mit 201 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE dem Imperialismus gewonnen - noch dazu gegen die stärkste Macht der Welt, die USA. Völlig vom Westen isoliert, nur auf die Sowjetunion gestützt, aber mit einem stark aufgebauten Selbstbewußtsein machten sich die in Peking Regierenden nach dem Abschluß des Waffenstillstandsvertrages in Korea (27. Juli 1953) daran, ihre innenpolitischen und wirtschaftlichen Vorstellungen für China in die Tat umzusetzen. Eng an das sowjetische Vorbild angelehnt begann der wirtschaftliche Umbau Chinas 1953-1957 mit dem 第一个五年 计划 dì y§ ge wß nián jì huà Ersten 5-Jahrplan konkrete Gestalt anzunehmen. Die Entwicklung einer Schwerindustrie stand dabei im Mittelpunkt. Wie eine Fabrikleitung wollte die Parteiführung fortan die wirtschaftlichen Entwicklungen des Riesenlandes planen und steuern. Die Investitionen sollten sich dabei so verteilen: ! Gesamtinvestitionen: 76,6 Mrd. Yuan (was dem damaligen Wert von von 20.000t Gold entsprochen haben soll119). ! 56 Prozent davon sollten in den Aufbau industrieller Grundlagen und der Infrastruktur, sogenannter 基本建设 j§ bn jiàn shè, Investbau120, gehen. ! Nur rund acht Prozent hingegen waren für die Entwicklung der Land-, Forst- und Wasserwirtschaft vorgesehen. Die nötigen Ressourcen für die industrielle Entwicklung im Eiltempo sollte also die Landwirtschaft liefern, die, um einen effektiven Zugriff auf ihre Ressourcen zu ermöglichen, deshalb unter die Kontrolle der Partei(funktionäre) gebracht werden mußte. Aus diesem Grund konzentrierte sich die Führung darauf, die 119 Im Report on the First Five-Year Plan For The Development of The National Economy of The People=s Republic of China (Peking 1955) sprach der L0 Fùchãn von 700 Millionen damalige Vize-Premier und Planungschef taels (li|ng, eine alte Währungseinheit Chinas) Gold. Bei einem tael = 28g ergibt sich diese Zahl. ³ô¾ 120 Ein Begriff aus der sozialistischen Wirtschaftswelt ohne genaue Entsprechung im Westen. Engl.: capital construction. 202 õ LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Verhältnisse auf dem Land als erstes so umzugestalten, daß ihre Helfer diesen Zugriff auch bekamen. Zunächst ging es gegen Konterrevolutionäre, gegen die sogenannten Großgrundbesitzer und reichen Bauern. Mit Hilfe der zu diesem Zweck aufgeputschten und organisierten armen Bauern und Landarbeiter, die bislang von diesen Leuten drangsaliert und ausgebeutet worden waren, wurde das im wesentlichen 1950/51 zuwege gebracht. Schätzungen variieren von einigen hunderttausend Toten bis zu einigen Dutzend Millionen. Auf dem ganzen chinesischen Land waren im Ergebnis die seit Jahrhunderten gültigen sozialen Hierarchien auf den Kopf gestellt, die herrschend Klasse sogar weitgehend physisch beseitigt, in jedem Fall aber enteignet und entmachtet. Viele Millionen arme Bauern und Landarbeiter waren von der KP auf diese Weise zu (Mit-) Tätern gemacht worden. Zur Belohnung erhielten diese Bauern nun den Ackerboden der Entmachteten und Liquidierten zugeteilt. Dies war freilich nur ein Geschenk auf Zeit, denn die Kommunistische Partei verfolgte keineswegs das Ziel, fortan mit vielen hundert Millionen kleiner Einzelbauern zum Sozialismus zu kommen. Schon kurze Zeit später begannen die Parteifunktionäre daher, diese neuen und die verbliebenen alten Individualbauern dahingehend zu bearbeiten, daß sie sich in sogenannten 农业合作 nóng yè hé zuò Kooperativen zusammentaten. Dort wurden ihre gerade übereigneten Ressourcen -Boden und Geräte- in größeren Einheiten zusammengeführt - kollektiviert, im Klartext: ihnen wieder weggenommen. Die Entlohnung der Mitglieder solcher landwirtschaftlichen Fabriken erfolgte zunächst auf Basis ihres Anteils, also der von ihnen eingebrachten Ressourcen wie Land, Gerätschaften und Tiere sowie ihrer täglichen Arbeitsleistung im Kollektiv. Die Verwaltung der Kollektive jedoch nahmen Perteifunktionäre in die Hand, für die das Ganze somit eine Pfründen-Beschaffung erster Güte war. Sie hielten nun die Verfügungsgewalt über sämtliche landwirtschaftliche Ressourcen Chinas in den Händen, was -zusammen mit dem staatlichen (= partei-eigenen) Aufkauf203 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE System eine wichtige Vorbedingung für die Auspressung des Landes zugunsten der Industrialisierung darstellte. Schon 1954 aber forcierten die KP-Funktionäre den Übergang zu einer noch größeren Zentralisierung (Kooperation), indem sie die Entlohnung ausschließlich aufgrund der persönlichen Arbeitsleistung der Mitglieder vornahmen. Der Bezug auf ihren einstigen Besitz ging den Bauern verloren, und so wurden aus ehemals unabhängigen Bauern de facto Landarbeiter, deren Fabriken (Eigentümer: die Parteifunktionäre) 生产队 sh‘ng ch|n duì Produktionsgruppen hießen oder 生产大队 sh‘ng ch|n dà duì Produktionsbrigaden. Ihren gerade erhaltenen Besitz hatten diese Proletarier nun wieder verloren. Gewonnen hatten sie dafür Gruppen- und Brigadeleiter -Vorgesetzte- in Form von Parteifunktionären, die auch politisch und gesellschaftlich das Sagen auf dem Lande übernahmen. Zusammen mit der Beseitigung der alten herrschenden Klasse war so, schon etwa Mitte der fünfziger Jahre, eine völlige Umwälzung der ländlichen Gesellschaft Chinas vollzogen und durch die große Zahl physischer Liquidierungen dabei sichergestellt, daß die alten Verhältnisse so schnell nicht wiederkommen würden. Alles Land gehörte (und gehört) dem Staat = der Parteiführung. Parallel zu dieser rasch und reibungslos vonstatten gehenden Umgestaltung der Verhältnisse auf dem Land brachten die Parteifunktionäre den Getreide- und anderen landwirtschaftlichen Handel unter ihre Kontrolle. Fünf bis zehn Prozent der Ernte mußten die Kollektive fortan als Steuern abgeben. Einen geringen Teil behielten die Arbeiter des Kollektivs für die eigene Ernährung. Der verbleibende größte Teil aber mußte staatlichen Aufkäufern zu einem vom Staat, also dem Käufer, festgesetzten Preis verkauft werden. Auf diese Weise, durch Auspressung der Landwirtschaft, gewann die KP die Mittel für die industriellen Pläne ihres 1. Fünfjahrplanes, ein Prozeß, der ganz und gar der sogenannten ursprünglichen Akkumulation entsprach, die zu Beginn der Industrialisierung Englands im ausgehenden 18. Jahrhundert die 204 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE nötigen Investitionssummen für die neu entstehenden, mit teuren Dampfmaschienen betriebenen Textilfabriken zusammenbrachte allerdings ohne Parteifunktionäre. Die Reibungslosigkeit, mit der diese radikale Umgestaltung der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft vonstatten ging, ermutigte vor allem Mao, den noch unangefochtenen Herrscher Chinas, der von einem sozialistischen Aufschwung auf dem chinesischen Lande121 sprach, auf diesem vermeintlich erfolgreichen Weg weiterzugehen und dabei die Gangart noch drastisch zu verschärfen. Denn Mao hatte noch wesentlich mehr vor: die Zertrümmerung der chinesischen Welt, ganz so, wie es viele der ersten Reformer um 1900 in ihrer Verzweifelung bereits gewollt hatten. Sein Werkzeug war ihm die kommunistische Ideologie, wie er sie verstand und in den ruhigen Jahren in 延安 Yán=~n kodifiziert hatte. Genau hier aber tat sich Mitte der 50er Jahre ein unvorhergesehnes Problem auf: Politische Entwicklungen in der sowjetischen KP schienen ihm genau dieses Werkzeug zu schwächen. Der sowjetische Parteiführer Chruschtschow, der nach einem kurzen Macht-Gleichgewicht nach Stalins Tod (März 1953) in Moskau bestimmte, rechnete im Februar 1956, in einer nichtöffentlichen, nicht mit den anderen Parteien abgesprochenen, geheimen Sitzung während des XX. Parteitages der sowjetischen KP mit dem bis dahin als Gott verehrten Stalin als einem der schlimmsten und blutrünstigsten Despoten der Menschheitsgeschichte ab. Obwohl Mao fast von Beginn seiner revolutionären Laufbahn an allen Grund hatte, Stalin wegen seiner der KP Chinas nur schadenden Politik zu kritisieren, begrüßte er Chruschtschows Verdammung keineswegs. Im Gegenteil ahnte er wohl, daß hier die Axt an die Wurzeln nicht nur des sowjetischen Systems gelegt worden war und der sensationelle Geheimbericht in der Folge das gesamte sogenannte sozialistische Lager, den Ostblock, erschüttern 121 cháo. ö÷øùúûüýþÿ zhÇng guó nóng cãn de shè huì zhß yì g~o 205 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE würde, auf dessen Unterstützung China dringend angewiesen war. Parteiintern sprach sich Mao deshalb von Anfang an scharf gegen das Vorgehen Chruschtschows aus und verhinderte, daß die chinesische Partei der sowjetischen folgte, die nun eine umfassende Entstaliniserung in Angriff nahm, den Anfang vom langen Ende des Regimes. Am 5. April 1956, nicht lange nach Chruschtschows Geheimbericht, veröffentlichte das Parteiorgan 人民日报 Rén Mín Rì Bào Volkszeitung deshalb einen von Mao inspirierten Leitartikel, der sich deutlich kritisch mit dessen Stalin-Kritik auseinandersetzte122. Tatsächlich kam es im Sommer 1956 in Polen und stärker noch im Herbst in Ungarn zu anti-kommunistischen Aufständen, die die sowjetische Armee militärisch niederschlagen mußte, um Polen und Ungarn nicht verloren gehen zu lassen (Ungarn wollte zum Beispiel aus dem Warschauer Pakt austreten). Mao sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, lobte das Vorgehen der sowjetischen Armee in Ungarn ausdrücklich und ließ im Dezember 1956, wieder im Parteiorgan Volkszeitung, einen zweiten, ebenfalls von ihm autorisierten Artikel veröffentlichen, der sich, immer noch verhüllt, aber wieder sehr kritisch mit dem Vorgehen Chruschtschows auseinandersetzte, und es auch für die Vorgänge in Polen und Ungarn verantwortlich machte123. Ein unerhörter, wenn auch noch nicht öffentlicher Vorgang, der freilich in Moskau nicht unbemerkt geblieben war. Für Mao war ab jetzt klar, daß sich gefährliche Risse im sogenannten sozialistischen Lager zeigten. In seinen Augen begann die sowjetische KP, die Übermutter aller Kommunistischen Parteien der Welt, mit der Kritik an Stalin eine Richtung einzuschlagen, der er nicht folgen wollte, weil er sie für falsch, nicht im Sinne der kommunistischen Ideologie hielt, aber auch als für die KPHerrschaft sehr gefährlich ansah. Wenn er den Moskauer Kurs ú Über die historischen Erfahrungen der Diktatur des Proletariats. ú Noch einmal über die historischen 122 123 Erfahrungen der Diktatur des Proletariats. 206 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE nicht ändern konnte, würde China wieder allein stehen - eine ernsthafte Bedrohung seiner Pläne mit China. Und aus beidem, dem reibungslosen Vorankommen seiner Politk im Lande und der Gefahr, die sich in Moskau zusammenbraute, folgerte er, daß die chinesische Partei schneller auf eigene Füße kommen, schneller das alte China zerschlagen und, wie es bald hieß, schneller den Sozialismus aufbauen mußte. Auf der vermeintlich festen Basis seiner Erfolge wandte sich Mao am 2. Mai 1956 in einer Rede an die Intellektuellen Chinas, denen die Partei für den weiteren Aufbau ihres Staates eine vermehrt wichtige Rolle zuschrieb und die sie daher überzeugen wollte mitzutun. Es war keine leichte Überzeugungsarbeit, die hier geleistet werden mußte, denn die Geistes- und Naturwissenschaftler und anderen Sinnproduzenten der neuen Gesellschaft hatten in den zurückliegenden Jahren vielfach die häufig auch körperlich schmerzhafte Erfahrung gemacht, daß die eher bäuerlichen Parteifunktionäre sie zwar für ihre Zwecke nutzen, ihnen aber nicht gestatten wollten, sich frei zu äußern. Ihre Hoffnungen, die sie mit dem Abtritt der Tschiang Kai-schek-Regierung verbunden hatten, waren bald von der neuen politischen Realität eingeholt und zerschlagen worden. Viele hatten sich deshalb zurückgezogen. Nun aber wollten Mao, sein Propagandachef 陆定一 Lù Dìngy§ und andere Funktionäre sie aktivieren. Schon im Januar 1956 hatte sie Premier und Außenminister 周恩来 ZhÇu ÷nl|i deshalb als einen Teil der Arbeiterklasse bezeichnet, also als Leute, die von der KP nichts zu befürchten hätten. Das sollte Vertrauen schaffen. In seiner berühmten, aber bis heute im tatsächlichen Wortlaut unveröffentlichten Rede vom 2. Mai 1956 ging Mao einen großen Schritt weiter und rief ihnen zu: 现在春天来了嘛,一百种花都让他开放 ... 百家争鸣是诸 子百家,春秋战国时代,二千年前那个时候,有许多学说, 大家自由争论,现在我们也需要这个。在中华人民共和国 宪法范围之内,各种学术思想,正确的,错误的,让他们 去说,不去干涉他们。李森科、非李森科,我们搞不清, 207 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 有那么多的学说,那么多的自然科学,就是社会科学,这 一派,那一派,让他们去说,在刊物上、报纸上可以说各 种意见 Jetzt ist der Frühling da, hundert Blumen lassen ihn aufblühen ... hundert Denk-Schulen wetteifern miteinander und zwar 100 verschiedene. In der Frühlings- und Herbstperiode und zur Zeit der Streitenden Reiche vor 2000 Jahren gab es sehr viele Denkrichtungen und alle disputierten frei miteinander. Das wollen wir jetzt auch. Im Rahmen der Verfassung der VR China darf jede Denkrichtung sich äußern - die korrekten ebenso wie sie falschen. Laßt sie alle sprechen, mischt Euch nicht bei ihnen ein. Für oder gegen Lysenko124, das ist ganz egal, wir können es ohnehin nicht klären. Es gibt so viele Wissenschaftler, so viele Naturwissenschaften und in der Sozialwissenschaft diese Richtung und jene - laßt sie kommen und sprechen, in den Magazinen und Zeitungen sollen sie alle ihre Ansichten äußern. Vom Partei-Propagandapparat unter dem Schlagwort 百花齐放, 百家争鸣 b|i hu~ qí fàng, b|i ji~ zh‘ng míng Laßt hundert Blumen blühen und hundert Schulen miteinander wetteifern weiter forciert in die Öffentlichkeit gebracht, begann diese im Sommer 1956 eine immer lebhafter werdende Debatte über Fragen aller Art, die sich bald dem politischen System, der Politik und Rolle der Partei und der Funktionäre zuwandte, zusehends kritischer wurde und eine eigene Dynamik mit eigenen Publikationen und dem Mittel der später berühmt werdenden 大字报 dà zì bào Wandzeitung entfaltete, Papierbögen mit selbst und in großen Schriftzeichen geschriebenen Artikeln, die die Verfasser an öffentliche Wände und Mauern klebten. Rasch wurde den Verantwortlichen, auch Mao, klar, daß unter den sogenannten Intellektuellen ein großes oppositionelles Poten- 124 Sowjetischer Naturwissenschaftler, der -im Gegensatz zur geltenden Lehre- behauptete, auch erworbene Eigenschaften könnten weitervererbt werden, was bei Stalin auf großes Wohlwollen stieß, weil sich so die Möglichkeit eröffnen würde, den kommunistischen Menschen quasi zu züchten. 208 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE tial steckte, und erhebliche Teile der städtischen Bevölkerung keineswegs mit ihrer Ordnung der chinesischen Dinge einverstanden waren. Die Funktionäre, Mao voran, schlugen mit den Mitteln zurück, die sie in politischen Auseinandersetzungen immer anwandten, weil sie sich bewährt hatten: Sie mobilisierten über die Parteizellen, die in allen Bereichen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens bestanden, die Bevölkerung gegen eine gefährliche, zu vernichtende, feindliche, verschwindende Minderheit, die aus sogenannten Rechten bestand. Den so als 右派 yòu pài Rechte oder Bürgerliche identifizierten Personen unterstellten die Funktionäre, im Gegensatz zu den revolutionären Linken, dem bürgerlichen Lager, also dem Westen, zuzuneigen, das gegebene chinesische Regime stürzen zu wollen, damit das alte wieder zurückkehre. Das mußte verhindert, die Drahtzieher mußten bestraft werden. Die Reaktion, die sogenannte Anti-Rechts Bewegung, setzte nach einer weiteren Rede Maos im Februar 1957 -Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk- ein und wurde im Sommer des Jahres zusehends missionarischer und erbarmungsloser als Denunziationskampagne geführt, die alle Institutionen des Landes ergriff. Etwa eine halbe Million Menschen (= kleine Minderheit), zumeist Wissenschaftler, Schriftsteller und Intellektuelle, aber auch manche Parteifunktionäre galten fortan als Rechte und als antisozialistische Elemente. Sie wurden häufig auf Jahre hinaus zur 劳改 láo g|i Umerziehung durch Arbeit aufs Land, zu den Bauern (tatsächlich in Arbeitslager) deportiert, wo sie, von den harten Lebensbedingungen und der schweren körperlichen Arbeit umerzogen, zur Unterstützung des herrschenden Regimes gebracht werden sollten. Nicht selten blieben sie dort zehn Jahre und länger und gerieten ihre Familienangehörigen in Sippenhaft. Sie alle behielten das Stigma Rechter bis zum Ende der siebziger Jahre mit allen schweren Nachteilen, die das für ihr Leben und ihre Arbeit bedeutete - sofern sie die Verbannung überlebten. Für die soziale Struktur Chinas, in der die Gebildeten, die 209 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Scholars, wie ein berühmter Roman125 sie nennt, die Kontinuität und den Charakter der chinesischen Gesellschaft garantierten, war die Bewegung gegen die Rechten wenn nicht der Todesstoß, so doch ein der Vernichtung sehr nahekommender Schlag. Die alten scholars waren nun entweder physisch fort oder sie wagten es nie mehr, öffentlich bemerkbar Einfluß zu nehmen. Sie blieben als gebrochene Persönlichkeiten zurück. Mindestens genauso prägend für die chinesische Gesellschaft aber war, was an ihre Stelle trat, denn ihre das geistige Leben des Landes bestimmenden Positionen blieben ja nicht leer: Leute rückten dort nach, die sich nicht durch Bildung, sondern durch Eigenschaften auszeichneten, wie sie professionelle Parteifunktionäre als proletarisch schätzten - Soldaten, Bauern und Arbeiter, der unumschränkt herrschenden Partei völlig ergeben, immer dankbar und immer bereit, jeden Befehl ohne zu fragen auszuführen. Die klassische Bildung kam in China in Verruf, und es war kein Zufall, daß gerade zu dieser Zeit auch die einzigartigen Träger dieser Kultur, die Schriftzeichen, einer radikalen Reform unterzogen wurden - als erster Schritt zu ihrer völligen Abschaffung: Die Partei nannte sie nun verächtlich 繁体字 fán t0 zì komplexe Schriftzeichen und legte einen Plan vor, der aus ihnen 简体字 ji|n t0 zì vereinfache Schriftzeichen mit weniger Strichen machte: aus 汉 hàn (= Chinese) wurde 汉 hàn126. Der Westen nahm die dramatischen Ereignisse, die auf die Stalin-Enthüllungen Chruschtschows 1956 in Polen, Ungarn und China folgten als Tauwetter wahr, viele glaubten, den Anfang vom Ende der kommunistischen Partei-Despotien zu sehen. Gestützt wurden solche Annahmen durch die Entmachtung hoher Stalin- The Scholars, Wú Jìngz0, eine englische Übersetzung dieses klassischen Romans aus der Míng-Zeit hat der Pekinger Verlag für 125 Fremdsprachige Literatur 1957 herausgebracht. 126 Freilich knüpfte diese Politik an Pläne an, die bereits in den 20er und 30er Jahren aufgekommen waren. Mehr dazu in: Jörg-M. Rudolph, Das Größte Geheimnis Chinas, Teil I, Sju Tsai No. 36. 210 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Mitarbeiter wie Molotow (Außenminister) und Malenkow (eigentlich Nachfolger) im Sommer 1957 und eine darauf folgende konziliantere Außenpolitik der Sowjetunion, die anscheinend von der Weltrevolution als Ziel ablassen und sich mit den USA verständigen und ausgleichen wollte: Im Herbst 1959 besuchte Chruschtschow als erster Sowjetführer seit 1917 die Vereinigten Staaten und wurde von Präsident Eisenhower auf dem Landsitz Camp David empfangen. Das von Chruschtschow anschließend geprägte und immer wieder verwendete Wort vom Geist von Camp David stand für seine Ansicht, daß es einen Ausgleich zwischen den USA und der Sowjetunion geben könnte. Beide Großmächte gemeinsam, so sagte er, wären in der Lage, die Dinge der Welt zu regeln. Das jedoch war nichts, was Mao ruhig schlafen ließ. Einen Ausgleich zwischen Imperialismus und Sozialismus, so meinte er, könne und werde es nicht geben. Für ihn war Chruschtschow zu diesem Zeitpunkt bereits zu einem Verräter am Sozialismus geworden, der die revolutionäre Sache des Kommunismus und die Befreiung der Menschheit aus Ausbeutung und Unterdrückung auf dem Altar sowjetischer Großmachtinteressen opferte. Nicht zuletzt auf Kosten Chinas.127 Aus dieser Analyse einer für China gefährlichen Entwicklung ergab sich für Mao: ! das eigene Land wirtschaftlich (und das hieß: industriell) wesentlich schneller als bisher voranzubringen, um zu erwartendem äußeren Druck widerstehen zu können, aber auch, um zu zeigen, daß der eigene Weg der erfolgreichere, der richtige war; ! darauf zu achten, daß die eigene Partei in der Ideologie sauber 127 Sehr detailliert und erstmals auf Basis der internen chinesischen Akten ist diese Entwicklung inzwischen von einem chinesischerseits von Anfang an in die Auseinandersetzung einbezogenen Funktionär, dem ehemaligen Chef der Nachrichtenagentur X§nhuá, Wú L‘ngx§ (protokolliert worden: Wú L‘ngx§, 1956-1966 Der zehnjährige Disput, Die chinesisch-sowjetischen Beziehungen, Erinnerungen, Verlag für Dokumente des Zentralkomitees, Peking 1999. Wú starb am 16.6.2002. ö !" 211 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE blieb, und hier keine Entwicklungen einsetzten, wie man sie gerade beim Großen Bruder beobachtete - Abweichungen von der Lehre, deren Uminterpretierung, Revisionismus, was schlielich in die Wiedereinführung des kapitalistischen Wirtschaftssystems führen würde, zur Rückkehr der gerade gestürzten alten Kräfte und damit auch zum Sturz des eigenen politischen Herrschaftssystems, ! zu retten, was zu retten war, d.h. den ideologischen Kampf gegen die KPdSU aufzunehmen und die sogenannten Bruderparteien der anderen sozialistischen Staaten auf die eigene Seite zu ziehen, ! die eigene Verteidigungsfähigkeit erhöhen - es fiel die Entscheidung Maos zum Bau einer eigenen Atombombe. Mao übernahm von Anfang an sehr entschlossen die Führung in allen vier Bereichen - Entwicklung der chinesischen Wirtschaft, Reinhaltung der eigenen Partei, Opposition gegen die ideologischen Abweichungen der sowjetischen Partei, militärische Unangreifbarmachung Chinas. In bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung griff er alles auf, unterstützte und propagierte, was dem ins Auge gefaßten Ziel, den Sozialismus schneller, besser und wirtschaftlicher aufbauen, zu dienen schien und initiierte im Herbst 1957 den 大跃进 dà yuè jìn Großen Sprung nach Vorn. Auf dem Land wurde mit der Organisation von 人民公社 rén mín gÇng shè Volkskommunen, in die die gerade gegründeten Produktionsgenossenschaften eingebracht wurden, die totale Vergesellschaftung des Lebens der Bauern und ihrer Familien verwirklicht - Kommunismus sozusagen. Massen-Arbeitseinsätze der so vergesellschafteten Menschen zielten gleichzeitig darauf, die Ernteerträge in nicht dagewesenem Umfang zu steigern und die Dörfer zu industrialisieren, um so die Effizienz, ja Überlegenheit des neuen chinesischen Systems (auch der Sowjetunion) zu beweisen. Noch heute stehen für diese Vergesellschaftung des Bauernlebens die großen Gemeinschaftskantinen und anderen Einrichtungen, die das chinesische Familienleben beseitigen sollten, und für die 212 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Industrialisierung Chinas die sogenannten Hinterhofstahlöfen, in denen Bauern und andere überall im Land alles einschmolzen, was aus Eisen gemacht war, um so die Stahlproduktion Chinas im Rekordtempo zu erhöhen. Auf allen Gebieten der Volkswirtschaft setzten die Partei-Planer utopische Mengenziele und meldete das Trommelfeuer der Propaganda im Sommer und Herbst 1958 die unglaublichsten Erfolge. Durch deren Brille nahm nun auch der Westen die Vorgänge in China wieder wahr: als Massenkampagnen der straff organisierten, fleißigen, gesichts- und willenlosen blauen Ameisen. Bilder, die Tausende, an Infrastrukturprojekten wie Staudämmen, Straßen und Eisenbahnlinien schaufelnde Chinesen in blauer Arbeitskleidung zeigten, prägten am Ende der fünfziger Jahre die China-Wahrnehmungen Europas und Amerikas so nachhaltig, daß viele Phänomene des geöffneten China der neunziger Jahre wie McDonald=s, Millionäre oder Porsche-Verkaufsstellen vor diesem Hintergrund (noch 2004, fast fünfzig Jahre danach!) als höchst erstaunlich und berichtenswert empfunden werden. Der Große Sprung nach Vorn erwies sich jedoch schon bald, spätestens im Frühjahr und Sommer 1958, als ein großes wirtschaftliches Fiasko. Wegen des Einsatzes vieler Bauern bei den riesigen Infrastrukturprojekten oder weil sie tatsächlich ihre Werkzeuge zu unbrauchbarem Stahl eingeschmolzen hatten, konnte die Ernte nur sehr unvollsändig eingebracht werden. Mangelerscheinungen, ja Hunger, waren bald nicht mehr zu übersehen. Im Sommer brachte Verteidigungsminister 彭德怀 Péng Déhuái, ein alter Mitkämpfer Maos, Kommandeur der chinesischen Truppen in Korea, auf einer Konferenz der obersten Parteiführung128 diese ernste Situation im Lande zur Sprache und kritisierte in einem Brief an Mao die Politik des Großen Sprungs. Mao, den diese Kritik damit für das desaster verantwortlich machte, 128 % Es ist die 8. (Erweiterte) Plenartagung des VIII. Zentralkomitees, die vom 2. Juli bis zum 16. August in dem Ort Lúsh~n (Provinz Ji~ngx§) stattfand. #$ 213 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE verteidigt sich vehement129 und erreichte auf der Tagung tatsächlich die Verurteilung des 彭德怀 Péng Déhuái als Rechten, die Bewertung seiner Kritik als antiparteiliches Cliquenwesen und seine Absetzung als Minister. Der Sieg Maos über seine innerparteilichen Gegner machte es ihm und seinen Genossen möglich, die Politik des Großen Sprungs -wenn auch etwas modifiziert- weiterzuführen, wodurch sich die bereits sehr prekäre Wirtschaftssituation weiter verschlechterte. Obwohl bereits die Ernte des Sommers 1958 nicht vollständig hatte eingebracht werden können, fuhren lokale Funktionäre damit fort, gar nicht existierende Rekordernte-Mengen an die zentrale Planungsbehörde zu melden, die dann auf dieser Basis große Getreidemengen auf dem Lande requirierte. Dort blieben infolgedessen immer weniger Nahrungsmittel übrig. Als dann wegen schlechter Witterung 1959 und 1960 die Erträge auch noch erheblich geringer ausfielen als normalerweise, war eine Hungersnot die Folge, wie sie China lange nicht mehr erlebt hatte: Selbst in der Hauptstadt Peking begannen die Menschen Baumrinde zu essen. Aus späteren Volkszählungen haben die Behörden rekonstruiert, daß vermutlich zwischen zwanzig und dreißig Millionen Menschen in diesen Jahren verhungerten. Auf dem Höhepunkt dieser fast existentiellen Krise des Regimes griff Chruschtschow, der sich ganz persönlich (und durchaus zu recht!) seit Jahren von Mao politisch und ideologisch kritisiert und herausgefordert, ja lächerlich gemacht sah, zu einem Zwangsmittel, um den Chinesen zu disziplinieren: Chruschtschow beorderte quasi über Nacht alle sowjetischen Spezialisten nach Hause, die seit Jahren, auf Bais des bilateralen Freundschaftsvertrages, bei wichtigen industriellen und infrastrukturellen Projekten in China Schlüsselrollen innehatten. Doch anstatt nachzugeben verstärkte sich der Widerstand Maos und verschaffte ihm, der wegen der Wirtschaftskrise nun auch 129 Seine Rede zum Beispiel in: Stuart Schramm (Editor), Mao Tse-tung Unrehearsed, Talks and Letters 1956-1971, Penguin Books 1974, S. 131-146, Speech at the Lushan Conference, 23 July 1959. 214 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE innerparteilich immer stärker unter den Druck seiner obersten Parteigenossen geraten war, die einen Sündenbock brauchten, diese Moskauer Politik letztlich sogar die Chance, in einem politischen Gegenschlag längst verlorenes Macht-Terrain zurückzugewinnen, ja seine Gegner letztlich allesamt ins politische Abseits und Aus zu manövrieren. Der immense Druck von Außen bewirkte nicht eine Differenzierung und Entmachtung Maos, sondern im Gegenteil ein Zusammenstehen der chinesischen Parteiführung! Nach der zu Beginn des Langen Marsches im Januar 1934 in dem Ort 遵义 Zãnyì (Provinz 贵州 GuìzhÇu) abgehaltenen Tagung war Mao bis zum 7. Parteitag 1945 der faktische Führer der KP gewesen. Auf dem Parteitag wurde er als 主席 zhß xí Vorsitzender des Politbüros auch offiziell Parteichef, seine ideologischen Auffassungen als 毛泽东思想 Máo ZédÇng s§ xi|ng überdies in die Parteisatzung aufgenommen. Infolgedessen verband sich der Sieg über Tschiang Kai-schek ebenso untrennbar mit seinem Namen wie die Gründung der Volksrepublik, das als Sieg über Amerika wahrgenommene militärische Eingreifen in den Koreakrieg, die Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage und sichtlich besser werdenden Lebensumstände zumindest in den Städten bis zur Mitte der fünfziger Jahre. Mao stand 1956, als Chruschtschow Stalin posthum zertrümmerte, auf dem Höhepunkt seines Ansehens und seiner Macht und dachte daran, die Führung langsam in die Hände anderer Parteiführer zu übergeben. Dies wurde sichtbar während des 8. Parteitages 1956, auf dem nicht Mao, sondern 刘少奇 Liú Sh|oqí den sogenannten Politischen Bericht vortrug. Überdies ließ er es zu, daß aus dem geänderten Parteistatut die 1945 eingefügten Mao Zedong-Ideen wieder gestrichen wurden. Dieser Rückzug aus der ersten Linie, wie Mao es nannte, führte dazu, daß andere Funktionäre in den Vordergrund gerieten, namentlich 刘少奇 Liú Sh|oqí. Zunächst ergaben sich daraus keine für Mao negativen Konsequenzen. Im Gegenteil trugen diese Genossen der ersten Linie sowohl seinen gegen Moskau gerich215 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE teten unabhängigen ideologischen und machtpolitischen Kurs mit und unterstützten auch eifrig die von ihm angeregten innenpolitischen Maßnahmen wie die sogenannte Hundert-BlumenKampagne (samt der anschließenden Tyrannei gegenüber Zehntausenden Intellektueller), den Großen Sprung und auch die Volkskommunen. Als das Regime jedoch infolge dieser Politik zunächst in eine politische und dann auch noch in eine tiefgreifende wirtschaftliche Krise abstürzte, so daß 1959/60 die Legitimät der Parteiherrschaft direkt gefährdet schien, begannen sich diese Funktionäre der ersten Linie intern sichtlich von Mao abzuwenden, ihn als Schuldigen zu betrachten (sich selbst folglich als unschuldige Opfer) und auf innenpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet eigene Maßnahmen zu ergreifen, die ihr Regime aus dieser Krise führen sollten. Die Entmachtung ihres Genossen 彭德怀 Péng Déhuái hatte ihnen freilich gezeigt, daß der nach wie vor präsente Vorsitzende Mao auch in zweiten Reihe nicht davor zurückschreckte, selbst sogenannte engste Kampfgefährten ohne zu zögern von der Macht zu entfernen, wenn sie sich offen gegen eine von ihm für notwendig gehaltene Politik wandten. (Im übrigen mag es ihnen auch eine Lehre der chinesischen Geschichte gewesen sein, daß der erste Kaiser einer neuen Dynastie nicht selten seine engsten Mitkämpfer auf dem Weg zur Macht alsbald umbrachte oder wenigstens politisch unschädlich machte.) So zogen es 刘少奇 Liú Sh|oqí, der im Frühjahr 1959 das Amt des 国家主席 guó ji~ zhß xí Staatspräsidenten von Mao übernommen hatte, und der langjährige Generalsekretär der Partei, 邓小平 Dèng Xi|op§ng, vor, nicht mit Mao darüber zu diskutieren, welche der von ihm weiter befürworteten innen- oder wirtschaftspolitischen Maßnahmen sie warum zurücknahmen oder änderten. Sie schoben Mao mehr und mehr an die Seite, ohne viel mit ihm darüber zu reden, was sie planten und auch taten. Ein Feld allerdings überließen die Mao-Gegner dem Vorsitzenden weiterhin, wohl weil sie es für nicht so wichtig hielten (ein verhängnisvoller Fehler, wie sich mit der Kulturrevolution für sie herausstellte): die marxistisch-leninistische Ideologie, die Theorie 216 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE der sozialistischen Revolution und ihre Praxis als Partei-Diktatur. Mao nutzte diesen seinen letzten Freiraum ab Anfang der sechziger Jahre konsequent und mit viel Eifer, indem er die bereits 1956 begonnene Auseinandersetzung mit der sowjetischen Partei (damals wegen Chruschtschows Stalin-Kritik) fortführte und auf grundsätzliche Ideologiefragen zuspitzte - auf die legitimatorische Basis des Regimes. Daß dies auch praktische Folgen für sie selbst und ihre Politik haben würde, bermerkten die Reformer um 刘少奇 Liú Sh|oqí erst, als es zu spät für ihre Posten war. Vom September 1963 bis zum Juli 1964 (Entmachtung Chruschtschows) entstanden, erstellt von einer eigens gebildeten Arbeitsgruppe aus Ideologie-Profis, sogenannter marxistisch-leninistischer Theoretiker, unter der Aufsicht Maos130 zahlreiche lange Aufsätze, die im Zentralorgan der KP Chinas, der 人民日报 Rén Mín Rì Bào Volkszeitung, erschienen, und sich zunehmend kritisch mit der sowjetischen Auslegung des Marxismus Wú L‘ngx§ Leninismus auseinandersetzten, diese als enthüllt die Details des Revisionismus, als Veränderung der Theorie ideologischen Kampfes und als Abweichung von der Wahrheit analymit Moskau. sierten. 1965, als diese ideologische Auseinandersetzung der beiden Parteien um die marxistisch-leninistische Wahrheit auch für die Welt kein Geheimnis mehr war, veröffentlichten die Chinesen diese Artikel in einem 600-seitigen Sammelband unter dem Titel Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommu- 130 ö !" Auch dies wird erstmals aus chinesischen Quellen und autoritativ dargelgt in: Wú L‘ngx§, 1956-1966 Der zehnjährige Disput, Die chinesisch-sowjetischen Beziehungen, Erinnerungen, Verlag für Dokumente des Zentralkomitees, Peking 1999. 217 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE nistischen Bewegung131. Während sich die westliche Politik darüber freute, daß der lange Zeit monolithisch erscheinende Sowjetblock nun offensichtlich unheilbar gespalten war -China (und Albanien, das sich als einziges Land der Pekinger Sowjetkritik anschloß) gegen den Rest- war es Mao inenpolitisch gesehen mit dieser Artikelserie gelungen das festzuschreiben, was eine komunistsiche Partei ausmacht und ihre Theorie und Praxis definiert - quasi einen benchmark-Test des wahren Kommunismus Zu seinen Kernpunkten, die auch die Kritik am sowjetischen System ausmachten, zählten hier im wesentlichen: ! Die Politik bestimmt die Entwicklung des Landes, sie steht an erster Stelle, sie muß korrekt sein, sonst geht der Sozialismus unter und die alten Kräfte kehren zurück, wird der Kapitalismus restauriert. ! Die Politik hat sich an den Forderungen der Ideologie für die sogenannte neue Gesellschaft auszurichten. ! Der Kampf gegen die (besiegten) Vertreter der sogenannten alten Gesellschaft (= Klassenkampf) geht auch nach der Machtergreifung der KP weiter. ! Innerhalb der herrschenden Kommunistischen Partei kann sogenanntes bürgerliches Denken Platz greifen, über kurz oder lang die Politik bestimmen und dann zu einer Wiederherstellung des Kapitalismus bzw. der alten Gesellschaft führen. ! Die innerparteilichen Vertreter einer solchen Restauration des Kapitalismus (Funktionäre der herrschenden KP) müssen genauso bekämpft werden wie einst die sogenannten Klassenfeinde, die ja in China kein schönes Ende gefunden hatten. Mit diesen Kriterien maß Mao -immer noch von der zweiten Linie aus- die Politik und wirtschaftlichen Maßnahmen der neuen ersten Linie: Legitim war nur, was die Maßstäbe dieser Generallinie 131 Der Pekinger Auslandspropagandaverlag Verlag für frendsprachige Literatur brachte diese Dokumente in zahlreichen Sprachen 1965 heraus. 218 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE erfüllte. Aber genau das war mit der Politik der Männer der ersten Linie, 刘少奇 Liú Sh|oqí, 邓小平 Dèng Xi|op§ng und andere, keineswegs der Fall. Ein später zu weltweiter Berühmtheit gelangter Satz des Generalsekretärs der KP, 邓小平 Dèng Xi|op§ng, bezeichnete am besten deren Vorgehen: Egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, Hauptsache ist, sie fängt Mäuse132. Mit anderen Worten: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, alles ist erlaubt, wenn nur das Ergebnis stimmt. Gemäß diesem einprägsamen, dem chinesischen Pragmatismus genau entsprechenden Satz ging die erste Linie ab 1961 vor, um das im wirtschaftlichen Bereich auch von ihr angerichtete Unglück zu beseitigen. Die in Anschlag gebrachten Maßnahmen glichen dabei weitgehend dem, was auch der von Mao gerade dafür vernichtend kritisierte Chruschtschow in der Sowjetunion getan hatte. Die neue Führung in Peking privatisierte de facto Ackerland und setzte in der Industrie auf die Zahlung von Prämien zur Erhöhung der Produktion. Bei all dem vergaß diese (mittlerweile zur Partei-beherrschenden Fraktion gewordene) Gruppe jedoch erstens, daß Mao sehr wohl noch da war, als Gründer des Neuen China weiterhin Prestige und Charisma genoß und überdies aus seiner zweiten Linie genau beobachtete, was die erste Linie tat. Und sie vergaßen auch, daß sie Maos prinzipielle Kritik der sowjetischen Theorie und Praxis selbst aktiv mitgetragen hatten, Deng sogar die ideologischen Kernthesen des Vorsitzenden über die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus und die daraus folgende Notwendigkeit einer Fortsetzung der Revolution und des Klassenkampfes auch im Sozialismus persönlich in Moskau gegenüber den Theoretikern der KPdSU vertreten und begründet hatte. Mit anderen Worten: Die erste Linie saß, was die ideologischen Grundlagen des Regimes anlangte, im gleichen Boot mit Mao praktizierte freilich genau das Gegenteil, nämlich all das, was 132 &'()*)+,-./012) bú gu|n bái m~o, h‘i m~o, dài zhù l|o shß jiù shì h|o m~o. 219 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE dieser (und sie selbst) verworfen hatte. Ihr vorrangiges Ziel war es 1961, der KP-Herrschaft wieder eine wirtschaftliche Grundlage zu beschaffen und so ihr Überleben zu sichern: Dynastien gehen zugrunde wenn das Volk nichts zu essen hat. Im Frühjahr des Jahres legte zum Beispiel Deng auf einer ZKKonferenz in 广州 Gu~ngzhÇu, weit weg von Peking und Mao, ein Programm vor, das die Volkskommunen de facto beseitigte. Im Kulturbereich, den Feuilletons der Zeitungen und im Theater, mehrten sich derweil Stücke und Serien, die Mao Selbstherrlichkeit vorwarfen, ungerechten Umgang mit sogenannten verdienten Funktionären, insbesondere die Entmachtung des Verteidigungsministers 彭德怀 Péng Déhuái 1959 sowie seine Großer-Sprung- und Volkskommunen-Politik. Nur dünn verschleiert und scharf-satirisch nahmen die Autoren den Großen Vorsitzenden aufs Korn133. Besonders provokativ empfand Mao das im Sommer 1961 uraufgeführte Theaterstück 海瑞罢官 H|i Ruì bà gu~n Hai Rui wird seines Amtes enthoben. Darin kritisierte der Verfasser, Pekings Vize-Bürgermeister 吴晗 Wú Hán, nur dünn verschleiert am Beispiel eines guten und loyalen, den geschichtsbewußten Chinesen durchaus bekannten Beamten aus der 明 Míng-Dynastie namens 海瑞 H|i Ruì, der furchtlos vor dem Kaiser 嘉靖 Ji~ Jìng (= Mao) für die armen Bauern Partei ergriffen und dafür sein Amt verloren hatte, die Absetzung des 彭德怀 Péng Déhuái. Mao beobachtete diese gegen seine politischen Ziele gerichteten Kritiken und ihre Verfasser genau und begann, sich außerhalb Pekings, in Shanghai, Verbündete in den unteren Rängen der Funktionäre zu suchen und seinen Gegenangriff vozubereiten. 133 7$89 <=ù>? ABC 3456 Zum Beispiel -unter Pseudonym- in der Bij§ng W|nbào Pekinger Abendzeitung die Serie Y~nsh~n yè huà Abendgespräche am [im Westen Pekings gelegenen] Berg Yan, des lokalen hohen Parteifunktionärs Dèng Tuò oder die Serie s~n ji~ cãn zhá jì Aufzeichnungen aus dem Drei-Familien-Dorf, die er gemeinsam mit den Funktionären Wú Hán (Pekinger Vize-Bürgermeister!) und Liào Mòsh~ abwechselnd in einer anderen Zeitschrift veröffentlichte. Eine deutsche Übersetzung in: Joachim Glaubitz, Opposition gegen Mao - Abendgespräche am Yenshan und andere Dokumente, Walter Verlag Freiburg, 1969. ; 220 @ : LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Dazu nutzte er nutzte seinen Freiraum im ideologischen Bereich. Sein Gegenangriff begann auf der 10. Tagung des VIII. Zentralkomitees im September 1962 mit erster Kritik am Vorgehen von 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng134. Gleichzeitig initiierte er mitten in China -in seiner Heimatprovinz 湖南 Húnán und dem benachbarten 湖北 Húbi- eine sogenannten sozialistische Erziehungsbewegung135. Der damals bereits 69jährige Mao hatte sich damit wieder auf das Land zurückgezogen, um von dort, wie schon einmal, die Städte einzukreisen. Er begann, eine öffentliche Meinung zu schaffen, die die Grundlage abgeben würde für konkretes Handeln, nämlich die Absetzung seiner innerparteilichen Gegner und die NeuAusrichtung der Partei-Ideologie. Ziel der Erziehungsbewegung, die in Form von Massenversammlungen ablief, war erstens die Indoktrinierung der Menschen mit dem Gedanken, daß es immer noch Feinde der neuen Gesellschaft gab -selbst innerhalb der Partei- , die bekämpft werden mußten, sollte eine Rückkehr der alten Gespenster -Großgrundbesitzer, Kapitalisten, Kuomintang, Tschiang Kai-schek etc.- verhindert werden. Zweitens sollten große Teile der Landbevölkerung gegen diese sogenannten Klassenfeinde in ihrer Umgebung auch praktisch mobilisiert, d.h. aufgehetzt werden. Tatsächlich machten sich die chine- Aburteilung sogenannter LM NO fù nóng f‘n z0 Reicher sischen Bauern wieder zu Mittätern, Bauern-Elemente. identifizierten in ihren Dörfern und Krei134 Maos Rede auf dieser Tagung in: Stuart Schramm (Editor), Mao Tsetung Unrehearsed, Talks and Letters 1956-1971, Penguin Books 1974, S. 188196, Speech at the Tenth Plenum of the Eighth Central Committee, 24 September 1962. Mit Blick auf die Feuilleton-Angriffe auf ihn, sagte Mao zum Beispiel: Writing novels is popular these days, isn=t it? The use of novels for anti-Party activity is a great invention. 135 DEFGHIJK shè huì zhß yì ji~o yù yùn dòng. 221 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE sen sogenannte reiche Bauern und Parteifeinde etc., die sie unter Anleitung der lokalen Parteifunktionäre vor Versammlungen von Tausenden bäuerlicher Zuschauer schleppten und dort als Ausbeuter, Klassenfeind, Element etc. beschimpften, anklagten und verurteilten136. In den folgenden Jahren dehnte sich die Bewegung aus. Es war ja Maos Ziel, sie in die Städte zu tragen und die dort im kulturellen Bereich so frech tätigen Intellektuellen damit zu konfrontieren. Es war ihm nicht entgangen, daß diese sich zunehmend deutlich, gedeckt von der ersten Linie, gegen seine Politik wandten, sich sogar über ihn lustig machten. Eine solche Ausdehnung suchten 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓 小平 Dèng Xi|op§ng auf der anderen Seite zu verhindern, indem sie ihre Sicht unterstützende Parteimitglieder in die sozialistische Erziehungsbewegung einschleusten und auf diese Weise versuchten, sie in ihrem Sinne zu steuern, ihr die Spitze zu nehmen. Allerdings fehlte ihnen die ideologische Basis, um gegen Maos revolutionäres Tun zu argumentieren. Das sowjetische Beispiel als Vorbild zu nehmen war ihnen verwehrt, hatten sie doch Maos Kritik daran mitgetragen. Außerdem suchte Moskau in dieser Zeit China wirtschaftlich, politisch und sogar militärisch unter Druck zu setzen, um es seinen Vorstellungen gefügig zu machen. Eine Zusammenarbeit mit dem Kreml unter diesen Umständen verbot sich deshalb auch für die Mao-Gegner. Eine Öffnung zum Westen aber war zu diesem Zeitpunkt schon deshalb nicht möglich, weil vor allem die Vereinigten Staaten kein Interesse daran hatten, sich mit Rotchina, wie es hieß, einzulassen. So schleppte sich die politische Auseinandersetzung der beiden Parteifraktionen nicht-öffentlich, in Form innerparteilicher Grabenkämpfe und nach außen als sozialistische Erziehungsbewegung vernebelt in den Jahren 1964 und 1965 dahin, wobei Mao jedoch zunehmend den Boden gewann, auf dem er nach und nach sein 136 PQR Eindrucksvolle, erst kürzlich veröffentlichte Photos soclher Versammlungen in: L0 Zhènshèng, Red-Color News Soldier, Phaidon Press Limited, London 2003, ISBN 9-780714843087. 222 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Personal rekrutierte, seine Truppen zusammen- und aufstellte, mit deren Hilfe er 1966 schließlich die gnadenlose Kulturrevolution entfesselte, die seine Gegner tatsächlich vollständig und für eine Zeitland restlos von der Macht entfernte. Zu Hilfe kam ihm hier eine personelle Weichenstellung, die er bei der Entmachtung des Verteidigungsministers 彭德怀 Péng Déhuái 1959 vorgenommen hatte, indem er einen verdienten Truppenführer aus dem Bürgerkrieg gegen Tschiang Kai-schek, den ihm ergebenen Marschall 林彪 Lín Bi~o, zu dessen Nachfolger machte. Damit hatte er sich den ungestörten Zugriff auf die Armee gesichert, eine entscheidend wichtige Maßnahme, kommt doch, gemäß seiner eigenen Maxime, die politische Macht aus den Läufen der Gewehre. 林彪 Lín Bi~o begann Anfang der sechziger zielstrebig damit, die Loyalität der Armee zu Mao sicherzustellen, ein später weltweit bekanntes Markenzeichen dafür war die Schaffung eines kleinformatigen Buches (später) in einem grell-roten Plastikumschlag mit dem Titel 毛主席语录 Máo zhß xí yß lù Worte des Vorsitzenden Mao. Es enthielt kurze Auszüge, clips, aus den Schriften Maos der Jahre vor 1949. Diese kurzen, ausgewählten Sentenzen dienten als politisches Schulungsmaterial für die vielen Millionen Soldaten, die damit fest auf Mao und seine Ansichten zu allen Fragen des Lebens eingeschworen wurden. Da Mao, der zu dieser Zeit unter den führenden Parteifunktionären außer 林彪 Lín Bi~o und dem ihm ebenfalls treu ergebenen Geheimdienstchef 康生 K~ng Sh‘ng kaum jemanden auf seiner Seite hatte, aktivierte 1964 auch noch seine Frau 江青 Ji~ng Q§ng mit dem Ziel, über sie, eine Schauspielerin aus den dreißiger Jahren, die er in 延安 Yán=~n geheiratet hatte, die ihm besonders verhaßten sich schriftstellerisch mehr oder weniger öffentlich gegen ihn betätigenden Parteifunktionäre wie die erwähnten 吴晗 Wú Hán (Vize-Bürgermeister von Peking) , 邓拓 Dèng Tuò (KPBildungssekretär in Peking) und 廖沫沙 Liào Mòsh~ (Chef der Einheitsfront-Abteilung der Pekinger Stadtverwaltung) sowie vor allem den sie deckenden mächtigen Pekinger Bürgermeister und Parteichef, das Politbüromitglied 彭真 Péng Zh‘n, zu Fall zu 223 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE bringen. Im Januar und erneut im Juli 1964 trat 江青 Ji~ng Q§ng erstmals öffentlich auf, als sie auf zwei Konferenzen zu Fragen der Kultur die Repertoirs der Theater und deren gängige 京剧 j§ng jù PekingOpern im Sinne Maos angriff. Die verantwortlichen Kulturpolitiker, so lautete dessen Vorwurf, brächten nicht die Helden der neuen, sozialistischen Zeit auf die Bühne, sondern nur Kaiser und deren Beamte, Gestalten der alten, ausbeuterischen Gesellschaft, die man sich doch gerade vom Hals geschafft hatte. In der Folge widmete sich die ehemalige Schauspielerin 江青 Ji~ng Q§ng der Revolutionierung der Peking-Oper, was in die Schaffung von acht revolutionären Musterstücken137 mündete, die an westlichem Musik- und Tanzstil orientiert die Kommunistische Partei und den Sozialismus verherrlichten. Als Helfer für die anstehenden Angriffe auf die erste Linie gewann 江青 Ji~ng Q§ng in 上海 Shàngh|i zwei bis dahin unbekannte Funktionäre: 姚文元 Yáo Wényuán, ein Journalist bei der 上海 Shàngh|ier Tageszeitung 解放日报 Jifàng Rìbào, und 张 春桥 Zh~ng Chãnqiáo, ein Sekretär des 上海 Shàngh|ier Stadtparteikomitees. Mit beiden arbeitete sie bis zu ihrem Sturz 1976 eng zusammen. Zunächst wurde 姚文元 Yáo Wényuán aktiv und verfaßte im Herbst 1965 -in enger, über 江青 Ji~ng Q§ng vermittelter Abstimmung mit Mao- eine scharfe Kritik an dem Schlüssel-Theaterstück über den für seine gerechten Ansichten gemaßregelten Beamten 海瑞 H|i Ruì. Den Aufsatz veröffentlichte die 上海 Shàngh|ier Tageszeitung 文汇报 Wén Huì Bào am 10. November 1965. Diese Kritik, die de facto das Pekinger Stadtparteikomitee und darüber hinaus ein mächtiges Mitglied des herrschenden inneren Zirkels, 彭真 Péng Zh‘n, zum Ziel hatte, gilt als der Startschuß dessen, was als 文化大革命 wén huà dà gé mìng in die chinesische Geschichte einging. Der Artikel entlarvte das Theaterstück als eine Intrige gegen und Attacke auf Mao persönlich, den Sozialismus und die Kommunistische Partei und griff seinen Verfasser entspre137 STUVWXY b~ g gé mìng yàng b|n xì. 224 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE chend scharf an. Ein unerhörter, aufsehenerregender Vorgang. Einige Tage später erschien der Shanghaier Artikel noch einmal, aber diesmal in der zentralen Parteizeitung, der 人民日报 Rénmín Rìbào. Eine monatelange Polemik in anderen Blättern und auf Versammlungen gegen den Pekinger Vize-Bürgermeister und Autoren des 海瑞 H|i Ruì-Stückes, das giftige Unkraut, begann. Bald kamen, aktiv unterstützt aus der 林彪 Lín Bi~o unterstehenden Armee und wiederum über einen kritischen Aufsatz des 姚文元 Yáo Wényuán, auch die anderen gegen Mao schriftstellernden Funktionäre der Pekinger Stadtverwaltung unter Beschuß - bis hin zu ihrem Anführer, dem sie deckenden Bürgermeister von Peking, 彭真 Péng Zh‘n, ein enger Politbüro-Vertrauter von 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng, die beide das letztliche Ziel von Maos Gegenangriff waren. Deng und Liu ahnten zu diesem Zeitpunkt vielleicht, was sich da gegen sie zusammenbraute, doch hatten sie die schlechteren Karten in dieser ideologischen Auseinandersetzung. Gegen Maos argumentativen Vorstoß konnten sie deshalb nur ihre administrative Bürokraten-Macht einsetzen, was sie in der üblichen Weise taten, indem sie in die Anfang 1966 auch offiziell als Kulturrevolution deklarierte Bewegung ihre eigenen Leute einschleusten, die ihr die Spitze nehmen und sie in eine andere, für sie ungefährliche Richtung steuern sollten. Ausgerechnet 彭真 Péng Zh‘n, das erste größere Ziel Maos, übernahm beispielsweise als Vorsitzender der neu gebildeten Arbeitsgruppe für die Kulturrevolution des Zentralkomitees der KP die oberste Leitung der Bewegung. Mao entging freilich nicht, daß hier der Bock zum Gärtner gemacht worden war. Im März griff er deshalb 彭真 Péng Zh‘n direkt und namentlich an, und auf einer sogenannten erweiterten Tagung des Politbüros (an der auch Nicht-Mitglieder teilnahmen, die natürlich Maos Verbündete waren) gelang es ihm, 彭真 Péng Zh‘n und weitere zentrale Funktionäre, die auf Seiten von 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng gegen ihn arbeiteten, aus diesem Gremium auszuschließen, die bisherige Gruppe für die Kulturrevolution aufzulösen und eine neue, 17-köpfige, einzusetzen, der nur noch ihm treue Funktionäre angehörten: 225 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Z[ _` ^ de Z[ Mitglieder der Gruppe für die Kulturrevolution mit Mao und Lín Bi~o auf K~ng Sh‘ng, ZhÇu ÷nl|i, Mao, einem Propaganda-Plakat: v.l. Lín Bi~o, Chén Bódá und Ji~ng Q§ng. \] abc ! als Leiter sein langjähriger Sekretär und Verfasser zahlreicher seiner Schriften, 陈伯达 Chén Bódá, ! der Geheimdienstchef 康生 K~ng Sh‘ng, ! seine Frau 江青 Ji~ng Q§ng (als Vize-Leiterin, nach allgemeiner Auffassung aber Chefin der Gruppe), ! der Verfasser der Theaterkritiken, 姚文元 Yáo Wényuán, ! der 上海 Shàngh|ier Funktionär 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo, ! plus einige weitere kleinere, aber sehr nützliche Lichter. Mit der Entmachtung des 彭真 Péng Zh‘n hatte Mao eine wichtige, ja entscheidende Bresche in die obere Phalanx seiner innerparteilichen Gegner geschlagen, die freilich in den Personen 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng noch die oberste Parteiund Staatsführung innehatten und den gesamten zentralen und lokalen Apparat der Partei in Peking, den Provinzen, Städten, Kreisen und Dörfern beherrschten. Mit der Gruppe für die Kulturrevolution hatte er ein ihm treu ergebenes zentrales Instrument zur Organisierung einer landesweiten Massenbewegung in der Hand, einen Kommandostab, der ganz und gar außerhalb der üblichen (von Deng und Liu beherrschten) Parteigremien zu seiner eigenen, ungehinderten Verfügung stand. Die Mitgieder dieser Gruppe waren seine eigenen Leute, geführt von seiner Frau, mit der Mao in dieser Zeit enge Verbindung hielt. Die Zertrümmerung der chinesischen Welt konnte beginnen. 226 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Um den Widerstand der Parteikader, ja diese selbst, flächendeckend, im ganzen Land, auszuschalten, was er wollte, setzte Mao wie immer auf die Mobilisierung der sogenannten Massen - diesmal jedoch nicht der Bauern (wie hätten die in den Städten die politischen Verhältnisse ändern sollen?), sondern er appellierte an die Millionen begeisterungsfähigen, von den Funktionären geschurigelten und überall im Lande lebenden Schüler und Studenten. Ihr Haß auf die 干部 gàn bù Kader würde das Feuer sein, in dem sie verbrannten, sie mußten nur entfesselt werden. Mit dem im Frühjahr 1966 zurückeroberten Propagandaapparat und flammenden Aufrufen im Namen Maos (zum Beispiel dem berühmten Leitartikel der Parteizeitung vom 1. Juni 1966: Hinweg mit den Rinderteufeln und Schlangengeistern138, d.h. den alten Funktionären) appellierte die Gruppe für die Kulturrevolution an deren Sinn und Begeisterungsfähigkeit für Bewegung, Unruhe, Aufbegehren und Umgestaltung, für Gerechtigkeit und gegen die ihr gesamtes Leben verwaltenden und bestimmenden, Widerspruch nicht duldenden Apparatschiks der Partei. Sie glaubten, die große Freiheit stehe bevor, sie müßten nur herzhaft-revolutionär zugreifen, dann wäre sie da. Es war ein voller Erfolg: Die Jugendlichen organisierten sich ab dem Frühjahr 1966 landesweit in ihren Schulen und Universitäten in Gruppen unter dem Namen 红卫兵 hóng wèi b§ng Rote Garde die sich als dezentrale Kampftruppen, als neue Armee des Vorsitzenden Mao begriffen und damit begannen, zunächst in ihrem unmittelbaren Umfeld, den Universitäten und ihnen angeschlossenen Schulen, Revolution zu machen, die Gegner Maos dort (Direktoren, Lehrer, Parteisekretäre) namentlich zu fixieren, dann öffentlich zu kritisieren und schließlich auch physisch zu bekämpfen. Eine Revolution, so griffen sie ein bekanntes Mao-Wort auf, ist kein Deckchen-Sticken, sondern eine durchaus gewaltsame Angele ijklm héng s|o niú gu0shé shén, Verfasser war Maos fgh bc Sekretär a Chén Bódá, der die Leitung des Parteiblattes übernommen hatte. 138 227 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE genheit, bei der auch Blut fließt. Es muß nur das richtige sein. Den Startschuß zu dieser Jugend-Rebellion gab eine Dozentin an der Peking Universität namens 聂元梓 Niè Yuánz0, die am 25. Mai 1966 in einer auf dem Campus Wandzeitung der z{| Niè Yuáz0 in der angeschlagenen 大字报 dà zì Peking Universität. bào Wandzeitung die Leitung der Hochschule politisch scharf angriff. Mao selbst machte sich den Text und die Art, wie er dargeboten worden war, als Wandzeitung, ein schnell anzufertigendes, sehr öffentliches Pamphlet, Anfang August, während der 11. Plenartagung des VII. ZK zu eigen und verfaßte einen kurzen, aber feurigen eigenen Text unter der Überschrift Bombardiert das Hauptquartier - Meine erste Wandzeitung139. Darin legitimierte er die Wandzeitung der Dozentin 聂元梓 Niè Yuánz0 als marxistisch-leninistisch und rief das ganze Land zum Nachahmen auf - Zielrichtung: gewisse führende Genossen, im Klartext: die oberste Parteiführung. Ein paar Tage später, am 18. August, goß er neues Öl ins Feuer und empfing, gemeinsam mit seinen Getreuen, auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1,5 Millionen Mitglieder von Rote-GardeVerbänden. Dabei stieg er aus dem Wagen aus und ging durch die wie von Sinnen begeisterte Menge der Jugendlichen hindurch - ein Alptraum für seine Wachleute, ein Ansporn für die versammelten 1,5 Millionen Studenten und Schüler. Es konnte für die chinesische Jugend (und alle anderen) nun gar einen Zweifel mehr geben, auf welcher Seite Mao stand und was er von den Massen, von ihnen, erwartete: Angriff auf die Funktionäre und Zerschlagung der alten chinesischen Gesellschaft. Weitere sieben solcher Massenaufmärsche folgten bis zum Ende 139 bào. nopqrstuhvwxy b~o d| s§ l0ng bù - w4 de y§ zh~ng dà zì 228 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE des Jahres und stachelten eine Bewegung an, wie sie die Welt und schon gar nicht China je gesehen hatte. Die entfesselten Jugendlichen, Schüler und Studenten, machten sich, ungehindert von Polizei oder anderen Sicherheitsorganen, allerorts über die bislang unantastbaren Institutionen der herrschenden Partei her, brachten die verhaßten Funktionäre vor riesige Versammlungen, veröffentlichten deren interne Papiere und zertrümmerten deren Organsiation. Mao empfängt die revolutionäre Jugend auf dem August 1966. }~ Ti~n=~nmn Platz: Im ersten Halbjahr 1967 herrschte so für die 反潮流 f|n cháo liú gegen den Strom schwimmende Rebellenfraktionen eine Freiheit wie weder vor- nach nachher einmal wieder: 造反有理 zào f|n y4u l0 Rebellion ist gerechtfertigt lautete der von Mao selbst sanktionierte Schlachtruf, den sie unbehelligt von Polizei oder Armee bald landesweit auslebten: Schulen und Universtäten waren geschlossen, freie Zugfahrten (unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in den völlig überfüllten Waggons140) im ganzen Land ermöglichten die Kontaktaufnahme und Ausbreitung der Bewegung über die lokalen Grenzen hinweg, eine nie dagewesenen Organisationsfreiheit führte zur Bildung zahlloser politischer Gruppen, die Publikationsfreiheit zur Veröffentlichung von Wandzeitungen, Broschüren, Flugblättern und Zeitungen, die sich durch140 Ein später geflohener Rotgardist berichtete über diese Zeit: Ken Ling, Maos kleiner General, 1974, dtv 01024. 229 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE weg gegen die bislang unbehelligt herrschenden und 1967 weiter in Oposition gegen Mao verharrenden Parteifunktionäre richteten. Überall in China zerrten Jugendliche die alten Partei-Funktionäre aus ihren Büros und Wohnungen, stellten sie auf riesigen öffentlichen Versammlungen, häufig in Sportstadien, zur Rede und zur Schau, demütigten und quälten sie, sperrten sie ein, so, wie diese selbst es zuvor und ohne Gewissensbisse mit ihren Gegnern auch getan hatten. Im Hintergrund freilich saßen erfahrene Drahtzieher, zu diesem Zeitpunkt vor allem die Mitglieder der Gruppe für die Kulturrevolution, angeführt von Maos Frau 江青 Ji~ng Q§ng. Sie förderten den Personenkult um Mao, der mit seinen chinesischen Charakteristika alles in den Schatten stellt, was die Welt bis dahin kannte, intrigierten und mobilisierten gegen die als Angriffsobjekte ausersehenen Funktionäre in Universitäten, Stadtverwaltungen, Ministerien etc., trafen und instruierten in kleinen Gruppen gezielt die Anführer von Rotgardistenorganisation, damit diese kleinen Generale ihre Sturmtruppen in Stellung brachten, per Hausdurchsuchungen bei Parteifunktionären aller Ebenen (inklusive des Staatspräsidenten 刘少奇 Liú Sh|oqí!) Denunziationsmaterial beschafften. Sie intrigierten vor allem mit dem Ziel, 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng, den Staatspräsidenten und den Generalsekretär der Partei, zu entmachten. Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit dem Z u s a m m e n s t e l l e n Jugendliche greifen den Staatspräsiden denunziatorischen Materials ten und Mao-Gegener Liú Sh|oqí Wohnsitz im Funktionärsviertel gegen sie und andere. Die Vor- in seinem ZhÇng Nán H|i an. würfe reichten dabei häufig bis in die dreißiger Jahre der chinesischen Revolution zurück. Schon damals hätten sie gegen den Vorsitzenden Mao gearbeitet, die Partei verraten und ähnliche hahnebüchene Anschuldigungen schwerster Art. Sie lauteten generell auf Abweichung vom Mar230 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE xismus-Leninismus über die Wiederherstellung des Kapitalismus in China bis zum Landesverrat und zur früheren geheimen Kollaboration mit Tschiang Kai-schek. Immer wieder und immer öfter kam es jedoch im Frühjahr 1967 über absurde Fragen der Treue zum Vorsitzenden Mao zu Spaltungen der aufgeputschten Rotgardisten-Organisation, die sich alsbald sehr handgreiflich zu bekämpfen begannen, nicht selten auch mit Waffen, die sich von der ansonsten stillhaltenden Armee besorgt hatten. Im Kampf um die Etablierung der neuen revolutionären Machthaber in zentralen und dezentralen Stellen suchten sich die Aspiranten auf die neuen Posten Handhaben und Argumente gegen die abzusetzenden Funktionäre. Sie funktionalierten deshalb die eifernden Jugendlichen, schickten sie mit Hilfe lancierter Denunziationen und Verleumdungen in Auseinandersetzungen, veranlaßten sie (nicht die Polizei) zu zahllosen Verhaftungen und Deportationen ihrer verunglimpften Gegner in abgelegene Landstriche und Provinzen, stachelten sie auf zu überfallartigen, willkürlichen Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen persönlichen Eigentums sowie zu langwierigen Überprüfungen des persönlichen Hintergrunds auf sogenannte Klassenzugehörigkeit und politische Korrektheit. All dies betraf bald nicht mehr nur verhaßte Partei-Funktionäre, sondern viele Millionen anderer Menschen, Nachbarn und Arbeitskollegen, die dadurch in jahrelanges Unglück stürzten. Zunehmend wurden auch private Rechnungen auf diese Weise beglichen, kam es zu Mord und Totschlag und schließlich zur freien Entfaltung des Mobs in ganz China. Schon im Juli 1967 explodierten die Spannungen zwischen sogenannten revolutionären Massenorganisationen141 in der zentralchinesischen Stadt 武汉 Wßhàn (Provinz 湖北 Húbi) in großflächige und vor allem bewaffnet, unter Beteiligung lokaler 141 r Zwei große Organisationen waren beteiligt, das von der lokalen Armee unterstützte gÇng rén z4ng bù Arbeiterhauptquartier und die b|i wàn xióng sh§ Eine Million Helden-Löwen. 231 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Truppenteile ausgetragene Straßenkämpfe, die überdies zu einem Zeitpunkt ausbrachen, als Mao selbst sich gerade in der Stadt aufhielt. Mehrere Mitglieder der damaligen Pekinger Führung, darunter Militärs und auch Premier 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, der Maos Politik stets getreulich umsetzte und so den großen Umbruch der Funktionärswelt unbeschadet überstand, mußten persönlich vor Ort eingreifen, um den Vorsitzenden unter großem Sicherheitsaufwand zu evakuieren. In anderen Landesteilen setzte sich diese dramatische Verschärfung der Straßenkämpfe fort. Am 1. August 1967, dem Gründungstag der chinesischen Armee und ein gutes Jahr nach der Entfesselung der Massen, veröffentlichte die Parteizeitung plötzlich zahllose Artikel zum Lobe des Volkskrieges, die als Unterstützung für die zunehmenden bewaffneten Auseinandesetzungen interpretiert werden konnten. Außerdem rief das KP-Magazin 红旗 Hóng Qí Rote Fahne, über das die Gruppe für die Kulturrevolution die eigenen Anhänger landesweit steuerte, in einem gleichzeitig erschienenen Beitrag dazu auf, die kleine Zahl [sogenannter kapitalistischer Machthaber = Mao-Gegner] in der Armee zu ergreifen142. Die Armee jedoch war der letzte, Mao und seiner Fraktion verbliebene Ordnungsfaktor im Land. Nur mit ihrer Hilfe würde es je möglich sein, die zu Millionen kämpfenden Chinesen wieder einzufangen und -nach Konsolidierung der eigenen Macht- wieder in den Alltag zurückzuführen. Eine Spaltung oder Auflösung der Armee in sich bekämpfende Fraktionen wollten die Gewinner der Kulturrevolution im Interesse des eigenen Überlebens unbedingt verhindern, um nicht selbst noch im Chaos untergehen. Die Situation am 1. August 1967 gebot es deshalb, die sichtlich aus dem Ruder laufende in blanke allgemeine Anarchie abgleitende Bewegung umgehend, jetzt, in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Mit anderen Worten: Die größten Scharfmacher hatten ausgedient und konnten entmachtet werden. Zunächst erfolgte eine Säuberung oben, in der Zentrale, in der Gruppe für die Kulturrevolution, wo die radikalsten Radikalen, die 142 jiã jãn nèi xi|o cuÇ. 232 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE auch für den 红旗 Hóng Qí Rote Fahne-Artikel verantwortlich waren, der zur Säuberung der Armee aufgerufen hatte, am 31. August verhaftet wurden143. Anschließend übernahm es 林彪 Lín Bi~o mit Hilfe eines aktiven Eingreifens der Armee, die JugendOrganisationen zu bezähmen. Kurz darauf, Ende 1967, begann überdies die systematische Verschickung von Millionen Rotgardisten 上山下乡 shàng sh~n, xià xi~ng auf die Berge hinauf und ins Land hinuter, wo sie gemeinsam mit den chinesischen Bauern Leben und Arbeit teilen, von diesen lernen sollten. In Wahrheit ging es darum, der Bewegung durch die (freiwillige!) Deportation der Aktivsten die Dynamik zu nehmen, denn deren Zweck -die Entmachtung der Widersacher Maos in der obersten Partei- und Staatsführung- war Ende 1967 so gut wie erreicht. Zügig war in der zweiten Hälfte 1967 und der ersten 1968 der Austausch entmachteter Parteifunkionäre in den Provinzen durch häufig aus der Armee kommende neue Kader erfolgt. Statt 党委 d|ng wi Parteikomitee wie bisher, hießen die neuen Machtorgane nunmehr 革命委员会 gé mìng wi yuán huì - Revolutionskomitees. Im Oktober 1968 waren diese neuen Machtorgane in allen Provinzen installiert und die Lage damit soweit stabil, daß eine Tagung des Zentralkomitees (12. Plenartagung des VII. ZK) zusammentreten und eine erste Bilanz ziehen konnte. Dabei zeigte sich, daß ca. zwei Drittel der ursprünglichen ZK-Mitglieder nicht mehr teilnahmen. Sie waren als Revisionisten, von der sogenannten revolutionären Linie abweichende Funktionäre, und machthaber, die den kapitalistischen Weg gehen, entmachtet und für Jahre zur Umerziehung durch Arbeit auf das Land deportiert, wo sie in sogenannten 7. Mai Kaderschulen, landwirtschaftliche Arbeiten leisteten oder -wie Mao zu sagen beliebte- von den Bauernmassen lernten. An ihre Stelle in den Partei- und Staatsorganen waren zumeist Angehörige der Armee getreten, was viele Beobachter im Westen veranlaßte, vom kulturrevolutionären China als einer Militärdiktatur zu sprechen. 143 Es handelte sich um Wáng Lì und Gu~n F‘ng. 233 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die Tagung des Zentralkomitees beschloß den Ausschluß des seit einem Jahr als Chruschtschow Chinas und Oberster Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht, und sogar als Landesverräter geschmähten und von den Rotgardisten auch physisch ruinierten 刘少奇 Liú Sh|oqí für alle Zeiten aus der Partei. Er starb bald danach, völlig allein gelassen und elend, im Oktober an unbehandelten Krankheiten. Generalsekretär 邓小平 Dèng Xi|op§ng (Machthaber No. 2, der den kapitalistischen Weg geht) verlor ebenfalls seine Ämter und ging in die Verbannung aufs Land, wo er sich dem Vernehmen nach um Schweineställe kümmerte (eine Tätigkeit, die er bis dahin immer nur anderen zugewiesen hatte). Auf dem im folgenden Frühjahr 1969 unter vollkommener Geheimhaltung durchgeführten 9. Parteitag der KP, der die aktivistische Phase der Kulturrevolution abschloß, erhielt Maos wichtigster Helfer in diesem nunmehr gewonnen Machtkampf, 林彪 Lín Bi~o, seine Belohnung als treuester Kampfgefährte: Das verabschiedete neue Parteistatut legte ihn als Nachfolger des zu diesem Zeitpunkt bereits 76jährigen Mao fest. Allerdings war das machtpolitische Gefüge Chinas damit noch keineswegs stabilisiert. Zwar waren alle alten Fraktionen beseitigt, ihre Protagonisten entweder tot oder -in der Mehrzahl- in sehr einame und öde Gegenden Chinas verbannt worden. Aber an ihre Stelle war keine eine einheitliche, Mao-treue Clique getreten. Die höchste Macht im Land der 800 Millionen Menschen verteilte sich 1969/70 vielmehr auf vier sowohl im fünfköpfigen Ständigen Ausschuß des KP-Politbüros als natürlich erst recht im 21 Mitglieder zählenden Politbüro selbst vertretene Gruppen, die in der Folgezeit, bis zum Tod Maos 1976, immer intensiver damit fortfuhren, gegeneinander zu arbeiten, um allein die Macht über China zu genießen: ! Mao und der ihm bedingungslos ergebene Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái mitsamt einigen Politbüromitgliedern, die zu den Revolutionären der ersten Stunde gehörten, und die als Machthaber unantastbar geworden waren, solange sie lebten. ! 林彪 Lín Bi~o mitsamt der von ihm ins Politbüro gebrachten 234 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Generäle, die seinen Zugriff auf die Armee sicherten, und ! der höchst zwielichtige Geheimdienstchef 康生 K~ng Sh‘ng sowie zu diesem Zeitpunkt noch Maos Ex-Sekretär und Marxismus-Leninismusberater 陈伯达 Chén Bódá, die den Einfluß der nur bis ins Politbüro aufgestiegenen Emporkömmlinge der Kulturrevolution vertraten: Maos Frau 江青 Ji~ng Q§ng, des Verfassers der berühmten Theaterkritik, 姚文元 Yáo Wényuán, und des 上海 Shàngh|ier Funktionärs 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo, der in dieser wichtigen Industriestadt für den Sieg der Kulturrevolution gesorgt hatte, ohne daß dieses Wirtschaftszentrum Chinas komplett ausgefallen wäre. In einer ersten Runde der post-kulturrevolutionären Machtkämpfe suchte der engste Kampfgefährte Maos und sein amtlicher Nachfolger 林彪 Lín Bi~o die eigene Position dadurch zu verbessern, daß er Mao aus dem Weg zu schieben suchte. Den ersten Anlauf dazu unternahm er auf der zweiten Plenartagung des IX. Zentralkomitees, die im August 1970 am gleichen Ort stattfand, wo Mao 1959 seinen aufmuckenden ehemaligen Verteidigungsminister 彭德怀 Péng Déhuái vernichtet und 林彪 Lín Bi~o dessen Nachfolge angetreten hatte, in dem Sommerfrische-Ort 庐山 Lúsh~n (Provinz 江西 Ji~ngx§). Wie sich im Verlauf der Tagung für Mao zeigte, suchte 林彪 Lín Bi~o die Vorbereitungsarbeit für eine neue Verfassung Chinas in der Weise für sich zu nutzen, daß er selbst das vakante Amt des Staatsvorsitzenden (= Präsidenten), das der entmachtete und inzwischen tote 刘少奇 Liú Sh|oqí innnegehabt hatte, für sich beanspruchte. Der schlaue Mao durchschaute den Plan, ging aber zunächst noch nicht gegen 林彪 Lín Bi~o selbst vor, sondern konzentrierte sein rhetorisches Feuer144 auf den Lin unterstützenden 陈伯达 Chén Bódá, der in der Folge verhaftet und in Form einer mehr- tuh 144 Mao schrieb einen Artikel unter der Überschrift w4 de y§ di|n yì jiàn Meiner Meinung nach, den er auf der Konferenz verteilen ließ und in dem er vorderhand nur Chén Bódá angriff. abc 235 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE monatigen innerparteilichen Versammlungs-Kampagne ideologisch vernichtet wurde. Für den Nachfolger und engsten Kampfgefährten 林彪 Lín Bi~o folgte aus dieser Niederlage jedoch -so die bis heute offizielle Lesart der KP- nicht, seine Ambitionen auf- und sich mit dem Erreichten zufriedenzugeben. Stattdessen arbeitete er bis zum Herbst des Folgejahres 1971 gemeinsam mit seiner Frau, die Mitglied im Politbüro war, sowie einigen von ihm ebenfalls in dieses Gremium gebrachten Generälen (und seinem in der Armee tätigen Sohn!) an der Entmachtung und physischen Beseitigung Maos durch einen Militärputsch. Obwohl auch in China eine recht große Menge von Material, angeblichen Beweisen und auch Erinnerungen mehr oder weniger direkt beteiligter Personen bis heute veröffentlicht werden, bleibt dieses abenteuerlich anmutende Unternehmen des 林彪 Lín Bi~o über weite Strecken im Obskuren und teils Unglaubhaften. Fest steht wohl, daß Lin am Abend des 12. September 1971 zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn das Scheitern ihres Vorhabens einsahen und einen Fluchtversuch per Flugzeug ausgerechnet in die Sowjetunion unternahmen, die zu diesem Zeitpunkt zum Hauptfeind Chinas geworden war. Das Flugzeug, in dem außer Lin auch seine Frau und sein Sohn als Passagiere saßen, stürzte jedoch in den frühen Morgenstunden des 13. September über dem Gebiet der damaligen Mongolischen Volksrepublik, außerhalb Chinas, ab. Alle Insassen kamen dabei ums Leben. Fest steht weiterhin, daß Mao nach der ZK-Sitzung im Herbst 1970 in 庐山 Lúsh~n, erst recht aber in den letzten Monaten vor der Flucht des 林彪 Lín Bi~o, dessen Umsturzvorbereitungen geahnt und einige Vorkehrungen dagegen getroffen und es so zum Scheitern gebracht hatte. Und fest steht schließlich auch, daß diese Eeignisse, die der Öffentlichkeit weder in China noch in der Welt, auf Dauer verschwiegen werden konnten, das nach-kulturrevolutionäre Regime (inclusive Mao selbst) in hohem Maße erschütterten und seine Legitimität nachhaltig beschädigten. Nach und nach nur sickerte zunächst durch, daß der Nachfolger und engste Kampfgefährte des 236 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Vorsitzenden Mao, 林彪 Lín Bi~o, diesen zuerst hatte umbringen wollen und nach dem Scheitern des Vorhabens dann zum Feind nach Moskau hatte überlaufen wollen. Wie war es möglich gewesen, mag sich mancher gefragt haben, daß dem allzeit korrekten Mao ein solcher Fehlgriff unterlaufen war? Unmittelbar nach Lins Flucht erfolgte die Entmachtung aller seiner Gefolgsleute, die fast allesamt hohe Generäle der Armee waren. Erst Ende 1971, Anfang 1972 hatte sich die Propagandamaschine dann soweit ausgerichtet, daß eine heftige neue Massenkampagne zur Verurteilung des Verräters 林彪 Lín Bi~o begonnen werden konnte. Auch Mao hatten diese Ereignisse sichtlich zugesetzt. Der zu diesem Zeitpunkt fast 80jährige Greis verfiel fortan physisch immer mehr und offensichtlicher, blieb aber gleichwohl aktiv. Es war eine seit dem Frühjahr 1971 parallel zur 林彪 Lín Bi~oKrise ablaufende, für die Chinesen und die Welt völlig unerwartete, wiederum von Mao eingeleitete außenpolitische Entwicklung, die das Regime nach dem 林彪 Lín Bi~o-Abgang vor einem Totalbankrott bewahrte: die sogenannte Öffnung zum Westen. Die wahre Weltrevolution: Chinas Öffnung (1971 bis 2003) Mit dem militärischen Eintritt chinesischer Armeeeinheiten als Gegner der UN-/US-Truppe, die in Korea gegen die vorstürmenden Nordkoreaner kämpften, war China von der UNO als aggressive Macht verurteilt und vom Westen unter Quarantäne gestellt worden: keine diplomatische Anerkennung des neuen Staates erfolgte, kein politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Austausch, ein Handelsboykott schnitt die Volksrepublik effektiv von der Teilnahme am gewinnbringenden internationalen Wirtschaftsverkehr ab. Was dem neuen China einzig blieb, waren die Sowjetunion und die ihr verbundenen Regime in Osteuropa, Asien (Nordkorea, Nord-Vietnam) und später Amerika (Kuba). China war isoliert. Der aktive chinesische Widerstand gegen das aufdringlicher werdende sowjetische Großmachtgehabe Ende der fünfziger Jahre und die folgende ideologische Kritik an der KPdSU in der ersten Hälfte der sechziger Jahre beantworte Moskau mit dem de facto 237 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Abbruch seiner Beziehungen zu Peking und zwang bis 1965 auch seine Vasallenstaaten (inklusive der DDR), ihre eigenen Beziehungen zu China ebenfalls einzufrieren. So stand Peking am Beginn der Kulturrevolution bereits recht einsam in der Welt da: ! Mit Ausnahme Frankreichs, das gegen erheblichen amerikanischen Widerstand 1964 aus der westlichen Boykottfront ausgeschert war und diplomatische Beziehungen mit China aufgenommen hatte, und Großbritannien, das (wegen seiner Kolonie Hongkong) einen Geschäftsträger (keine Botschaft!) in Peking unterhielt, gab es 1966 keine weiteren, NATO-Staaten angehörenden Botschafter in der chinesischen Hauptstadt. ! Die Ostblockländer unterhielten zwar weiterhin ihre Botschaften in Peking, doch gab es zwischen ihnen und den chinesischen Stellen keinen substantiellen Austausch mehr. ! Der einzige europäische Verbündete Albanien, einige gerade unabhängig gewordene ehemalige Kolonien in Afrika sowie Länder des Nahen Ostens wie Ägypten waren so die einzigen Staaten, die diplomatisch aktiv in Peking vertreten waren nicht gerade das, was Chinesen ernst nahmen oder als der Würde ihres Landes angemessen sahen. Die Kulturrevolution verschärfte die internationale Isolierung Chinas insofern, als seine gesamte herrschende Klasse durcheinandergewirbelt, um- und umgeschichtet und schließlich zu großen Teilen ausgetauscht wurde. Das Land besaß zwischen Sommer 1966 und dem IX. Parteitag im Frühjahr 1969 nicht einmal eine Regierung, geschweige denn eine Diplomatie. Die wenigen Botschafter, die im Ausland auf Posten waren, wurden ebenso wie alle anderen Funktionäre auf ihre Treue zum Vorsitzenden Mao überprüft, wozu sie ihre Botschaften verließen, um nach China zurückzukehren und ihr Überleben zu sichern. Ein Viertel der Menschheit lebte so in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre praktisch vollständig isoliert vom Rest der Welt. Im August 1967 marschierten dann sowjetische Truppen in die Tschechoslowakei ein, deren reformorientierte Parteiführung sich 238 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE aus dem Moskauer Machtbereich zu lösen suchte, und unterdrückten gewaltsam den sogenannten Prager Frühling. In Peking nahm der Premier dazu Stellung und bezeichnete das Vorgehen als Aggression. Es sei der Beweis, daß die Sowjetunion nicht nur das Glaubensbekenntnis, den Marxismus-Leninismus, verrraten habe, sondern in der Folge dessen selbst zu einem imperialistischen Staat geworden sei. Die ganze revolutionäre Welt, so Peking, möge daran erkennen, wohin es führe, wenn die wahre kommunistische Lehre aufgegeben werde. Die chinesischen Machthaber fühlten sich jedoch vor allem selbst bedroht von der Moskauer Aktion gegen die Tschechoslowakei und begannen in sehr intensiver Weise Vorbereitungen gegen einen befürchteten sowjetischen Militärschlag zu treffen. Im Frühjahr 1969, wenige Wochen vor dem IX. Parteitag, kam es dann im Nordosten, an der sowjetisch-chinesischen Grenze am UssuriFluß, tatsächlich zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Grenztruppen beider Länder und die gegen Moskau gerichtete und vor Moskauer Kriegstreibereien warnende chinesische Propaganda begann sich förmlich zu überschlagen. Wer immer diese Grernzscharmützel ausgelöst hatte, Russen oder die Chinesen selbst, eines steht fest: Die chinesische Führung fühlte sich von Moskau bedroht und suchte nach einer Strategie, die es ihr erlaubte, mit Hilfe anderer Staaten, Druck auf die Sowjetunion auszuüben, um sie so von militärischen Aktivitäten entlang der gemeinsamen Grenze fernzuhalten. Nach Lage der Dinge kamen dafür nur die NATO-Staaten in Frage, insbesondere der mächtigste von ihnen: die Vereinigten Staaten von Amerika. Ende 1970 verordnete der Realpolitiker Mao deshalb einen atemberaubenden außenpolitischen Schwenk um 180 Grad - China sollte sich den seit über zwanzig Jahren als größten Feind der Völker (und natürlich Chinas) geschmähten, den Erzfeind Tschiang Kai-schek auf Taiwan unterstützenden US-Imperialisten zuwenden! Und zwar ohne, daß die Amerikaner etwas an ihrer Außenpolitik gegenüber China oder anderswo (Vietnam) geändert hätten! Im Dezember 1970 sagte Mao zu dem ihn besuchenden alten 239 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Bekannten, dem amerkanischen Journalisten Edgar Snow, Präsident Nixon sei willkommen, wenn er China besuchen wolle - heimlich oder öffentlich, das sei ihm egal145. Snow übermittelte das Angebot (eigentlich schon eine Einladung) sogleich nach seiner Rückkehr, doch nahm es die Administration in Washington nicht zunächst ernst. So setzte Peking bald nach. Der sensationelle Salto kündigte sich im Frühjahr 1971 unübersehbar an, als Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái -auf Maos Weisung natürlich- persönlich dem amerikanischen Tischtennis-Team, das zu dieser Zeit an den Weltmeisterschaften in Japan teilnahm, eine kurzfristige Einladung nach Peking aussprach. Der Besuch, der als Ping-Pong-Diplomatie in die Geschichte einging, fand vom 10. bis 17. April statt und löste in den westlichen Medien ein gewaltiges Echo aus. Anschließend zog, wie später bekannt wurde, der Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Nixon, Henry Kissinger, alle Fäden der Geheimdiplomatie und reiste am 9. Juli 1971 heimlich von Pakistan aus nach Peking, wo er in Verhandlungen mit den obersten Machthabern die Voraussetzungen für den im Februar 1972 folgenden ersten Besuch eines US-Präsidenten in China überhaupt -von der Zeit nach 1949 ganz zu schweigen!- vorbereitete. Der sensationelle Besuch wurde eine Woche später bekanntgegeben. Zu klären war für Kissinger dabei nicht der umgehende Abzug der riesigen US-Armee, die in Vietnam Krieg gegen Pekings revolutionäre Verbündete in Hanoi führte, sondern einzig, wie in einem anläßlich des Nixon-Besuches zu veröffentlichen Kommuniqué der chinesische Territorialanspruch auf die Insel Taiwan mit den fortbestehenden diplomatischen Beziehungen Amerikas zu dieser sogenannten Republik China und dem ebenfalls weitergeltenden Sicherheits- und Bündnisvertrag der USA mit Taipei in Einklang gebracht werden könnte. Bevor die Airforce One Maschine mit dem amerikanischen Präsidenten jedoch ein halbes Jahr später auf dem Pekinger Flug145 Der Text dieser Gesprächspassage in: Mao Zedong On Diplomacy, Foreign Languages Press Beijing1998, S. 449f. 240 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE hafen landete, fuhr die chinesische Regierung als Belohnung für ihre Volte schon im Herbst 1971 eine reiche außenpolitische Ernte ein: Im September 1971 gelang es Washington nicht mehr wie in allen Jahren zuvor, den Einzug Chinas in die UNO und sogar den Vize-Außenminister Qiáo Gu~nhuá Sicherheitsrat über eine Mehr- (links) nimmt Chinas Platz in der UNO ein. heit in der Vollversammlung zu verhindern. Das Gremium stimmte -für Washington überraschend- mehrheitlich der Aufnahme Chinas zu und verbannte gleichzeitig die Republik China, den Verbündeten der USA, den Todfeind Pekings, aus dem obersten UN-Gremium, aus der Vollversammlung und allen UN-Unterorganisationen. Für China war dies nach 22 Jahren der größte und wie sich in einer Kettenreaktion bald zeigte auch der entscheidende außenpolitische Erfolg. Die Kontaktaufnahme zu Amerika bewirkte den Durchbruch zum Weltmachtstatus, brachte die Belohnung für die gegen die Sowjetunion als Hauptgegner zielende Pekinger Außenpolitik, bewirkte einen gewaltigen Legtimierungsschub, eine Sauerstofftherapie, für das kurzatmige, zu diesem Zeitpunkt innenpolitisch und wirtschaftlich weitgehend abgewirtschaftete KPRegime. Den verheerenden 林彪 Lín Bi~o-Schock, der gleichzeitig an den letzten ideologischen und legitimatorischen Grundfesten der Herrschaft in Peking rüttelte, milderte dieses außenpolitische Manöver soweit, daß er sich nicht so gefährlich auswirkte, wie es sonst wohl der Fall gewesen wäre. Am 21. Februar 1972 traf der amerikanische Präsident und Kommunisten-Hasser per se, Richard M. Nixon, in Peking ein, wo ihn Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái am Flughafen empfing und herzlich begrüßte. Nixon traf Mao und unterschrieb zum Abschluß seiner Reise in 上海 Shàngh|i das Shanghaier Kommuniqué, das die chinesischamerikanischen Beziehungen auf eine Basis stellte, von der aus der 241 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Weg geradewe g s zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen (1979) und in den neunziger Jahren dann zu den gewaltigen DollarInvestitionen amerikanischer und anderer westlicher (und östlicher) Investoren führte, den US-Präsidenten Richard die China heute zu einem der 1972: Mao trifftNixon in Peking. weltweit gefragtesten Wirtschaftspartner machen. Nur etwas mehr als ein halbes Jahr dauerte es nach Nixons Abreise, bis alle wichtigen Länder der Erde mit der Volksrepublik China diplomatische Beziehungen aufgenommen und den Staat damit als gleichberechtigt anerkannt hatten. (Auch die Bundesrepublik Deutschland gehörte dazu, die am 3. Oktober 1972 diesen Schritt vollzog. Die DDR hatte die Volksrepublik bereits 1949 anerkannt.) Parallel zu dieser Entwicklung geriet Tschiang Kai-scheks Taiwaner Republik China -auf aktives Betreiben Pekings hin- Zug um Zug in größere politische Isolation: Zunächst aus der UNO und anschließend aus allen ihren Unterorganisationen ausgeschlossen, verlor das Land auch rasch seine diplomatischen Partner. Peking stimmte einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen konsequent immer nur dann zu, wenn alle etwa bestehenden offiziellen Beziehungen zu Taiwan abgebrochen wurden, was für die neuen Freunde kein Problem war - eine kleine Insel gegen ein Viertel der Menschheit. Nur gut zwei Dutzend kleine und kleinste Staaten unterhalten heute noch Botschaften in Taipei, meist, weil sie dafür mit erklecklichen Geldüberweisungen belohnt werden. Der wichtigste Partner unter ihnen ist der Vatikanstaat. Und der Papst wird wohl solange zu Taiwan halten, wie sich Peking einer für den Vatikan befriedigenden Regelung des Status der papsttreuen katholischen (sogenannten Untergrund-)Kirche in China verweigert. (Die KP Chinas lehnt es kategorisch ab, auf ihrem Territorium Organisationen zuzulassen, die wie die katholische Kirche aus dem 242 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Ausland gesteuert werden. Zugelassen ist eine sogenannte nationale katholische Kirche.) Nur die USA taten sich auch nach dem Nixon-Beusch während der gesamten siebziger Jahre weiterhin schwer mit der Anerkennung der Volksrepublik China. Wie sonst nirgends hatte sich hier in zwei Jahrzehnten der engsten Kooperation alle ChinaPhantasie mit dem Regime Tschiang Kai-scheks auf Taiwan verbunden, was, wie bei allen Angewohnheiten, nicht so leicht rückgängig zu machen war. Überdies hatte sich eine sehr professionell arbeitende Taiwan-Lobby in Washington organisiert, die alles unternahm, um ein Fallenlassen der Insel zugunsten diplomatischer Beziehungen mit China zu verhindern. Dies gelang tatsächlich bis Ende 1978, als die Charter-Regierung beschloß, die Beziehungen zu China zum 1. Januar 1979 aufzunehmen. Allerdings nicht, ohne über ein Gesetz, den Taiwan Relations Act, alle folgenden Regierungen Amerikas auf den Schutz Taiwans vor einer nicht gewollten Übernahme durch China zu verpflichten. Auf Basis dieses amerikanischen Gesetzes liefern die USA bis heute Waffen zur Selbstverteidigung nach Taiwan und finden, ständig von China kritisiert, quasi-offizielle Beziehungen aller Art zwischen beiden Ländern statt. In den frühen siebziger Jahren machten Mao und die anderen chinesischen Machthaber auf der durch Nixons Besuch geschaffenen stabilisierten außenpolitischen Basis den nun in immer größerer Zahl Peking besuchenden ausländischen Regierungschefs deutlich, daß sie größtes Interesse daran hatten, die Sowjetunion, den Hauptfeind des Westens, zu isolieren und einzudämmen, und daß sie aus diesem Grund am allerliebsten mit den konservativsten westlichen Politikern zusammentrafen. Das galt auch für sogenannten Führer der Dritten Welt, Despoten aus Entwicklungsländern, die aktiv aufständische, linke Bewegungen bekämpften: Wer gegen die Sowjets war, war in Peking willkommen. Mao selbst hatte diese außenpolitische Linie mit seiner sogenannten Theorie der drei Welten abgesichert, die, aufbauend auf seinem alten Konzept der Einheitsfront, davon ausging, 243 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE ! daß es eine erste Welt der Supermächte gebe, USA und Sowjetunion, deren verwerfliches Ziel es sei, alle anderen Länder, die gesamte Erde, zum eigenen Nutzen zu beherrschen. Beide Supermächte seien schlecht und zu bekämpfen; indessen sei die sowjetische die aggressivere von beiden Supermächten und daher augenblicklich der Hauptgegner. ! Die zweite Welt bildeten danach vor allem die europäischen Industrieländer sowie Japan, Australien etc., die eine mittlere Position einnnähmen, sich sowohl vor den USA als auch der UdSSR fürchteten und daher nach Verbündeten umsähen. ! Schließlich gebe es noch die dritte Welt, die armen Entwicklungsländer, die sowohl zur ersten als auch zur zweiten Welt in Widerspruch ständen. Gerade so wie in seiner Einheitsfrontstrategie, die der KP letztlich den Sieg über Tschiang Kai-schek und später über ihre innerchinesischen Gegner ermöglicht hatte, suchte Mao damit die Länder der Welt aufzuteilen, um dann wie einst 秦 Qín bei seinem Kampf mit den anderen Staaten, eine möglichst große Allianz gegen den größten Feind, in diesem Fall die Sowjetunion, zusammenzubringen. Gerade dieses Bestreben kam, bis zu einem gewissen Grade, auch den NATO-Staaten, vor allem den USA, und den konservativen Parteiführern Westeuropas sehr entgegen, weshalb sie sich schnell auf Mao einließen - freilich mit dem entgegengesetzten Ziel, nämlich Moskau einen starken, ablenkenden Gegner an seiner Ostflanke zu verschaffen, während Peking dies an seiner Westgrenze sehen wollte. Fast zwanzig Jahre lang, bis zur Auflösung der Sowjetunion, wuchs auf dieser von Mao gelegten win-win-Basis ein sehr enges politisches Verhältnis zwischen dem Westen und China, das nicht selten in eine ungewohnte China-Begeisterung gerade konservativer Kreise umschlug. Während die sogenannten Linken in Europa die Pekinger Realpolitik schon bald nicht mehr nachvollziehen mochten und sich sukzessive enttäuscht abwandten, begeisterten sich in den siebziger Jahren gerade Rechte immer stärker für den 244 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Vorsitzenden Mao. Delegation um Delegation brachen sie nach Peking auf und zeigten sich durchweg beeindruckt, wenn nicht gar tief beeindruckt und sehr positiv angetan von dem, was sie in Rotchina sahen (bzw. zu sehen vermeinten). Bald nahmen auch ihnen politisch verbundene, steinreiche Wirtschaftsführer an den Besuchen teil und begannen, vom riesigen chinesischen Markt zu schwärmen, der ihnen (bzw. ihren Vorgängern) seit der Besetzung Chinas durch Japan Ende der dreißiger Jahre, erst recht aber nach Gründung der Volksrepublik, verschlossen gewesen war. So wuchs, vergleichbar der chinoiserie des 18. Jahrhunderts in den siebziger Jahren des 20. die westliche China-Sympathie in Europa und Amerika wieder einmal ins Unendliche und entfachte zusätzlich die Hoffnungen, die Firmen-Manager entwickeln, wenn sie einen unerschlossenen Markt sehen - zumal, wenn es der größte Markt der Welt ist. Diesen Vorstellungen, die nahtlos an jene anschlossen, die zur ersten sogenannten Öffnung Chinas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt hatten, stand in dieser Phase jedoch die weiter geltende völlige wirtschaftliche Abschottung und die ideologisierte, von pausenlosen Machtkämpfen gekennzeichnete innenpolitische Situation in China entgegen, konkret: die Fraktionierung der aus der Kulturrevolution überkommen Machthaber und sonstigen Kader. Auch hier würde aber nun eine Bereinigung stattfinden. Mit der Flucht des 林彪 Lín Bi~o war eine der drei nachkulturrevolutionären herrschenden Fraktionen, nämlich die Armee, weitgehend ausgeschaltet (= verhaftet) worden. Da Militärs nach der Zerschlagung der Parteiorganisation 1967/68 sehr viele Funktionärs-Positionen eingenommen hatten, während ihre revisionistischen, den kapitalistischen Wege gehenden Vorgänger in abgelegenen Provinzen in der Landwirtschaft oder mit sich selbst beschäftigt waren, sich umerzogen, verursachte die post 林彪 Lín Bi~o-Säuberung eine große Vakanz auf vielen leitenden Posten. Deshalb besann sich Mao nolens volens auf die alten, vielleicht auf dem Land tatsächlich geläuterten Kader. Sehr zügig ließ er einen 245 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Gestürzten nach dem anderen, häufig sogar in seine alte Position zurückkehren, aus der ihn Rotgardisten ein paar Jahre zuvor mit Schimpf und Schande und unter demütigenden Umständen vertrieben hatten. Am 10. Januar 1972 gab Mao den Startschuß zu den danach wie eine Flut ansteigenden sogenannten Rehabilitierungen, als er, für alle sehr überraschend, an der Beerdigung des ehemaligen Außenministers und alten Mitkämpfers 陈毅 Chén Yì teilnahm, den er persönlich, Anfang 1967 entmachtet hatte146. 陈毅 Chén Yì sei ein guter Genosse gewesen, sagte er zu der trauernden Witwe, womit der Mann posthum rehabilitiert war - ein deutliches Signal. Viele andere namhafte und vor allem: lebendige Funktionäre folgten, nach und Mao kondoliert auf der Trauerfeier nach füllten sich die Vakanzen mit für Chén Yì dessen Witwe. alten Gesichtern und am 10. März 1973 beschloß das Zentralkomitee der Partei, auch den in der Kulturrevolution als kapitalistischen Machthaber No. 2 abgesetzten 邓小平 Dèng Xi|op§ng zu rehabilitieren und zum Vize-Premier, also zum Stellvertreter von 周恩来 ZhÇu ÷nlái zu machen. Als Legitimation dieser Umwertung der Werte diente der Verrat des 林彪 Lín Bi~o: Er und seine Clique hätten diese guten Funktionäre durch ungerechtfertigte Anschuldigungen aus ihren Ämtern entfernt, um in China selbst die Macht zu ergreifen und das Land in die alte Gesellschaft zurückzuführen. Mao habe das nicht gewußt oder sei getäuscht worden. Mit dem Abtritt der Militärs und der Rückkehr des 邓小平 Dèng Xi|op§ng waren freilich noch längst nicht alle Fakten der 146 Gemeinsam mit anderen alten Armeeführern hatte sich Chén Yì im Februar 1967 offen gegen die Kulturrevolution gewandt, eine Meuterei, die von den Befürwortern der Bewegung als èr yuè nì liú Februar-Gegenströmung bezeichnet wurde. ¡ 246 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Kulturrevolution beseitigt, weder deren ideologische Maxime vor allem im Bereich der Wirtschaft, ja nicht einmal alle Machthaber, die von der Bewegung profitiert hatten, waren im Gefolge der 林彪 Lín Bi~o-Affäre verschwunden. Es blieb die in und mit der Kulturrevolution auf Kosten der AltKader aufgstiegene Funktionärsgruppe um Maos Frau, 江青 Ji~ng Q§ng, die weiterhin im Politbüro des Zentralkomitees saß und dort erhebliche Macht ausübte, insbesondere auf die Propagandamedien, die Universitäten und den gesamten Kulturbereich. Gerade sie waren es gewesen, die 1967 und 1968 mit allen Kniffen der Kunst der Intrige und den aufgestachelten und manipulierten Jugendlichen die nun zurückgekehrten Alt-Kader entmachtet hatten. Zwischen dieser Gruppe und den zurückgekehrten Alt-Funktionären herrschte deshalb ein unüberbrückbarer Gegensatz, ja blanker, sehr persönlicher Haß, der früher oder später durch die Entmachtung der einen oder der anderen aufgelöst werden mußte. Ihr Aufeinander-Losgehen verhinderte bis zu seinem Tode jedoch der unantastbare, gottgleiche Große Vorsitzende Mao, der weiterhin daran festhielt, wie er seinem alten Freund Edgar Snow und anderen im persönlichen Gespräch immer wieder anvertraute, daß er in seinem Leben eigentlich nur zwei große Taten vollbracht habe, nämlich: Tschiang Kai-schek auf jene Insel zu vertreiben und: die Kulturrevolution ausgelöst zu haben147. Auf letzteres blieb er bis zu seinem Ende ganz besonders stolz. Von den Werten der Kulturrevolution war 1973 freilich nichts übriggeblieben als mehrere hundert Millionen zutiefst vor sich selbst erschrockener Chinesen, Mao als ewiger Führer, die kleine, aber mächtige Funktionärsgruppe um seine Frau und die offizielle Ideologie, daß der Klassenkampf und die Revolution, also der ¤ ¢£ §¨©ª«¬­®¯° ¬­³´µ° t±² ¥¦ ÁÂÃĵÅÆÇÈÉ°ÊËÌÍÅÆÇT ¶ ·®¯µ¸¹th]ºµ»¼½¾ ÎÏÐѵ°ÒÓSÉ°ÊÔÕh¿À Ö×ØÙѵÚoÛÜÝ°ÞÛµßàá°â ãä½åæç uèé°ê§ÅÆÇT°ëtìíîîïï°ðñ ¿òtóôõ ×ÅÇTÎÏöµÚ÷h¼½øùúûü°ý¿þKÿ wUVÚã½ uè° °â Ú㻼½§°ã ÚÆ u é ° è °Æ°ý µÚøùÆ°ê§ûü h è ýK ¥ è 147 Nach der Überlieferung durch seinen langjährigen Leibwächter W~ng DÇng xìng sagte Mao: 247 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Machtkampf, immer weitergeführt geführt werden müßten. Dem gegenüber stand aber nun die Phalanx der rehabilitierten und rachelüsternen Alt-Funktionäre, die sich um 邓小平 Dèng Xi|op§ng scharte, der vom ersten Tag seiner Rückkehr intensiv und unermüdlich daran zu arbeiten begann, mit den Resten der Kulturrevolution, auf jeden Fall aber mit der Gruppe um Maos Frau, seine ganz persönlichen Feinde, und der offiziellen Ideologie der Bewegung, aufzuräumen. 邓小平 Dèng Xi|op§ng war dabei -wie zu Beginn der sechziger Jahre, immer noch fest davon überzeugt, daß das Parteiregime nur dann überleben konnte, wenn sich die Politik der Wirtschaft unterordnete, sein Wahlspruch war und blieb das Katzen-Zitat: Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt, ist es eine gute Katze. Freilich blieb der Vize-Premier klug genug, niemals direkt gegen Mao aufzutreten, solange der seine Hand weiter schützend über die Resultate der Kulturrevolution hielt, obgleich die kaum mehr waren als nur noch sehr dünne Propaganda-Kulissen. Aber die Kulturrevolution war Maos Hauptwerk, sein ganzer Stolz, denn sie war als ein ganz und gar westliches Produkt von Massen-Wahn ein schwerer Schlag gegen die chinesische Welt gewesen, die Fanatismus nie gekannt hatte. An der Kulturrevolution hielt Mao unerschütterlich fest ohne zu schwanken, bis zu seinem Ende. Auch Deng, der schon einmal gegen Mao verloren hatte, schien es da nicht ratsam, frontal gegen sie und ihre Protagonisten vorzugehen. Er mußte einen anderen Weg finden. Unter der Oberfläche und von außen nur schwer einsehbar, hoben die beiden Fraktionen -die Alt-Apparatschiks auf der einen und die von Mao gedeckten Emporkömmlinge um seine Frau auf der anderen Seite- ihre Stellungen für die Zeit aus, da Mao bei Marx sein würde, wie er sagte, und verhakten sich in den Jahren 1972 bis 1976, bis zum großen showdown im Oktober jenen Jahres, in vielerlei kleinen, verbissenen, bisweilen absurd anmutenden Machtkampf-Scharmützeln, meist über Fragen, wie die weiter gegenüber der Außenwelt völlig abgeschirmte und beinahe ruinierte chinesische Wirtschaft zu entwickeln sei. 248 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Während 邓小平 Dèng Xi|op§ng auf Reformen hier und da drängte, die das Ziel verfolgten, den die Entwicklung lähmenden Einfluß der Ideologie zurückzudrängen, zum Beispiel mehr Schlüsseltechniken aus dem westlichen Ausland zu importieren, hielt die Gruppe um 江青 Ji~ng Q§ng stets dagegen, beschwor den sogenannten Geist des 自力更生 zì lì g‘ng sh‘ng auf die eigenen Kräfte stützen (= autark sein) oder 不怕苦不怕死 bú pà kß bú pà s0 weder Härte noch Tod fürchten und verdammte alle Bestrebungen Dengs, vom Westen zu profitieren als Speichelleckerei gegenüber den Ausländern, als Ausverkauf Chinas, ja letztlich als Wiedereinführung der alten Gesellschaft. Die Gruppe um 江青 Ji~ng Q§ng setzte dabei ihren Propagandaapparat ein, der zahllose Artikel in diesem Sinne veröffentlichte, die jedoch nicht den von Mao zurückgeholten 邓小平 Dèng Xi|op§ng direkt angriffen, sondern dies über Anspielungen taten, die für Außenstehende damals schwer aber nicht unmöglich zu interpretieren waren. Im August 1973 konsolidiert der X. Parteitag die nach dem Sturz des 林彪 Lín Bi~o hergestellte Machtbalance. Mao, mittlerweile 80 Jahre alt, ließ es zu, daß der gerade zurückgekehrte 邓 小平 Dèng Xi|op§ng Mitglied des Zentralkomitees (nicht jedoch des Politbüros) wurde. Im obersten Führungsgremium der Partei, dem Politbüro, waren die Nutznießer der Kulturrevolution vor allem in den Personen 江青 Ji~ng Q§ng, 姚文元 Yáo Wényuán, 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo und -neu dazugekommen- dem ehemaligen 上海 Shàngh|ier RoteGarden-Führer 王洪文 Wáng Hóngwén vertreten. Mit der Person des letzteren freilich stellte diese Fraktion -vielfach als ultralinke bezeichnet- jedoch den prospektiven Nachfolger Maos: Der Vorsitzende selbst hatte ihn dazu ausgewählt. 王洪文 Wáng Hóngwén, trug dem Parteitag den Bericht über die Abänderung des Parteistatuts vor. Der vergleichsweise junge Mann stand fortan protokollarisch nach Mao und 周恩来 ZhÇu ÷nlái an dritter Position der chinesischen Machthierarchie und symbolisierte Maos weiteren Glauben an die Kulturrevolution, die er ohnehin noch mehrfach wiederholt sehen wollte. Denn über die Zähigkeit der chinesischen Welt 249 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE machte er sich keine Illusionen. Es würde lange dauern, sie zu beseitigen. Da sowohl die Nummer 1, Mao, als auch die Nummer 2, 周恩来 ZhÇu ÷nlái, zu diesem Zeitpunkt bereits sehr alt und sogar auch recht gebrechlich waren, konnte die Gruppe um 江青 Ji~ng Q§ng sich tatsächlich Hoffnung machen, über 王洪文 Wáng Hóngwén alsbald in die Vorhand zu gelangen. Allerdings nicht automatisch, denn sowohl 江青 Ji~ng Q§ng als auch 姚文元 Yáo Wényuán hatten es nicht geschafft in den wahrhaft entscheidenden inneren Zirkel der Macht, den damals neunköpfigen Ständigen Ausschuß des Politibüros zu gelangen (nur 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo und 王洪文 Wáng Hóngwén waren dort vertreten). Nicht einmal im Politbüro hatten sie eine Mehrheit, sondern sahen sich vielmehr zahlreichen rehabilitierten Alt-Funktionären gegenüber, die in ihnen ihre Peiniger von gestern sahen und eigentlich an nichts anderes dachten, als sich zu revanchieren. Eine Entscheidungsschlacht war unermeidlich - Untergang oder Durchmarsch! so hieß ab 1973 die Alternative für beide Seiten. Zunächst machten die Alt-Kader einen wichtigen Punkt, als es ihnen gelang, im Januar 1975, auf der 2. Plenartagung des X. Zentralkomitees, ihre anti-kulturrevolutionäre Speerspitze 邓小平 Dèng Xi|op§ng -nur ein Jahr nach seiner Rehabiliterung- endlich in den inneren Zirkel, den Ständigen Ausschuß des Politbüros, zu befördern, wo er sogar einer der fünf stellvertretenden Vorsitzenden Maos wurde. Die nächste große Gelegenheit, nach den Personalentscheidungen innerhalb der Partei, Pflöcke einzuschlagen und wichtige Posten zu besetzen, bot die Tagung des IV. Nationalen Volkskongresses, des chinesischen Parlaments, das erstmals seit 1964 im Januar 1975 wieder zusammentrat. Es gelang dabei, 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo als stellvertretenden Premier zu installieren und über ihn Zugriff auf die Regierung zu erlangen. Allerdings blieb 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo der einzige ernstzunehmende Vertreter der Kulturrevolution im Regierungskreis und damit isoliert und 250 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE schwach. Er sah sich dort aber nicht nur einer Mehrheit rehabilitierter Funktionäre gegenüber, sondern auch einer gegen revolutionäre Vorstellungen gerichteten neuen Programmatik. Das auf der Tagung beschlossene Programm zur Entwicklung Chinas hatte nämlich mit den ideologischen Vorstellungen der Kulturrevolution nicht mehr viel zu tun - wohl aber denen Dengs: Der IV. Volkskongreß beschloß die sogenannten Vier Modernisierungen, mit denen die Landwirtschaft, die Industrie, die Landesverteidigung und Wissenschaft und Technik Chinas bis zur Jahrtausendwende auf einen der vordersten Plätze in der Welt gebracht werden sollte. Diese Politik der Vier Modernisierungen, die grundsätzlich bis heute gilt, markierte einen substantiellen Erfolg der zurückgekehrten Kader. Auf konventionelle Weise konnten die sogenannten Radikalen weder gegen dieses mehrheitsfähige Programm noch gegen die Übermacht der Alt-Funktionäre etwas ausrichten. Die Beförderung des 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo zum Vize-Premier war ein PhyrrusSieg, und so führten die Radikalen über ihre Machtpositionen in den Bereichen Presse, Propaganda, Kultur und Universitäten ihren kulturrevolutionären Grabenkampf gegen die neuen Revisionisten fort. Das Jahr 1976 brachte die endgültige Entscheidung. Im Januar starb Maos treuester Helfer, Premierminister 周恩来 ZhÇu ÷nlái, nach langer schwerer Krankheit und es stellte sich damit die Frage, wer seine Nachfolge antreten würde. Mao selbst war mittlerweile 83 Jahre alt und aufgrund der Parkinsonkrankheit nur noch sehr eingeschränkt kommunikationsfähig. Aber: Er lebte noch und blieb gewillt, inmitten des Lobbying der beiden Hauptfraktionen in der Partei, auf wichtige Personalentscheidungen bestimmenden Einfluß zu nehmen. Die für die weitere Entwicklung in China jetzt entscheidende Frage war, ob es 邓小平 Dèng Xi|op§ng gelingen würde, die Nachfolge des 周恩来 ZhÇu ÷nlái anzutreten. Westliche Beobachter wie auch die chinesische Öffentlichkeit (soweit davon die Rede sein konnte) rechneten fest damit, erst recht, nachdem es Deng gewesen 251 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE war, der am 15. Januar die Trauerrede auf 周恩来 ZhÇu ÷nlái gehalten hatte. Im Falle seiner Ernennung aber war mit einem Durchmarsch der sogenannten Pragmatiker und der endgültigen Marginalisierung der Kulturrevolutionäre zu rechnen, einer allgemeinen Wende in der chinesichen Politik, einer Entwicklung freilich, die auch der allgemeinen Stimmung der zermürbten Bevölkerung Rechnung getragen hätte. Mao aber zögerte. Er mißtraute Deng weiter und entschied sich für eine überaschende Lösung: Am 7. Februar 1976 wurde ein bis dahin weitgehend unbekannter Funktionär (Parteichef seiner Heimatprovinz 湖南 Húnán) namens 华国峰 Huá Guóf‘ng zum amtierenden Premierminister ernannt. Eine scharfe Auseinandersetzung vor allem zwischen Deng und der sogenannten RadikalenFraktion um die Mao-Frau 江青 Ji~ng Q§ng, die wußte, daß es um ihre Existenz im Wortsinne ging, hatte zu diesem Ergebnis geführt, das damit keine der beiden Seiten zum Sieger machte. Die Hängepartie dauerte an, allerdings verschärfte sich der Fraktionskampf weiter und strebte zügig auf die endgültige Entscheidung zu. Sie würde fallen, sobald Mao bei Marx war. Zunächst gewannen aber noch einmal die Radikalen. Sie konfrontierten zu Beginn des Jahres 1976 Deng erstmals direkt und bezichtigten ihn, mit der systematischen Zurückholung von in der Kulturrevolution gestürzten Funktionären eine Revision der gefällten Urteile zu betreiben und vor allem: ein besserungsunwilliger Machthaber auf dem kapitalistischen Weg zu sein. In ihren Propagandamedien ließen sie Deng dafür angreifen, daß er die ideologischen und personellen Ergebnisse der Kulturrevolution rückgängig machte, ein gute Schachzug, denn die war Maos Lebenswerk, von dem er nicht lassen wollte. Tatsächlich gelang es ihnen damit, Maos Unterstützung zu bekommen. Im Frühjahr verschärfte sich das propagagandistische Feuer auf Deng, der seit seiner 周恩来 ZhÇu ÷nlái-Trauerrede im Januar auch nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten war. Zunehmend mischte sich in diesen Wochen und Monaten an vielen Orten Chinas, trotz strengster Überwachung und Kontrolle, die politisch immer wache chinesische Bevölkerung in den Macht252 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE kampf ein und nahm zum Beispiel über heimlich angebrachte Wandzeitungen unmißverständlich für Deng und gegen die von Mao gestützte Fraktion um 江青 Ji~ng Q§ng Stellung. Die Chinesen wollten endlich besser Leben und waren sicher, daß sie dies nur mit Deng konnten. Am 4. April, dem traditionellen chinesischen 清明节 q§ng míng ji‘ Demonstration am 4. April Totengedenktag kam es zum de facto- 1976: Mit Kränzen gegen die Despotie. Aufstand in der Hauptstadt. Zahlreiche Menschen versammelten sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Sie legten Kränze für den im Januar verstorbenen Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái nieder, den sie für einen quasi Heiligen, einen Premier des Volkes hielten, der auf ihrer Seite stand148, deklamierten politisch-oppositionelle Gedichte und Texte zu seinem Lobe und zur Verdammung der Radikalen-Fraktion. Eine wahre Volkserhebung schien sich anzubahnen, Alarmstufe 1 bei 江青 Ji~ng Q§ng und ihren Partnern, die diese Aktivitäten als blanke Konterrevolution ansahen - von Deng unterstützt und gefördert. In der Nacht zum 5. ,- Ti~n=~nmén shì April entfernten Sicher1976: Der erste }~ jiàn Ti~n=~nmén-Zwischenfall - Demonstration heitskräfte die Zeichen des gegen die Diktatur. offenen Volks-Protestes, 148 !()*+ ' "#$%& Ein Irrtum, wie G~o Wénqi~n in einem Buch Die späten Jahre des ZhÇu ÷nlái, Mirror Books, Hongkong, 2003 nachwies. ZhÇu ÷nlái stand immer nur auf seiner eigenen Seite und betätigte sich immer als treuer Diener seines Herren Maos. Keine einzige Entscheidung hat der Mann auf eigene Kappe getroffen, sondern vorher immer seinen Herren und Meister gefragt. So sicherte er sich sein erstaunliches Überleben in der Welt der pausenlosen Machtkämpfe der chinesischen Politik. Eine Meisterleistung. $%& 253 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE was die Wut der Menschen aber nur steigerte. Im Verlauf des Tages (5. April) versammeln sich daraufhin gut 100.000 Demonstranten auf dem Platz und skandierten Rufe wie Nieder mit der KaiserinWitwe (eine Anspielung auf das angeblich despotische Wesen der Mao-Frau 江青 Ji~ng Q§ng) und auch Die Ära des 秦始皇 Qín Sh0 Huáng ist vorüber! ein direkter Angriff auf Mao (der sonst durchaus Gefallen daran fand, mit dem Ersten Kaiser verglichen zu werden). Am Abend griffen die Sicherheitskräfte direkt ein, prügelten die Demonstranten vom Platz und töteten dabei auch viele (die Rede ist von ca. 100 Toten, genaueres ist jedoch bis heute nicht bekannt, kein ausländischer Journalist, kein CNN etc. waren dabei, wohl nicht einmal andere ausländische Augenzeugen). Damit kehrte auf den öffentlichen Plätzen Chinas wieder Ruhe ein. Intern jedoch begannen sich nun die seit Jahren eingefrorenen Machtverhältnisse zu verschieben: Die Radikalen setzten sich durch. Die Parteiführung erklärte die Demonstration vom 4. und 5. April umgehend zu einem konterrevolutionären Aufstand und verkündete am 7. April die zweite Entmachtung Dengs, dem sie vorwarf, als Drahtzieher hinter den Kulissen die Menschen letztlich gegen Mao, in jedem Fall aber gegen die Resultate der Kulturrevolution aufgehetzt zu haben. Sein Ziel sei es gewesen, einen 右 倾反案风 yòu q§ng f|n àn f‘ng rechten Wind zur Revision der gefällten Urteile zu entfachen, konkret, die als kapitalistische Machthaber gestürzten Alt-Funktionäre wieder in ihre Ämter zu bringen und sie, obwohl sie sich nicht im geringsten gebessert hatten, weiter zu fördern. Dengs Ziel sei es, sein von Mao als revisionistisch eingestuftes Wirtschaftsprogramm wieder aufzunehmen und die Ergebnisse der Kulturrevolution zurückzunehmen. Mit diesem Argument konnte Mao wie erwartet gewonnen werden, auf sein Hauptwerk ließ er nichts kommen. Gleichzeitig mit dieser Verurteilung setzte das Politbüro -auf Vorschlag Maos- Deng von allen seinen Ämtern ab. Am 8. April feierten organisierte Massenaufmärsche diese weise Entscheidung. Ein zweites Mal hatte Deng damit bei einem entscheidenden Machtkampf in Mao und den Radikalen seinen Meister gefun254 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE den. Indessen getattete Mao auch der zunächst siegreichen Fraktion um seine Frau nicht, nun selbst die Macht zu übernehmen. Er sorgte stattdessen für die Ernennung des seit Jahresbeginn als amtierender Premier wirkenden 华国峰 Huá Guóf‘ng zum nunmehr offiziellen Premier des Staatsrates und darüber hinaus auch zum ersten stellvertretenden Parteivorsitzenden, also seiner selbst. Umgangen, ja herabgestuft war damit der einst als Nachfolger angetretene 王洪文 Wáng Hóngwén. Er hatte Mao schnell enttäuscht. Bisher hatte es das Amt eines ersten stellvertretenden Parteivorsitzenden in der KP noch nicht gegeben. Seine Übernahme durch den unbekannten Phönix aus der Asche 华国峰 Huá Guóf‘ng war ein durchaus hoffnungsvolles Zeichen für die Altfunktionäre. Sie mußten den neuen Mann nur noch für sich gewinnen und verhindern, daß er sich in der Folgezeit tatsächlich auf die Seite der 江青 Ji~ng Q§ng-Fraktion stellte. Tat er das nicht, hätten die sogenannten Radikalen wieder nur einen Phyrrus-Sieg errungen: Zwar war es ihnen gelungen, den verhaßten Deng erneut auszuschalten und ein zweites Mal zu erniedrigen, doch waren sie selbst wieder nicht zum Zuge gekommen. Im Gegenteil: Der bisherige Vize-Vorsitzende der Partei (seit dem X. Parteitag) und prospektive Mao-Nachfolger, ihr Fraktionsmitglied 王洪文 Wáng Hóngwén, hatte durch die überraschende Ernennung des 华国峰 Huá Guóf‘ng sogar eine Degradierung erfahren, denn wenn 华国峰 Huá Guóf‘ng nun erster Vize-Vorsitzender war, dann war 王洪文 Wáng Hóngwén nur noch zweiter wenn überhaupt. Außerdem hatte das Politbüro zwar die Absetzung Dengs von allen Ämtern beschlossen, aber ihm die entscheidende Parteimitgliedschaft belassen, um zu sehen, wie er sich zukünftig verhält, wie es offziell hieß. Erst der Parteiausschluß aber hätte den Mann wirklich erledigt. So war er noch da und konnte von zu Haue aus seine starken Beziehungen zu den noch im Amt befindlichen Alt-Funktionären nutzen, um zu kungeln und Fäden zu ziehen und wieder in die Vorhand zu kommen, wenn Mao gegangen war. Und 255 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE genau das tat er auch149. Für die weitere Entwicklung Chinas hatte der inzwischen todkranke Mao, nur wenige Monate vor seinem Ableben, die Weiche noch einmal, wie sich ein halbes Jahr später herausstellte, in entscheidender Weise, gestellt: gegen die Radikalen, für eine Rückkehr Dengs und alles, was damit, wie wir heute wissen, verbunden war: Der Eintritt Chinas in die Welt, das, was der französische Kaiser Napoleon bereits 1817 in dem Satz zusammengefaßt hatte: China ist ein schlafender Drache ... wenn er sich erhebt, erzittert die Welt. Am 9. September 1976 stirbt Mao, 82jährig. Zehn Tage später, am 18. September findet eine gewaltige Trauerkundgebung auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor dem Kaiserpalast der 元 Yuán-, 明 Míng- und 清 Q§ngDynastien statt. 华国峰 Mao-Trauerfeier in Peking am 18.9.1976. Huá Guóf‘ng der Erste Vize-Vorsitzende, hält die Trauerrede, die Mitglieder der 江青 Ji~ng Q§ng-Fraktion stehen direkt neben ihm in sehr prominenter Position. Aber wie würde es nun mit ihnen weitergehen, da sie ihren großen Rettungsstern Mao unwiederbringlich verloren hatten? Sie ahnten, daß die nächsten Tage den showdown im Kampf um die Macht über China bringen würden. Am 30. September, dem Vortag des Nationalfeiertages, ließen sie in den von ihnen kontrollierten Zeitungen Leitartikel mit Aufrufcharakter veröffentlichen, u01 ./ 3 2£ 149 In dem sehr realistischen Doku-Roman Du|n zàn de chãn qiã Ein kurzes Jahr beschreibt der Schriftsteller Sh§ DÇngb§ng sehr kenntnisreich, wie Deng sein comeback in dieser Zeit durch pausenloses Strippenziehen hinter den Kulissen vorbereitete. Das Buch war auf dem Pekinger Schwarzmarkt um 1996 herum ein Hit, durfte offiziell jedoch -wie die meisten Romane des Sh§ DÇngb§ng nicht erscheinen. Es bietet ein sehr reichhaltiges Lehrstück zum Thema Politik in China. 2£3 256 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE die vor einem bewaffneten, konterrevolutionären Umsturz durch die Bourgeoisie in der Partei warnten. Am 1. Oktober riefen ihre Medien dazu auf, nach den festgelegten Richtlinien Maos zu handeln150, also denen der Kulturrevolution, was hieß: die ungebesserten Alt-Funktionäre kritisieren, bekämpfen und stürzen. Ob auch der Erste Vize-Vorsitzende 华国峰 Huá Guóf‘ng dazu gehören würde? Der ließ es gar nicht erst soweit kommen, dies herauszufinden. Überredet von und im Komplott mit dem Deng-Freund und Mitglied im höchsten Parteizirkel, dem alten Armeeführer Marschall 叶剑英 Yè Jiàny§ng, ließ er fünf Tage später die vier Unruhestifter und Quälgeister der Alt-Funktionäre kurzerhand verhaften. Es war ein Putsch, ein klassischer coup d´état - freilich einer, der auf breite Unterstützung zählen konnte. Erst am Folgetag bestätigte das Politibüro (nachträglich und natürlich ohne die Stimmen der Verhafteten, die dort auch Mitglied waren, einzuholen) die Aktion und drückte den Vieren dabei die griffige Bezeichnung 四人帮 sì rén b~ng Viererbande auf, unter der sie seither bekannt sind. (Sie stammt freilich von Mao selbst, der seine Frau und ihre Anhänger zu seinen Lebzeiten mehrfach davor gewarnt hatte, sich als kleine Fraktion zu heftig mit den AltFunktionären anzulegen.) 华国峰 Huá Guóf‘ng aber belohnte das Politbüro in der gleichen Sitzung mit der Wahl zum Vorsitzenden der KP Chinas und damit zum offiziellen Nachfolger Maos. Damit hatte sich der Kreis geschlossen: Gleich vielen anderen sogenannten radikalen Führern vor ihnen, die Maos siegreicher Machtkampf namens Kulturrevolution erst nach oben gebracht und -nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hatten- wieder ausgeschaltet hatte, fraß sie nun, wenige Tage nach dem Tod ihres genius, ihre allerletzten Profiteure. Die Kulturrevolution war damit wirklich zu Ende, der Zustand Chinas entsprach in etwa jenem der Jahre 1962/63 nach dem Großen Sprung. Das Land hatte (außer in der Außenpolitik) eine 13jährige Kreisbewegung hinter sich. Dies einzugestehen erforderte freilich noch eine gewisse 150 45®67 àn jìdìng f~ng zh‘n bàn. 257 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Schamfrist, in der die neuen Machthaber der Kulturrevolution und Mao weiterhin verbal die Treue schworen, bevor der bald von ihnen zurückgeholte Deng, sie für alle denkbaren Unzulänglichkeiten Chinas verantwortlich machte und ihre Analyse und Diskussion dann einzustellen befahl. Nicht übersehen werden sollte bei einer Bewertung dieser Episode jedoch, daß sie für ein knappes Jahr (1967/68, vor allem: 1. Halbjahr 1968) der chinesischen Jugend freien Lauf gelassen hatte. Nie vorher und bislang auch nicht nachher hatte diese einen solchen politischen Freiraum, in dem sich der Idealismus von Millionen praktisch entfalten konnte. Alsbald aber, als die entfesselten Individuen feststellten, daß sie nur Bauern waren, die auf dem Schachbrett eines politischen Machtkampfes ganz oben gezogen (= benutzt) und geopfert wurden, blieb eine ganze Generation tief enttäuscht zurück. Die maßlose Frustration, die diese Erkenntnis hinterließ, immunisierte sie fortan gegen jegliches gesellschaftliches Engagement und Interesse im Rahmen des KP-Systems. Einzig um sich selbst blieben sie besorgt, ihr Motto lautet bis heute: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, der mit allen Mitteln erreicht werden muß, wenn das Leben überhaupt noch eine Bedeutung haben soll. Auf der Basis dieser ideologischen Wüste bekamen die neuen/alten Machthaber völlig freie Hand, mit China nach Belieben zu verfahren. Solange die Individuen schnelle persönliche Vorteile realisieren konnten, kümmerten sie sich nicht um die Gesellschaft. Ein zynischer Aufruf des alten Deng, der Anfang der neunziger Jahre zu Weltruhm kam, 致富光荣 zhì fù gu~ng róng reich werden ist glorreich! konnte nur auf dem Boden dieses Kahlschlages so aufgehen, wie es der Fall gewesen ist. Nach ihrem coup d=état brauchte die neue Führung um 华国峰 Huá Guóf‘ng und 叶剑英 Yè Jiàny§ng noch einige Tage, um auch in den Hochburgen der Viererbande, vor allem 上海 Shàngh|i, deren Anhänger zu verhaften und die Propagadamedien unter die Kontrolle eigener, zuverlässiger Leute zu bekommen. Deshalb hielt sie die Verhaftungen vorerst geheim. 258 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Am 12. Oktober begannen jedoch erste ausländische Zeitungen zu spekulieren, daß in Peking anscheinend etwas sehr Entscheidendes geschehen war. Doch die Ungewißheit hielt an. Erst am 21. Oktober, zwei Wochen nach ihrem coup, gaben die neuen Machthaber die geschaffenen Fakten auf riesigen, landesweiten JubelMassenkundgebungen auch der Welt die Absetzung der Viererbande und die Ernennung des 华国峰 Huá Guóf‘ng zum Nachfolger Maos bekannt. Im überkommenen Stil suchte die Parteiführung in den nächsten Monaten, Offizielle Demonstration: Nieder mit der Viererbande. die Teufel der Viererbande mit dem Beelzebub der Kulturrevolution und der Politik Maos auszutreiben, was zunehmend unglaubwürdiger aussah, schließlich wußte jeder, daß die Politik der letzten Jahre maßgeblich von diesen Leuten mit der Unterstützung Maos bestimmt worden war. Es war ein Schlag gegen den gesunden Menschenverstand zu behaupten, der Vorsitzende habe sie bekämpft. Bald machte der Satz die Runde, es sei keine Vierer-, sondern eine Fünferbande am Werk gewesen. In den Monaten nach dem coup zog der offiziell zunächst weiter als Konterrevolutionär verfemte und entmachtete Deng hinter den Kulissen unermüdlich die Fäden seines Netzes. Pausenlos sprach er mit diesem und jenem hohen Funktionär und alten Genossen bzw. nahm ihre Besuche entgegen und hörte ihre Bitten, er möge doch in den inneren Kreis zurückkehren und das Heft in die Hand nehmen. Im Januar 1976 griffen von diesen Konspiratoren initiierte Wandzeitungen im Zentrum Pekings zwei hohe Parteikader dafür an, daß sie die Pro-Deng-Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Frühjahr 1975, die zu Dengs Entlassung führte, hatten unterdrücken lassen. Sie fordern die Absetzung dieser Funktionäre und Dengs Rehabilitierung und Wiedereinsetzung in seine 259 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE 89 >?@ : :DEF Deng im Rahmen der neuen Parteiführung, Huá Guóf‘ng August 1977, von links: Yè Jiàny§ng Dèng Xi|opíng L0 Xi~nniàn W~ng DÇngxìng. ;<= BC : :A alten Ämter. Und das geschah tatsächlich im Juli 1977 auf einer ZKTagung: Deng, der mittlerweile das Image des Anti-Mao genoß, war plötzlich wieder da und, wie sich bald zeigte, fest entschlossen, sich diesmal das Heft nicht noch einmal aus der Hand nehmen zu lassen. Dabei geriet er im Laufe der folgenden Monate zunehmend in Konflikt zur No. 1 in der Partei, dem Mao-Nachfolger 华国峰 Huá Guóf‘ng, der zwar die Viererbande hatten verhaften lassen, jedoch weiterhin an Mao und etlichen Konventionen und Propagandaformeln der Kulturrevolution festhielt sowie auch an einigen immer noch in der Parteiführung verbliebenen Profiteuren dieser Bewegung. Es gelang Deng durch Ausnutzung unterschiedlicher Kräfte, darunter einer 1979 entstandenen Demokratiebewegung, zunächst diese Leute, dann die Demokratiebewegung und schließlich 华 国峰 Huá Guóf‘ng selbst auszuschalten. Um den Jahreswechsel 1980/81 ließ er die noch lebenden Mitglieder der sogenannten 林彪 Lín Bi~o-Gruppe wie auch der Viererbande in einem wochenlangen, steckenweise öffentlichen TV-Schau-Prozeß als Verantwortliche für alle Greueltaten der Kulturrevolution zu langen Haftstrafen verurteilen. Anschließend rechnete ein im Sommer 1982 verabschiedetes autoritatives Parteidokumentes ( Resolution über einige Fragen zur Geschichte der KP Chinas seit 1949) mit Maos Politik der Jahre nach 1956 ab: sie sei falsch und irrtümlich gewesen und habe großes Unglück über das Land und seine Bewohner gebracht. Es folgte die landesweite Demontage der Millionen an öffentlichen Gebäuden und Plätzen angebrachten Mao-Bilder und kulturrevolutionären Parolen. Nur auf dem Platz des Himmlischen Friedens, am Tian=anmen Tor, blieb Maos Porträt bis heute hängen und bekräftigt so die 260 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE fortdauernde große Bedeutung dieses Mannes und seines Werkes: ! ! ! ! ! die Einigung Chinas, seine Etablierung als Großmacht, die Beseitigung seiner (Selbst-) Isolation, seine Öffnung und -vor allemdie fortbestehende Herrschaft der Partei-Funktionäre über das ganze Riesenland, das ihnen als Beute gehört. Damit legte Deng diese Periode ad acta. Eine weitergehende, tiefgreifende Diskussion war unerwünscht, alle, die das versuchten, ließ er umgehend verhaften und für lange Jahre in Arbeitslager bringen. Ruhe war die erste Bürgerpflicht. Zwar erschienen seither zahlreiche Bücher und Artikel in China, die sich mit den Vorgängen um den Großen Sprung, die Hundert Blumen und vor allem die Kulturrevolution beschäftigen, doch bleibt die Erörterung dieser Fragen bis heute nur bis zu einem gewissen Grade möglich. Sobald Autoren weitergehende Fragen erörtern wollen, die das Herrschaftssystem oder das Verhalten seiner Funktionäre betreffen, schiebt die Zensur bis heute einen festen Riegel davor. Eine der ersten in China geschriebenen, KPunabhängigen und sehr detaillierten Darstellungen der Kulturrevolution zum Beispiel, darf bis heute nicht offiziell erscheinen151. Ein bekannter Schriftsteller des Landes, konnte zwar in den neunziger Jahren Biographien jener vier Funktionäre herausbringen, die die sogenannte Viererbande um Maos Frau gebildet hatten, doch sah er sich immer mit großen Problemen konfrontiert, als er daran ging, noch lebende Anführer der Kulturrevolution nach Details aus dem 151 GH G~o G~o, IÙJ Yán Ji~qí, 1966-1976: ÿ wUV°ÈÉK 1966-1976: Die Kulturrevolution, Eine zehnjährige Geschichte. Das über 700 Seiten starke, gut dokumentierte Buch zirkuliert als Raubdruck bis heute. Die Verfasser leben im ausländischen Exil. 261 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE inneren Kreis zu befragen152. Zwar weicht auch diese Front mittlerweile langsam auf, eine öffentliche Debatte jedoch bleibt weiter unerwünscht. Nachdem er so die ideologischen Grundlagen und personellen Verbündeten des 华国峰 Huá Guóf‘ng beseitigt hatte, stürzte Deng schließlich diesen selbst. Auf der gleichen ZK-Tagung im Juni 1981, die die Resolution veranschiedete, ließ er ihn als Vorsitzenden des ZK absetzen (gleichwohl durfte er, wegen seiner Verdienste um die Beseitigung der verhaßten Viererbande im ZK verbleiben). Nachfolger als Parteichef (mit der neuen Bezeichnung 总书记 z4ng shã jì Generalsekretär, statt dem Mao vorbehaltenen 主席 zhß xí, Vorsitzender) wurde ein enger Mitarbeiter Dengs, 胡耀邦 Hú Yàob~ng, zu dessen Stellvertreter 赵紫阳 Zhào Z0yáng gewählt. Deng selbst übernahm den Vorsitz der ZK-Militärkommission und sicherte sich so den Zugriff auf die nach dem Zerfall der ideologischen Legitimierung der KP-Herrschaft letzte Machtbasis der Partei, die Gewehre. Die Beseitigung der kulturrevolutionären raison d=être der Parteiherrschaft hatte die neue Führung ab 1976/77 vor die Frage gestellt, worauf sie denn ihre fortbestehende Herrschaft gründen wollte. Die propagandistisch weiter hochgehaltene Ideologie war tatsächlich abgewirtschaftet und gab keinerlei Legitimätsgründe mehr her. Die Machthaber verlegten sich daher auf den Bereich der Wirtschaft. Ihr Schlagwort wurde dabei die vom verstorbenen Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái auf dem Volkskongreß 1975 vorgetragene Losung von den 四个现代化 sì g xiàn dài huà Vier Modernisierungen. In den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft & Technik und Militärwesen sollte China in den verbleibenden 25 Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts auf einen der vordersten Plätze in der Welt gebracht werden. Für die Bevölkerung verband sich dies mit der Hoffnung auf einen besseren 152 MN L Q OP U RÙS Der Schriftsteller Yè Y4ngliè beschreibt seine Schwierigkeiten zum Beispiel in H‘i hóng nèi mù Hinter dem schwarzen Vorhang, Autorenverlag Peking 1999 ISBN 9 787506316187. TD 262 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Lebensstandard und Anerkennung der Würde Chinas durch andere Staaten, ein tiefsitzendes Bedürfnis, das für Chinesen eine erhebliche Rolle spielt. Die China gegenüber wegen dessen sowjet-feindlicher Haltung ohnehin sehr aufgeschlossenen westlichen Staaten (auch Japan) begrüßten dieses Modernisierungsprogramm vorbehaltlos (inclusive des Bereichs Militär!), da es ihren politischen Intentionen gegenüber Moskau entgegenkam und gleichzeitig die Hoffnung nährte, der chinesische Markt, der seit Marco Polo als der größte der Welt in den Köpfen der Kaufleute, Kapitalisten und Manager lebte, würde alsbald ihren Produkten geöffnet und Absatz ohne Ende garantieren. Schon der Nixon-Besuch 1972 und die folgende Welle der Aufnahme diplomatischer Beziehungen hatten auf Seiten vor allem konservativer Politiker und export-orientierter Manager und Unternehmer das China-Interesse wachsen lassen und ab 1973/74 eine bis dahin noch nicht dagewesene Reisewelle nach Peking ausgelöst. 1975 hatte auch die Bundesrepublik in Peking erstmals eine Industrieschau, die Technogerma organisiert, auf der ein breites Angebot deutscher Spitzentechnik vom Maschinenbau bis zum Farbfernsehsystem Pal gezeigt wurde. Die Entmachtung der sogenannten Radikalen und die Ausrichtung der chinesischen Machthaber auf die wirtschaftliche Entwicklung ihres Riesenlandes verstärkten dieses Interesse enorm. Zu einer regelrechten China-Euphorie kam es erstmals gegen Ende der 70er Jahre, als chinesische Funktionäre zunehmend ins westliche Ausland reisten und dort riesige Wirtschaftsprojekte vorstellten, für die sie Maschinen und Anlagen in gigantischem Ausmaß einkaufen wollten. Anfang der 80er Jahre hatten sie tatsächlich Kauf- und Lieferverträge für Maschinen, Anlagen, Bergwerke und vieles andere in Höhe Hunderter Milliarden Dollar mit europäischen und japanischen Unternehmen abgeschlossen. (Die amerikanischen konnten damals noch nicht zum Zuge kommen, weil bis 1979 keine diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestanden. Die Kauf-Offensive bei der Konkurrenz wirkte hier als stärkstes Druckmittel auf Washington, China diplomatisch anzu263 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE erkennen und Taiwan fallenzulassen.) 1981/82 jedoch mußten die überall auf das herzlichste begrüßten staatlichen Großeinkäufer eingestehen, daß ihre Augen größer gewesen waren als ihr Portemonnaie: Es fehlte ihnen das Geld für die meisten ihrer Bestellungen. In der Folge mußten viele der bereits abgeschlossenen Vereinbarungen gekündigt, reduziert oder verzögert werden, was nicht selten Konventionalstrafen zur Folge hatte. China zahlte, aber neben dem guten Ruf, der diesen Vertragsbrüchen zunächst einmal zum Opfer fiel, gingen der Staatskasse so auch wertvolle Devisen für nichts verloren. Auch dies lastete Deng geschickt dem Partei- und Staatschef 华国峰 Huá Guóf‘ng an. Er beschuldigte ihn eines neuen Großen Sprungs und machte dessen Traumtänzerei zu einem weiteren Argument für seine Absetzung. Damit freilich war nun die Frage zu beantworten, wie die Parteiführung -ohne nennenswertes Eigenkapital, sie hatte nichts- denn nun ihr Ziel erreichen wollte, das riesige Land zu modernisieren, um in der Weltspitze mitzuspielen, ganz vorne, am besten auf Platz eins. Wenn dieses Ziel tatsächlich angestrebt werden sollte, andererseits jedoch keine eigenen Mittel zur Verfügung standen, dann gab es nur eine Möglichkeit: Das Ausland, nach Lage der Dinge: der Westen, Amerika, Japan und Westeuropa, mußten den Aufbau finanzieren! Die chinesischen Auslandsschulden lagen zu diesem Zeitpunkt bei Null. Nach 1949 war es -nolens volens- die Politik Maos gewesen, keinerlei Abhängigkeit vom Ausland zuzulassen. Stattdessen hatte die Regierung dreißig Jahre Land ganz auf Autarkie gesetzt und mit eigenen Mitteln, auf die eigenen Kräfte bauend153 ein vollständiges, landesweites Industriesystem geschaffen, das sich in all den Jahren selbst genügt hatte. So bestand theoretisch die Möglichkeit, bei ausländischen Banken und Regierungen Kredite aufzunehmen. China galt als gute Adresse. Allerdings war es sehr 153 VWXY zì lì g‘ng sh‘ng hieß die vielverwandte Parole - sich auf die eigenen Kräfte stützen, wörtlich: sich durch die eigene Kraft wiederbeleben. 264 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE fraglich, ob die gewaltigen Mittel, die nötig waren, auf diese Weise würden beschafft werden können, zumal China zu diesem Zeitpunkt (außer der UNO) keinen internationalen Organisationen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds, der Asiatischen Entwicklungsbank etc. angehörte. Sein Status als sozialistisches Land verhinderte auch ein reichhaltiges Fließen von Entwicklungshilfegeldern. Überdies war auch die Angst noch groß, sich in die Abhängigkeit der Imperialisten zu begeben bzw. dessen beschuldigt zu werden - ein großes Tabu. Deng wählte deshalb den unter diesen Umständen einzig gangbaren Weg, den überdies auch andere Länder in Asien wie zum Beispiel Taiwan mit seinen export processing zones bereits sehr erfolgreich gegangen waren: Er wandte sich nicht an ausländische Staaten oder internationale Finanzorganisationen, sondern bot ausländischen Managern und Unternehmern an, in China zu investieren, dort Fabriken aufzubauen und mit sogenannten billigen chinesischen Arbeitskräften Waren für den Export zu produzieren. Aus heutiger Sicht stellte das Joint-Venture-Gesetz von 1979 die Weichen in eine Richtung, die zur Punktlandung führte, zu einem Erfolg, der seinesgleichen auf der Welt sucht, zu einem 2004 akkumulierten Finanzmittelzufluß aus dem Ausland in Höhe von ca. 1.000 Milliarden Dollar. Im August 1980 beschloß der Nationale Volkskongreß ergänzend die Einrichtung sogenannter 经济特区 j§ng j0 tè qã Sonderwirtschaftszonen in den Städten 深圳 Sh‘nzhèn, 珠海 Zhãh|i, 汕头 Shàntóu (alle in der Provinz 广东Gu~ngdÇng) und 厦门 Xiàmén (Provinz 福建 Fújiàn). Hierhin verlagerten als erste Unternehmen aus Hongkong ihre Export-Produktion, später folgten Firmen aus Taiwan, Europa, den USA und Japan mit Investitionen in Fertigungsbetriebe. Mit ihrer Hilfe sowie gezielten Finanzierungen seitens der Zentral- und Lokalbehörden wuchsen diese Sonderzonen, inbesondere die von 深圳 Sh‘nzhèn in der unmittelbaren Nachbarschaft Hongkongs, rasch zu relativ reichen Millionenstädten heran, die jene Ausländer, die sich daran gewöhnt hatten, China als maoistisch-ideologisiertes, fanatisiertes Land der blauen Ameisen zu sehen, immer wieder in Staunen versetzten. 265 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Zur Anmeldestelle für alle Investoren hatte das Joint-VentureGesetz eine noch zu gründende 中信公司 zhÇng xìn gÇng s§ China International Trust and Investment Corp. (CITIC) bestimmt und sie staatlicherseits mit Kapital ausgestattet. CITIC oblag die Koordinierung, Vermittlung, Prüfung und Bewertung ausländischer Investitionen und Technologien, die nach China verbracht werden sollten: Jeder Investor hatte bei der CITIC sein Projekt vorzustellen. (Später ging die Prüfung auf das 对外 经济贸易合作部 duì wài j§ng j0 mào yì hé zuò bù Ministry of Trade and Economic Cooperation, MOFTEC154 bzw. bei Volumina unter 30 Millionen Dollar dessen Provinz-Ableger über.) Die CITIC-Gründung erleichterte es der chinesischen Führung überdies, auch ausländische Finanzierungen für Infrastruktur- und andere Projekte ins Land zu holen, denn CITIC durfte Kredite aufnehmen. Da die Regierung hinter der Firma stand und China schuldenfrei war, hatten die ausländischen Banken keine Probleme mit dem Ausreichen. CITIC war bald Chinas erstes window to the world, durch das Milliardensummen an Investitionen und Finanzierungen aus dem Ausland hereinkamen. Zum Generaldirektor und Präsidenten machte Deng 荣毅仁 Róng Yìrén, einen waschechten 上海 Shàngh|ier Kapitalisten aus der Zeit vor 1949. Da auch er während der Kulturrevolution im Schweinestall gelitten hatte, strahlte der Nationalbourgeois nun in dieser glanzvollen, von Deng persönlich geschaffenen Position größte Glaubwürdigkeit im Ausland aus: Mit dem würde es keine politischen Abenteuer geben. Die Vorstandsliste der Gesellschaft tat ein übriges: Sie las sich wie ein Who is Who der 上海 Shàngh|ier Kapitalisten und Kompradore der Jahre vor 1949. 荣毅仁 Róng Yìrén wirkte in dieser Phase als das seriöse Aushängeschild von CITIC, war aber damals vielleicht auch der einzige in China, der sich mit den finanztechnischen Details der angestrebten Finanzgeschäften überhaupt auskannte. Seine Sache machte er so gut, daß er später zum stellvertretenden Staatspräsi154 Das Ministerium erfuhr 2003 eine Umbenennung in bù Handelsministerium. 266 Z[r sh~ng wù LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE denten aufstieg. Auf der Pressekonferenz anläßlich der Geschäftsaufnahme verkündete er den anwesenden Journalisten auch bereits eine erste erfolgreiche Transaktion, eine Finanzierungszusage der US-Firma E-S Pacific Corp. (Cyrus Eaton JR. - C.B. Sung), die zusagte, CITIC drei Jahre lang jährlich 50 Millionen Dollar als Investition in Gemeinschaftsunternehmen zur Verfügung zu stellen. Weiterhin informierte 荣毅仁 Róng Yìrén darüber, daß auch mit einem Schweizer Unternehmen Vorverträge im Gesamtwert von 30 Millionen US-Dollar abgeschlossen worden seien155. Als ein Journalist fragte, an welche Adresse sich interessierte Investoren wenden könnten, antwortete er in typisch chinesischer Arglosigkeit, es genüge, Peking, Goldfischgasse auf den Umschlag zu schreiben156. Die Schweizer Firma war der Lift-Hersteller Schindler. Dieses Unternehmen gründete im März 1980 mit der China-Schindler Elevator Company Ltd.157 als erstes ausländisches Unternehmen der neuen Zeit ein Joint Venture in China. Die Fahrstühle waren dabei nicht für den Export, sondern für den chinesischen Markt bestimmt. 16 Millionen Dollar betrug das Gesellschaftskapital, Schindler war mit 25 Prozent beteiligt, zwei chinesische Maschinenbaufirmen, je eine in Peking und 上海 Shàngh|i, hielten 75 Prozent und brachten, ein gängiges Verfahren bei Gemeinschaftsunternehmen, ihren Anteil in Form ihrer Fabrikgebäude und des Bodens ein. Letzteren hatten die Partner so hoch bewertet, daß ein Schindler-Vertreter sarkastisch bemerkte, dafür hätte man ein entsprechend großes Gelände auch in der Schweiz bekommen können158. 155 "China Trust Investment Co. nimmt Geschäftsbetrieb auf", Nachrichten für Außenhandel, 9.10.1979. 156 Carol Bargmann, "Adresse: Peking, Goldfischgasse", Fankfurter Allgemeine Zeitung, 5.10.1979. 157 ¥¦\c]^§_`p zhÇng guó xùn dá diàn tí y4u xiàn gÇng s§. 158 Carol Bargmann, "Erstes europäisches-chinesisches Unternehmen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.3.1980. 267 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Die Schindler-Unternehmung hatte Signalfunktion, in einer Phase da noch viele am Gelingen der Joint-Venture-Strategie zweifelten, abwarteten und beobachteten. Das anfängliche Zögern der europäischen Investoren hatte vor allem damit zu tun, daß viele Beobachter noch kurz vor der Bekanntgabe des Gesetzes über chinesisch-ausländische Gemeinschaftsunternehmen überzeugt waren, daß ein Funktionieren solcher Konstruktionen im sozialistischen System ganz ausgeschlossen sei. Daß Ausländer Fabrikgebäude oder Ausrüstungen auf chinesischem Boden ganz oder teilweise ihr eigen nennen können überstieg 1980 die Vorstellungskraft der meisten Experten. Es würde schon deshalb nicht zu einem wirkungsvollen Know-HowTransfer kommen, weil dieser nicht einfach in [das] gegenwärtige System eingespeist werden kann, das fast keine Arbeitsteilung und Spezialisierung kennt, und dem schlichtweg die Infrastruktur für moderne Anlagen fehlt159, meinte zum Beispiel die damalige FAZKorrespondentin in China, Carol Bargmann. Diese Beobachter irrten. Solche Bedenken galten (und gelten) nichts in einem Land, das hundert Jahre lang mit Vertragshäfen und Exterritorialität für Ausländer gelebt hatte, und es heute mit ein Staat, zwei Systeme in puncto Hongkong tut. So gründlich deutsch oder juristisch dachte (und denkt) kein Chinese, daß erst der sozialistische Schlamassel aufzuräumen wäre, bevor man die ordentlichen, spezialisierten, hochtechnischen kapitalistischen Betriebe hereinlassen kann. Die durften vielmehr gerne gleich kommen, was nicht paßte, machten die Behörden umgehend passend, denn Funktionäre allein bestimmen, was in China geschieht. Und wenn Gesetze fehlten oder einem Vorhaben entgegenstanden, so bedeutete (und bedeutet) auch das in China nichts: Die Machthaber erließen (erlassen) sie nachträglich paßten sie an oder strichen sie: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, war die Devise oder, wie Deng es als Modernisie159 Carol Bargmann, "Für Koproduktionen fehlen China noch alle Voraussetzungen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.1979. 268 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE rung seiner eigenen Schwarze-Katze-Weiße-Katze-Theorie nun ausdrückte: 摸石过河 mÇ shí guò hé Den Fluß überqueren, indem man die Steine mit dem Fuß erfühlt, also: alles ausprobieren und sehen, was geht. So pragmatisch bzw. willkürlich war China immer und ist es noch, weshalb das damalige kommunistische System auch mit eingesprengselten kapitalistischen Betrieben funktionierte. Sogar mit ausländischen. Es war eben ein chinesisches kommunistisches System. Schon ein Jahr nach der Pressekonferenz des 荣毅仁 Róng Yìrén arbeiteten allein in der Südprovinz 广东 Gu~ngdÇng eintausend chinesisch-ausländische Kooperationen, wenn auch meist mit Kleinfirmen-Partnern aus Hongkong160. Aber die große Zahl machte wieder Eindruck auf andere, die noch draußen standen und von dort das Geschehen interessiert beobachteten. Für die meisten westlichen Manager, die ganz anders denken und wirtschaften als chinesische Hongkong-Kapitalisten, stimmte das chinesische Umfeld aber zunächst nicht, so daß die achtziger Jahre keine übermäßig großen Schritte der Europäer, Amerikaner und Japaner sahen. Produkte hätten wohl alle gern in China verkauft, aber Kapital wollten sie nicht bringen, solange keine volle juristische Sicherheit herrschte. Die Rechtsabteilungen und Vorstände der Großfirmen, die zunächst angesprochen waren, legten erst einmal die Elle bürgerlicher Legalität und Rechtssicherheit an die Gesetze, Erlasse und sonstigen Veröffentlichungen der Chinesen. Da sich alle westlichen Manager ähnlich verhielten, entstand auch kein nennenwerter Konkurrenzdruck unter ihnen, der -wie in den folgenden Neunzigern, als das asiatische Wunder die westliche Manager-Wahrnehmung beherrschte- dazu führte, alle Bedenken fahren zu lassen und aus Angst, abgehängt zu werden und einen riesigen Markt zu verpassen, Multi-Milliarden-Investitionen in China vorzunehmen. Nur einige wenige Weltfirmen kamen so in 160 "Praktisch müßte alles Prioritätsstufe eins erhalten", Blick durch die Wirtschaft, 27.6.1980. 269 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE den achtziger Jahren und auch die testeten erst einmal mit nur kleinen Einsätzen den Boden einer Investition im Kommunismus. Im März 1983 nahm das erste echte deutsch-chinesiche Joint Venture die Produktion auf: die Wella AG. Die Investition betrug freilich nur 1,5 Millionen DM. Das Unternehmen, das bereits in Japan eine Kosmetika-Herstellung betrieb, hatte auf eine mögliche Expansion dort verzichtet und war mit Haut- und Haarpflegeprodukten statt dessen lieber nach China gegangen. Die Manager meinten, daß in China nicht nur Frauen, sondern mehr noch die Männer Wert darauf legen, kein graues Haar zu zeigen161 und wollten daher den chinesischen Markt beliefern. Wer Ende der neunziger Jahre die schwarzhaarigen bald achtzigjährigen der damaligen chinesischen Führung sah, konnte bestätigen, daß die Wella-Manager mit ihrer Annahme sehr richtig lagen. (Mit anderen freilich überhaupt nicht, weshalb die Firma nichts erreichte.) Die größte öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland erfuhr der Volkswagen-Konzern mit seinen China-Aktivitäten. Sehr früh, vielleicht bei einer der damaligen chinesischen Einkauftouren, kam es bereits 1978 zum ersten Kontakt. VW erkannte eine große Bedeutung Chinas für seine künftige Entwicklung162. 1979 und 1980 setzten beide Seiten die Gespräche fort, die sich um die Möglichkeit drehten, in China eine Jahresproduktion von 150.000 PKW aufzubauen. Wie immer in solchen Fällen hatten die Chinesen natürlich dafür gesorgt, daß die Volkswagen-Manager das Gefühl bekamen, möglicherweise zu spät zu kommen und den riesigen Markt an einen Konkurrenten zu verlieren: Die Funktionäre sprachen zu dieser Zeit auch mit Franzosen, Citroën hieß hier der Partner. Le 161 Carol Bargmann, "Kosmetik für die Männer Chinas", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.3.1983. Die wunderschöne Überschrift spielt an auf ein Kapitel im bis heute wohl lesenswertesten Wirtschaftsbuch zu China: "Pillen für die Krankheiten Chinas", in Carl Crow, Vierhundert Millionen Kunden, Berlin 1937, S. 200-214. a 8bcd8 efgh 162 So interpretieren es jedenfalls die Chinesen, vgl.: 2001 2001 Report of Transnational Corporations= Investment in China (chin.), Peking 2001, S. 211. 270 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Monde meldete am 9. Juni 1980, das Werk habe mit dem Kantoner Automobilwerk und dem Ersten Maschinenbau Ministerium einen Vertrag unterzeichnet, der die Montage der Modelle CX und GSA vorsehe. Das französische Blatt vergaß natürlich nicht zu erwähnen, daß es hier um einen Markt von nicht weniger als einer Milliarde Menschen gehe, ein Phantasme de constructeur - ein Ingenieurs-Traum, wie Le Monde das nannte. 1982, vier Jahre nach dem ersten VW-China-Kontakt, hatten sich die Verhandler soweit vorgearbeitet, daß sie verlauten ließen, VW werde möglicherweise ... einen Vertrag mit China unterzeichnen, den das VW-Werk als >Einstieg in die chinesische Automobilindustrie= wertet. Verhandlungspartner sei die Shanghaier Autofabrik SAIC (Shanghai Automobile Industry Corporation163). Vorgesehen sei die Montage des Modells Santana, VW werde die Teile liefern, die die Chinesen selbst zusammenbauen würden164. Doch es dauerte noch einmal drei Jahre bis SAIC und Volkswagen damit beginnen konnten, das Santana-Modell aus angelieferten Einzelteilen zu montieren. Im März 1985 verkündeten die Partner die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens Shanghai Volkswagen Automotive Ltd.165 Damit war VW nach etwa sieben Verhandlungsjahren der erste und bis Mitte der neunziger Jahre der einzige ausländische PKW-Hersteller im Lande. Die Kundschaft bestand ausschließlich aus staatlichen Stellen und Staatsunternehmen, zu denen auch die Taxigesellschaften gehörten. Die ausländische Konkurrenz kapitulierte derweil vor der chinesischen Zollmauer für PKW (100 Prozent) und blieb draußen. Nicht lange nach Produktionsbeginn ging VW ein zweites Joint Venture ein, diesmal mit der First Automobile Works166 in der nord163 i jklm Shàngh|i qì ch‘ gÇng yè. 164 "Zusammenarbeit zwischen VW und Steyr", vwd, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.5.1982. 165 166 i nojklmbc Shàngh|i dà zhòng qì ch‘ gÇng yè gÇng sì. pqjkrst Dì y§ qì ch‘ zhì zào ch|ng. 271 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE chinesischen Stadt 长春 Chángchãn. Ab 1988 erhielt diese Fabrik zunächst die Lizenz zum Bau des Audi 100167. Alles schien gut zu laufen für die Deutschen: Ende der neunziger Jahre lag ihr Anteil am chinesischen PKW-Markt bei 60 Prozent. Die bedeutendste Reformmaßnahme in der chinesischen Wirtschaft selbst war in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die Auflösung zunächst der Volkskommunen und alsbald auch aller Arten von Kooperativen, die Übertragung der Landnutzungsrechte (alles Land gehört dem Staat) an die Bauern und die Freigabe der Preise, was zu einem starken Wachstum der ländlichen Wirtschaft führte, weshalb die Parteiführung ähnliche Maßnahmen Mitte der achtziger Jahre zunehmend auf die städtische Wirtschaft und die Industrie übertrug. Während der gesamten achtziger Jahre trieben die Machthaber in Zentral- und Lokalbehörden auf wirtschaftlichem Gebiet die sogenannte Öffnung Chinas ohne nennenswerte Rückschläge voran. Der Außenhandel des Landes stieg von nur 3,8 Milliarden USDollar 1980 auf 11,1 Milliarden 1989 und die akkumulierten ausländischen Direktivestitionen von 1,8 Milliarden US-Dollar (1983) auf 16 Milliarden 1989. Nicht ganz so schnörkellos jedoch verlief die Öffnung des Landes im politischen Bereich. Das Verdikt über die Vergangenheit war zwar gesprochen: Fast alles, was die Partei unter Mao ab Ende der fünfziger Jahre getan hatte, war offiziell für falsch erklärt und die oberen Ränge der Machthaber waren zugleich von hartnäckigen Anhängern der alten Politik gesäubert worden. Doch waren auch die neuen Machthaber in und mit den alten Bewegungen aufgewachsen, und es fiel ihnen schwer, sich gänzlich von den alten Gewohnheiten zu trennen und eine lupenreine Politik der Reform und Öffnung zu verfolgen, wie die Partei ihre Linie bald nannte. Die Furcht, daß ihnen das Heft aus der Hand genommen würde blieb sehr groß. Schon 1983 suchten die Machthaber sogenannte ungesunde 167 Chinesisch: uv ào dí. 272 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Tendenzen durch eine Kritikkampagne gegen ausländische Mode wie Schlaghosen und Sonnenbrillen zu stoppen. Nur das Gute, hieß es, solle aus dem Ausland übernommen werden, die dekadenten Tendenzen aber sollten draußenbleiben. Das Definitionsmonopol für dekadent oder ungesund lag dabei einzig bei den Machthabern, Veteranen des Langen Marsches zumeist, die weit über siebzig Jahre alt waren, und die ständig ihre persönlichen Ansichten zum Maßstab der Gesellschaft zu machen suchten. Auf diese Gängelei antworteten -ausgehend von der Technischen Universität 合肥 Héféi (Provinz 安徽 }nhu§) Ende 1986 Studenten in zahlreichen Städten mit der Forderung nach mehr Freiheiten, die rasch zu Protesten wurden und schließlich in einer Demonstration von 60.000 Menschen in Shanghai gipfelten. Was mit Forderungen nach Verbesserung ihrer Studien-, Wohn- und Lebenssituation begonnen hatte, mündete umgehend in Kritik an Funktionären und schließlich dem lauten Ruf nach Demokratie und Freiheit. Unterstützung fanden die Studenten bei 方励之 F~ng Lìzh§, dem Prorektor der Technischen Universität von 合肥 Héféi. Die Parteiführung unter Deng unterstützte die Forderung nach einer Reform auch des politischen Systems nicht, weil sie fürchtete, das selbst ein geringes Öffnen dieser Schleuse rasch zu ihrem Machtverlust führen würde. Sie reagierte hart und kompromißlos, schloß 方励之 F~ng Lìzh§ wegen bürgerlicher Liberalisierung aus der Partei aus und entieß ihn fristlos aus den Diensten der Universität: Wer die Partei nicht unterstützt, soll auch nichts essen. (1989, als 方励之 F~ng Lìzh§ sich aktiv an der Pekinger Studentenbewegung, s.u., beteiligte, erklärte die Parteiführung ihn sogar zum Konterrevolutionär. Einer langjährigen Haftstrafe entgingen er und seine Frau nur durch die Flucht in die amerikanische Botschaft in Peking, von wo sie später heimlich in die Vereinigten Staaten gebracht wurden.) Ganz im hergebrachten Kampagnenstil begann die Parteipresse alsbald eine koordinierte Kritik an totaler Verwestlichung, der Negierung des Sozialismus und ähnlichem. Im Februar 1987 entmachtete eine erweiterte Sitzung des KP-Politbüros den Generalse273 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE kretär 胡耀邦 Hú Yàob~ng, der mit Deng in schwerer Zeit gegen die Viererbande und danach gegen den Mao-Nachfolger 华国锋 Huá Guóf‘ng gekämpft hatte, weil er die Forderungen nach einer Reform des politischen Systems unterstützt hatte, beließ ihm jedoch seine Mitgliedschaft im Zenralkomitee Zum Nachfolger ernannte das Gremium seinen bisherigen Stellvertreter 赵紫阳 Zhào Z0yáng, der gleichzeitig Premier des Staatsrates war. Weitere Parteiausschlüsse prominenter Mitglieder sollen den Drang nach poltischen (neben den wirtschaftlichen) Reformen vollends brechen. Zunächst aber gelang es dem vorsichtig taktierenden Generalsekretär und Premier 赵紫阳 Zhào Z0yáng, der selbst Reformen nicht abgeneigt war, auf der 1. Tagung des XII. Zentralkomitees im November 1987 eine starke Verjüngung des Gremiums durchzusetzen. Zahlreiche alte Funktionäre, die die Politik Chinas seit 1949 bestimmten, verließen den inneren Kreis des Ständigen Ausschusses des Politbüros und traten einem sogenannten Zentralen Beratergremium bei, darunter auch Deng, der jedoch das Amt des Vorsitzenden der Militärkommission behielt und so die Armee (und de facto alle Fäden der chinesischen Politik) weiter zur Hand hielt. (赵紫阳 Zhào Z0yáng selbst enthüllte 1989, daß es ein Arrangement gegeben habe, demzufolge Deng in allen entscheidenden Fragen das Recht der letzten Entscheidung behielt und damit bis zu seinem Tod Anfang 1997 der faktische Alleinherrscher Chinas blieb.) Im Anschluß an den XIII. Parteitag im Herbst 1987 erhöhte die Regierung unter 赵紫阳 Zhào Z0yáng das Reformtempo im Wirtschaftsbereich und schränkte den bislang totalen Zugriff der Behörden auf die Unternehmen etwas ein. Nicht mehr alle Gewinne mußten die Geschäftsführer (Funktonäre) abführen,und sie erhielten etwas mehr Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich der Produktion die so teilweise den Planvorgaben entkam. Wie zuvor in der Landwirtschaft so zeigten sich auch im industriellen, städtischen Bereich alsbald -im Vergleich zu vorhererfreuliche Resultate: Die Warenmenge nahm zu, neue Produkte kamen auf den Markt, der Bevölkerung begann es merklich besser 274 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE zu gehen. Im Sommer 1988 zeigten sich jedoch auch andere, für die Machthaber beunruhigende Nebenerscheinungen in Form einer ungewohnten Inflation, was bei der städtischen Bevölkerung zu fallenden Realeinkommen und entsprechender Unruhe führte. Eine bislang nicht gekannte soziale Differenzierung setzte ein, verschärfte sich schnell und bewirkte eine zunehmende Unzufriedenheit (Reiche nennen es Neid), die kontinuierlich anwuchs. Ähnlich wie der Tod des seinerzeitigen Premiers 周恩来 ZhÇu ÷nlái im Frühjahr 1976 zum Kristallisationspunkt eines aufgestauten Unzufriedenheitspotentials geworden war, gab 13 Jahre später, im Frühjahr 1989, der Tod des entmachteten, als reformfreudig geltenden ehemaligen Generalsekretärs 胡耀邦 Hú Yàob~ng (15. April 1989) erneut den Anlaß für Trauer und Proteste und innerhalb weniger Wochen eskalierte dies zu einer wahren Massenbewegung in der chinesischen Hauptstadt, die sich rasch organisierte, eigene Führer herausbildete und sich offen gegen die Herrschaft der KP und die Korruption ihrer Funktionäre richtete. Hunderttausende von Demonstranten, die aus allen Ämtern inklusive der Redaktion des Parteiorgans Volkszeitung auf die Straßen Pekings und den seit der 4. Mai Bewegung 1919 immer zentralisierenden, wie ein Magnet wirkenden Tian=anmen Platz zu Versammlungen strömten, verlangten eine radikale Änderung des politischen Systems Chinas und Ende April gar den Rücktritt der Hunderttausende, nicht nur Studenten, demonstrieren im Frühjahr 1989 in Peking gegen die Willkür-Herrschaft und Korruption der KP. 275 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Regierung - eine Ungeheuerlichkeit, mit der die Machthaber noch nie konfrontiert worden waren168. Am 26. April veröffentlichte das autoritative Parteiblatt Volkszeitung einen warnenden Leitartikel mit dem Titel Es ist notwendig, eine klare Haltung gegen das Chaos einzunehmen, der die Massenbewegung als geplantes Komplott (natürlich einer Minderheit) denunzierte. Dies sei der ernsteste politische Kampf für die Partei und die gesamte Nation. Mit hoher Geschwindigkeit, ganz wie zu Beginn der Kulturrevolution, traten immer neue Führer der Massenbewegung hervor, bildeten sich neue Organisationen und erschienen nicht kontrollierte Publikationen. Es zeigte sich wieder einmal, daß im Angesicht eines versteinerten politischen Systems die Machtfrage sehr schnell gestellt wird, weil den Herrschenden Kompromisse kaum möglich sind, ohne gleich selbst zur Disposition zu stehen. Nachgeben in einem Punkt beruhigt die Lage nicht, sondern bringt sie, im Gegenteil, insgesamt ins Rutschen, da sofort an anderer Stelle neue Forderungen auftauchen. Die Schwäche der Bewegung war jedoch ihre Uneinheitlichkeit, eine fehlende, effekive zentrale Führung nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei. Immer wieder ermöglichten es widersprüchliche Beschlüsse und Forderungen den Machthabern, diese auszunutzen, ihre Gegner zu spalten und selbst zu eigener Einheit zu gelangen, die die Grundvoraussetzung für ihre Herrschaft ist. Die Demokratiebewegung, wie die Unruhen heute pauschal 168 Die dramatischen Abläufe der Bewegung und die hektischen, zunächst hilflosen, dann aber entschlossen-brutalen Reaktionen der um ihr Leben kämpfenden KP-Führung umd Deng Xiaoping sind in dem spannenden Buch von Zh~ng Liáng (herausgegeben von Andrew J. Nathan und Perry Link), The Tiananmen Papers, Public Affairs, New York, 2001 detailliert dargstellt. Nach Angaben der Herausgeber beruht der Inhalt des Buches großenteils auf internen oder gar geheimen Papieren der Parteiführung, Beschlüssen und Gesprächsprotokollen, die ein hochrangiges Parteimitglied namens Zh~ng Liáng aus China herausgeschmuggelt habe. Der Name ist dabei ein Pseudonym und geht zurück auf eine gleichnamige Person am Ende der Streitenden Reiche. Zh~ng Liáng soll in seiner Jugend vergeblich versucht haben, den späteren Ersten Kaiser zu ermorden. Später soll er Liú Bang geholfen haben, die Qín-Dynastie zu stürzen und die Hán zu errichten. vw vw vw { xy 276 z LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE außerhalb Chinas heißen, zeigte überdies, in welch rasender Geschwindigkeit sich in China Menschen zu Hunderttausenden zusammenfinden können, sobald sie eine Chance sehen, etwas zu erreichen. Gerüchte haben dabei eine große mobilisierende Wirkung, und Gewaltanwendung der anderen Seite schreckt zunächst nicht unbedingt ab. Politische Bewegungen in China, auch dies zeigte sich, sind immer schrecklich emotional und theatralisch mit dem Ablegen von Eiden, Selbstmorden, Opfern, dem Errichten von Götterstatuen und natürlich den pathetischen Worten China, Vaterland und Patriotismus. Im Mai sah sich das Regime mit Hunderttausenden Demonstranten konfrontiert, keineswegs nur Studenten, und so sehr in Frage gestellt, daß die Machthaber sich entschieden, die mittlerweile als 反动动乱 f|n dòng dòng luàn konterrevolutionäres Chaos bezeichnete Bewegung mit militärischer Gewalt niederzuschlagen. Diese Entscheidungsfindung im obersten Parteigremium, dem Ständigen Ausschuß des Politbüros war nicht einfach, denn das Gremium war gespalten: Sein Generalsekretär, 赵紫阳 Zhào Z0yáng, sperrte sich gegen ein gewaltsames Vorgehen. Damit war die schlimmste denkbare Situation für die Machthaber eingetreten: eine Spaltung des Inneren Zirkels. Zum Glück bestand diese Opposition jedoch nur aus einer Person und konnte das Problem so durch die de facto-Entmachtung des Parteichefs 赵紫阳 Zhào Z0yáng bereits am 24. April gelöst werden (ohne, daß die Öffentlichkeit davon erfuhr). Am 20. Mai dann beschloß ein informeller Kreis von Alt-Funktionären, die dem Zentralen Beratergremiun angehörten, angeführt vom de facto obersten Machthaber 邓小平 Dèng Xi|op§ng, unter Umgehung der Parteisatzung, den damaligen Shanghaier Parteichefs 江泽民 Ji~ng Zémín als Parteichef einzusetzen169. >?@ # Dies geht deutlich aus dem im Sommer 2004 veröffentlichten | Dèng Xi|op§ng nián pß Biographische des Dèng Xi|op§ng hervor. An der Péng } DatenABC ~ Einsetzung waren Deng sowie Chén Yún, L0 Xi~nniàn, YángShàngkãn, Wáng Zhèn, L0 Péng, Qiáo Shí, Zh‘n, Yáo Y§lín, Sòng P§ng und andere beteiligt, also Personen, die gar 169 277 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Am 19. Mai verhängte der damalige Premierminister 李鹏 L0 Péng -wiederum auf Basis einer Absprache mit dem informellen Inneren Kreis um Deng Xiaoping- mit Hilfe eines Beschlusses des Ständigen Ausschusses des Politbüros (ohne dessen abgesetzten Leiter 赵紫阳 Zhào Z0yáng), und im Namen des Staatsrates das Militärrecht über die chinesische Hauptstadt. Ziel sei es, Einheit und Stabilität wiederherzustellen und das reibungslose Vorankommen von Reform und Öffnung und des Aufbaus der sozialistischen Modernisierung zu sichen170. Drei Wochen aber dauerte es in der Folge noch, bis die Machthaber ihre Armeeeinheiten mobilisiert und aus der Provinz nach Peking gebracht hatten, wo sie langsam in Richtung Zentrum vorrückten, dabei immer Tausenden Demonstranten gegenüberstehend, die sie -oft mit Erfolg- zum Nichtbefolgen ihrer Befehle zu bewegen suchten. In der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1989 erhielten die ArmeeEinheiten den Befehl, den Platz des Himmlischen Friedens, das politische Herz Chinas, auf dem immer noch Tausende Demonstranten trotz des Militärrechts ausharrten, zu räumen. Ihrem entschlossenen Vorgehen (Massaker), bei dem sie ausgiebig von ihren Schußwaffen Gebrauch machten, fielen nach heutigen Erkenntnissen nahezu tausend, meist junge Leute zum Opfer. Erstmals in der Geschichte war das Ausland während dieser über Monate sich hinziehenden höchsten politischen Krise in China sozusagen live dabei, denn der noch relativ neue US-Nachrichtensender CNN übertrug die Ereignisse als sie stattfanden. Vor dem Hintergrund der zu dieser Zeit in Osteuropa sich quasi täglich verschärfenden und nicht mehr zu übersehenden Auflösungserscheinungen des Sowjetblocks, die als erstes die Deutschen betrafen (Ungarn hatte im Frühjahr seine Grenzen geöffnet und täglich mehr keinem Parteigremium mehr angehörten bzw. nicht einmal der gesamte Ständige Ausschuß des Politbüros, von einem größeren Kreis ganz zu schweigen. Siehe: Dèng Xi|op§ng nián pß, Band 2, S. 1277. L0 Péng: ¡¢£¤¥¦§¨©ª «¬­®¯°±²³´µ¶· 170 278 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Flüchtlinge aus der DDR suchten über die ungarisch-österreichische Grenze in die Bundesrepublik zu gelangen), gerieten die Ereignisse in China rasch in den Mittelpunkt des westlichen Interesses. Ein gigantischer Systemzusammenbruch schien sich abzuzeichnen, ein seit vierzig Jahren als bedrückend, unbeweglich, versteinert und wohl unzerstörbar angesehenes Staatensystem der Despotie löste sich auf. Und China schien dabeizusein! Diese Wahrnehmung und die sehr erregenden live Bilder erst von den monatelangen Pekinger Protesten, dann ihrem blutigen und brutalen Ende und dem gänzlich unverholenen und in seiner Primitivität nur schwer zu überbietenden offenen Triumph der siegreichen Machthaber (jeder der schießenden Soldaten erhielt als Auszeichnung eine Armbanduhr geschenkt, Verhaftete junge Leute wurden im Fernsehen als armselige Gestalten vorgeführt) über ihre erfolgreiche Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung bewirkten in Westeuropa und in den USA eine große und in vielen Teilen der Bevölkerung nachhaltige Abscheu über und Verachtung für die chinesische Führung. Das Regime seinerseits ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Der die Befehle Deng Xiaopings ausführende Premier 李鹏 L0 Péng war ab der Kriegsrecht-Verhängung der öffentlich wahrnehmbare, handelnde Machthaber. Er führte aus, was Deng im Hintergrund, bei Besprechungen mit gar nicht zu Entscheidungen legitimierten Altfunktionären in seinem Wohnzimmer befahl. 李鹏 L0 Péng trieb Dengs Anordnungen voran, verkündete und rechtfertigte sie ohne Wenn und Aber. 赵紫阳 Zhào Z0yáng wurde nach der endgültigen Niederschlagung der Protestbewegung am 23./24. Juni, auf der 4. Plenartagung des 13. Zentralkomitees für seine Haltung zu den Protesten kritisiert und nun auch offiziell aller seiner Ämter enthoben. Er ist bis heute eine Unperson (wird nicht erwähnt, erscheint nicht auf historischen Bildern) und steht in Peking unter Hausarrest. Zu seinem Nachfolger wählte die ZK-Versammlung den bis dahin der in- und ausländischen Öffentlichkeit eher Unbekannten 江泽民 Ji~ng Zém§n, Parteisekretär von Shanghai, der freilich 279 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE bereits einen Monat vorher, am 20. Mai, von einem statuarisch nicht vorgesehenen Gremium und unter Umgehung des Parteistatuts, zum Nachfolger des entmachteten 赵紫阳 Zhào Z0yáng ernannt worden war. Damit herrschte in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 zwar wieder Ordnung auf den Straßen, war der Innere Kreis der Machthaber wieder einig und sorgte die gnadenlose Verfolgung aller, die sich aufmüpfig gezeigt hatten, für Friedhofsruhe im Volk, doch waren die den Demonstrationen zugrunde liegenden Ursachen keineswegs beseitigt. Die Unzufriedenheit hatte vor allem deshalb ein solch breites Ausmaß erreicht, weil die Reformen des Wirtschaftssystems zu Inflation und damit dem Herausfallen breiter städtischer Bevölkerungsschichten aus der gewohnten Sicherheit geführt hatten. Schon vor den Unruhen war es wegen dieser Entwicklungen zu Debatten unter den Machthabern gekommen. Wie weit konnte man gehen, ohne das überkommene Herrschaftssystem und damit die eigene Position als Machthaber zu gefährden? Ein Teil der Funktionäre befürwortete schon seit längerem ein Zurückdrehen der Wirtschaftsreformen, während ein anderer Teil, zu dem der Parteichef 赵紫阳 Zhào Z0yáng gehört hatte, ein schnelleres Vorangehen favorisierte. Gerade diese Fraktion fand sich im Herbst 1989 personell wie ideologisch stark geschwächt wieder. Die unaufhaltsame Auflösung des ehemaligen Ostblocks und die gerade überstandene akute Systemkrise zu Hause verschafften den Reformgegnern im Herbst 1989 Auftrieb und weitere Argumente, die sie im folgenden auch in praktische Maßnahmen umsetzen konnten, um die gerade geschaffene Marktmechanismen zugunsten einer Rückkehr zur Planwirtschaft wieder außer Kraft zu setzten. Anführer dieser Fraktion war der seinerzeit bereits über 80jährige Parteiveteran 陈云 Chén Yún, der in den fünfziger Jahren maßgeblich das Planwirtschaftssystem in China organisiert und stets der obersten Parteiführung angehört hatte. Dort besaß er zu diesem Zeitpunkt zwar keine offizielle Position mehr, aber als Leiter eines sogenannten 中央顾问委员会 ZhÇng y~ng gù wèn wi yuán huì Zentralen Beraterkomitees, in das alle sehr alten Ex280 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Parteiführer Ende der 80er Jahre von Deng abgeschoben worden waren, übte er weiter großen Einfluß auf die Politik, insbesondere die Wirtschaftspolitik aus. Die gerade überwundene Krise und die Einsetzung einer neuen Parteiführung verstärkten seinen Einfluß noch mehr. Während der auf die Krise folgenden Jahre 1990 und 1991 gelang es 陈云 Chén Yún und seinen Bundesgenossen, die von Deng weiter vertretene Reform und Öffnung der chinesischen Wirtschaft zu konterkarieren und, wenn nicht auf einen Weg zurück, so doch in einen Stillstand zu führen. Insbesondere das Hereinkommen ausländischen Kapitals und ausländischer Unternehmen kritisierte die Fraktion um 陈云 Chén Yún171 als Ausverkauf Chinas und Abkehr vom Sozialismus (den auch Deng gewahrt sehen wollte). Deng, der 1991 bereits 88 Jahre alt und ganz offenbar gebrechlich war, versuchte, diesen Widerstand dadurch zu überwinden, daß er sich immer wieder in die Politik einmischte und darauf drängte, schneller und mutiger voranzugehen, keine Angst zu haben, das Ungewöhnliche zu probieren und dabei auch Fehler in Kauf zu nehmen. Damit stand er nicht alleine. Zwar nahm die 陈云 Chén Yún-Fraktion in dieser Zeit einen starken Einfluß auf die Machtzentrale in Peking, doch hatte die Reformpolitik der achtziger Jahre vor allem in Südchina (广东 Gu~ngdÇng) und einigen Provinzen an der Ostküste (insbesondere 浙江 Zhèji~ng und 福建 Fújiàn) bereits zu Ergebnissen geführt, die die dortigen Machthaber nicht wieder aufgeben wollten. Einen weiteren starken regionalen Bundesgenossen gewann Deng dadurch, daß er nun auch die Funktionäre Shanghais, der wichtigsten Industriestadt Chinas, immer wieder und sehr deutlich drängte, im großen Stil mit Wirtschaftsreformen und dem Aufbau einer Sonderwirtschaftszone im Stadtteil 浦东 PßdÇng voranzugehen. Gestützt auf seine eigene Autorität sowie Macht und Einfluß der 171 Eine gut dokumentierte zeitgenössische Übersicht: Peter Schier, Deng Xiaopings letzte Entscheidungsschlacht um Chinas Zukunft in China aktuell, April 1992 (S. 228-235) und Mai 1992 (S. 305-309). 281 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Provinzen und Shanghais holte Deng im Februar 1992 zum entscheidenden Schlag gegen die retardierenden Kräfte aus: Der alte Mann besuchte im Rahmen einer -wie es bei den Kaisern üblich war- 南巡 nán xún Inspektionsfahrt in den Süden die Wirtschaftsson- Sein letzter Kraftakt: Der alte Deng in ¸¹ Sh‘nzhèn, Januar 1992. derzonen 深圳 Sh‘nzhèn und 珠海 Zhãh|i in der unmittelbaren Nachbarschaft Hongkongs bzw. Macaos (und fuhr anschließend nach Shanghai). Gerade sie hatten seinen Gegnern immer wieder Argumente zur Kritik der Reformpolitik geliefert, denn hier hatten sich durch die Ansiedlung inwischen Tausender Hongkonger Betriebe auch die sogenannten dekadenten Hongkonger gesellschaftlichen Verhältnisse eingestellt - Bars, Rotlichtbezirke und Korruption. In direktem Angriff auf diese Argumentation ließ sich der alte Deng gerade durch diese Städte des Bösen, in die Börse von 深圳 Sh‘nzhèn, auf die neuen Hochhäuser und in Fabriken dort führen, wo er die wirtschaftliche Entwicklung und die entsprechende Politik der dortigen Parteifunktionäre unaufhörlich lobte und dem ganzen Land als Vorbild empfahl. Anschließend forderte er in Shanghai die dortigen Funktionäre ebenfalls auf, beherzt voranzugehen und auf der Halbinsel 浦东 PßdÇng eine Wirtschaftssonderzone einzurichten. Entsprechende Kapitalmengen stellte die Zentralregierung anschließend in großer Menge zur Verfügung. Nach kurzem Zögern, ausgelöst durch den anhaltenden Widerstand der Kreise um 陈云 Chén Yún, griffen die neuen Machthaber um 江泽民 Ji~ng Zém§n und dann auch die zentrale Pekinger Parteipresse diese letzte Weichenstellung des alten Deng auf und propagierten sie im ganzen Land. Ein Satz Dengs, den er schon Jahre zuvor in der ideologischen Auseinandersetzung zur Entmachtung der Maoisten gebraucht 282 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE hatte172, kam gerade im Zusammenhang mit dieser Inspektion zu ganz neuen und diesmal landesweit durchschlagenden Ehren: 致 富光荣 zhì fù gu~ng róng Reich sein ist ehrenvoll. Mit diesen vier Zeichen wischte der alte Mann alle Ideologien und Ängste, sie zu übertreten, beiseite und rührte an den Nerv der damals 1,2 Milliarden Chinesen oder, wie es eine Rückschau anläßlich seines 100. Geburtstages im August 2004 formulierte: Dengs Aufruf, wonach reich sein ehrenvoll ist, setzte eine Massenkultur frei, die alles angriff, was bisher war. Alle, landauf und landab, gingen in die Wirtschaft [下海 xià h|i - stürzten sich ins Meer] und sahen im Geschäftemachen [经商 j§ng sh~ng] ihre größte Aufgabe.173 Diesem seither weltweit bekannten Aufruf fügte Deng ausdrücklich hinzu: Es macht nichts, wenn einige Leute und einige Gegenden zuerst reich werden174 - ein Freibrief zum Geldverdienen ohne Ende. Jedenfalls sahen und sehen das Millionen Chinesen so und lassen ihrem wirtschaftlichen Ziel des Reich Werdens seit den frühen neunziger Jahren freien Lauf. Zu ihnen gehörten als erste die Funktionäre des Regimes, die Machthaber in China,, die die politischen Rahmenbedingungen bestimmen - von der Zentrale ganz oben bis in die Regionen ganz ganz unten, dem Parteisekretär im Bauerndorf, vom Minister über º 172 So erzählte es Deng jedenfalls dem amerikanischen Journalisten Mike Wallace, der ihn am 2.9.1986 interviewte, ein Gespräch, das auch in die Dèng Xi|op§ng wén xu|n Ausgewählten Werke mit einging (Band 3, S. 171172). » A¼½¾¿@ ÀÁÂÃÄÅÆÇÈɺÊËÌÍÎÏÐÑÒÓÔÕ àá Z‘ng Huìyàn, âãäÒåæçèéêëìí Ö×>ÔØ= Ù>ÚÛ= ÇÜÈÝÞ . ß Qí lù ZhÇng Guó: Zh§ shi fèn z0 jù jué yí wàng China am ñ Scheideweg: Die Intellektuellen weigern sich zu vergessen, in : îïð Shì jiè zhÇu k~n, 173 31.8.2004. 174 òÎóèôÙÎóèõö÷½øÆ ràng y§ bù fen rén, y§ bù fen dì qã xi~n fù q0 lai. 283 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE die Amtsleiterhierarchie bis zum Fabrikdirektor - jeder begann Geschäfte zu machen, die nach dem Prinzip funktionierten: Gewinne für mich, Verluste für die Allgemeinheit. Dazu gehörte es auch, im Rahmen seines jeweiligen Machtbereichs die günstigsten Bedingungen für wirtschaftliche Transaktionen zu schaffen. Als ergiebigster Partner dabei erwiesen sich die aus dem Ausland hereinkommenden Investoren, denn sie besaßen das für Geschäfte nötige, in China immer noch fehlende Kapital sowie das know-how in Technik und Entwicklung. Eine administrative Hürde nach der anderen räumten die Machthaber ihnen und sich selbst beiseite, um den Weg für die hereinströmenden Dollars zu verbreitern. Dabei hatten sie nach Dengs Süd-Inspektion Jahr für Jahr grössere Erfolge, und die seit seit der Industrialisierung in Europa vorherrschende Sicht Chinas als des größten Marktes der Welt begann sich im wahrsten Sinne des Wortes für China auszuzahlen: Ab Mitte der neunziger Jahre flossen jährlich vierzig bis fünfzig Milliarden Investitions-Dollars ins Land hinein, Zehn-, ja Hunderttausende ausländisch finanzierter Fabriken entstanden und produzierten in joint venture-Form oder ganz in ausländischem Besitz stehend Spielzeug, Textilien, Elektro- und einfache elektronische Geräte für den Export, bald aber auch PKW, Pharmazeutika, chemische Grundstoffe und Investitionsgüter, die ihren Absatz auf dem chinesischen Markt finden sollten. Indes brachten Europäer, Amerikaner, Koreaner, Taiwaner und schließlich auch Japaner nicht nur Kapital nach China. Genauso bedeutsam für die weitere wirtschaftliche Entwicklung war der damit einhergehende Import und die Verbreitung von Produktionsund Vermarktungs-know-how, das rasch Eingang auch in rein chinesische Betriebe fand (und findet) und dort einen erheblichen Beitrag zur Modernisierung der Produktpaletten leistete. Gegen Ende der neunziger Jahre waren insgesamt um die 800 Milliarden Dollar ausländischer Direktinvestionen in China angelegt worden. Etwa die Hälfte der Importe und Exporte nach und aus China entfielen auf Unternehmen, die mit ausländischem Kapital und know-how arbeiteten. 284 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE Dieses rasante Wachstum und die bald erreichte starke, ja dominierende Stellung ausländischer Interessen in China verstärkten den Druck auf die Machthaber, diesen Interessen mehr Spielraum zu gewähren, so daß Renditen auf das eingesetzte Kapital überhaupt erst möglich werden konnten. Überall und ständig stießen die internationalen Investoren nämlich auf Beschränkungen ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit zugunsten einheimischer Konkurrenten und zu ungunsten ihrer eigenen freien Entfaltung. Und im Exportgeschäft bestand immer die Gefahr, daß Exportmärkte in Amerika und Europa unilateral geschlossen wurden. Hier hatte das ausländische und chinesische Verlangen seinen Ursprung, China in eine internationale Handelsorganisation einzubinden. Die Ausländer hofften, sich dadurch den chinesischen Markt vollständig zu öffnen und die Chinesen, es Protektionisten in Amerika und Europa zu erschweren, Produkte made in China durch einseitige Maßnahmen fernzuhalten. Wie 150 Jahre zuvor, zur ideologischen Rechtfertigung des Opiumkrieges verlangten die Ausländer Freihandel, Gleichberechtigung und Rechtssicherheit in China, kurz, eine Beschneidung der bislang unumschränkten, willkürlichen Verfügungsgewalt der Herrschenden über ihren Staat. Getrieben von diesen und den eigenen Interessen nahm die Parteiführung Zug um Zug ihren Einfluß auf die Wirtschaft und damit zusammenhängende Bereiche der chinesischen Gesellschaft zurück und beschränkte sich mehr und mehr darauf, die Entwicklung mit makroökonomischen Mitteln wie der Geldpolitik zu steuern. Der Beitritt Chinas zur World Trade Organisation (WTO) Ende 2001 war in diesem Prozeß ein wichtiger Meilenstein: Erstmals in seiner Geschichte hat sich das Land damit einem System von Regelungen unterworfen, die zwar in China gelten, aber nicht mehr unilateral in Peking aufgestellt und überwacht werden, sondern deren Zustandekommen und Durchsetzung vom Zusammenspiel internationaler Kräfte, der WTO-Mitglieder, abhängt. Damit ist die Politik der Öffnung, die Mao 1971 mit der Einladung des amerikanischen Präsidenten Nixon nach China 285 LERN-UNTERLAGEN CHINESISCHE GESCHICHTE einleitete und die Deng Anfang der achtziger Jahre um die Komponente 改革开放 g|i gé k~i fàng Reform und Öffnung des Wirtschaftssystems ergänzte, endgültig umgesetzt. Das chinesische Volk war, wie Mao 1949 bei der Staatsgründung sagte, aufgestanden. 2001 nun hat es einen entscheidenden Schritt hinaus in die Welt getan. Wie die damit lebt und leben wird, wenn 1,3 Milliarden selbstbewußte Menschen, ein Viertel der Erdbevölkerung, den als ihnen zustehend empfundenen Platz in dieser Welt einnehmen und wie sie das anstellen, ist ein Thema nicht mehr für dieses Geschichtsbuch, sondern für den laufenden Unterricht am Ostasieninstitut der FH Ludwigshafen. O 完 ùú Xiù Cai erscheint monatlich, aus aktuellem Anlaß öfter. Herausgeber: Ostasieninstitut der FH Ludwigshafen, Dr. Jörg-M. R udolph. Veranwortlicher Redakteur: Dr. Jörg-M. Rudolph. Anschrift: Ostasieninstitut der Fachhochschule Ludwigshafen, Rheinuferstraße 6, 67061 Ludwigshafen. Tel. 0621-586670, Fax 5866777, email: [email protected] Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Ansicht der Herausgeber wieder.