XiuCaiNo43 - Ostasieninstitut

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[xiù cai - sju
tsai]
2004
10 1 ( 43)
Einblicke in die Welt der Chinesen für die Freunde des Ostasieninstituts der FH Ludwigshafen
Jörg-M. Rudolph
Etwas Chinesische
Geschichte...
... für Betriebswirte
und Expats in der chinesischen Welt
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Inhalt
Mythologisches China @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 6
Mythologisch-Dynastisches China @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 10
夏 Xià (-2100 bis -1600, mythologisch)
12
商 Sh~ng (-1600 bis -1046)
16
周 ZhÇu (-1046 bis -476)
19
战国 [战国] Zhàn Guó Streitende Reiche (-475 bis -221)22
Dynastisches China @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 58
秦 Qín (-221 bis -207)
58
汉 [汉] Hàn (-206 bis 220)
62
三国 [三国] S~n Guó Die Drei Reiche (220 bis 280)
68
晋 Jìn (265 bis 420)
71
南北朝 Nán Bi Cháo Südliche und Nördliche Dynastien
(420 bis 581)
73
隋 Suì (581 bis 618)
76
唐 Táng (618 bis 907)
78
五代十国 Wß Dài Shí Guó Fünf Dynastien und Zehn
Staaten (907 bis 960)
86
宋 Sòng (960 bis 1279)
87
辽 [辽] Liáo (916 bis 1125)
96
金 J§n (1115 bis 1234)
98
元 Yuán (1271 bis 1368)
99
明 Míng (1368 bis 1644)
103
清 Q§ng (1644 bis 1911)
115
中华民国 [中华民国] ZhÇng Huá Mín Guó Republik China
(1911 bis 1949) @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 162
中华人民共和国 ZhÇng Huá Rén Mín Gòng Hé Guó
Volksrepublik China (1949 bis heute) @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ @ 191
2
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
WARUM EIGENTLICH SOLLTEN STUDENTEN DER
BETRIEBSWIRTSCHAFTSLEHRE CHINESISCHE
GESCHICHTE LERNEN?
E
ine kleine Umfrage, die ich unter den Erstsemestern des Ostasieninstituts
im Herbst 2002 anstellte (und ein Jahr später mit dem neuen Semester
wiederholte), gibt etwas Aufschluß darüber, wie Studenten das sehen,
deren Ziel es ist, später einmal in China -als echte Unternehmer oder als
Mannager für eine Firma- ganz praktisch Geschäfte mit Chinesen abzuwickeln.
Ich bat die neunzehn Teilnehmer des Geschichtskurses eingangs, einmal zu
bewerten, für wie wichtig sie vor dem Hintergrund ihrer Berufsperspektive die
Kenntnis der chinesischen Geschichte halten. Auf einer Skala von null Punkten
für keine Bedeutung bis fünf Punkten für größte Bedeutung sollte die Bewertung vorgenommen werden.
Das Ergebnis war für mich überraschend: 74 Punkte, oder -alle zusammen
im Durchschnitt- 3,9 Punkte, lag gar nicht weit weg vom Höchstwert 5.
Gleichzeitig vergaben sie für ihre eigenen Kenntnisse auf diesem Gebiet (nach
Schulnoten) mit durchschnittlich 4,8 ein glattes Mangelhaft. Für einen Dozenten, der das Thema unterrichtet, auf den ersten Blick eine hervorragende Startbedingung: Hier scheinen trockene Schwämme auf Wasser zum Stillen des
Wissensdurstes zu warten...
Aber es ist -auf den zweiten Blick- auch ein eigenartiges Ergebnis: Man
weiß nur mangelhaft über den Gegenstand bescheid, bewertet ihn aber dennoch
als sehr wichtig.
Warum glaubt eigentlich jemand, der später eher profane Dinge der
Warenwelt wie Garagentore oder chemische Anlagen in China verkaufen will,
3
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
daß die Dynastien, das komplizierte und uns sehr fremde Herrschaftssystem
sowie die ungemein lange chinesische Geschichte so bedeutsam für seine
Tätigkeit sind?
Ich glaube, dieses Phänomen liegt in einer intuitiven, aber sehr richtigen
Wahrnehmung Chinas begründet, eines Landes, das mit der eigenen europäischen Welt so rein gar nichts zu tun hat. Die Studenten stehen vor einem
Rätsel: Das Land der beruflichen Ziele kommt ihnen -im wahrsten Sinne des
Wortes- chinesisch vor, sie begreifen es so wenig, wie andere Parteichinesisch
in Deutschland verstehen. Die rätselhaften, mysteriösen Schriftzeichen, die
vielfach als unlernbar eingeschätzte chinesische Sprache, das undurchschaubare
Herrschafts- und Verwaltungssystem dieses Landes erheben sich wie seine
physische hier aber als geistige Große Mauer vor jedem Europäer, und auch die
Studenten stehen da wie der Ochs= vor=m neuen Tor. Aber gerade dieses China
ist doch die Welt, in die es sie zieht, in der sie sich zurechtfinden und sogar als
erfolgreiche Manager bewegen wollen.
In dieser etwas unheimlichen Situation, kurz vor dem Passieren der Großen
Mauer, vermuten sie wohl, daß Kenntnisse der Geschichte dieses fremden,
eigenartigen Landes und Volkes der Schriftzeichen beim Weiter- und
Überleben dort helfen werden. Sie hoffen, über die Kenntnis seiner Entwicklung in der Geschichte, etwas Halt beim Umgang mit den eigentümlichen
Chinesen zu gewinnen. Und sie haben ganz recht damit.
Hier sind ein paar Gründe, warum Wissen um wenigstens einige Aspekte
der chinesischen Geschichte auch heute, sogar für einen Firmenvertreter, im
Mittelreich direkt nützlich sind:
# Chinesen ruhen mehr als andere in ihrer Geschichte (oder dem, was sie
dafür halten), dies zeigt der anhaltende Gebrauch der einzigartigen Schriftzeichen ebenso wie die ständigen Neuauflagen berühmter alter Romane
(Die Drei Reiche, Die Reise nach dem Westen etc.) und die ständige
Nutzung der 成语 chéng yß Vier-Zeichen-Sprichwörter, die ihre Bedeutung häufig aus geschichtlichen Ereignissen beziehen. Die Vergangenheit
lebt bis heute in diesem Land, viel mehr als in irgend einem anderen.
# Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist die Geschichte Chinas die
der Abschließung nach außen, des Sich-nicht-in-die-Karten-Sehen-Lassens.
Auch dafür stehen die Schriftzeichen. Chinesen verspürten nie den Drang
nach Draußen, der die Europäer im 15./16. Jahrhundert um die ganze Welt
trieb. Trotz ihres 财神 cái shén Gottes des Reichtums war ihnen die Suche
nach Gold und Abenteuer eher fremd. Ebenso fehlte es ihnen an einem
Sendungsbewußtsein, das durch Ausschaltung unterlegener Völker zu
großen Kolonialreichen geführt hätte. Den Einbruch Europas in diese abgeschlossene, sich selbst genügende Welt im neunzehnten Jahrhundert empfanden (und empfinden) die Chinesen als Schmach und Schande, denn er
machte ihnen unwiderlegbar klar, daß sie nicht (wie sie meinten) an der
4
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Spitze der Menschheitsentwicklung marschierten, sondern ziemlich weit
hinten, daß sie den Barbaren auf allen Gebieten unterlegen waren. Die
Konsequenz dieser Demütigung (aber nicht Brechung) des chinesischen
Stolzes zeigt sich bis heute in dem anhaltenden, alles andere überlagernden
Bestreben nach Anerkennung, ja danach, wieder die Nummer eins auf der
Welt zu werden.
# Die chinesische Geschichte zeigt uns ein Volk mit viel Religion, aber ohne
organisierte Kirche, ohne Missionare, Inquisitoren, Hexenverbrenner oder
andere Ideologen und demzufolge auch ohne Fanatismus und dem, was er
für die Unterlegenen bedeutete. Erst die Krise der chinesischen Welt und
der Versuch, sie mit einer europäischen Ideologie zu überwinden, setzten
die dunklen Kräfte des Fanatismus frei.
# Die Geschichte der Chinesen zeigt uns ein Volk der unendlichen Beliebigkeit, das lieber zusammenschmeißt, statt sich für eins zu entscheiden
(und es dann universell, gegen andere durchzusetzen). Es reiht Fremdherrschaften als Dynastien in die Geschichte Chinas ein, verehrt Konfuzius,
den Gegner von Religion und Aberglauben, ebenso als Heiligen und Gott
wie Buddha oder 老子 L|o Z0 und die zahllosen daoistischen Götter und
betreibt heute die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals als Sozialismus (mit chinesischen Charakteristika).
# Die chinesische Geschichte hat kein Jahr Eins, ihr fehlt der Bezugspunkt
auf einen Ursprung des Zeitstrahls, der der europäisierten Welt seit langem
zur Gewohnheit und Orientierung, zum Maß des Fortschritts, geworden ist.
China ist zeitlos, rechnet in Dynastien und fängt nach deren Sturz wieder
von vorne an - bis heute, da von einer Vierten Generation der KP-Führung
die Rede ist (gerechnet ab dem Dynastiegründer 毛泽东 Máo ZédÇng.
All dies macht China auch heute noch zu einer eigenen Welt, die mit der
unseren in Europa nur die Anwesenheit auf dem gleichen Planeten teilt,
weshalb in China zwar die Naturgesetze gelten wie bei uns, sonst aber nicht
viel.
Wir sind uns dieser Fremdartigkeit des Landes und Volkes hinter der
Mauer intuitiv bewußt. Aus ihr resultiert ein Großteil seiner fast magischen
Anziehungskraft auf uns. Wir wollen dort hingehen, aber vorher auch wissen,
wie wir damit umgehen können. Nützliche Anhaltspunkte für letzteres nun
liefert uns ein komprimierter Gang durch die chinesische Geschichte. Und
deshalb ist es sinnvoll, sich im Rahmen des betriebswirtschaftlichen Studiums
am Ostasieninstitut der FH Ludwigshafen auch mit chinesischer Geschichte zu
befassen. Jedenfalls wenn die berufliche Zukunft mit China und seinen vielen
Bewohnern zu tun haben soll.
Dr. Jörg-M. Rudolph
Ludwigshafen, 22.9.2004
5
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
MYTHOLOGISCHES CHINA
盘古 [盘古] 开天
Pán Gß k~i ti~n
So geht die chinesische Sage von der Erschaffung der Welt:
Bevor es Menschen gab, waren Himmel und Erde im eiförmigen
Chaos vermischt. Nach 18.000 Jahren erwachte plötzlich der
darin enthaltene 盘古 Pán Gß. Da er nichts sehen konnte, ergriff er seine riesige Axt und schwang sie mit aller Kraft nach
vorne. Ein gewaltiger Kawumm war zu hören, das Ei öffnete
sich. Der leichte, reine Inhalt schwebte nach oben heraus und
formte nach und nach den Himmel. Die schweren und trüben
Inhalte sanken nach unten, verdichteten sich mit der Zeit und
bildeten die Erde. 盘古 Pán Gß fürchtete aber, daß sie sich
wieder vereinen würden und trat deshalb mit seinen Füßen auf
die Erde, während er mit dem Kopf den Himmel hielt. So drückte er den Himmel täglich höher und die Erde tiefer, bis er
schließlich, als Himmel und Erde gefestigt waren, fiel und
starb. Sein letzter Atem verwandelte sich in den Wind und die
Wolken, seine Stimme wurde zu Blitz und Donner, sein linkes
Auge zur Sonne, sein rechtes zum Mond. Haupthaar und Bart
wurden zu den funkelnden Sternen, seine Gliedmaßen zu Ber6
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
gen, sein Blut zu Flüssen, seine Muskeln zu Feldern und Boden,
seine Körperhaare zu Pflanzen und Bäumen, so daß die Erde
grün war.1
Nicht so ganz einig sind sich die Mythen zur Entstehung der Menschen. Während die einen sagen, die Würmer im toten 盘古 Pán Gß
hätten sich in Menschen verwandelt, erzählen andere Geschichten,
ein weiterer Himmelsgeist, die Königin
女娲
Nǚ W~
habe, da sie einsam war, sich Menschen aus Lehm geschaffen und
dafür gesorgt, daß sie sich zu vermehren wußten.
Im weiteren Verlauf tritt eine Reihe genialer Menschen in Erscheinung, die mit besonders wichtigen Entdeckungen und
Erfindungen die Entwicklung ihrer Zeitgenossen fördern. Zum
Beispiel:
有巢氏
Y4u Cháo Shì
lehrte sie Wohnstätten zu bauen, als sie von der reinen Pflanzenkost zur Fleischnahrung übergegangen waren und sich so die bis
dahin friedlichen Tiere zu Feinden gemacht hatten.
燧人氏
Suì Rén Shì
der chinesische Prometheus. Er machte das Feuer durch Reibung
zweier Hölzer nutzbar und erfand eine Art Knotenschrift, während
伏犧氏
Fú X§ Shì
fischen sowie die Zucht der sechs Haustiere (Schaf, Huhn, Rind,
Pferd, Hund, Schwein) und deren Verwendung zum Lebensunterhalt lehrte. 伏犧 Fú X§ soll auch die erste Schrift erfunden, Familiennamen eingeführt und musikalische Instrumente gebaut haben.
1
2002.3, Band
1, S. 16.
7
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Sein Nachfolger
神农氏 [神农氏]
Shén Nóng Shì
gilt als der göttliche Ackerbauer, mit Menschenleib und Ochsenkopf, der Erfinder des Pfluges, dessen Gebrauch er nebst der
Kenntnis der Getreidearten den Menschen beibrachte. 神农 Shén
Nóng ist auch der Entdecker der medizinischen Eigenschaften von
Pflanzen. Mit seinem anderen Namen
炎帝
Yán Dì,
gilt er als erster der 五帝 wß dì, der fünf mythischen Kaiser2.
Gelebt haben soll er vor ca. 4.500 Jahren als Stammesfürst am
Oberlauf des Gelben Flusses (in der heutigen Provinz 陕西
Sh|nx§). Ein anderer Stammesführer jener Zeit, der
黄帝
Huáng Dì,
erstarkte derweil und gilt, seit er im ersten Geschichtswerk der Chinesen, dem 史记 sh0 jì Geschichtliche Aufzeichnungen, erwähnt ist,
als der wahre erste Kaiser und Urahn aller Chinesen. Seine Farbe
war 黄 huáng = Gelb wie die des Landes am 黄河 Huáng Hé Gelben Fluß. Ihm folgten auf dem Thron
尧 [尧]
Yáo
sein Bruder, und
舜
Shùn
der Schwiegersohn von 尧 Yáo. In die Regierungszeit von 舜
Shùn fallen die Wasserbau-Arbeiten des
2
Die Zahl fünf war -ebenso wie die neun- eine heilige Zahl, die in der
Mythologie immer wieder auftritt, um Beispiel in den Fünf Elementen
wß xíng
oder den Neun Provinzen
jiß zhÇu, in die der Große Yu (s.u.) China einmal
einteilte. Das wichtigste chinesische Geschichtswerk, das
Sh0 Jì des
Großhistorikers
S§m| Qi~n (-145 bis -86) beginnt mit dem Kapitel
wß dì bn jì Aufzeichnungen über die fünf (ersten) Kaiser.
8
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
禹
Yß
Seinen Taten ist der zweite Abschnitt des 史记 Sh0 Jì Geschichtliche Aufzeichnungen des Großhistorikers 司马迁 S§m| Qi~n (-145
bis -86, s.u.) gewidmet. 禹 Yß verstand es, sich durch seine Tätigkeit das Wohlwollen des Kaisers 舜 Shùn zu erwerben, erhielt von
ihm deshalb seine beiden Töchter zu Gemahlinnen und wurde, da
der Sohn des Kaisers sich als unwürdig erwies, dessen Nachfolger
und erster Kaiser der 夏 Xià-Dynastie, die mit 17 rechtmäßigen
Herrschern von -2205 bis -1766 regiert haben soll, aber mangels
Schrift dokumentarisch nicht belegt ist.
Bedeutsam an den chinesischen Legenden zur Entstehung und
Entwicklung der Welt ist, daß sie im Unterschied zu Europa nicht
auf Götter (oder einen Gott) zurückgreifen, die Erde und
Menschen geschaffen und angeleitet haben, sondern auf aussergewöhnliche Einzelpersönlichkeiten, Menschen. So gelten -noch
vor den heiligen Kaisern- 伏牺 Fú X§ als Erfinder der Tierzucht
und 神农 Shén Nóng als Erfinder der Landwirtschaft.
Dutzende von Helden führte eine sehr frühe Aufzeichnung (das
世本 Shì Bn - Wurzel der Generationen) auf, hinter deren Namen
ihre Großtaten oder Erfindungen vermerkt waren wie zum Beispiel
erster Gebrauch des Feuers, Festlegung der Hochzeits-Zeremonie,
Erfindung von Jagen und Fischen, von Musikinstrumenten, des
Kochens und viele andere. Natürlich wirkten diese Helden im
Volksglauben bereits in einem Staat, der China hieß, den es freilich
noch längst nicht gab.
Eine besonders große Bedeutung schreibt die Überlieferung
dem letzten der legendären Helden zu, dem Großen 禹 Yß, dem es
gelang, das Hochwasser zu zähmen, denn 禹 Yß habe seine Macht
seinem Sohn 启 Q0 übergeben. Damit brach er mit der bisherigen
(angeblichen) Tradition, daß nur der Beste zum Herrscher aufsteigt.
Von nun an blieb diese Position stattdessen innerhalb der Herrscherfamilie und es entstand die erste Dynastie, die 夏 Xià.
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
MYTHOLOGISCH-DYNASTISCHES CHINA
夏
Xià (-2100 bis -1600, mythologisch)
Am Ende des 22.
Jahrhunderts vor
unserer Zeit übernahm 禹 Yß den
Platz seines Vaters
鲧 Gßn. Er ließ ab
von dessen gescheiterter Technik des
Deichbaus und Aufdämmens, mit der 鲧
Gßn das Wasser regulieren wollte, und es gelang ihm, durch Ausheben der Wasserläufe und Kanalbauten, die Überschwemmungen zu bezähmen.
Damit begann das Zeitalter des 禹 Yß. Da er seinen 封 f‘ng =
Herrschaftstitel von den 夏 Xià bekommen hatte, erhielt sein
Stamm und damit seine Dynastie diesen Namen.
禹 Yß erwarb sich, so die Legende, größte Verdienste, indem
er die seit Jahren das Land am Gelben Fluß verheerenden Über10
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
schwemmungen regulierte, widersetzliche Stämme unterwarf und
das Reich in neun Bezirke einteilte, die 九州 jiß zhÇu3.
Nach seinem Tod übernahm sein Sohn 启 Q0 die Herrschaft.
Damit war das von 尧 Yáo und 舜 Shùn überkommene System
beseitigt, wonach der Beste -nicht ein Familienangehöriger- nachfolgte und die Tradition der Erb-Dynastie begründet, in der dem
Vater der Sohn folgt. So entstand mit dem 禹 Yß-Sohn 启 Q0 die
erste Dynastie der chinesischen Geschichte.
Das politische Zentrum der 夏朝 Xià cháo = Xià-Dynastie lag
im Norden der heutigen Provinz 河南 Hénán und gründete auf der
vorausgegangenen 仰邵 Y|ng Sháo Kultur, die benannt ist nach
ausgegrabenen Keramiken in den Gebieten der heutigen Provinzen
陕西 Sh|nx§, 甘肃 G~nsù und 河南 Hénán.
Das Herrschaftssystem der 夏 Xià war relativ einfach: 羲氏 X§
Shì und 和氏 Hé Shì beobachteten der Überlieferung nach den
Himmel und die vier Jahreszeiten, 牧正 Mù Zhèng war der für
Viehzucht zuständige Beamte, 车正 Ch‘ Zhèng und 庖正 Páo
Zhèng organisierten die Herrschaft. Das Bestehen einer Art Gerichtsbarkeit leiten die Chinesen daraus ab, daß es einen besonderen Ort für Gefangene gab: 夏台 Xià tái.
羲氏 X§ Shì und 和氏 Hé Shì, die Himmelsbeobachter, begründeten mit der Einteilung des Jahres in zwölf Monate den frühesten
夏历 Xià lì Kalender. Im 二里头 Èr L0 Tóu Gebiet der Stadt 雁师
Y|nsh§ (östlich des heutigen 洛阳 Luòyáng), dem alten Zentrum
der 夏 Xià, haben Archäologen zahlreiche Stein- und Holzwerkzeuge sowie Keramiken dieser Zeit gefunden.
Die Landwirtschaft war anscheinend relativ entwickelt, Forscher haben den Gebrauch von Hirse, Reis, Weizen, Bohnen und
Kürbissen nachgewiesen. Ein Steuersystem bestand, das die Stämme zwang, einen gewissen Teil der Ernte an die Herrscher abzuliefern. Auch das spätere 井田 j0ng ti~n Brunnen-Feld-System
3
Bis heute eine poetisch-literarische Bezeichnung für China.
11
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
existierte bereits unter der 夏 Xià-Dynastie.4
Aus der Tatsache, daß es zu dieser Zeit auf dem Gebiet des
heutigen China Menschen gab, die Fertigkeiten wie das Töpfern
beherrschten, in Siedlungen lebten, ihre Toten begruben und Schamanen-Rituale befolgten, sollte jedoch nicht geschlossen werden,
daß dem ein Gemeinwesen im Sinne einer chinesischenNation
zugrundelag, die -grundsätzlich kaum verändert- bis heute fortbesteht. Vergleichbare Entwicklungen gab es auch im Mittleren Osten
und in Europa, ohne daß man diese uralten Kulturen mit den heute
dort liegenden Staaten in Verbindung bringt, sie als deren Vorläufer oder gar Teil ansehen könnte. Der deutsche Sinologe Wolfram
Eberhard führt dazu einmal aus:
Die moderne Forschung hat gezeigt, daß diese sämtlichen Berichte erst in später Zeit erfunden worden sind ... Ja, wir müssen uns sogar fragen, von welcher Zeit an wir eigentlich
überhaupt von einer chinesischen Kultur sprechen können.
Wohl gibt es in China wie auch anderswo nationalistische
Archäologen, die jeden Fund von allen jemals zu China gehörigen Orten den Chinesen zusprechen möchten. Aber in Wirklichkeit sind in diesem großen Gebiet Menschen verschiedener
Kultur und Sprache, wahrscheinlich auch verschiedener Rasse,
durch geschichtliche Prozesse zusammengetroffen und im Laufe
der Entwicklung zu einer neuen Einheit verschmolzen, die wir
dann schließlich Chinesen nennen5.
Chinesen freilich machen sich nur selten solche spitzfindigen
Gedanken. Wie selbstverständlich bezog sich zum Beispiel der
damalige Staatspräsident 江泽民 Ji~ng Zémín im November 2000
während seines Gesprächs mit einem irakischen Vizepremier auf
die (mesopotamische) Vergangenheit des Iraks um zu behaupten,
4
2002.3, Band
1, S. 27.
5
Wolfram Eberhard, Geschichte Chinas, Kröner Verlag, 1980, S. 2f.
12
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Irak und China hätten der Geschichte der Zivilisationen glorreiche
Kapitel hinzugefügt6.
6
!" Rén Mín Rì Bào Volkszeitung vom 29.11.2000.
13
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
商
Sh~ng (-1600 bis -1046)
Am Unterlauf des 黄河 Huáng Hé Gelben Flusses lebte parallel zu
den 夏 Xià der Stamm der 商 Sh~ng. Sein Totem war die Schwalbe
(玄鸟 xuán ni|o), weil aus einem Schwalbenei der erste 商
Sh~ng-Herrscher geboren worden sei. Gegen Ende der 夏 XiàZeit erstarkten die 商 Sh~ng,
drangen zum Mittellauf des Gelben Flusses vor und brachten
dort ein starkes Bündnis mit den
anderen Stämmen zustande.
Kaiser 成汤 Chéng T~ng
besiegte den letzten 夏 XiàHerrscher im 16. Jahrhundert
vor unserer Zeit und gründete
die 商 Sh~ng-Dynastie. Die
Hauptstadt siedelte er in 亳 Bó an (nahe der heutigen Stadt 商丘
Shàngqiã im Osten der Provinz 河南 Hénán). Aus dem Niedergang
der 夏 Xià, so heißt es, zog Kaiser 汤 T~ng die Lehre, das Volk mit
Nachsicht zu regieren und die Landwirtschaft zu entwickeln. Das
Herrschaftsgebiet wurde durch weitere, im Westen eroberte Landstriche vergrößert.
Aus Aufzeichnungen geht hervor, daß in der Zeit von Gründungs-Kaiser 汤 T~ng bis zu Kaiser 盘庚 Pán G‘ng die Hauptstadt
nicht weniger als fünfmal wechselte. 盘庚 Páng G‘ng machte dem
um -1300 mit ihrer Verlegung nach 殷 Y§n für längere Zeit ein
Ende. Von diesem Zeitpunkt ab wird 殷 Y§n zu einer alternativen
Bezeichnung der 商 Sh~ng Dynastie. Politisch und wirtschaftlich
setzte nun eine starke Entwicklung ein. Unter der 50jährigen Herrschaft des Kaisers 武丁 Wß D§ng erreichte die Dynastie ihre höch-
14
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
ste Blüte.7
Die wichtigste kulturelle Errungenschaft dieser Zeit ist die Entstehung und Entwicklung der Ur-Schriftzeichen. Auf Knochen,
Schildkrötenpanzern und bronzenen
Gefäßen wurden Zeichen eingeritzt,
woraus diese Gattung dann ihren Namen
erhielt: 甲骨文 ji~ gß wén - Schrift auf
Schildkrötenpanzern und Knochen, meist,
wegen der wahrsagerischen Inhalte, als
Orakel-Schrift bezeichnet.
Im Gebiet der Stadt 安阳 }nyáng, die
eine der 商 Sh~ng-Hauptstädte war (etwa
300 Kilometer südlich von Peking gelegen), fanden Archäologen seit Beginn des
20. Jahrhunderts zahlreiche dieser OrakelInschriften, die etwa um -1200 entstanden. Schildkrötenpanzer
mit #
$% ji| gß wén OrakelAls Träger der Texte dienten Knochen
Inschrift.
oder Bronzegefäße. Die Inhalte kreisen um
Beschwörungen und Wahrsagungen, die für wichtige
Maßnahmen oder größere Unternehmen der Herrscher von
Bedeutung waren. Sie lauten etwa:
Inquired whether the King should hunt in Ai
oder
On the day ren-xu, inquiry was made through the tortoise-shell
of the Royal Guest Shi-ren whether the next day would be
without objection for sacrificing8.
Der letzte 商Sh~ng-Herrscher, 紂王 Zhòu Wáng König Zhòu setzte
7
2002.3, Band
1, S. 31.
8
J. Minford & J.S.M. Lau, Classical Chinese Literature, Vol 1: From Antiquity to the Tang Dynasty, The Chinese University Press Hong Kong, S. 15, 16.
15
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
dann für die letzten Kaiser folgender Dynastien insofern den Maßstab, als er in 荒 淫无道 hu~ng yín wu dào vollkommener Verkommenheit Volk und Reich zugrundegerichtet hatte und von
neuen Kräften gestürzt wurde.
16
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
周
ZhÇu (-1046 bis -476)
西周 X§ ZhÇu (-1035 bis -771)
东周 DÇng ZhÇu (-770 bis -221)
春秋 Chãn Qiã (-770 bis -476)
战国 Zhàn Guó (-475 bis -221)
Den letzten 殷 Y§n- (商
Sh~ng-) Herrscher stürzte
der Anführer eines Grenzstammes, der den Namen
周 ZhÇu trug, und im Gebiet der heutigen Provinz
陕西 Sh|nx§ lebte.
Die so -1046 begründete ZhÇu Dynastie organiDie & ZhÇu-Zeit.
sierte ihre Herrschaft in
Form von 诸侯 zhã hóu Lehensstaaten, die, zur Sicherung des
Territoriums an den Genzgebieten gelegen, den Verwandten des
Herrscherhauses übergeben wurden. Die dortigen Fürsten hatten
dem König allerlei Dienste zu erbringen und ihre Loyalität zu
erweisen. Insgesamt gab es bis zu 71 solcher Lehensstaaten.
Ihre Hauptstadt errichteten die ZhÇu in 镐 Hào, nahe der heutigen Stadt 西安 X§=~n gelegen. Da sie Sprache und Kultur mit den
商 Sh~ng teilten, sorgten die frühen 周 ZhÇu-Herrscher durch die
Ausdehnung ihres Territoriums dafür, daß
diese Kultur sich erhielt und sich fast auf dem
gesamten Gebiet nördlich des 长江 Cháng
Ji~ng oder Jangtse ausbreitete.
Die 周 ZhÇu-Herrschaft dauerte mit fast
600 Jahren länger als jede andere in China und
erwies sich wegen des reich- und nachhaltigen
Kulturlebens als prägend. Zeichen ihrer Macht '
d0ng Dreifuß - das
war der 九鼎 jiß d0ng dreifüßige Kessel (mit Herrschaftssymbol
der
& ZhÇu.
zwei Handgriffen).
17
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Philosophen dieser Zeit begründeten die Legitimität der Herrschaft des Kaisers mit dem Konzept vom 天命 ti~n mìng Mandat
des Himmels. Der Kaiser figuriert darin als 天子 ti~n z0 Sohn des
Himmels, der dessen Willen auf Erden vollstreckt. Ein Sturz des
Kaisers, der möglich und sogar gerechtfertigt sein konnte, bewies
dabei, daß er aufgrund schlechten Regierens das Mandat des Himmels verloren hatte bzw., daß es ihm entzogen worden war. Auf
dieser Basis war auch eine Legitimierung der neuen Dynastie
gegenüber den beiden vorangegangenen gegeben.
Die erste Phase der neuen Herrschaft, die Westliche ZhÇ
Çu-Zeit,
gilt in der traditionellen chinesischen Geschichtsauffassung als
Präzedenzfall dafür, wie eine neue, gute (legitime) Herrschaft (周
ZhÇu) eine alte, schlechte (商 Sh~ng) ablöste, die sich vom Volk
abgewandt und daher das Mandat des Himmels verloren hatte.
Über die Jahrhunderte bis heute vielen Chinesen bewußt als gute
Herrscher par excellence gelten jene 周 ZhÇu-Könige und Noblen,
die wie 文王 Wén Wáng König Wén, den Sturz der 商 Sh~ng
vorbereiteten; oder wie sein Sohn, 武王 Wß Wáng König Wu, ihn
vollendeten, um dann erster Herrscher der neuen 周 ZhÇu-Dynastie
zu werden.
Zu diesen bis heute bekannten positiven Persönlichkeiten gehört
weiterhin der 周公 ZhÇu GÇng Herzog von ZhÇu, der dafür gesorgt
haben soll, daß die Dynastie in diesem Sinne fortlebte. Einige
seiner Schriften sind im 书经 Shã J§ng Buch der Schriften (auch:
尚书 Shàng Shã, s.u.) erhalten und gehören zu den ältesten Zeugnissen chinesischer Literatur.
Gegen Ende der 周 ZhÇu entstanden weitere klassische Texte
wie das 易经 Yì J§ng Buch der Wandlungen und Teile im 诗经 Sh§
J§ng Buch der Lieder, die später beide zum konfuzianischen Kanon jener Schriften genommen wurden, die den idealen Gang der
Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens regeln sollten.
Die Westlichen 周 ZhÇu haben so einen prägenden Einfluß auf
chinesische Geschichts- und Staatsauffassungen genommen.
Im Laufe der Zeit begannen die einzelnen Herrscher der Lehensstaaten jedoch immer unabbhängiger vom Königshaus zu agieren,
das dadurch in immer größere Schwierigkeiten geriet, bis schließ18
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
lich im Jahre -771 einfallende Stämme und aufständische Lehensherren, die sich und ihre Staaten am Rande des Reiches de facto
unabhängig gemacht hatten, den legitimen König umbrachten.
Die verbliebenen, aber machtlosen Herrscher verlegten die
Hauptstadt nach Osten in die Stadt 洛阳 Luòyáng (heute Provinz
河南 Hénán), weshalb Historiker die 周 ZhÇu-Zeit in eine 西周 X§
ZhÇu Westliche ZhÇ
Çu (- 1035 bis -771) und eine 东周 DÇng ZhÇu
Östliche ZhÇ
Çu (-770 bis -221) einteilen.
Die Östliche 周 ZhÇu-Zeit wird wiederum in zwei Perioden
unterteilt, nämlich die 春秋时代 chãn qiã shí dài Frühlings- und
Herbstperiode (-770 bis -476), benannt nach einer berühmten
Chronik dieser Jahre, und die 战国时代 zhàn guó shí dài, die Zeit
der Streitenden Reiche (-475 bis -221).
春秋 chãn qiã, die Frühlings- und Herbstannalen, sind eine
Chronik des Staates 鲁 Lß (auf dem Gebiet der heutigen Provinz
山东 Sh~ndÇng gelegen), die die Ereignisse der Jahre -722 bis -481
aufzeichnet. Sie gehört wie das erwähnte 易经 Yì J§ng Buch der
Wandlungen und das 诗经 Sh§ J§ng Buch der Lieder zum konfuzianischen Schriften-Kanon (mehr dazu weiter unten).
Da die Frühlings- und Herbstannalen den Staat 鲁 Lß behandeln, in dem auch Konfuzius lebte, und überdies mit seinem Todesjahr enden, werden sie traditionellerweise auch dem Meister
zugeschrieben (mehr weiter unten).
19
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
战国 [战国]
Zhàn Guó Streitende Reiche (-475 bis -221)
Die wichtigsten
Staaten, die
sich aus Lehen
der 周 ZhÇu zu
unabhängigen
Einheiten entwickelt hatten
und bald gegeneinander um
die Vorherrschaft kämpften, waren die
folgenden:
秦
赵 [赵]
燕
韩 [韩]
魏
齐 [齐]
楚
Qín, ganz im Westen gelegen und letztlicher Sieger;
Zhào, Nachbar von Qín im Osten;
Yàn, Nachbar von Zhào im Osten, heutiges Peking;
Hán, südlich von Zhào, östlich von Qín;
Wèi, östlich von Hán;
Qí, östlich von Wèi;
Chß, im Süden.
Der Beginn dieser sehr wichtigen chinesischen Geschichtsperiode
fällt etwa auf das Ende der 春秋时代 chãn qiã shí dài Frühlingsund Herbstzeit. Auch die östliche 周 ZhÇu-Herrschaft vermochte
die Reichslehen nicht mehr unter Kontrolle zu halten, sie
entwickelten sich zu separaten Staaten, die parallel zur nur noch
nominellen 周 ZhÇu-Herrschaft bestanden.
Die stärksten dieser separaten Staaten waren: 秦 Qín, 赵 Zhào,
燕 Yàn, 韩 Hán, 魏 Wèi, 齐 Qí und 楚 Chß, die bald in wechselnden Koalitionen gegeneinander um die Vorherrschaft kämpften, bis
20
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
schließlich einer, das im Osten gelegene 秦 Qín, alle anderen Konkurrenten ausgelöscht und die Alleinherrschaft errungen hatte. (秦
Qín gründete im Jahre -221 als neue Dynastie einen großen
einheitlichen Staat - China.)
Der europäische Name China -die Chinesen haben bis heute
keinen dem europäischen vergleichbaren Namen für ihr Land- ist
vermutlich indirekt aus 秦 Qín abgeleitet. Im lateinisch geprägten
europäischen Mittelalter war China allerdings als Cathay bekannt,
eine Bezeichnung aus Zentralasien, die sich vom Namen des
Stammes der Khitan ableitete, der China zu dieser Zeit als 辽 LiáoDynastie (916 - 1125) beherrschte. Auf diesem Wortstamm
gründen slawische, türkische und arabische Wörter wie Kitaia und
Hitai, bis in Europa schließlich Cathay daraus wurde. Damit war
zunächst aber nur der Norden des Landes gemeint. Erst im 16.
Und 17. Jahrhundert war in Europa von China die Rede, vermutlich
stammte diese Bezeichnung aus dem Persischen Chini, das auf
dem Sanskrit-Wort 支那 zh§ nà beruhte, welches sich wiederum auf
秦 Qín bezogen haben mag. Zunächst bezeichnete China jedoch
meist das Porzellan, von dem die Portugiesen so begeistert waren.
Erst im 19. Jahrhundert setze sich dieses Wort auch als Name für
das Land endgültig in Europa durch. (Endymion Wilkinson, Chinese
History A Manual, Harvard-Yenching Institute Monograph Series
46, 1998. S. 724)
Die Zeit der Streitenden Reiche gilt als äußerst brutale Zeit, in
der sich die Herrscher der sieben größten Einzelstaaten mit allen
Mitteln der Diplomatie, Intrige, Lüge und Täuschung, häufig in
wechselnden Bündnissen bekämpften. Ziel war die Vorherrschaft
eines Staates über die anderen.
Die Auseinandersetzungen erfolgten dabei auf zwei Grundlinien: Entweder gelang es dem ganz im Westen gelegenen 秦 Qín
ein Bündnis mit einem/mehreren Staat im Osten zu schließen und
ein südliches Land anzugreifen, dann sprach man von 连横 lián
héng, einem Horizontalbündnis; oder die Staaten im Osten verbündeten sich gegen 秦 Qín, dann sprach man von 合纵 hé zòng,
einem Vertikalbündnis.
In dieser Periode und auf Basis der Horizontal-/Vertikalallianzen entstanden das chinesische Politik-Handwerk und Politik-Verständnis. Ein später, in der frühen 汉 Hàn-Zeit verfaßtes großes
Geschichtswerk, die Intrigen der Kämpfenden Staaten (战国策
21
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Zhàn Guó Cè9), beschreibt die Epoche in zahllosen Annekdoten, in
denen die Herrscher, ihre Minister, Botschafter und vor allem ihre
Politikberater, sogenannte 纵横家 zòng héng ji~ Strategen vertikaler und horizontaler Bündnisse, die Hauptrolle spielen. Viele dieser
Geschichten sind als Annekdoten oder Vier-Zeichen-Sprichwörter
(成语 chéng yß) bis heute im Umlauf und tragen dazu bei, daß
diese Zeit im Bewußtsein der Chinesen weiter lebendig ist.
Beispiel: 三人成虎 s~n rén chéng hß = ist ein Gerücht erst einmal
weitererzählt, wird es geglaubt. Dieses 成语 chéng yß geht auf
folgende Geschichte im 战国策 Zhàn Guó Cè zurück:
A tiger in the market place
When 庞葱 Páng CÇng was to accompany the heir, who was
going as hostage10 to 邯郸11 Hánd~n, he spoke to the king of 魏
Wèi before he left. AIf a man were to tell you there was a tiger
in the market place, would you believe him, my lord?@ ANo.@ AIf
two people told you there was a tiger in the market, would you
believe them?@ AI should supect something@, replied the king. AIf
three people should tell you there was a tiger, would you believe
it?@ AI would.@ ANow the market is clearly without a tiger yet let
three men spek of one and he appears@, said 庞葱 Páng CÇng.
A邯郸 Hánd~n is farther away than the market, my lord, and my
detractors [Verleumder] number more than three - will you
remember this, my lord?@ ABut I understand that@, replied the
king. 庞葱 Páng CÇng took his leave and departed, yet slander
reached its destination sooner than he. In consequence, when
the heir had served his time as hostage, 庞葱 Páng CÇng was
9
Die englische Übersetzung: J.I. Crump, Chan-Kuo Ts=e, Clarendon
Press, Oxford, 1970.
10
Die Einzelstaaten schickten oft hohe Persönlichkeiten als Geiseln an
des Hof des mißtrauischen Nachbarn, um damit Vertrauen zu schaffen. Mit einem
Prinzen als Geisel, wähnte man sich vor einem Angiff sicher.
11
Hauptstadt des Staates
( Zhào.
22
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
not again given audience.12
Viele andere in der heutigen Umgangssprache verwendete 成语
chéng yß-Sprichwörter gehen ebenfalls auf Geschichten aus dieser
Zeit zurück wie zumBeispiel
! 朝秦暮楚 zh~o Qín mù Chß = die Partei schnell wechseln
oder
! 狡兔三窟 ji|o tù s~n kã = ein schlauer Hase hat drei Löcher,
! 惊弓之鸟 j§ng gÇng zh§ ni|o = ein gebranntes Kind scheut das
Feuer, was einen schon einmal erschreckt hat, lähmt, wenn es
wieder auftritt ...
Ein anderes heute weltweit be- und gerühmtes militärisches Werk
entstand ebenfalls in dieser Zeit, etwa -500: 孙子兵法 Sãn Z0 B§ng
F| Sun Zi Über die Kunst des Krieges.
Das sehr kurze Traktat besteht aus 13 Abschnitten die einzelne
Fragen des Krieges bzw. der Strategie und Taktik grundlegend
abhandeln, so grundlegend, daß die Anweisungen heute vielfach
auf andere Bereiche wie zum Beispiel Wirtschaft und Management
übertragen werden13. Die 13 Abschnitte (篇 pi~n) behandeln
folgende Themen14:
1. Strategie (计篇 jì pi~n)
2. Kriegsführung (作战篇 zuò zhàn pi~n)
3. Angriff mit Strategie (谋攻篇 móu gÇng pi~n)
4. Disposition militärischer Stärke (形篇 xíng pi~n)
5. Nutzung der Kraft (势篇 shì pi~n)
6. Schwächen und Stärken (虚实篇 xã pi~n)
12
Nach: J.I. Crump, Chan-Kuo Ts=e, S. 377-378, Clarendon Press,
Oxford, 1970.
13
Zum Beispiel: Wee Chow Hou u.a.: Sun Tzu War & Management,
Addison-Wesley Publishing Co., Singapore, 1991.
14
)*+
Deutsch nach:
Wú RúsÇng u.a., Sun Zi über die Kriegskunst,
Sun Bin über die Kriegskunst, Verlag Volkschina, Peking, 1994.
23
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
7. Kampf um die Initiative (军争篇 jãn zh‘ng pi~n)
8. Neun Taktik-Varianten(九变篇 jiß biàn pi~n)
9. Marsch (行军篇 xíng jãn pi~n)
10. Gelände (地形篇 dì xíngpi~n)
11. Neun Gebiets-Varianten (九地篇 jiß dìpi~n)
12. Feuerangriff (火攻篇 hu4 gÇng pi~n)
13. Einsatz von Spionen (用间篇 yòng jiàn pi~n)
Beispiel: Der erste Abschnitt des Traktats beginnt mit dem Satz:
Krieg ist für den Staat eine Angelegenheit von großer
Wichtigkeit, eine Sache auf Leben und Tod und der Weg zu Sein
oder Nichtsein. Daher ist es notwendig, ihn gewissenhaft zu
studieren.
Dies bedeutet, wer handeln will soll vorher über seine Ziele
nachdenken, die objektiven Gegebenheiten auf dem Weg zum Ziel
sowie den Feind/Gegner studieren, um mit geringstmöglichem,
aber effektivem Aufwand zum gewünschten Erfolg zu gelangen.
Genau dies ist das Anliegen der Überlegungen des 孙子 Sãn Z0. In
dem vielleicht berühmtesten Satz seines Traktakts drückt er das so
aus:
Den Feind ohne Kampf zu unterwerfen, ist die allerbeste Taktik.
... Deshalb sage ich: Wenn du sowohl den Feind als auch dich
selbst kennst, kannst du ohne Gefahr hundert Kämpfe ausfechten
不战而屈人之兵,善之善者也 ... 知彼知己者,百战不殆
bß zhàn ér qã rén zh§ b§ng, shàn zh§ shàn zh y ... zh§ b0 zh§ j0
zh, b|i zhàn bú dài.
Der darauf basierende Spruch 知彼知己,百战不殆 zh§ b0 zh§ j0,
b|i zhàn bú dài ist ebenfalls ein bis heute oft gebrauchtes Wort.
In der 宋 Sòng-Dynastie wurde die Kunst des Krieges zum
offiziellen Lehrbuch der chinesischen Armee und gehört bis heute,
zusammen mit den zahllosen Variationen und Erläuterungen, zum
theoretischen Repertoire aller Offiziersschulen der Welt. Auch
Manager- und Karriere-Trainer haben sich des Textes mittlerweile
24
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
bemächtigt, weil Wirtschaft, Eroberung von Märkten, in der Vorstellung vieler anscheinend ein Krieg ist und deshalb auch so
betrieben werden sollte.
诸子百家 zhã z0 b|i ji~ Hundert Schulen
Nicht obwohl, sondern gerade weil die Jahrhunderte der Kämpfenden Staaten eine Zeit waren, in der das Überleben von der Geschicklichkeit oder der Brutalität, von dauernder Anpassung an geänderte Bedingungen und dem technischen, wirtschaftlichen wie
politisch-diplomatischen Erfindungsreichtum (oder allem zusammen) der Staaten abhing, waren sie trotz aller Kriege und Kämpfe
auch eine Periode blühender Kultur - vielleicht die fruchtbarste
überhaupt in der chinesischen Geschichte.
Der Kampf der Staaten ums Überleben machte dauernde Reformen nötig, die großen Heere, die die Herrscher unterhielten, erforderten eine starke Wirtschaft im Staate, aus der sie die nötigen
Steuern ziehen konnten. Münzen kamen in großer Zahl in Umlauf
und vereinfachten und förderten den Warenaustausch.
Die Verwaltung der Staaten gelangte in die Hände recht professioneller, lesekundiger Beamter, die auszubilden und nach bestimmten Kriterien auszuwählen und zu befördern waren. Herstellung und Gebrauch von Eisengeräten als Waffen wie als landwirtschaftliche Geräte verbreiteten sich in dieser Zeit und auch
eine chinesische Besonderheit hat hier ihre Wurzeln: die großen
öffentlichen Arbeiten, die unter Leitung von Beamten zur Flutkontrolle und Anlage von Bewässerungssystemen unternommen wurden, begannen in der Zeit der Kämpfenden Staaten.
In der Philosophie suchten die Menschen sich über Sinn und
Gang ihrer Existenz wie über die Rechtmäßigkeit des Handelns nicht zuletzt dasjenige der Herrscher- klar zu werden, und es entstanden in der Frühlings- und Herbstzeit wie in der folgenden Zeit
der Kämpfenden Staaten so viele verschiedene Denkrichtungen,
daß die chinesischen Historiker von einer Periode der Hundert
Denkschulen sprechen: 诸子百家 zhã z0 b|i ji~.
Die klassischen Schriften, die eine große Rolle in den kommenden fast 2000 Jahren spielen sollten, entstanden in diesen Jahr25
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
hunderten oder wurden jedenfalls aus vorliegenden Materialien
zusammengestellt. Sie befaßten sich mit militärischen Fragen oder
geschichtlichen Taten und Entwicklungen. Die meisten aber waren
philosophischen Themen gewidmet.
Das Grundbestreben der chinesischen Philosophie besteht
darin, über die Verbesserung des einzelnen Menschen ein gutes,
ideales Leben im Diesseits zu erzielen. Vielleicht liegt darin sogar
der wichtigste Unterschied zu europäischen Denkern, die auf die
Erkenntnis der Welt, wie sie ist, zielten und so eine gute Grundlage
schufen für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik,
die Europa letztlich zur Vormacht in der Welt führte, und ihm
erlaubte, ihr seinen Stempel aufzudrücken. Die Griechen waren
dabei der Meinung, daß man die Welt niemals komplett begreifen
könne, und Sokrates, der das aussprach (Ich weiß nur, daß ich
nichts weiß), gilt gerade deshalb als Weiser.
Chinesen sehen das anders. Der Weise dort ist deshalb einer,
weil er als Person einen Idealzustand erreicht hat, danach handelt
und trachtet, diesen Idealzustand auf andere Menschen, vor allem
den Herrscher, zu übertragen und so über die Verbesserung jedes
einzelnen eine perfekte Gesellschaft zu erreichen. Das Jenseits
interressierte die chinesischen Weisen dabei nicht.
Zusammengefaßt ist ihr Bestreben in der nicht nur auf den
Herrscher, sondern alle Menschen gemünzten Formel 内圣外王 nèi
shèng wài wáng, das als mit innerer Heiligkeit die äußere Welt
regieren übersetzt werden kann. Die Formel stammt vom Philosophen 庄子 Zhu~ng Z0 (s.u.).
Der Herrscher legitimiert sich so als Lehrer. Dies gilt nicht nur
für die legendären guten Herrscher der Vorzeit wie 尧 Yáo, 舜
Shùn und 禹 Yß, die Könige 文 Wén und 武 Wß oder den Herzog
周 ZhÇu, sondern bis in die Neuzeit. Auch 孙中山 Sãn ZhÇngsh~n
Sun Yat-sen, der als Gründer der Republik China gilt, 毛泽东 Máo
ZédÇng und selbst ein profaner Diktator wie 江泽民 Ji~ng Zémín
(Partei- und Staatschef in den neunziger Jahren) sehen sich am
liebsten als Lehrer und Erzieher des rohen Volkes und rechtfertigen damit ihre Position. Das ist ein großer Unterschied zum Bild
des westlichen Herrschers in Geschichte und Gegenwart.
26
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
孔子 K4
4ng Z00 Konfuzius (-550 bis -479)
Von allen Denk-Schulen den prägendsten Eindruck im chinesischen Leben hinterließ die Schule der 儒 rú: Literaten oder Konfuzianer. Ihr schriftlicher Nachlaß, der zum Teil auf den Meister
selbst zurückgeführt wird, liegt konzentriert in den sogenannten
五经 wß j§ng Fünf Klassikern vor, nämlich dem
!
!
!
!
!
诗经 Sh§ J§ng Buch der Lieder,
书经 Shã J§ng Buch der Geschichte,
礼记 L0 Jì Buch der Riten,
易经 Yì J§ng Buch der Wandlungen und den
春秋 Chãn Qiã Frühlings- und Herbstanalen
Diese Schriften gaben der chinesischen Gesellschaft für fast 2000
Jahre ihren ideologischen Grund und Halt. Der Kanon der Fünf
Schriften diente bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zur alleinigen
Erziehung der chinesischen Gebildeten, die, so geläutert, dann
nicht anderes im Sinne hatten, als die Prüfungen abzulegen, die sie
in Beamtenränge aufsteigen ließen (mehr dazu weiter unten).
Das 诗经 Sh§ J§ng Buch der Lieder ist eine Sammlung von 305
Gedichten, die -nach chinesischer Auffassung- Konfuzius selbst
aus einer Gesamtzahl von etwa 3.000 zusammenstellte, die schon
vor seiner Zeit (-550 bis -479) entstanden waren. Der Meister nutzte sie zur Erziehung seiner Schüler und erwähnt sie mehrfach in
seinen 论语 Lùn Yß Gesprächen. Darin sagt er zum Beispiel:
Meine Schüler, warum beschäftigt ihr euch nicht mit dem Buch
der Lieder? Die Lieder regen an, sie schärfen den Blick, stärken
den Gemeinschaftssinn und sind hilfreich bei Kummer und Unzufriedenheit. Sie lehren das Nächstliegende, die Pflicht gegenüber dem Vater, ebenso wie das Fernerliegende, die Pflicht gegenüber dem Herrscher.15
15
Konfuzius Gespräche, 17.9, in der Übersetzung von Ralf Moritz, Reclam
9656.
27
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Man beachte die Schwerpunktsetzung: Naheliegend ist die Pflicht
gegenüber dem Vater, fernerliegend: die Pflicht gegenüber dem
Herrscher. An anderer Stelle sagt der Meister:
Das Buch der Lieder enthält dreihundert Stücke. Will man
darüber mit einem Satz urteilen, so kann man sagen: Hieraus
spricht kein böses, verderbtes Denken.16
Vermutlich gehen die ältesten Gedichte des 诗经 Sh§ J§ng bis in die
Jahre -1200 bis -700 zurück. Im dritten Jahrhundert wurde das
Buch der Lieder -ebenso wie andere alte Schriften- auf Befehl des
Reichseinigers und Ersten Kaisers 秦始皇帝 Qín Sh0 Huáng Dì
verbrannt. Die Rekonstruktion der Texte in der frühen 汉 HànDynastie stützte sich auf mündliche Überlieferungen sowie auf
Manuskripte, die in Verstecken diese Vernichtung überstanden hatten.
Das Buch der Lieder soll das erste gereimte Werk der Weltliteratur sein. Es ist in vier Abteilungen eingeteilt, nämlich:
!
!
!
!
Volkstümliche Lieder nach Landesart
Kleine Festgesänge
Große Festgesänge
Hymnen
Die Themen wechseln entsprechend dieser Einteilung und handeln
von Liebe, Krieg, Landwirtschaft, Opfern und dynastischen Legenden.
Die erste Übersetzung in eine westliche Sprache geschah durch
den Jesuiten Alexandre de la Charme, ca. 1750, ins Lateinische und
wurde 1830 erstmals als Buch veröffentlicht. Seit 2003 liegen,
übertragen vom Heidelberger Sinologen Günther Debon, zahlreiche
16
Konfuzius Gespräche, 2.2, in der Übersetzung von Ralf Moritz, Reclam
9656.
28
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Lieder auch in deutscher Übersetzung vor17. Im folgenden einige
Beispiele:
Beispiel 1 (Übersetzung: Günther Debon):
König 文 Wén machte den Staat 周 ZhÇu, als er noch zur 商
Shàng-Dynastie gehörte, groß und stark, so daß sein Sohn, als
König 武 Wß, die 商 Shàng stürzen und die Dynastie der 周 ZhÇu
errichten konnte. König 文 Wén, dessen Name das Schriftzeichen
文 wén für Kultur ist, gilt in der konfuzianischen Darstellung als
vorbildlichster Herrscher.
Hoch über uns weilt König Wen;
Der Himmel wird durch ihn erhellt.
Ein altes Land war Dschou, gewiß,
doch neu sein Auftrag in der Welt.
War Dschou nicht damals ruhmbedeckt?
Traf Gottes [des Himmels] Auftrag nicht die Zeiten?
Hinauf, hinab steigt König Wen,
ist links und rechts an Gottes Seiten.
Kraftvoll und ernst war König Wen;
Sein Lob wird immerfort ertönen.
Gesegnet ist das Haus der Dschou
Mit Königs Sohn und Sohnessöhnen.
...
Beispiel 2 (Übersetzung: Günther Debon)
Der Taubenruf
Guan, guan: es ruft ein Taubenpaar;
Von Stromes Insel ruft es fern.
Bescheiden-scheu die schöne Frau;
ist gut erwählt dem edlen Herrn.
17
Die erste Übersetzung zahlreicher Lieder ins Deutsche besorgte der
Heidelberger Sinologe Günther Debon: Der Kranich ruft, Elfenbein Verlag Berlin
2003, ISBN 3-932245-62-8.
29
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Die Wasserblumen dicht gedrängt;
Sie schwimmen links und rechts vom Nachen.
Bescheiden-scheu die reine Frau;
Ihr galt sein Sehnen im Schlafen und Wachen.
Hat sich gesehnt, sie nicht erlangt;
Hat wach und schlafend sie begehrt.
Er wälzt sich auf seinem Lager,
von Kummer geplagt, von Kummer verzehrt.
Die Wasserblumen dicht gedrängt;
zur Linken und Rechten pflücken wir sie.
Bescheiden-scheu die reine Frau;
Mit Zithern und Harfen beglücken wir sie.
Die Wasserblumen dicht gedränngt;
Zur Linken und Rechten reihen wir sie.
bescheiden-scheu die reine Frau;
Mit Glocken und Pauken erfreuen wir sie.
Das 书经 Shã J§ng Buch der Urkunden (Book of History) ist der
Eckstein der fünf klassischen Werke. Es enthält fünf Abteilungen:
!
!
!
!
!
谟 mó = Konsultationen des Herrschers mit seinen Ministern,
训 xùn = Anweisungen von Ministern,
诰 gào = Verkündungen,
誓 shì = Schwüre bzw. Proklamationen und
命 mìng = Befehle bzw. königliche Dekrete.
Zeitlich deckt das Buch der Urkunden die mythologische
Geschichtsperiode ab (虞书 Yú Shã), die 夏 Xià-Zeit (夏书 Xià
Shã), die 商 Shàng-Dynastie (商书 Shàng Shã) und die 周 ZhÇuDynastie (周书 ZhÇu Shã). Tatsächlich stammen die Texte aber
vermutlich aus der Periode der Streitenden Reiche, eventuell gehen
sie bis in die westliche 周 ZhÇu-Zeit davor zurück. Auch das Buch
30
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
der Urkunden fiel im 3. Jahrhundert v.u.Z. der Bücherverbrennung
des Ersten Kaisers zum Opfer und wurde wie das Buch der Lieder
zu Beginn der 汉 Hàn-Zeit aus Dokumenten restauriert, die das
Wüten des 秦始皇 Qín Sh0 Huáng überstanden hatten.
Beispiel (Übersetzung: James Legge, 186518):
The Metal-Bound Coffer
König 武 Wß, Sohn des Königs 文 Wén und Gründer der 周 ZhÇuDynastie, wird sehr krank und es scheint, als werde er sterben. Sein
Bruder, der 周公 ZhÇu gÇng Herzog von 周 ZhÇu, ist sich klar
darüber, daß dies gerade am Beginn der Dynastie, zu großen
Unsicherheiten, eventuell zur Katastrophe führen kann, und betet
darum, an Stelle des Königs 武 Wß zu sterben. In der Hoffnung
erhört worden zu sein, deponiert er den Text seines Gebets in einer
metallenen Truhe, in der auch die wichtigen Dokumente des
Herrschers aufbewahrt sind. Tatsächlich stirbt König 武 Wß jedoch
nicht und auch der Herzog von 周 ZhÇu bleibt am Leben. Fünf
Jahre später aber, als König 武 Wß tatsächlich stirbt, übernimmt
sein dreizehnjähriger Sohn die Herrschaft, und sofort gehen
Gerüchte um, daß der Herzog von 周 ZhÇu statt dieses legitimen
Nachfolgers die Herrschaft selbst usurpieren wolle. Der Herzog
beugt seiner Festnahme dadurch vor, daß er sich vom Hof
zurückzieht. Drei Jahre später aber greift der Himmel zugunsten
dieses wahrhaft loyalen Mannes ein: Die Metall-Truhe wird
geöffnet und das Gebet des Herzogs gefunden. Der junge Herrscher
weint vor Ergriffenheit angesichts dieses edlen Charakters und
wegen der ungerechten Verdächtigung des Herzogs 周 ZhÇu . Der
darf nun wieder zum Hof zurückkehren - nicht ohne deutliche
positive Zeichen des Himmels.
Two years after the conquest of 商 Shang, the King fell ill and
18
John Minford und Joseph Lau, An Athology of Translations, Classical
Chinese Literature, Vol 1 From Antiquity to the Tang Dynasty, Columbia University
Press, The Chinese University of Hong Kong, 2000. ISBN 962-201-625-1, S. 158 161.
31
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
was quite disconsolate. The two other great dukes said, *Let us
reverently consult the tortoise shell about the king.+
But the Duke of Zhou said: *You must not so distress our
former kings.+
He then took the business on himself and reared three altars
of earth on the same cleared space. Having made another altar
on the south of these, and facing the north, he took there his
own position. Having put a round symbol of 碧 bì jade, on each
of the three altars and holding in his hands the long symbol of
his own rank, 圭 guì, he addressed the kings Tai, Ji and 文
Wén .
The Grand Historiographer had written on tablets his prayer,
which was to this effect: *Your great descendant is suffering
from a severe and violent disease. If you three kings in heaven
have the charge of watching over him, Heaven=s great son, let
me, 旦 Dàn [Duke of Zhou] be a substitute for his person. I was
lovingly obedient to my father; I am possessed of many abilities
and arts which fit me to serve spiritual beings. Your great
descendant, on the other hand, has not so many abilities and
arts as I, and is not so capable of serving spiritual beings. And
moreover he was appointed in the hall of God to extend his aid
all over the kingdom, so that he might establish your descendants in this lower earth. The people of the four quarters all
stand in reverent awe of him. Oh! do not let that precious
Heaven-conferred appointment fall to the ground, and all the
long line of our former kings will also have one in whom they
can ever rest at our sacrifices. I will not seek your decision from
the great turtoise shell. If you grant me my request, I will take
these symbols and this mace, and return and wait for your
orders. If you do not grant it, I will put them by.+
The duke then divined with the three turtoise shells and all
were favorable. He opened with a key the place where the
oracular responses were kept, looked at them, and they also
were favorable. He said, *According to the form of the
prognostic the king will take no injury. I, the Little Child, have
got the renewal of his appointment from the three kings, by
32
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
whom a long futurity has been consulted for. I have now to wait
for the issue. They can provide for our One Man.+
When the duke returned, he placed the tablets of the prayer
in a metal-bound coffer and next day the king got better.
Afterward, upon the death of king 武 Wu, the duke=s elder
brother, he of Guan and his younger brothers, spread a baseless
report through the kingdom to the effect that the duke would do
no good to the king=s young son. On this the duke said to the two
other dukes, *If I do not take the law to these men, I shall not be
able to make my report to the former kings.+
He resided accordingly in the east for two years, when the
criminals were taken and brought to justice. Afterward, he made
a poem to present to the king and called it *The Owl+. The king
on his part did not dare to blame the duke.
In the autumn, when the grain was abundant and ripe but
before it was reaped, Heaven sent a great storm of thunder and
lightning, along with wind, by which the grain was broken down
and great trees torn up. The people were greatly terrified. The
king and great officers, all in their caps of state, proceeded to
open the metal-bound coffer and examine the writings in it,
where they found the words of the duke when he took on himself
the business of being a substitute for King Wu. The two great
dukes and the king asked the historiographer and all the other
officers acquainted with the transaction about the thing, and
they replied, *It was really thus. But ah! the duke charged us
that we should not presume to speak about it.+
The king held the writing in his hand and wept, *We need not
now go on reverently to divine. Formerly the duke was thus
earnest for the royal house, but I, being a child, did not know it.
Now Heaven has moved its terrors to display his virtue. That I,
the Little Child, now go with my views and feelings to met him,
is what the rules of propriety of our kingdom require.+
The king then went out to the borders to meet the duke, when
Heaven sent down rain and by virtue of a contrary wind, the
grain all rose up. The two great dukes gave orders to the people
to take up the trees that had fallen and replace them. The year
33
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
then turned out very fruitful.
Die 春秋 Chãn Qiã Frühlings- und Herbstannalen (The Spring
and Autumn Annals). Der Überlieferung nach schrieb Konfuzius
selbst dieses Buch. Es umfaßt den Zeitraum der Jahre von -722 bis
-481 und handelt in sehr lakonischer Sprache von den zwölf Herrschern (Herzögen) des Staates 鲁 Lß, in dem Konfuzius lebte, und
ihren Taten, der Integrität der einen und der Verkommenheit der
anderen. Der Titel spielt an auf das Aufblühen des Staates unter
dem (ersten) guten Herrscher (= Frühling) und seinen späteren
Niedergang (= Herbst). Ein anderer, umfangreicherer Text, der
ebenfalls die Geschichte des Staates 鲁 Lß beschreibt und fast den
gleichen Zeitraum abdeckt, der Kommentar des Herrn Zuo (左传
Zu4 Zhuàn) wird meist den Frühlings- und Herbstannalen
beigefügt.
Beispiel Frühlings- und Herbstannalen (Übersetzung: James
Legge, 187219)
Third Year [Reign of Duke Zhuang]
1. In the duke=s third year, in spring, in the king=s first month, Ni
joined an army of Qi in invading Wei.
2. In summer, in the fourth month, there was the burial of duke
Zhuang of Song.
3. In the fifth month there was the burial of King Huan.
4. In autumn, the third brother of the marquis of Ji with the city
of Hui under the protection of Qi.
5. In winter the duke halted in Huai.
Das 礼记 L0 Jì Buch der Riten ist eine Sammlung, die vermutlich
erst in der 汉 Hàn-Zeit zusammengestellt wurden. Es enthält Texte
zu Alltagsnormen des Verhaltens, zu Bestattungs- und Trauerzeremonien sowie über das Adelssystem der 周 ZhÇu-Zeit, Opfer-
19
John Minford und Joseph Lau, An Anthology of Translations, Classical
Chinese Literature, Vol 1 From Antiqity to the Tang Dynasty, Columbia University
Press, The Chinese University of Hong Kong, 2000. ISBN 962-201-625-1, S. 163.
34
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
rituale, Kalender und Musikstücke. Zwei Konfuzius zugeschriebene Texte, 大学 Dà Xué Die Große Lehre (The Great Learning)
und die 中庸 ZhÇng YÇng Maß und Mitte (The Doctrin of the
Mean) waren ursprünglich im Buch der Riten enthalten.
Beispiel (Übersetzung: James Legge 1885)
Pride should not be allowed to grow; the desires should not be
indulged; the will should not be gratified to the full; pleasure
should not be carried to excess.
...
Men of talents and virtue can be familiar with others and yet
respect them; can stand in awe of others and yet love them.
They love others and yet acknowledge the evil that is in them.
They accumulate (wealth) and yet are able to part with it (to
help the needy); they rest in what gives them satisfaction and yet
can seek satisfaction elsewhere (when it is desirable to do so).
4. When you find wealth within your reach, do not (try to) get it
by improper means; when you meet with calamity, do not (try
to) escape from it by improper means. Do not seek for victory in
small contentions; do not seek for more than your proper share.
5. Do not positively affirm what you have doubts about; and
(when you have no doubts), do not let what you say appear
(simply) as your own view.
...
By the united action of heaven and earth all things spring up.
Thus the ceremony of marriage is the beginning of a (line that
shall last for a) myriad ages. The parties are of different
surnames; thus those who are distant are brought together, and
the separation (to be maintained between those who are of the
same surname) is emphasised[1]. There must be sincerity in the
marriage presents; and all communications (to the woman)
must be good. She should be admonished to be upright and
sincere. Faithfulness is requisite in all service of others, and
faithfulness is (specially) the virtue of a wife. Once mated with
her husband, all her life she will not change (her feeling of duty
to him) and hence, when the husband dies she will not marry
35
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
(again).
...
The sovereign and king orders the chief minister to send down
his (lessons of) virtue to the millions of the people.
...
Sons, in serving their parents, on the first crowing of the cock,
should all wash their hands and rinse their mouths, comb their
hair, draw over it the covering of silk, fix this with the hair-pin,
bind the hair at the roots with the fillet, brush the dust from that
which is left free, and then put on their caps, leaving the ends of
the strings hanging down. They should then put on their
squarely made black jackets, knee-covers, and girdles, fixing in
the last their tablets. From the left and right of the girdle they
should hang their articles for use:--on the left side, the duster
and handkerchief, the knife and whetstone, the small spike, and
the metal speculum for getting fire from the sun; on the right,
the archer=s thimble. for the thumb and the armlet, the tube for
writing instruments, the knife-case, the larger spike, and the
borer for getting fire from wood. They should put on their
leggings, and adjust their shoe-strings.
Beispiel 大学 Dà Xué Die Große Lehre (The Great Learning)
(Übersetzung: James Legge 1885):
The ancients who wished to illustrate illustrious [erlauchte,
erhabene] virtue throughout the kingdom, first ordered well
their own states. Wishing to order well their states, they first
regulated their families. Wishing to regulate their families, they
first cultivated their persons. Wishing to cultivate their persons,
they first rectified their hearts. Wishing to rectify their hearts,
they first sought to be sincere in their thoughts.. Wishing to be
sincere in their thoughts, they first extended to the utmost their
knowledge. Such extension of knowledge lay in the investigation
of things.
Things being investigated, knowledge became complete. Their
knowledge being complete, their thoughts were sincere, Their
thoughts being sincere, their hearts were then rectified. Their
36
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
hearts being rectified, their persons were cultivated. Their
persons being cultivated, their families were regulated. Their
families being regulated, their states were rightly governed.
Their states being rightly governed, the whole kingdom was
made tranquil and happy.
From the Son of Heaven down to the mass of people, all must
consider the cultivation of the person the root of everything
besides.
It cannot be, when the root is neglected, that what should
spring from it will be well ordered. It never has been the case
that what was of great importance has been slightly cared for,
and at the same time, that what was of slight importance has
been greatly cared for.
Nicht immer ist verständlich, was in den alten Texten steht. Ihr -bis
heute- maßgeblicher Übersetzer, James Legge, schrieb einmal mit
Blick auf das 中庸 ZhÇng YÇng Maß und Mitte:
The whole chapter is eminently absurd, and gives a character
of ridiculousness ... We wish that we had the writer [Konfuzius
in diesem Fall] before us to question him; but if we had, it is not
likely that he would be able to afford us much satisfaction.20
Beispiel 中庸 ZhÇng YÇng Maß und Mitte (The Doctrin of the
Mean) (Übersetzung: James Legge 1885):
While there are no stirrings of pleasure, anger, sorrow, or joy,
the mind my be said to be in the state of Equilibrium. When
those feelings have been stirred, and they act in their due
degree, there ensues what may be called the state of Harmony.
This Equilibrium is the great root from which grow all the
human actings in the world, and this Harmony is the universal
path which they all shoud pursue.
20
James Legge, The Four Books, New York, Reprint der ShanghaiAusgabe von 1923, 1966, S. 402.
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
孔子 K4ng Z0 Konfuzius, selbst lebte zwischen -550 und -479 im
Staate 鲁 Lß, der heutigen Provinz 山东 Sh~ndÇng, in deren Stadt
曲阜 Qã Fù sich sein Grab findet. Er sah in der frühen 周 ZhÇuZeit die ideale staatliche Ordnung und glaubte, der einzige Weg,
dies in seiner wirren und kriegerischen Zeit wieder zu erreichen
wäre der, daß jeder Mensch im Rahmen fester, vorgegebener
Beziehungen handelt: Der Herrscher sei Herrscher, der Untertan
Untertan (君君臣臣 - jãn jãn chén chén) sagte er.
Allerdings bestand Konfuzius darauf, daß der Herrscher ein
Edler sein müsse, der gegenüber seinen Untertanen eine Fürsorgepflicht habe. Regierende und alle anderen Menschen müßten gemäß
fester ethischer Grundsätze handeln, meinte er. Der ideale Mensch,
der das tat, war in seinen Augen der Herrscher (君 jãn, was später
zu Edler oder gentleman wurde) - ein durch und durch kultivierter
Mensch.
Das Ziel der Lehre des Konfuzius ist die Versittlichung des
Menschen, was als unendliche Aufgabe begriffen wird. In drei
Schritten soll die erfüllt werden:
! 明明德 míng míng dé = Klarmachen, was die reine Tugend
überhaupt ist,
! 亲民 q§n mín = Den Menschen verbessern und
! 止於至善 zh0 yã zhì shàn = Immer wieder neu lernen, erst ruhen, wenn das hohe Ziel erreicht ist.
In der Konfuzius von seinen Anhängern zugeschriebenen Schrift
大学 Dà Xué Die Große Lehre wird ein Acht-Punkte-Programm
mit Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele angeführt:
! 格物 gé wù = Befasse dich mit den Dingen, um so zu ihrem
Wesen zu gelangen,
! 致知 zhì zh§ = Erreiche die Erkenntnis,
! 诚意 chéng yì = Lege dir jederzeit Rechenschaft über deine Absichten ab,
! 正心 zhèng x§n = Erreiche die Reinheit des Herzens,
! 修身 xiã sh‘n = Bilde deine Persönlichkeit intellektuell und
38
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
physisch aus,
! 齐家 qí ji~ = Bringe deine eigenen Angelegenheiten in Ordnung,
! 治国 zhì guó = Ordne den Staat/die öffentlichen Angelegenheiten,
! 平天下 píng ti~n xià = Befriede die Welt.
Da der Mensch immer mit anderen zusammen in einer Gemeinschaft lebt, soll deren Ordnung durch genau geregelte und VorbildBeziehungen der Menschen untereinander gesichert werden. Als
insgesamt zwischen den Menschen einer Gemeinschaft/eines
Staates mögliche Beziehungen definierte Konfuzius die 五论 wß
lùn oder 五常 wß cháng fünf Beziehungen nämlich die
zwischen:
!
!
!
!
!
君臣 jãn chén - Fürst und Untertan,
父子 fù z0 - Vater und Sohn,
兄弟 xiÇng dì - Älterer Bruder und jüngerer Bruder,
夫妇 fã fù - Ehemann und Ehefrau,
朋友 péng y4u - Freunde.
In der Regel wird das jeweilige Beziehungspaar heute als eines der
Über- bzw. Unterordnung gesehen, was aber vielleicht nicht unbedingt auf Konfuzius selbst zurückgehen muß, sondern autoritative
Interpreten erst viel später in diese Beziehungspaare hineinlegten21.
Der bekannteste Konfuzius zugeschriebene Text ist das 论语
Lùn Yß, die Gespräche. Das Büchlein besteht aus Konfuzius=
Antworten auf Fragen seiner Schüler und Aussprüchen, die meist
in der standardisierten Form: 子曰 z0 yu‘ Der Meister sagt dem
Leser angeboten werden, sowie aus Texten über Konfuzius. Häufig
beantwortet der Meister Fragen seiner Schüler, die seine philosophischen Begriffe und Anforderungen betreffen.
21
Lutz Geldsetzer, Hóng Hàn-d0ng (
Philosophie, Reklam 9689, 1998, S. 101.
39
,-.), Grundlagen der chinesischen
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Der heute vorliegende Text entstand in der 汉 Hàn-Dynastie,
also etwa fünfhundert Jahre nach Konfuzius. Der Inhalt geht kreuz
und quer durcheinander, weder sind die einzelnen Teile/Kapitel
überschrieben, noch werden die einzelnen Konzepte des Meisters
thematisch zuammengefaßt. Sie tauchen vielmehr immer wieder an
verschiedenen Stellen des Textes auf. Die Einteilung der
Gespräche in zwanzig Kapitel (in denen die einzelnen Aussagen
wiederum numeriert sind) bewirkt daher nur eine oberflächliche
Ordnung.
Inhaltlich kreisen die Gespräche vor allem darum, was einen
君子 jãn z0 Edlen ausmacht, worauf es im Leben eines Menschen
ankommt oder wie eine gute Herrschaft aussehen muß.
Beispiele (Übersetzung: Ralf Moritz22)
! Konfuzius sprach: Als ich fünfzehn war, war mein ganzer Wille
aufs Lernen ausgerichtet. Mit dreißig Jahren stand ich fest. Mit
vierzig hatte ich keine Zweifel mehr. Mit fünfzig kannte ich den
Willen des Himmels. Als ich sechzig war, hatte ich ein feines
Gehör, um das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche
herauszuhören. Mit siebzig konnte ich den Wünschen meines
Herzens folgen, ohne das Maß zu überschreiten. (II,4)
子曰、吾十有五而志于学、三十而立、四十而不惑、五
十而知天命、六十而耳顺、七十而从心所欲不踰矩
z0 yu‘, wú shí y4u wß ér zhì yú xué, s~n shí ér lì, ì shí ér bú huò,
wß shí ér zh§ ti~n mìng, liù shí ér r shùn, q§ shí ér cóng x§n su4
yù bù yú jß
! Konfuzius sprach: Dem Edlen geht es um innere Werte, der Gemeine hingegen ist auf Materielles aus. Der Edle denkt an die
richtigen Vorbilder, der Gemeine strebt nach Gunst. (IV,11)
! Konfuzius sprach: Wer immer den eigenen Vorteil sucht,
bekommt Ärger. (IV,12)
! Konfuzius sprach: Wie geht es doch abwärts mit mir. Schon
lange ist mir 周公 ZhÇu GÇng [Herzog Zhou] nicht mehr im
Traum erschienen. (VII,5)
22
Konfuzius, Gespräche, Reclam 9656, 1982.
40
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
! Konfuzius sprach: Könnte man auf rechtem Wege reich werden,
würde ich das auch wollen, und wenn ich dafür als Reitknecht
dienen müßte. Da man dies aber nicht kann, folge ich meinen
eigenen Neigungen. (VII,12)
! Das Haupt der Aristokratenfamilie Ji war noch reicher als der
dem König unmittelbar nahestehende Hochadel. Ran Qiu23 trieb
für ihn die Steuern ein und vermehrte so seinen Reichtum.
Konfuzius bemerkte: *Dieser Ran Qiu hat nichts mehr mit uns
zu tun. Ihr, meine Schüler, könnt die Trommeln schlagen und
ihn angreifen.+ (XI,17)
! 子贡 Z0 Gòng fragte, woran man eine gute Regierung erkenne.
Konfuzius antwortete: *Sie muß die Ernährung sichern. Muß
ausreichend gegen Feinde gerüstet sein. Muß danach trachten,
daß das Volk Vertrauen in die Regierung hat.+ Zi Gong fragte
weiter: *Wenn man aber nun eines der drei Dinge aufgeben
müßte, worauf könnte man am ehesten verzichten?+ Der Meister: *Auf die Rüstung.+ Zi Gong weiter: *Müßte nun wiederum
eins von beiden aufgegeben werden, worauf sollte man dann
noch verzichten?+ Konfuzius: *Auf die Ernährung. Ohne Nahrung muß man sterben. Doch seit jeher ist der Tod das Los aller
Menschen. Wenn aber das Volk kein Vertrauen in die Regierung
hat, kann der Staat nicht bestehen.+ (XII,7)
! 哀公 }i GÇng [Herrscher von 鲁 Lß] sprach zu [dem Schüler]
有若 Y4u Ruò: *Das ist kein gutes Jahr. Es brachte eine Mißernte, so daß Mangel herrscht. Was soll ich tun?+ You Ruo antwortete mit einer Gegenfrage: *Warum nicht die Steuern und
Abgaben senken?+ Doch Ai Gong entgegnete: *Schon jetzt reichen die Steuern und Abgaben nicht aus. Wie könnte ich sie
dann noch senken?+ Daraufhin sprach You Ruo: *Wenn das
Volk keinen Mangel leidet, wie könnte dann der Herrscher darben? Hat das Volk aber kein gesichertes Auskommen, wieso
kann dann der Herrscher in Wohlstand leben?+ (XII,9)
! 季康子 Jì K~ng Z0 wollte von Konfuzius wissen, wie regiert
23
Ein Schüler des Konfuzius, der zugleich Beamter im Dienste der
mächtigen Ji-Sippe im Staate
Lß war.
/
41
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
werden solle. Dabei meinte er: *Sollte man nicht um einer guten
Sache Sache willen alle jene töten, die nicht den rechten Weg
gehen?+ Konfuzius entgegnete ihm: *Wieso müßt ihr töten, wenn
Ihr regiert? Ihr selbst müßt das Gute nur wirklich wollen, dann
wird auch das Volk gut werden. Der Herrscher ist dem Winde
gleich. Der gewöhnliche Mann gleicht dem Gras. Bläst der
Wind übers Gras, dann biegt es sich.+ (XII,19)
! 樊迟 Fán Chí wollte wissen, wie ein Feld zu bestellen sei. Doch
Konfuzius meinte: *Darin bin ich nicht so bewandert wie ein
erfahrener Bauer.+ Daraufhin bat der Schüler um Unterweisung
im Gartenbau. Aber der Meister sprach: *Damit bin ich nicht so
vertraut wie ein erfahrener Gärtner. Nachdem Fan Chi gegangen war, sagte Konfuzius: *Fan Chi denkt wahrhaftig wie die
gewöhnlichen Leute. Werden oben die gewöhnlichen Regeln des
Anstands, der Sitte und Ordnung geachtet, dann wird auch
unten niemand wagen, ohne Achtung und Ergebenheit zu sein.
Hat man oben ein richtiges Verhältnis zu Recht und Pflicht,
dann wird sich im Volk niemand erkühnen, Ungehorsam zu
zeigen. Wird oben die Aufrichtigkeit hochgehalten, dann wird
es unten niemand wagen, unaufrichtig zu sein. Wenn aber die
Zustände so sind, dann werden die Menschen aus allen vier
Himmelsrichtungen, ihre Kinder auf dem Rücken tragend,
herbeigelaufen kommen. Wieso braucht man dazu Kenntnis über
den Ackerbau?+ (XIII,4)
! Jemand fragte den Meister: *Soll man mit 德 dé = Güte vergelten, wenn einem Unrecht geschieht?+ *Womit willst Du dann
Güte vergelten? Unrecht ist mit Gerechtigkeit, Güte mit Güte zu
vergelten+, entgegnete der Meister. (XIV, 34)
! Zi Zhang fragte Konfuzius, was es heiße, sittlich zu handeln.
Der Meister antwortete: *Überall fünf Grundsätze verwirklichen
- das ist Sittlichkeit.+ Zi Zhang wollte daraufhin wissen, was das
für Grundsätze seien. Konfuzius sagte: *Höflichkeit, Großmut,
Aufrichtigkeit, Eifer und Güte. Der Höfliche genießt mehr Achtung, durch Großmut gewinnt man Sympathie. Aufrichtigkeit
schafft Vertrauen. Eifer bringt Erfolg. Wer Güte hat, kann
anderer Menschen Herr und Leiter sein.+ (XVII,6)
42
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
孟子 Mèng Z0 Menzius (-372 bis -289), der zweite auch im
Ausland dem Namen nach bekannte Philosoph, war ein Schüler der
Lehre des Konfuzius, der sie im Sinne des Humanismus interpretierte. Er war der Ansicht, daß der Mensch im Kern seines Wesens
gut sei und insofern beste Chancen bestünden, auch die Gesellschaft, den Staat, humanistisch zu gestalten. Ein Herrscher benötigt
laut Menzius auch die zumindest stillschweigende Duldung der
Beherrschten, also eine Legitimation der Herrschaft. Sollte diese
sich jedoch als despotisch, unfähig oder in anderer Weise
extravagant zeigen, so kann ihr die Legitimierung entzogen
werden. Der Herrscher verliert sein 天命 ti~n mìng Mandat des
Himmels.
Wie Konfuzius sah auch Menzius in der idealisierten Vergangenheit der 周 ZhÇu-Zeit und in deren angeblich unbefleckten
Herrschern das geeignete Vorbild, die Wirrnisse seiner Gegenwart
der Streitenden Reiche zu heilen. Er hielt jeden Menschen für von
Natur aus gut, weil er über Mitleid (恻隐 cè y0n), Schamgefühl
(羞恶 xiã wù), Bescheidenheit (辞让 cí ràng) und die Fähigkeit
verfüge, Recht und Unrecht (是非 shì f‘i) zu unterscheiden. Daran
könne man ansetzen, um die gute Gesellschaft zu schaffen, denn
von Natur aus vorhandenes
!
!
!
!
恻隐 cè y0n Mitleid führt zu 仁 rén Menschlichkeit,
恻隐 cè y0n Schamgefühl zu 义 yì Gerechtigkeit,
辞让 cí ràng Bescheidenheit zu 礼 l0 Sittlichkeit und
是非 shì f‘i Unterscheidungsvermögen (zwischen Recht und
Unrecht) zu 智 zhì Weisheit.
Wie sein Vorbild Konfuzius, dessen Lehre er systematisierte, scheiterte jedoch auch Menzius an den Realitäten des chinesischen
Lebens: Kein Herrscher nahm je seinen angebotenen Rat an und
beschäftigte ihn als Beamten. Sie hörten stattdessen lieber auf die
skrupellosen, ausschließlich erfolgs-orientierten Ratschläge der
43
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
游说 yóu shuÇ24 umherziehenden Politikberater.
Die Kanonisierung des Menzius in der späteren 汉 Hàn -Zeit als
Säulenheiligen des gesellschaftlichen Lebens rückte vor allem
seine Forderung nach kindlicher Pietät oder Respekt vor den
Eltern, das 孝 xiào, an eine herausragende, vielleicht die oberste
Stelle des Wertekanons.
Das Kind, der Sohn, hat demnach die unbedingte Pflicht, seinen
Eltern (insbesondere dem Vater als Oberhaupt) zu dienen und
Gehorsam zu erweisen. Diese Über- und Unterordnung wurde außer auf die Freundes- auch auf die vier anderen der
konfuzianischen Fünf Beziehungen übertragen und machte aus
ihnen ein hierarchisches Verhältnis. In bezug auf die Eltern begründete 孝 xiào die kindliche Pietät die tiefverwurzelte Ahnenverehrung der Chinesen, die den toten (männlichen) Vorfahren entgegenzubringen ist.
Die Lehren beider, des Konfuzius und des Menzius, versorgten
die chinesische Gesellschaftsordnung mit dem ideologischen Rahmen eines auf Ethik gegründeten Beziehungsgeflechts. Die herrschenden wie die beherrschten Klassen der Gesellschaft nahmen
dies als Basis des Staates und Zusammenlebens an, weiteten es im
täglichen Leben und im Verlauf der Jahrhunderte aus - und hielten
sich, zumindest was die Machthaber anlangte, doch genauso selten
daran wie christliche Könige ihr Handeln an der Lehre der Nächstenliebe ausrichteten.
Staat und Gesellschaft Chinas entwickelten sich auf dieser Basis
in eine der europäischen fremde Richtung: Es gab keine unveräußerlichen Indivudualrechte, sondern nur eine jedem Menschen
innewohnende Ethik. Recht und Gesetz konnten auf dieser Grundlage deshalb nie den Status erreichen, den sie in Europa einmal
einnahmen, nämlich über den Menschen, auch über den Herrschern
stehende Normen zu sein. Recht und Gesetz, wie ausführlich sie
immer kodifiziert sind, dienten und dienen in China immer nur als
Werkzeuge zur Exekution des Herrscherwillens.
24
Siehe oben: Strategen horizontaler und vertikaler Bündnisse (
zòng héng ji~).
44
012
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Der Menzius-Auslegung der konfuzianischen Ansichten entgegengesetzt waren die Doktrinen eines anderen Konfuzius-Schülers
seiner Zeit, des 荀子 Xún Z0 (ca. 300 bis -237). Er sah im Menschen keineswegs einen guten Kern, sondern das gerade Gegenteil:
Eigennutz und Bosheit. Nach 荀子 Xún Z0 war das Gute, das die
Gesellschaft zu ihrem Fortbestehen unbedingt brauchte, deshalb
nur zu erreichen, wenn die Mesnchen darin unterrichtet wurden und
sie sich darein fügten, sich entsprechend ihrer sozialen Stellung zu
bescheiden. Wegen des schlechten Kerns der Menschen sei dies
jedoch nur durch eine authoritäre Regierung zu erreichen, nicht
durch Appelle an das Gute oder Überzeugungsarbeit.
Mit dieser Lehre konnte 荀子 Xún Z0 zum Stammvater einer
anderen, vielleicht der tatsächlich wichtigsten Philosophenschule
werden, die die chinesische Gesellschaft bis heute mindestens
ebenso prägte und prägt wie die Konfuzianer, nämlich:
法家 f| ji~ Die Legalisten
Die Doktrinen der Legalisten formulierten erstmals 韩非子 Hán
F‘iz0 (gestorben ca. -233) und 李斯 L0 S§ (Kanzler im Staate 秦
Qín unter dem späteren Ersten Kaiser, gestorben ca. -208).
Ihre Lehre sah die menschliche Natur als so schlecht und verkommen an, daß sie völlig unkorrigierbar sei. Der einzige Weg, mit
diesen Leuten fertigzuwerden und den Staat in Ordnung zu halten
bestand daher darin, der Gemeinschaft eine strenge Disziplin von
oben aufzuoktrieren, was mittels authoritärer Vorschriften, Gesetze
genannt, zu geschehen habe.
Der Staat bzw. seine Organe, vor allem der Herrscher, die Überwachungsorgane und die Gerichte, die dieses Konzept durchzusetzen hatten, standen daher im Zentrum der legalistischen Aufmerksamkeit. Für die Herrschenden war der Legalismus damit die
ideale Rechtfertigung ihres despotischen Tuns, und so wurde er zur
praktischen Staatsphilosophie Chinas, wenngleich er während
der 汉 Hàn-Zeit (-206 bis 220), mit Elementen des Konfuzianismus
vermischt wurde. Dieses Amalgam ist bis heute weitgehend intakt
geblieben.
Vor allem zwei Namen, 商鞅 Sh~ng Y~ng (Lord Sh~ng, gest. ca.
45
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
-338) und 韩非子 Hàn F‘iz0 (ca. -280 bis -233), stehen für die
praktische Anwendung einer- und die philosophische Ausformulierung andererseits der legalistischen Philosophie.
商鞅 Sh~ng Y~ng war es, der - 356 dem Herrscher von 秦 Qín
die Einführung strengster Maßnahmen zur Kontrolle seiner Helfer
und des Volkes vorschlug, die dieser annahm und umsetze25.
Die Denk-Schule hält dafür, daß der Herrscher seine schlechten,
eigennützigen Untertanen wie auch seine Helfer (Minister, Beamte)
strengster Kontrolle unterwerfen muß, um sie im Zaum und sich an
der Macht zu halten. Legalistische Ratschläge dienen der Sicherung
von Herrschaft durch Unerbittlichkeit. Sie kreisen um drei zentrale Begriffe:
! 势 shì = Macht,,
! 术 shù = Methoden, sie zu erhalten, und die
! 法 f| = Vorschriften oder Gesetze, die diese Methoden in die
Staatspraxis umsetzen.
Aus letzterem, 法 f|, den Vorschriften, resultiert der Name dieser
Schule: 法家 f| ji~.26
Beispiel 韩非 Hàn F‘i sagte:
All the great matters of the ruler of men are matters either of
law 法 f| or of methods 术 shù. The laws are compiled in
documents, ensconced [vorgehalten] in government offices, and
promulgated among all the people. The methods are concealed
within the breasts, are deployed to meet all contingencies in
government and to control covertly the servents. Thus the law
works best of all when clearly revealed, while methods should
25
3456 Sh~ng Y~ng biàn f| - Sh~ng Y~ng ändert die Gesetze, wie es
in chinesischen Geschichtsbüchern heißt.
26
Zur Vertiefung des Themas am besten geeignet: Kung-chuan Hsiao
(übers. Von F.W. Morse), A History of Chinese Political Thought, Princeton
University Press 1979. Und als übersetzten Originaltext: The Book of Lord Shang,
übers. von J.J.L. Duyvendak, Arthur Probsthain, London 1928.
46
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
not be obvious.27
Zu den wichtigen 术 shù Methoden des Herrschers zählen die
Bestellung und Beförderung von Beamten und die Bewertung ihrer
Arbeit. An erster Stelle steht bei letzterem jedoch die Strafe, nicht
die Belohnung, denn Aufgabe der Regierung sei es, das dem Menschen inhärente Schlechte zu begrenzen, nicht aber, eine (ohnehin
nicht vorhandene) Moral aufzubauen und zu verbreiten. Hier entspricht die legalistische Lehre den Erkenntnissen des Italieners
Machiavelli (1469 - 1527), der in seinem bekanntesten Werk, Der
Fürst, eine entsprechende Frage des Herrschers so beantwortet:
Der Fürst fragt: Ist es besser meine Untertanen lieben mich
oder ist es besser, sie hassen mich? Machiavellia antwortete: Es
ist besser, sie hassen dich, denn das hast Du in der Hand. Ob
sie dich lieben, entscheiden sie jedoch selbst.
Ein Herrscher im westlich der sechs anderen Streitenden Reiche
gelegenen Staate 秦 Qín war es, der die Philosophie des Legalismus unter dem Einfluß des beratenden Lord 商鞅 Sh~ng Y~ng
in Staatspolitik umsetzte. In 秦 Qín galt zum Beispiel:
! Einteilung des Volkes in Fünfer- und Zehnergruppen mit der
Pflicht gegenseitiger Beaufsichtigung und Solidarhaftung,
! Todesstrafe bei versäumter Denunziation eines Vergehens,
! Doppelte Besteuerung von Haushalten mit mehr als zwei erwachsenen männlichen Mitgliedern (gegen die Großfamilie),
! Belohnung militärischer Verdienste durch hierarchische Titel
(aber nicht: Lehen, die zu unabhängigen Staaten werden konnten),
! Bestrafung privaten Streites,
! Beschäftigung aller mit Ackerbau und Seidenzucht; Befreiung
von öffentlichen Arbeiten bei hoher Produktion von Korn und
Seide; Versklavung derer, die sekundären Beschäftigungen
27
Kung-chuan Hsiao (übers. Von F.W. Morse), A History of Chinese
Political Thought, Princeton University Press 1979, S. 397.
47
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
nachgehen wie Handel, Kunsthandwerk, Gastwirte, Privatgelehrte u.a.),
! staatliche Zuteilung von Feld, Haus, Dienerschaft, Konkubinen
und Bekleidung.
Später kamen hinzu:
! Verbot des Zusammenlebens von Vater und Sohn, älterem und
jüngerem Bruder im gleichen Haushalt,
! Ersetzung der feudalen [erblichen] Helfer des Herrschers durch
Staatsbeamte ....28
Dem so reorganiserten 秦 Qín gelang es damit, eine effiziente
Staatsmacht zu errichten und schließlich die Vorherrschaft über die
anderen Streitenden Reiche zu erlangen.
Beispiel, 商君书 Sh~ng Jãn Shã The Book of Lord Shang29
A weak people means a strong state, and a strong state means
a weak people. Therefore, a country, which has the right way,
is concerned with weakening the people. ... Being weak (弱 ruò),
they are law-abiding; being licentious [ausschweifend], they let
their ambition go too far; being weak they are serviceable, but
if they let their ambition go too far, they will become strong.
...
Farming, trade and office are the three permanent functions in
a state. Farmers open up the soil, merchants import products,
officials rule the people. These three functions give rise to
parasites, six in number, which are called: care for old age,
living on others, beauty, love, ambition, and virtuous [tugendhaft] conduct. If these six parasites find an attachement, there
will be dismemberment. If farmers live in affluence [Überfluß],
28
Günther Debon, Werner Speiser, Chinesische Geisteswelt Zeugnisse
aus drei Jahrtausenden, Hanau 1987, S. 95.
29
J.J.L. Duyvendak, The Book of Lord Shang, Reprint, San Francisco,
1974, S. 303 - 309 (Weakening the People).
48
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
they seek leisure in their old age; if merchants have illicit
profits, there will be beauty and love, and these will harm the
means for enforcing the law; if officials are set up, but are not
utilized, ambition and virtuous conduct will be the end. ...
If the law is crooked, order turns into disorder; if reliance
is placed on virtue, there is much talking; if government
measures are numerous, the state is in disorder, and if there is
much talking the army is weak. But if the law is clear,
government measures are limited; if reliance is placed on force,
talking ceases; if government measures are limited, the country
enjoys orderly administration, and if talking ceases, the army is
strong. ...
Now, to have a numerous population and a strong army is
the great capital of an emperor or king, but if he does not have
clear laws by which to keep them, he is next-door to peril and
ruin.
道教 dào jiaò Daoismus [Taoismus]
Auch der für das chinesische Denken so prägende 道教 dào jiaò
Daoismus entstand in der Zeit der Streitenden Reiche. Seine Aussagen werden dem legendären Weisen 老子 L|o Z0 (Alter Meister,
auch: 老旦 L|o Dàn) zugeschrieben, der
ein Vorgänger des Konfuzius, und 庄子
Zhu~ng Z0 (-369 bis -286) gewesen sein
soll. Zwei Linien sind beim Daoismus zu
unterscheiden:
! Die Philosophie, die den Menschen
bewegen will, sich in Übereinstimmung mit seiner Umwelt, der Natur,
dem Kosmos, zu bewegen und nicht in
diesen Lauf der Dinge regelnd einzugreifen, also 无为 wú wéi, nichts tun.
Der Daoismus hat hier einen stark
anti-staatlichen, anarchischen Zug.
! Die Religion, die sich -mit allem, was
49
78 cái shén Gott des
Reichtums. Daher der
7
Neujahrsgruß: 9:;
gÇng x0 f~ cái Glück &
Reichtum.
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CHINESISCHE GESCHICHTE
dazugehört: Mönchen, Klöstern, Schriften, Kulten etc.- während
der 汉 Hàn-Zeit entwickelte. Sie kam dem Naturell der
chinesischen Bauernbevölkerung so sehr entgegen, daß sie zum bis
heute blühenden Volkskult mit hunderten, ja vielleicht tausenden
von Göttern wurde. Einen für all und jedes, zum Beispiel auch die
Küche, das Feuer, gegen Zahnschmerzen etc. Der bekannteste ist
bis heute der vielgebrauchte 财神 cái shén, der Gott des Reichtums.
In den daoistischen Tempeln stehen ihre Standbilder noch heute
und sind Ziel hilfesuchender Menschen.
Der Daoismus als Philosophie zielt auf das Individuum in der
Natur, im Universum, nicht aber auf die menschliche Gesellschaft
oder den Staat. Das Lebensziel der Menschen sieht der Daoismus
im reibungslosen Folgen des unerforschlichen Gangs der Natur,
was er als 道 dào, Weg, bezeichnet. Damit haftet dem Daoisten
etwas anarchisches, anti-staatliches an und steht er im kompletten
Gegensatz zum Konfuzianer, der ja gerade die Ethik kultivieren
und vorleben, seine Natur also pausenlos in a priori gestellte Anforderungen einpassen soll, die die Natur so gar nicht kennt. Damit
bietet der Daoismus dem ständig aan sich arbeitenden Konfuzianer
freilich auch die Möglichkeit, sich dann und wann vom furchtbar
anstrengenden täglichen Veredeln zu erholen, ganz so, wie dies der
Katholik im Fasching tut. Texte des Daoismus sind
! das 道德经 Dào Dé J§ng, Buch vom Weg und der Tugend,
! das 庄子 Zhu~ng Z0, das den Namen des Philosophen trägt, aber
nur zum Teil auf diesen zurückgeht,
! das 淮南子 Huái Nán Z0.
道德经 Dào Dé J§§ng, Das Buch vom Weg und der Tugend ist der
Haupttext des Daoismus und geht auf 老子 L|o Z0 (Laotse) zurück,
der es jedoch nicht selbst verfaßt hat. Es entstand in der Zeit des
Konfuzius. Die heute umlaufenden Versionen beruhen auf einem
Text von ca. -350, dessen Autor nicht bekannt ist. Eine 1973 bei
einer berühmten Ausgrabung (马王堆 M| Wáng Du§) gefundene
Version trägt den Titel 德道经 Dé Dào J§ng.
50
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Die englische Übersetzung The Way and its Power geht auf
Arthur Waley zurück, der 道 dào mit Weg und 德 dé mit quality
bzw. virtue übersetzte. Letzteres soll das sein, was die tausend
Dinge des Universums ausmacht und ihnen ihre jeweilige Natur
und Funktion verleiht.
Das 道德经 Dào Dé J§ng ist eines der geheimnisvollsten (oder
unsinnigsten?) Bücher der Menschheit und erfreut sich wegen der
zahllosen Interpretationsmöglichkeiten bis heute auch in Europa
unter Esoterikern großer Beliebtheit. Es betont die Notwendigkeit,
die Naturgesetze des Universums zu verstehen; aber nicht um sie
naturwissenschaftlich zu nutzen, sondern um in Harmonie mit
diesen kreativen und nachhaltigen Kräften zu leben, dem 道 dào,
das auch dem Menschen innewohnt, ihn ausmacht. Es ist ein Buch
der Paradoxien, das Erleuchtung dem verspricht, der das Wissen
zurückweist, Fortschritt dem, der nachgibt und Zufriedenheit dem,
der verzichtet.
Beispiele (Übersetzung: Ernst Schwarz30)
9.
besser ist aufhören
denn übererfüllen
die klinge immerfort geschärft
bleibt nicht lange klinge
der saal mit gold und jade vollgestopft
ist nicht vor räubern zu bewahren
glanz und ehren mit hochmut gepaart
ziehn sich selbst ins verderben
zurückziehen nach getanem werk
so ist das Dau des himmels
30
Laudse, Daudedsching, Leipzig 1978.
51
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24.
wer auf den zehen steht, steht nicht sicher
wer große schritte macht, kommt nicht weit
wer sich gern selbst zeigt, den übersieht man
wer gerne recht behält, den überhört man
wer auf verdienste pocht, schafft nichts verdienstvolles
wer sich hervorhebt, verwirkt den vorrang
im sinn des Dau gesprochen wäre das:
schlemmen - nicht essen, stolzieren, nicht gehen
und das erweckt bei allen wesen abscheu
wer sich ans Dau hält
handelt niemals so
36.
was man verengen will
muß man erweitern
was man schwächen will
muß man stärken
was man stürzen will
muß man erheben
wo man nehmen will
muß man geben
das nenne ich:
erkennen, ehe sich die dinge geklärt
das weiche besiegt das harte
der fisch steige nicht aus der tiefe
scharfe waffen des staates zeige man nicht dem volke
57.
das land regiert man mit regel und maß
krieg führt man ohne regel mit list
das reich aber erringt man ohne taten
woher weiß ich, daß die welt so ist?
daher:
je mehr verbote
um so ärmer das volk
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je mehr scharfe waffen im volk
um so wirrer der staat
je geschickter die menschen
um so mehr seltene waren
je mehr gesetze
um so mehr diebe und räuber
darum sage der weise:
ich tue nichts, und das volk wandelt sich von selbst
ich verhalte mich still, und das volk findet das maß
ich bleibe tatenlos, und das volk gelangt zu wohlstand
ich bin begierdelos, und das volk findet zur unverdobenheit
庄子 Zhu~~ng Z00 ist -neben 老子 L|o Z0- der Ur-Typ des Daoisten,
dessen Ansichten anti-staatlich, bisweilen anarchistisch sind. Dazu
paßte sein Leben, wie es überliefert ist. Richard Wilhelm, der das
Werk erstmals ins Deutsche übersetzte, faßt es in seinem Vorwort
so zusammen:
Sein Leben war vorzugsweise innerlich, doch war er weit entfernt, als Eremit oder Sonderling die Welt zu fliehen. Er war
verheiratet, und über das Verhältnis zu seiner Frau sind mancherlei Sagen im Umlauf. Bei ihrem Tod benimmt er sich etwas
exzentrisch. Da er keinen Wert darauf legt, als Fürstenknecht
sein Brot zu verdienen [vgl. unten, Die Schildkröte] herrschen
offenbar in seiner Familie häufig recht dürftige Verhältnisse,
doch war diese Misere des Lebens nicht imstande, seine
Gelassenheit zu beeinträchtigen.
Der Schriftsteller Hermann Hesse schrieb über 庄子 Zhu~ng Z0:
Dschuang Dsi ist der größte und glänzendste Poet unter den
chinesischen Denkern, soweit wir sie kennen, zugleich der
kühnste und witzigste Angreifer des Konfuzianismus. Die Lehre
des Laotse freilich lernt man durch ihn wohl fühlen, aber nicht
eigentlich kennen, er ist ein beweglicher und farboger Spiegel.
Er ist eine zu starke Persönlichkeit, um eigentlich zum Schüler
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und Apostel zu passen, und manchmal macht er mit seiner
Beredsamkeit einen fast dialektisch-sophistischen Eindruck.
Dafür ist er ein großer Dichter, ein Meister des Gleichnisses,
das wir bei Laotse selber durchaus vermissen. Er gibt oft Farben und Lichter, deren Spiel nicht ganz mehr der heiligen Lehre
entspricht; aber er gibt auch Fleisch und Blut, wo der reine
Geist des Laotse uns unfaßbar wird und entgleitet.
Von allen Büchern chinesischer Denker, die ich kenne, hat
dieses am meisten Reiz und Klang31.
Das 庄子 Zhu~ng Z0 zugeschriebene Werk enthält zahlreiche,
einfach verständliche Parabeln und Annekdoten und erfreute sich
gerade deshalb großer Beliebtheit im Volk. Nicht selten trösten diese Geschichten die im Leben Gescheiterten (oder die das jedenfalls
von sich vermuten) wie zum Beispiel die über den knorrigen Baum
(s.u.).
Beispiele (Übersetzung: Richard Wilhelm32)
Die Schildkröte
Dschuang Dsï fischte einst am Flusse Pu. Da sandte der König
von Tschu zwei hohe Beamte als Boten zu ihm und ließ ihm
sagen, daß er ihn mit der Ordnung seines Reiches betrauen
möchte.
Dschuang Dsï behielt die Angelrute in der Hand und sprach,
ohne sich umzusehen: *Ich habe gehört, daß es in Tschu eine
Götterschildkröte gibt. Die ist nun schon dreitausend Jahre tot,
und der König hält sie in einem Schrein mit seidenen Tüchern
und birgt sie in den Hallen eines Tempels. Was meint Ihr nun,
daß dieser Schildkröte lieber wäre: daß sie tot ist und ihre
hinterlassenen Knochen also geehrt werden, oder daß sie noch
lebte und ihren Schwanz im Schlamme nach sich zöge?+
31
Zitiert nach: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland,
Diederichs Gelbe Reihe, Köln 1986, ISBN 3-424-00574-6.
32
Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Diederichs
Gelbe Reihe, Köln 1986, ISBN 3-424-00574-6, S. 69.
54
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Die beiden Beamten sprachen: *Sie würde es wohl vorziehen
zu leben und ihren Schwanz im Schlamme nach sich zu
ziehen.+
Dschuang Dsï sprach: *Geht hin! Auch ich will lieber
meinen Schwanz im Schlamme nach mir ziehen.+
Der knorrige Baum
Meister Ki vom Südweiler wanderte zwischen den Hügeln von
Schang. Da sah er einen Baum, der war größer als alle
anderen. Tausend Viergespanne hätten in seinem Schatten Platz
finden können.
Der Meister Ki sprach: *Was für ein Baum ist das! Der hat
gewiß ganz besonderes Holz.+
Er blickte nach oben. Da bemerkte er, daß seine Zweige
krumm und knorrig waren, so daß sich keine Balken daraus
machen ließen. Er blickte nach unten und bemerkte, daß seine
großen Wurzeln nach allen Seiten auseinandergingen, so daß
sich keine Särge daraus machen ließen. Leckte man an einem
seiner Blätter, so bekam man einen scharfen, beißenden
Geschmack in den Mund; roch man daran, so wurde man von
dem starken Geruch drei Tage lang wie betäubt.
Meister Ki sprach: *Das ist wirklich ein Baum, aus dem sich
nichts machen läßt. Dadurch hat er seine Größe erreicht. Oh,
das ist der Grund, warum der Mensch des Geistes unbrauchbar
für das Leben ist.+
Schmetterlingstraum
Einst träumte Dschuang Dschou, daß er ein Schmetterling sei,
ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte
und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er
auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang
Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat,
daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling
geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei, obwohl doch
zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein
55
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Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.33
Weitere Denkrichtungen
Neben den bisher dargestellten brachte die chaotische Zeit der
Streitenden Reiche noch viele weitere Denk-Schulen hervor, die bis
heute weltweit bekannt sind wie zum Beispiel die Schule des 阴阳
y§n-yáng und der damit in Verbindung stehenden Lehre von den
五行 wß xíng Fünf Elementen: 水 shu0 = Wasser, 火 hu4 = Feuer,
木 tß = Holz, 金 j§n = Metall und 土 tß = Erde.
Diese Elemente bringt der Experte (Wahrsager) mit anderen Begriffen in Verbindung, woraus ein Netz von Beziehungen entsteht,
aus dem Aussagen über Schicksale oder Zustände von Örtlichkeiten etc. gezogen werden. Grundlegend sieht das Zuordnungsund Beziehungsgeflecht (vertikal) so aus:
Element
Jahreszeit
Himmelsrichtung
= hu4
> tß
? j§n
@ tß
Wasser
Feuer
B xià
Holz
C chãn
Metall
D qiã
Erde
Winter
Sommer
Frühling
Herbst
G bi
H nán
I dÇng
J x§
4 Jahreszeiten
Norden
Süden
M hóng
Osten
N q§ng
Westen
O bái
Mitte
schwarz
rot
grün/blau
weiß
gelb
Q xián
R kß
S su~n
T x§n
U g~n
bitter
sauer
scharf
süß
< shu0
A dÇng
L h‘i
Farbe
Geschmack
salzig
EF sì jì
K zhÇng
P huáng
Diese Beziehungen mit wichtigen Körperorganen in Verbindung gebracht
bilden die Grundlage der chinesischen medizinischen Diagnostik:
Organe
肾 shèn
心 x§n
肝 g~n
肺 fèi
脾 pí
Niere
Herz
Leber
Lunge
Milz
Basis für ihre Entstehung dieser Geheimwissenschaft war das Weis33
Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland,
Diederichs Gelbe Reihe, Köln 1986, ISBN 3-424-00574-6, S. 52.
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sagungsbuch 易经 Yì J§ng, das
Buch der Wandlungen, das in
ähnlicher Weise mit Kombinationen zweier Elemente (卦 guà)
arbeitet, eines durchgehenden und
eines unterbrochenen Striches: C
a
Ableitung der ` b~ guà 8
und BB.
BB Sie symbolisieren die
Diagramme aus dem bc tài jí
Urprinzip.
gegensätzlichen Prinzipien, die
allen Dingen innewohnen sollen34 und leiten sich aus dem 太及 tài
jí Symbol ab, das die gegensätzlichen Urprinzipien 阴 y§n und 阳
yáng in sich vereint: C = 阴 y§n und BB = 阳 yáng (阴 y§n = dunkel,
kalt, weiblich und 阳 yáng = hell, licht, heiß, positiv, männlich).
Das Ungleichgewicht von 阴 y§n und 阳 yáng in den Dingen (auch
im Menschen) bewirkt die Entwicklung, ein zu großes Ungleichgewicht jedoch Chaos bzw. Krankheit. Die Anhänger der Lehre
streben nach einem ausgeglichenen Zustand, der 和 hé Harmonie.
Die Auffassungen dieser Schule gingen später sowohl in die
Philosophie ein wie auch in das volkstümliche chinesische Denken,
das mehr dem Aberglauben zuneigt und hier eine unendliche
Spielwiese findet.
Zu erwähnen ist schließlich noch die Schule des 墨子 Mò Z0 (-470
bis -391?) bzw. 墨翟 Mò Dí. Mò Z0 vertrat die Ansicht, daß alle
Menschen gleich seien und dem Willen des Himmels dadurch zu
genügen hätten, daß sie die universelle Liebe praktizierten. Alles,
was man tue, solle nützlich sein, lehrte 墨子 Mò Z0, verurteilte die
Lehre des Konfuzius und predigte Pazifismus. Das Volk solle den
Herrschern gehorchen, die freilich dem Willen des Himmels zu
folgen hätten.
34
VWXY \] \_
Z[ Z^
Chinesisch:
wù bì y4u duì = in den Dingen muß es
Gegensätzliches geben bzw.:
,
dú y§n bù sh‘ng, dú yáng bú
zh|ng = wenn es nur Yin gibt, lebt nichts, wenn es nur Yang gibt, wächst nichts.
57
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DYNASTISCHES CHINA
秦
Qín (-221 bis -207)
Die Zeit der Wirren und Kriege endete damit, daß der im Westen
gelegene Staat 秦 Qín
schließlich auch den letzten
der usprünglich sechs Mitbewerber um die Macht ausschaltete und damit ein Gebiet vereinte, das einen
Großteil des heutigen OstChina ausmachte. Mit der
Konsolidierung seiner Macht
ernannte sich der 秦 QínHerrscher im Jahre -221 zum
始皇帝 Sh0 Huáng Dì Ersten
dQín, nach der Vernichtung der anderen Kaiser, ein Titel, der bis
dahin nur für die lengendäStaaten.
ren Wesen der alten Zeit, vor
allem den Gelben Kaiser reserviert war. Der Herrscher zeigte damit, in welche Reihe und Tradition er sich stellte
58
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Der neue Staat blieb natürlich nach den bewährten Grundsätzen
organisiert, die 秦 Qín groß gemacht hatten, war absolut zentralistisch, vereinheitlichte die Münzen, Schriftzeichen und Wagenspurbreite35, folgte in Herrschaftsdingen den Grundsätzen der
legalistischen Denkschule und verwarf weiter die Praxis erblicher
Lehensstaaten zugunsten einer einheitlichen Beamten-Verwaltung
mit hierarchischer Gliederung (Karriere, nicht Lehensland gab es
als Belohnung).
Die Stabilität der Herrschaft sollte weiter dadurch gesichert
werden, daß andere als die legalistische Denk- und PhilosophieSchulen unterdrückt wurden. Es kam in diesem Zusammenhang zu
der berühmten Verbrennung konfuzianischer Schriften und zum
焚书坑儒 fén shã k‘ng rú Begraben bei lebendigem Leib konfuzianischer Lehrer.
Pausenlose Feldzüge vergrößerten das Territorium des Zentralstaates, wobei besonderes Augenmerk auch dessen Sicherung
gegen von Norden einfallende nomadische Stämme galt. Zu diesem
Zweck ließ der Herrscher die bereits vorhandenen Mauern, die die
Vorgängerstaaten des neuen Reiches hatten anlegen lassen, zusammenfügen, so daß eine durchgehende Sicherung der nördlichen
Grenze entstand. Folgende Dynastien, vor allem die 西汉 X§ Hàn
Westlichen Hàn, 隋 Suí, 晋 Jìn, and 明 Míng, bauten diese Sicherung zur berühmten, 5.000 Kilometer langen 万里长城 wàn l0
cháng chéng Großen Mauer aus, dem Wahrzeichen Chinas. Sie erstreckt sich von der heutigen Provinz 黑龙江 H‘ilóngji~ng im
Nordosten bis zur im Nordwesten gelegenen Provinz 甘肃 G~nsù.
Anscheinend aber waren der Druck, den der Soldaten- und
Knebelstaat auf alle Schichten der Bevölkerung ausübte, und die
Last der Abgaben für die zahlreichen großen Bauprojekte (darunter
das Grab des Kaisers bei der heutigen Stadt 西安 X§=~n) so unerträglich, daß es schon bald nach dem Tod des Ersten Kaisers im
Jahre -210 zu Aufständen kam, die seinen nachfolgenden Sohn und
35
Wodurch ein einheitlicher Straßenbau möglich wurde und sich das
Transportgewerbe gut entwickeln konnte.
59
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CHINESISCHE GESCHICHTE
mit ihm die kaum begonnene Dynastie schon wenige Jahre nach
dem Triumph des 秦始皇帝 Qín Sh0 Huáng Dì wieder hinwegfegten.
Obwohl die Dauer dieses ersten chinesischen Reiches mit nur
vierzehn Jahren eigentlich nicht der Rede wert sein sollte, kann
sein Einwirken auf die Entwicklung Chinas und alles Chinesischen
kaum überschätzt werden.
Im Bewußtsein der Menschen ist 秦 Qín bis heute die Geburtsstunde der Nation (um dieses westliche Konzept hier zu verwenden). Die schauerlichen Grausamkeiten des Ersten Kaisers jagen
nicht nur Kindern eine Gänsehaut über, aber sie bewirken doch bis
heute auch nationalistischen Stolz und Bewunderung bei den Chinesen, weshalb Star-Regisseur 张艺谋 Zh~ng Yìmóu seinen
erfolgreichen Film (2003), der diesen Kaiser behandelt, 英雄 y§ng
xióng Der Held nannte.
Der ausgegrabene 兵马俑坑 b§ng m| y4ng k‘ng Grab-Vorhof
mit Terrakotta-Pferden und Kriegern des 秦始皇帝 Qín Sh0 Huáng
Dì-Monumental-Grabes (das selbst noch unberührt und mysteriös
unter einem großen Hügel unweit davon liegt) ist heute das Ziel
Zehntausender Touristen, die man vielleicht auch Pilger nennen
könnnte, soweit sie Chinesen sind.
Es darf bei der Einschätzung der Bedeutung von 秦 Qín freilich
nicht vergessen werden, daß dieser Staat bereits vor der Reichsgründung -221 lange Zeit auf einem großen Stück des heutigen
chinesischen Staatsgebietes bestand und dort sein rigides Herrschaftssystem ausübte. Seine große Bedeutung ergab sich deshalb
letztlich doch aus der Dauer dieser Herrschaft und daraus, daß viele
Maßnahmen des totalitär-legalistischen Regimes so tief und effizient in das alltägliche Leben der Menschen eingriffen, daß auch
nachfolgende Dynastien sie trotz verbaler Verdammung als sehr
nützlich beibehielten. Sie übernahmen zum Beispiel:
! das Prinzip des Zentralstaats, der von Beamten, nicht aber von
erblichen Lehensfürsten, regiert wurde, und
! eingeteilt war nicht in Fürstentümer, sondern in Verwaltungsbezirke (quasi Provinzen),
60
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! die Vereinheitlichung der Schriftzeichen-Schreibweise,
! die Vereinheitlichung der Wagenspuren,
! die Vereinheitlichung der Münzen und vieles andere.
d
e
Links: Unter der
Qín-Herrschaft vereinheitlichte Münze, rechts davon die
Münzen der vorherigen Einzelstaaten. Rechts oben: Schriftzeichen
m| = Pferd
der Einzelstaaten, darunter das vereinheitlichte Zeichen. Rechts unten: das
duì in der
dà zhuàn Großen Siegelschrift (Vor
Qín-Schrifttype),
Zeichen
xi|o zhuàn der Kleinen Siegelschrift ( Qín-Schrifttyp) und die später
daraus entwickelte Schrift
lì, Vereinfachte Kanzleischrift.
ih f
gh
j
61
d
d
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汉 [汉]
Hàn (-206 bis 220)
西汉 X§ Hàn (-206 bis 9)
东汉 DÇng Hàn (23 bis 220)
Nur ein kurzer Krieg war nötig, um die Herrschaft des Staates 秦
Qín über das vereinigte
Reich schon nach ein
paar Jahren wieder zu
stürzen. Bewerkstelligt
wurde dies -207 von einem Gouverneur des Reiches namens 刘邦 Liú
B~ng, dem es gelang,
eine Armee um sich zu
scharen, den Nachfolger
des Ersten Kaisers militärisch zu schlagen und
sich schließlich auch gegen seine Helfer durchk Hàn-China.
zusetzen und selbst zum
Kaiser der neuen Dynastie zu machen. 刘邦 Liú B~ng gilt als der erste Herrscher, der es,
aus einfachen Verhältnissen stammend, zum Dynastiegründer
brachte. Als solcher wählte er als seinen Kaiser-Namen 高祖 G~o
Zß, Ururgroßvater, höchster Ahn = Dynastiegründer.
Die neuen Herrscher der 汉 Hàn (206 B.C.-A.D. 220) übernahmen das 秦 Qín-Territorium und richteten sich ihre Hauptstadt in
长安Cháng=~n ein, dem heutigen 西安 X§=~n, das fortan noch des
öfteren eine wichtige Rolle als Hauptstadt Chinas spielen sollte.
Die 汉 Hàn behielten viel von dem bei, was die vormaligen
Herrscher eingeführt hatten, ließen jedoch ein wenig ab von der
großen Zentralisierung der 秦 Qín und vergaben in einige Gebiete
wieder Lehen.
Eine bedeutsamere Kehrtwendung machten sie im Bereich der
62
LERN-UNTERLAGEN
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geistigen Grundlagen ihrer Herrschaft, indem sie das konfuzianische Gedankengut zur Staatsdoktrin machten, gemischt allerdings
mit Elementen des praktischen Legalismus.
Der Ursprung des konfuzianischen Beamtentums liegt in dieser Zeit. Neu war die Einführung eines Prüfungssystems zur Auswahl dieser unentbehrlichen Helfer des Herrschers.
Chinas erster und berühmtester Geschichtsschreiber, 司马迁
S§m| Qi~n36 (-145 bis ca. -87) lebte in der 汉 Hàn-Zeit und schrieb
seine bis heute berühmten, in China immer wieder nachgedruckten
史记 Sh0jì Historischen Aufzeichnungen (Historical Records), die
die Ereignisse chinesischer Geschichte von der 夏 Xià-Zeit angefangen bis zum 汉 Hàn-Kaiser 武帝 Wß Dì (-141 bis -87) erstmals
und in detaillreicher Darstellung zusammentrugen37.
Die Stabilität der politischen Herrschaft beförderte auch technische Neuerungen. Die Erfindung des Papiers und des Porzellans
datieren in diese Zeit.
Die 汉 Hàn-Dynastie, aus deren Namen die Chinesen ihre
ethnische Bezeichnung 汉族 Hàn zú ableiten, tat einiges, um die
Grenzen des Reiches vor allem nach Westen auszudehnen, wo sie
bald bis in das Tarim Becken reichten, in der heutigen Provinz
新疆 X§n Ji~ng38, gelegen.
So wurde ein relativ sicherer Karawanenweg möglich, auf dem
Waren über Zentralasien bis nach Bagdad, and Alexandria
(Ägypten) befördert werden konnten. Bekannt ist dieser Weg bis
36
bestehen.
Der Nachname ist
lm S§m|, einer der wenigen, die aus zwei Silben
37
Eine vollständige englische Übersetzung liegt derzeit nicht vor. Im
Verlag Commercial Press Ltd., Hong Kong erschien 1974 eine Auswahl in
englischer Sprache unter dem Titel Records of the Historien,übersetzt von
Yang Hsien-yi (Yáng Xi~nyì) und Gladys Yang. Der berühmte US-Übersetzer
Burton Watson hat mit einer vollständigen Übersetzung begonnen, erschienen
sind jedoch bislang nur zwei Bände.
nop
38
qrstuv wxy
Offiziell:
X§n Ji~ng Wéi Wú Œr Zú Zì Zhì Qã
Autonomes Gebiet X§nji~ng der Uigurischen Nationalität.
63
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CHINESISCHE GESCHICHTE
heute unter dem Namen 丝路 s§ lù Seidenstraße39, denn es war
hauptsächlich Seide, die hier bis nach Rom gelangte, das zur 汉
Hàn-Zeit in voller Blüte stand.
k
_}
|
z{
~
Route der in der
Hàn-Zeit entstandenen
s§ chóu lù Seidenstraße: Von
Cháng=~n nach
Dùnhuáng, wo sie sich gabelte, und
der Hauptstadt
weiter nach Westen bis zum Mittelmeer und nach Rom führte.
汉 Hàn-Armeen gelangten am Ende des zweiten vorchristlichen
Jahrhunderts auch nach Vietnam und Korea, wo sie Teile des Gebietes besetzten. Allerdings blieb die Anbindung so entfernt liegender Territorien unsicher. Das einmalige chinesische Institut des
朝贡 cháo gòng Tribusystems sollte hier größere Stabilität bringen: Den Nicht-Chinesen gestattete der Kaiser ihre Autonomie im
Austausch für die Anerkennung einer 汉 Hàn-Oberherrschaft. Die
Fortdauer der tributären Bindung dokumentierte die periodische
Überbringung von Tribut-Geschenken an den Kaiser durch Delegationen aus den so an China gebundenen Gebieten.
Nach 200 Jahren stabiler Herrschaft unterbrach ein Mann
namens 王莽 Wáng M|ng den Gang der Dinge in den Jahren 9 bis
24. Nach seinem Sturz konnten die 汉 Hàn-Herrscher ihre Macht
jedoch wieder restaurieren und weitere 200 Jahre fortsetzen.
王莽 Wáng M||ng
In der traditionellen chinesischen Historiographie gilt 王莽 Wáng
M|ng als Usurpator, als unrechtmäßiger Herrscher, der die legale
Linie (der 汉 Hàn) unterbrach. Allerdings hält man ihm auch be-
39
Den Namen erfand der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen,
der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts China bereiste und ausführlich
beschrieb. Auch die chinesische Bezeichnung beruht auf dieser Namensgebung.
64
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
deutsame Reformen zugute, die darin bestanden, daß er die Texte
der alten Philosophen, die unter dem Ersten Kaiser verbrannt worden waren, zur Legitimierung seiner Herrschaft wiederherstellte.
王莽 Wáng M|ng setzte aber auch wirtschaftliche Reformen
durch wie die Beseitigung der Sklaverei und vor allem eine
Landreform, die die großen Güter unter den Bauern aufteilte. Sogar
eine regelrechte Wirtschaftspolitik schreibt man ihm zu, denn er
veranlaßte, große staatliche Getreidereserven anzulegen, die in
Zeiten der Verknappung verteilt werden konnten und so hohen
Preisen entgegenwirkten. Die Wirtschaftsreformen führten indes zu
erheblichem Chaos. Nach nur wenigen Jahren sah sich seine
Herrschaft überdies der militärischen Opposition der Nachkommen
der alten 汉 Hàn-Dynastie gegenüber.
Eine Naturkatastrophe, ausgelöst durch Überschwemmungen
des 黄河 Huáng Hé Gelben Flusses im Jahre 11 interpretierten landesweit aufständische Bauern, die 赤眉 chì méi Rote Augenbrauen40, im Jahre 18 als Entzug des himmlischen Mandates für 王莽
Wáng M|ng und führten zum Sturz seiner Herrschaft und zur
Wiedererrichtung der unterbrochenen 汉 Hàn-Linie.
Auch die 汉 Hàn holte freilich das Gesetz aller Dynastien ein:
Korruption und andere mit dem himmlischen Mandat unvereinbare
Laster griffen am Ende soweit um sich, daß die Herrschaft und ihre
Beamten-Helfer die Kontrolle der in den lange stabilen Verhältnissen stark angewachsenen Bevölkerung nicht mehr aufrechterhalten konnten und ihr Regime
im Jahre 220 zerfiel.
Die 汉 Hàn gelten als die erste
wirkliche Dynastie in der chinesischen Geschichte, mit der die
traditionellen Werte Chinas verk
Seidengewand aus einem
Hàn-Grab
_€ bunden werden, die Kaiser 武帝
nahe der heutigen Stadt
Wß Dì in den langen 68 Jahren
Chángsh~.
40
Die Bauern hatten ihre Stirn rot angemalt, um von den
Regierungstruppen unterscheidbar zu sein
65
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
seiner Regierung (-155 bis -87) zur legitimatorischen Grundlage
seiner Herrschaft machte:
! den Konfuzianismus auf Basis der Fünf Schriften, plus
! die deutlichen Vorschriften (Gesetze) der Legalisten sowie
! das Beamtentum mit einem allgemeinen, nicht diskriminatorischen Prüfungssystem als Zugang.
Letzteres wurde gegen Ende der östlichen 汉 Hàn, um 220, von
曹丕 Cáo P§, Sohn des 曹操 Cáo Cáo (s.u.) und Herrscher des
nördlich gelegenen 魏 Wèi, erstmals eingeführt.
Um die Staatsverwaltung zu verbessern, sollten die Kandidaten
nur nach ihren Fähigkeiten ausgewählt werden (唯才是举 wéi cái
shì jß allein die Fähigkeit hebt hervor, sagte 曹操 Cáo Cáo),
weshalb in den Verwaltungseinheiten die hoffnungsvollsten
Personen als Kandidaten ausgewählt wurden.
中正 zhÇng zhèng fair sollte das Verfahren sein, Anwärter nur
entsprechend ihrer Talente ausgewählt und die Beamtenhierarchie
in 九品 jiß p0n neun Grade eingeteilt werden, woraus das System
seinen Namen bezog: 九品中正制 jiß p0n zhÇng zhèng zhì - also
Faires Auswahlsystem der Neun Grade.
Die neun Grade, die fortan, bis zum Sturz des kaiserlichen Systems 1911, die Hierarchie der Beamten bestimmten, lesen sich fast
wie ein Bewertungssystem heutiger sogenannter rating Agenturen
und waren die folgenden:
!
!
!
!
!
!
!
!
!
上上 shàng shàng = Oberster Oberer
上中 shàng zhÇng = Mittlerer Oberer
上下 shàng xià = Unterer Oberer
中上 zhÇng shàng = Oberer Mittlerer
中中 zhÇng zhÇng = Mittlerer Mittlerer
中下 zhÇng xià = Unterer Mittlerer
下上 xià shàng = Oberer Unterer
下中 xià zhÇng = Mittlerer Unterer
下下 xià xià = Unterer Unterer
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Unter dem ersten Kaiser der 隋 Suì-Dynastie (581 - 618) wurde
dieses System durch ein dann bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
geltendes Prüfungsverfahren für Beamte (科举制 k‘ jß zhì, s.u.)
ersetzt. Ihre hierarchische Einteilung in neun Ränge blieb jedoch
erhalten.
67
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
三国 [三国]
S~n Guó Die Drei Reiche (220 bis 280)
魏 Wèi (220 bis 265)
蜀 Shß (221 bis 263)
吴 Wú (222 bis 280)
Dem Zusammenbruch der 汉 Hàn folgte eine vierhundertjährige
Zeit des Chaos, symbolisiert durch das
Herrschen sogenannter warlords oder Militärmachthaber. Am
Beginn dieser Phase
standen die 三国 S~n
Guó Drei Reiche, wie
der Oberbegriff für
die viele Jahre neben‚ S~n Guó, Die Drei Reiche.
einander bestehenden
Staaten 魏 Wèi im Norden, 蜀 Shß im Süd-Westen und 吴 Wú im
Süden lautet.
Bis heute berühmt und allen Chinesen präsent ist diese Periode
durch den (später entstandenen) volkstümlichen Roman 三国演义
S~n Guó Y|n Yì (Romance of the Three Kingdoms, Die Drei Reiche41), der die endlosen militärischen und politischen Auseinandersetzungen zwischen den Führern dieser Staaten -Helden und Bösewichter- schildert und der chinesischen Bewußtseins-, Geschichtsund Traditionsbildung reichlich Material lieferte, das bis heute in
der Bevölkerung sehr lebendig ist.
Es sind diese Geschichten von Helden, von Freundschaft, Treue,
Loyalität und Feindschaft, Intrigen und Verrat, von Strategien und
Kampf, die bis heute den Stoff chinesischer Phantasien und Weltsicht bilden.
41
Im Insel Verlag ist -als Taschenbuch- eine gekürzte deutsche
Übersetzung unter dem Titel Die Drei Reiche von Franz Kuhn erschienen.
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Neben dem Roman leben die Drei Reiche und ihre positiven und
negativen Helden in zahllosen Theaterstücken, volkstümlichen
Opern fort:
! 曹操 Cáo Cáo (kluger Bösewicht und Herrscher über das nördliche 魏 Wèi),
! 孙权 Sãn Quán (der kluge Herrscher von 吴 Wú im Osten),
! 刘备 Liú Beì, der edle und legitime Nachfahre der 汉 Hàn und
Herrscher im westlichen 蜀 Shß sowie
! dessen Truppenführer, der schlaue Stratege und Berater 诸葛亮
Zhãgé Liàng.
Ihre Kämpfe, diplomatischen Winkelzüge, Listen und Intrigen sind
in vielen bis heute gebräuchlichen 成语 chéng yß Vier-ZeichenSprichwörtern verewigt.
三国演义, S~n Guó Y|n Yì (Die Drei Reiche)
Der Roman gehört zu den bedeutendsten Werken der chinesischen
Literatur, im Westen bisweilen mit Homers Illias verglichen, und
ist schon immer praktisch jedem Chinesen bekannt, heute entweder
durch Lektüre, durch comics, Karten- oder Computerspiele oder
eine der vielen Verfilmungen, früher durch zahlreiche
Opernstücke.
Der Verfasser 罗贯中 Luó GuànzhÇng (etwa 1330 bis 1400)
schrieb ihn im 14. Jahrhundert auf Basis der offiziellen Dynastiegeschichte (三国志 S~n Guó Zhì, Verfasser: 陈寿 Chén Shòu)
sowie dazugehörender Kommentare und umlaufender volkstümlicher Erzählungen. Die ursprünglich 240 Kapitel wurden im 17.
Jahrhundert auf 120 gekürzt.
Berühmt ist der im ersten Kapitel (Der Treueschwur im Pfirsichgarten) beschriebene Schwur zwischen dem legitimen Erben der
niedergehenden 汉 Hàn-Dynastie, dem Herrscher von 蜀 Shß, 刘备
Liú Beì, und seinen Getreuen 张飞 Zh~ng F‘i und 关羽 Gu~n Yß,
ein Ritual das fortan auch in Geheimgesellschaften das Zusammenhalten bis in den Tod symbolisierte.
Jeder halbwegs gebildete Chinese kennt auch den ersten Satz
69
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
des Romans auswendig, weil er ein scheinbar historisches Gesetz
der chinesischen Geschichte auf den Punkt bringt :
Für die Dinge der Welt gilt: Was lange geteilt war, muß vereint
werden und was lange vereint war, wird geteilt
说话天下大势,分久必合,合久必分
shuÇ huà ti~n xià dà shì, fèn jiß bì hé, hé jiß bì fèn
魏 Wèi, im Norden, verfügte in der Auseinandersetzung der drei
Staaten über die größten Reserven und setzte sich schließlich im
Jahre 263 gegen das südwestliche, im heutigen 四川 Sìchuán
gelegene 蜀 Shß durch.
Die Freude darüber währte allerdings nicht lange unter den
Nachfahren des 曹操 Cáo Cáo, denn der Sohn des siegreichen
Generals zwang sie alsbald, zu seinen Gunsten abzutreten, womit
es zur Gründung einer neuen Herrschaft kam.
70
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
晋
Jìn (265 bis 420)
西晋 X§ Jìn Westliche Jìn (265 bis 316)
东晋 DÇng Jìn Östliche Jìn (317 bis 420)
Den neuen Herren
gelang es im Jahre
280 auch das dritte
der Drei Reiche,
den Staat 吴 Wú
im Südwesten, zu
besiegen und so
wieder eine -zumindest äußerlichzentrale HerrDas Gebiet der ƒ Jìn (Chin in Wade-Giles-Umschrift). schaft in China zu
etablieren.
Allerdings scheiterten die neuen Machthaber daran, Institutionen herauszubilden, die ein längeres Überdauern als 晋 JìnDynastie ermöglicht hätten.
Das ursprünglich die Fähigkeiten der Beamten-Kandidaten fair
bewertende 九品中正制 jiß p0n zhÇng zhèng zhì Prüfungssystem
zum Beispiel degenerierte rasch zu einer Möglichkeit für die herrschenden Familien, ihre Angehörigen unterzubringen, womit, sie,
durch die Hintertür, einen quasi-Erbadel einführten.
Große Ländereien hatte das Herrscherhaus an die Prinzen
abgegeben, was unter diesen zu teils blutigen Erb-Auseinandersetzungen führte und der Stabilität des Staates nicht dienlich
war.
Den Todesstoß versetzten den 晋 Jìn schließlich die zahlenmäßig starken Verbände von 匈奴 xiÇng nú (bisweilen fälschlicherweise als Hunnen übersetzt) Nomaden, die seit längerem auf
chinesischem Gebiet angesiedelt worden waren, um so ihre
dauernden Einfälle zu verhindern. Sie dienten oft als militärische
Hilfstruppen und erhoben sich schließlich gegen die 晋 Jìn.
71
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Im Jahre 311 besetzten sie die Hauptstadt 洛阳 Luòyáng
und 316 auch 长安
Cháng=~n. Die nächsten hundert Jahre
lang verwandelten die
(teils sinisierten) Nomaden das Land nördlich des Jangtse in ein
einziges Schlachtfeld Während der „ƒ X§ Jìn vorgenomme Ansiedlungen
wie der …
† XiÇng Nú inGrenz-/Nomadenvölker
mit den entsprechen- außerchinesischer
chinesischem Kerngebiet.
den Konsequenzen für
Wirtschaft und Gesellschaft.
Eine große Anzahl der herrschenden 晋 Jìn flüchtete ins südliche 南京 Nánj§ng (damals: 健康 Jiànk~ng) und gründete dort
eine Art Exilregierung, die 东晋 DÇng Jìn Östliche Jìn-Herrschaft.
72
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CHINESISCHE GESCHICHTE
南北朝
Nán Bi Cháo Südliche und Nördliche Dynastien (420 bis 581)
南朝 Nán Cháo Südliche Dynastien
宋 Sòng (420 bis 479)
齐 Qí (479 bis 502)
梁 Liáng (502 bis 557)
陈 Chén (557 bis 589)
北朝 Bi Cháo Nördliche Dynastien
北魏 Bi Wèi (386 bis 534)
东魏 DÇng Wèi (534 bis 550)
西魏 X§ Wèi (535 bis 557)
北齐 Bi Qí (550 bis 577)
北周 Bi ZhÇu (557 bis 581)
Vier weitere sogenannte Dynastien folgten ab 420 der Östlichen 晋
Jìn in 南京 Nánj§ng:
!
!
!
!
宋 Sòng (420 bis 479),
齐 Qí (479 bis 502),
梁 Liáng (502 bis 557) und
陈 Chén (557 bis 589)42
allesamt als 南朝 Nán Cháo Südliche Dynastien bezeichnet.
Als Gründer traten immer Generäle in Erscheinung, die ihre
Herrschaft jedoch nur solange aufrechterhalten konnten, wie sie
sich persönlich darum kümmerten. Es gelang ihnen nicht, eine
Erbfolge für die Zeit nach ihrem Tod zu sichern.
Die Stärke der landbesitzenden Aristokratie war die hauptsächliche Ursache für diese Diskontinuität. Es hatten sich mächtige
Familien gebildet, die anhand von Stammbäumen ihre Bedeutung
nachwiesen, nur untereinander heirateten und ihre Abkömmlinge
42
Die Darstellung folgt weitgehend: Patricia Buckley Ebrey, China,
Cambridge Illustrated History, Cambridge University Press, 1999, S. 90ff. Das
Buch ist auch ins Chinesische übertragen und im Frühjahr 2001 im Verlag
erschienen (ISBN 7-80603-493-5/K 115).
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73
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
im Rahmen des 九品中正制 jiß p0n zhÇng zhèng zhì des NeunGrade-Beamtensystems in den wichtigsten Ämtern unterbrachten.
In den Augen dieser Familien waren die Herrscher-Generäle nur
Emporkömmlinge, gegen die sie ihre eigenen Interessen recht gut
durchzusetzten vermochten. Allerdings bewahrten diese gentryFamilien sich und dem Land die in der 汉 Hàn-Zeit ausgebildete
chinesische Kultur, so daß diese, nicht zuletzt in dem Beamtensystem, fortbestehen konnte.
Für Südchina hatte die Einrichtung der Hauptstadt in 南京
Nánj§ng einen vorteilhaften Einfluß auf die Entwicklung seiner
Wirtschaft und Gesellschaft, denn die Herrscher mußten ein System
einführen, das es ihnen erlaubte, die nötigen Mittel zur Aufrechterhaltung eines höfischen, zivilen wie militärischen dynastischen
Lebens aufzubringen.
北朝 Bi Cháo Nördliche Dynastien
Im Norden kämpften derweil zahlreiche Militärmachthaber um die
Vorherrschaft, bis sich schließlich in der Mitte des 5. Jahrhunderts
ein aus der Mandschurei (heutiger Nordosten Chinas) -also von
außerhalb des chinesischen Gebietes- stammender Clan durchsetzte
und in der heutigen Provinz 山西 Sh~nx§ die sogenannte 北魏 Bi
Wèi Nördliche Wèi-Dynastie gründete, um von dort aus immer
größere Teile chinesischen Gebietes unter ihre Kontrolle zu bringen.
Wie im Süden so stellte sich auch hier alsbald das Problem, mit
Hilfe von Steuern und ausgebildeten Beamten die staatliche Herrschaft zu sichern, was der mandschurische Stamm nicht ohne die
Hilfe der auch zahlenmäßig weit überlegenen Chinesen bewerkstelligen konnte.
Gegen Ende des 5. Jahrhunderts sahen sich diese Machthaber
jedoch bereits als echte Chinesen, beriefen sich auf die 汉 Hàn und
verlegten ihre Hauptstadt weiter südlich, nämlich in das immer
noch zerstörte 洛阳 Luòyáng, das sie wieder aufbauen ließen.
Rebellen und aufständische Grenztruppen beendeten die Dynastie, besetzten 洛阳 Luòyáng und massakrierten 2.000 Beamte.
Nach Jahren des Chaos bildeten sich zwei neue Herrschafts74
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
zentren aus, die sich Mitte des 6. Jahrhunderts als 北齐 Bi Qí
Nördliche Qí und 北周 Bi ZhÇu Nördliche ZhÇu bezeichneten.
Letztere eroberten alsbald im Süden das Gebiet der heutigen
Provinz 四川 Sìchuán und zerstörten 577 auch die 北齐 Bi Qí
Nördliche Qí, so daß Nordchina wieder vereint war. Allerdings
usurpierte schon wenige Jahre später (581) ein General den Thron.
Er vernichtete in der Folge auch den noch im Süden gelegenen
Staat 陈 Chén und nannte seine Herrschaft fortan 隋 SuìDynastie.
75
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
隋
Suì (581 bis 618)
Nur knapp vier Jahrzehnte hatte die 隋 Suì-Dynastie das Mandat
des Himmels. Sie
tat sich durch eine
allzu tyrannische
Herrschaft und eine
überdurchschnittliche Ausplünderung
der Bevölkerung
hervor.
Letztere mußte
beim Bau riesiger
Projekte zwangsHerrschaftsgebiet der  Suì-Dynastie (rot).
weise mitarbeiten
wie dem 大运河 dà yùn hé Großen Kanal, der in den Jahren 605
bis 609 zwischen 洛阳 Luòyáng und 扬州YángzhÇu am Jangtse
gegraben wurde43, und beim
Wiederaufbau der Großen
Mauer.
Kostspielige und nicht
erfolgreiche militärische Expeditionen nach Korea im frühen
7. Jahrhundert besiegelten
schließlich das Schicksal der
隋 Suì auf die traditionelle
Weise: Aufstände, Illoyalität,
Mord.
Wegen der Grausamkeit des
’“ dà yùn hé Großen
zweiten Herrschers verglei- Verlauf des ‘
Kanals von ”• Ji~ngdã (heute: –
chen Chinesen die 隋 Suì häuYángzhÇu) nach —˜ Luòyáng.
43
Später erfolgte eine Verlängerung nach Süden bis nach
und Norden bis kurz vor Peking.
76
Ž HángzhÇu
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
fig mit dem Regime des Ersten Kaisers. Wie diesem wird den 隋
Suì jedoch positiv angerechnet, das Land, nach der dreihundertjährigen, auf die 汉 Hàn folgende Zerfallsperiode (三国 S~n Guó Drei
Reiche, 晋 Jìn , 南北朝 Nán Bi Cháo) erstmals wieder geeint zu
haben. Insofern wird die Dynastie vor allem als eine gesehen, die
der folgenden ihre Grundlagen schuf, so daß diese -neben den 汉
Hàn- als eine der bedeutendsten in das chinesische Geschichtsbewußtsein eingehen konnte, die 唐 Táng.
77
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
唐
Táng (618 bis 907)
Ein Statthalter aus der bedeutenden Garnisonsstadt 太原 Tàiyuán
(heute Provinz: 陕西 Sh~nx§) namens 李渊 L0 Yu~n
stürzte schließlich den 隋
Suì-Herrscher und begründete mit sich selbst als erstem Kaiser und unter dem
Namen 高祖 G~o Zß die
neue Dynastie, die er 唐
Táng nannte.
Historiker sehen die 唐
Táng mit ihrer Hauptstadt
长安 Cháng=~n gemeinhin
als einen Höhepunkt der
™Táng-China.
chinesischen Geschichte an,
gleichrangig mit der 汉 Hàn-Zeit oder ihr womöglich noch
überlegen.
Das den 唐 Táng anfangs gehörende Staatsgebiet dehnten die
ersten Herrscher durch militärische Expansion noch über die 汉
Hàn-Grenzen hinweg aus.
Intensive Außenkontakte beförderten das Hereinkommen neuer
Güter, Kulturen und Religionen wie des Buddhismus aus Indien
(wo er zu Zeiten des Konfuzius entstanden war), ja sogar christlichen Gedankengut aus dem Nahen Osten (Nestorianer).
Buddhismus
Schon im 2. Jahrhundert hatte der 佛教 fó jiào Buddhismus, aus
Indien kommend über zentralasiatische Königreiche Eingang in
China gefunden (mit 长安 Cháng=~n und 洛阳 Luòy~ng als Zentren).
Einer der bis heute bei Alt und Jung beliebtesten Romane, 西
游记 X§ Yóu Jì Die Reise nach dem Westen, erzählt die sehr aben78
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
teuerliche, von zahllosen Geistern bevölkerte Geschichte
des Mönches 唐僧
Táng S‘ng und seiner Begleiter (zu
denen der Affenkönig 孙悟空 Sãn
WùkÇng gehört,
der, weil er im 天
Der Weg des š›
Buddhismus nach Osten: aus Indien 宫ti~n gÇng Him
(damals: œ ti~n zhú) über die zentralasiatischen
Regionen nach žŸ Cháng=~n.
melspalast Chaos
angerichtet hatte,
zur Bewährung auf die Erde verbannt worden war), die die heiligen
buddhistischen Schriften aus Indien nach China brachten.
Unter den chaotioschen Bedingungen einer nicht vorhandenen
Zentralmacht mit verbindlicher Staatsideologie, wie dies so lange
während der Zeit der Drei Reiche, der 晋 Jìn und der Nördlichen
und Südlichen Dynastien der Fall gewesen war, konnte sich der
von außen kommende Buddhismus konkurrenzlos ausbreiten.
Vielleicht fand er auch gerade deshalb so starken Halt, weil er sich
in diesen unruhigen und möderischen Zeiten mit den Fragen des
Leidens und des Todes befaßte wie sonst keine andere Glaubensrichtung im Land. Bereits zu Beginn der 唐 Táng-Herrschaft gab
es eine riesige Anzahl von buddhistischen Klöstern und Mönchen
überall im Land.
Der Bevölkerung fiel es auch deshalb leicht, im Buddhismus
eine Abart des weit verbreiteten und beliebten 道教 dào ji~o Daoismus zu sehen, weil die Übersetzer der fremden (indischen) Schriften bereits bekannte daoistische Begriffe verwendeten, um buddhistsche Aussagen ins Chinesische zu übertragen. Hinzu kam, daß ja
der chinesische Volksglaube über den 道教 dào ji~o Daoismus
bereits eine große Affinität zum Mystischen hatte, was die
Aufnahme des Budhismus ebenso erleichterte wie die Eigenart der
Chinesen, alles, was sie anspricht, aufzunehmen, mit den
vorhandenen Dingen zu mischen und alles zusammen dann fried79
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
lich nebeneinander weiterbestehen zu lassen. (Europäer bezeichnen
dies heute vielfach als pragmatisch und sehen es als positiv.
Vielleicht trug dieser Volkscharakter der Chinesen entscheidend
dazu bei, daß sie in Religionssachen nie missionarisch oder intolerant auftraten und in Religionskriegen aufeinander losgingen.)
Der wohl größte Lehrer des Buddhismus in China war 慧远 Huì
Yu~n (334 - 416), der vor seinem Übertritt in den konfuzianischen
wie daoistischen Schriften ausgebildet worden war. Er gründete zu
Beginn des 5. Jahrhunderts ein Kloster und baute sich eine
Anhängerschaft auf, die er in den buddhistischen Konzentrationstechniken unterrichtete. Von ihm stammt das Werk Warum sich
Mönche nicht vor Königen verbeugen44, das die neue Lehre auf
Staatsferne halten sollte. Allerdings suchte 慧远 Huì Yu~n alsbald
den deshalb mißtrauischen Machthabern die neue Lehre dadurch
akzeptabel zu machen, daß er betonte, Buddhisten seien wegen
ihrer Glaubensziele gute Untertanen.
Im Unterschied zum europäischen Christentum bietet der
Buddhismus seinen Gläubigen keinen Gott an, der ihnen -bei Einhaltung seiner Regeln im Leben- nach dem Tode eine Belohnung
in Form des ewigen Lebens im Paradies zukommen läßt. Höchstes
Ziel des Buddhismus ist -im Gegenteil- das vollständige Verschwinden aus allem Dasein, der Eingang ins Nirwana.
Dieses Ziel kann jedoch nur erreicht werden, lehrte der erste
(Gautama) Buddha, wenn der Mensch allen sinnlichen Genüssen
entsagt. Wem das in seinem Leben nicht gelinge, der werde immer
wieder geboren - auch in Gestalt von Tieren. Aus letzterem folgen
für die Buddhisten die unbedingte Achtung aller Lebewesen, Tiere
eingeschlossen, und vegetarische Diät.
Besonders zu verehren seien die Bodhisattvas, buddhistische
Heilige, die aufgrund ihres makellosen Lebens wohl in das Nirvana
eingehen könnten, auf dieses höchste Ziel aber uneigennützig verzichteten, um anderen Menschen zu helfen.
44
¡¢£¤¥¦ sh~ mén bú jìng wàng zh lún.
80
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Wirtschaft und Gesellschaft
Die politische Einigung, feste standardisierte und codifizierte Herrschaftsstrukturen, der 唐律 Táng Lǜ Gesetzescode von 653 mit ca.
500 Artikeln (Strafen für bestimmte Vergehen), sowie eine große
Offenheit der 唐 Táng-Herrscher nach außen bewirkten einen starken wirtschaftlichen Aufschwung.
Dazu trug die Öffnung des Großen Kanals als Nord-Süd-Verkehrsweg ebenso bei wie der beträchtliche, über die Seidenstraße
abgewickelte Handel mit der Welt im Westen. Tee, im Süden des
Landes angebaut und dort bis dahin eher als wachhaltende Medizin
angesehen, entwickelte sich zum allgemeinen chinesischen Getränk
der Zeit. Die Küstenstädte 广州 Gu|ngzhÇu (Kanton) im Süden,
泉州 QuánzhÇu und 福州 FúzhÇu im Osten wurden zu bedeutenden Start- und Anlaufhäfen für den Überseehandel mit Südostasien und den arabischen Ländern. Wegen der großen chinesischen Furcht vor dem Meer, blieb der jedoch weitgehend in der
Hand von Arabern.
Eine der sogenannten Vier Großen Erfindungen45 fällt in die 唐
Táng-Zeit, der 雕版印刷 di~o
b|n yìn shu~ Blocksatz bzw. druck. Die Zeichen einer ganzen Buchseite wurden in Spiegelschrift auf Holzplatten gekerbt, mit denen man dann
Papierbögen bedruckte. So
konnten die Chinesen bereits
ªŒ«¬ Buchdruck während der ™ relativ schnell große BuchTáng-Zeit: Papierbögen werden auf die auflagen drucken, als in EuroHolztafel mit den eingekehrbten Zeichen pa wenige Einzelexemplare
gepreßt.
noch mühsam und zeitraubend
von Hand geschrieben wurden. Nicht zuletzt deshalb wurde die 唐
45
§‘¨©
sì dà f~ míng, dazu gehören die Erfindungen des Papiers, des
Drucks, des Kompasses und des Pulvers. Chinesen sind darauf heute besonders
stolz, weil diese Dinge in Europa erst später aufkamen und nehmen gerne für sich
in Anspruch, sie der Welt sozusagen geschenkt zu haben.
81
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Táng-Zeit auch zu einer, in der die bis heute bedeutendsten
chinesischen Dichter lebten wie 李白 L0 Bái (701 - 762) und 杜甫
Dù Fß (712 - 770). Eine Zeile aus einem bekannten Gedicht dieser
beiden auswendig aufgesagt, dürfte jedem Ausländer den dann
chinesischerseits sicher ehrlich gemeinten Ehrentitel 中国通 ZhÇng
Guó tÇng old China hand einbringen.
Die 唐 Táng-Dynastie gilt als kultureller Höhepunkt des Kaiserreiches, China wurde in dieser Zeit das bedeutendste Land Asiens.
Seine starke Anziehungskraft und die Weltoffenheit der 唐 TángHerrscher brachten erstmals auch zahllose Ausländer nach China,
die sich meist in der Hauptstadt 长安 Cháng=~n niederließen und
dort ihre eigene Kultur verbreiteten: Araber, Perser, Japaner,
Türken, Tibeter, Koreaner, ja selbst aus dem Nahen Osten kommende Christen, die Sekte der Nestorianer.
Seine Blütezeit erlebte 唐 Táng-China unter vier Herrschern,
! dem zweiten Kaiser 太宗 Tài ZÇng (626 bis 649),
! seinem Nachfolger 高宗 G~o ZÇng (649 bis 683),
! der einzigen Kaiserin, die jemals auf dem chinesischen Thron
saß, 武则天 Wß Zéti~n (690 bis 705), und
! ihrem Enkel, Kaiser 玄宗 Xuán ZÇng (712 bis 756).
Der letztere, 玄宗 Xuán ZÇng, freilich markierte wohl den Höheund Wendepunkt der Dynastie. Im Alter von 60 Jahren verliebte er
sich noch so heftig in eine seiner vielen Frauen (er hatte 30 Söhne
und 29 Töchter gezeugt, heißt es), die Kurtisane 杨贵妃 Yáng
Guìf‘i46, daß er auch wichtigere Dinge des Staates nicht mehr ernst
nahm.
杨贵妃 Yáng Guìf‘i aber unterhielt derweil auch gute Beziehungen zu 安禄山 }n Lùsh~n, einem Militärgouverneur nicht-chinesischer Herkunft. Der total verliebte Kaiser überließ diesem,
vermittelt durch seine Kurtisane 杨贵妃 Yáng Guìf‘i, große
Kompetenzen, wies ihm gar immer mehr Truppen zu, und so kam,
was kommen mußte: Im Jahre 755 rebellierte 安禄山 }n Lùsh~n
46
­® f‘izi = kaiserliche Konkubine.
82
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
und marschierte mit 160.000 Mann eigener Truppen auf 洛阳
Luòyáng und dann die Hauptstadt 长安 Cháng=~n. Der Kaiser floh
nach 成都 Chéngdã, wurde von seinen loyalen Truppenführern
jedoch zunächst gezwungen, 杨贵妃 Yáng Guìf‘i eigenhändig zu
erwürgen. Darüber zerbrach der mittlerweile 70jährige alte Mann,
dankte ab und überließ einem Sohn das Regieren. Auch in China
war das ein Stoff, aus dem Theaterstücke und Opern gemacht
wurden. Wie bekannt die Geschichte des verliebten Kaisers auch
heute noch ist, beweist der Internet-Suchdienst google, der fast
40.000 Treffer für das Stichwort 杨贵妃 Yáng Guìf‘i anzeigt.
Das 科举制 k‘ jß zhì Prüfungssystem für Beamte
Die 唐 Táng perfektionierten auch das System der Beamtenprüfungen, das von nun an 科举制 k‘ jß zhì genannt wurde. Die Herrscher waren sich im klaren darüber, daß nur ein stark zentralisierter
Staatsapparat, den gut ausgebildete Beamte als Helfer des Herrschers -auch in den entfernten Provinzen- am Laufen hielten, ihnen
die Macht gegenüber den weiter starken Aristokraten-Familien und
Generälen bewahren konnte. Das festgelegten Regeln folgende System erwies sich dabei auch als gutes Mittel, auseinanderstrebende
Interessen der Aristokratenfamilien im Norden und Süden im Sinne
des Zentralstaates zusammenzuhalten, indem es keinem von ihnen
ein Übergewicht verschaffte.
Die 官 gu~n höheren Beamten (auch: Mandarine von mandare,
portugiesisch für anweisen) waren das Herrschaftspersonal des
kaiserlichen China. In Europa kannte man diese Einrichtung noch
nicht. Hauptzweck der Rekrutierung von Beamten durch anonyme,
hierarchisch abgestufte Prüfungen, an denen sich jeder beteiligen
konnte, war es, einen Zerfall des Herrschaftssystems zu vermeiden,
wie es bei erblichen Titeln (Lehenssystem in Europa) zu befürchten
stand. Die jahrhundertelange Praktizierung dieses Systems der
Auswahl und hierarchischen Einsetzung von Herrschaftspersonal
erzeugte eine ständig bereitstehende, Dynastien, ja selbst Fremdherrschaften überdauernde Beamtenschaft. Sie garantierte letztlich
die große Kontinuität des chinesischen Staates.
Schon die 汉 Hàn hatten damit begonnen, ein System von 对策
83
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
duì cè Tests zu praktizieren, um unter den Besten des Landes die
Herrschaftshelfer auszuwählen. Der Inhalt der Prüfungen bezog
sich dabei auf das Wie des Regierens gemäß den Aussagen in den
klassischen Schriften. Die Zeiten der Tests waren jedoch unregelmäßig. Die 晋 Jìn etablierten dann mit dem 九品中正制 jiß p0n
zhÇng zhèng zhì Neunstufen-Auswahlsystem ein etwas
elaborierteres Verfahren, um die besten Staatsdiener zu ermitteln.
Die 唐 Táng nun bauten das Prüfungssystem weiter aus und
unterschieden auch zwischen Prüfungen für die Auswahl von 文官
wén gu~n zivilen Mandarinen und 武官 wß gu~n, solchen für den
militärischen Bereich.
Die Prüfungen fungierten wie Siebe,
wurden in festen Zeitabständen und
hierarchisch abgestuft auf Kreis-, Provinzund Zentralebene (bis zur Abschaffung des
Systems im Jahre 1905) abgehalten und
standen unter der zentralen Kontrolle des
kaiserlichen 吏部 lì bù, Personalministerium, später des 礼部 l0 bù, Ministerium
für Riten. Die beliebtesten Abschlüsse waren Beamtenprüfung in der ¯
Sòng-Zeit.
der
! 秀才 xiù cai = Grad und Titel der Prüfung auf Kreisebene,
! 进士 jìn shì = Grad und Titel der zentralen kaiserlichen Prüfung
in Peking,
! 明经 míng j§ng = Gelehrter der klassischen Texte,
! 明法 míng f| = Gelehrter des Rechtswesens,
! 明算 míng suàn = Gelehrter der Mathematik.
Das höchste Ansehen genossen die 进士 jìn shì und die 明经 míng
j§ng.
Normalerweise fanden die Prüfungen jährlich statt. Bis zu 2.000
Bewerber beteiligten sich daran, von denen etwa 1 Prozent bestand
und beim Staat angestellt wurde.
84
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Die Rebellion des 安禄山 }n Lùsh~n, die nach seinem Tod sein
Nachfolger 史思明 Sh0 Sìmíng fortführte47, war der Wendepunkt
für die 唐 Táng, von nun ab ging es in der üblichen Weise mit
Korruption und wirtschaftlichem Chaos rasch bergab: Mitte des 8.
Jahrhunderts zeigten militärische Niederlagen unter anderem gegen
arabische Heere im Westen, in Zentralasien, den Anfang vom Ende
der 唐 Táng-Herrlichkeit an. Der folgende wirtschaftliche Niedergang brachte dann das Aus für Weltoffenheit und religiöse Toleranz: Fremdenfeindlichkeit begann sich zu regen und Buddhisten
und andere Religionen wurden um 841 teils arger Verfolgung ausgesetzt, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen: Die Klöster waren
reich, der Kaiser jedoch mittlerweile arm.
Das Ende der 唐 Táng begann sich um 860 abzuzeichnen, als
die erste große Hungerrevolte von Bauern in der Küstenprovinz
浙江 Zhèji~ng ausbrach. Eine weitere folgte 874, der sich später
sogar Kaufleute anschlossen.
Einer der führenden Aufständischen, 黄巢 Huáng Cháo, eroberte und brandschatzte 广州 Gu~ngzhÇu (Kanton). Anschließend
führte er sein Heer -augestattet mit den Schätzen dieser reichen
Handelsstadt- nach Norden, wo er 880 die mächtige Hauptstadt
长安 Cháng=~n (das heutige 西安 X§=~n) vollständig zerstörte, die
nach der Flucht des Kaisers dort verbliebenen Angehörigen des
Herrscherhauses umbrachte und sich selbst zum Kaiser machte.
黄巢 Huáng Cháo war so der erste Führer einer Bauernrevolte,
dem das gelang. In der offiziellen Geschichtsschreibung Chinas gilt
er heute als Held.
Die machtlosen 唐 Táng-Herrscher suchten während dieser Zeit
ihr Heil in militärischer Zusammenarbeit gegen die Aufständischen
mit nicht-chinesischen Turk-Stämmen, konnten ihr Ende damit
aber nicht aufhalten, sondern wurden schließlich, nach fast 300jähriger Herrschaft, von einem ihrer barbarischen Bündnispartner
endgültig beseitigt. China verfiel erneut in eine Zeit der politischen
Zersplitterung.
47
Daher der Name
Ÿ°±² }n Sh0 zh§ luàn, das }n Sh0 Chaos.
85
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
五代十国
Wß Dài Shí Guó Fünf Dynastien und Zehn Staaten (907 bis 960)
后梁 Hòu Liáng (907 bis 923)
后唐 Hòu Táng (923 bis 936)
后晋 Hòu Jìn (936 bis 947)
后汉 Hòu Hàn (947 bis 950)
后周 Hòu ZhÇu (951 bis 960)
Der Zerfall der 唐 Táng-Herrschaft hinterließ ein staatliches Chaos
in Form mehrerer, zeitlich aufeinanderfolgender sogenannter Dynastien, die sich teils die Namen angesehener Vorgänger gaben, um sich
so einen Schein von Legitimität zu
verschaffen. Der gesamte Norden
Chinas wurde in dieser Zeit von
militärischen Auseinandersetzungen
geprägt.
Bedeutsam war die vertragliche
Abtretung von sechzehn Präfekturen innerhalb der Großen Mauer also im chinesischen Kernland- an
das mongolische Reitervolk der
³´µ¶ - ein zersplittertes China. Khitan, die dadurch, praktisch ins
chinesische Haus geholt, eine gute
(Taiwan, hier als ·¸ Liú Qiú,
gehörte damals jedoch nicht zu
Basis für die spätere Eroberung
China.)
weiterer chinesischer Gebiete
erhielten, was 916 schließlich zur Errichtung der 辽 Liáo-Dynastie
(s.u.) führte
Die Kultur und große Teile der politischen Herrschaftstechniken
der 唐 Táng blieben jedoch in Nordchina und im -wie meist- ruhigeren Süden in den Köpfen vieler Menschen präsent und erwiesen
sich so als stabiliserende, die chaotischen Zeiten überdauernde und
China eine Identität stiftende Erbschaft.
86
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
宋
Sòng (960 bis 1279)
北宋 Bi Sòng Nördliche Sòng (960 bis 1127)
南宋 Nán Sòng Südliche Sòng (1127 bis 1279)
Im Jahre 960 etablierte sich eine neue Macht, der die Einigung des
zersplitterten Landes gelang, die 宋 Sòng (960 1279). Allerdings teilte
sich, wegen im Norden
einfallender Nomaden,
diese Herrschaft nach
bereits etwa 150 Jahren in
eine 北宋 Bi Sòng Nördliche Sòng, (960 - 1127)
und eine 南宋 Nán Sòng
Südliche Sòng (1127 1279).
Den Gründern der 宋
Sòng gelang es, wieder eiSong China.
ne effektive Verwaltung
durch zivile Beamte aufzubauen. Damit banden sie die regionalen
Aristokratenfamilien und Generäle an sich und die Zentrale und
stabilisierten so ihre Herrschaft. Dies führte zu einer bemerkenswerten Entwicklung städtischer Geschäftszentren im Reich, geprägt
von Handel und Produktion, Märkten und einer -neben den Mandarinen, Grundbesitzern und Bauern- neuen gesellschaftlichen
Schicht, den Kaufleuten.
Mit der Zunahme und Ausbreitung des Handels über das gesamte Herrschaftsgebiet, spielten die Kaufleute eine zunehmend selbstbewußte Rolle. Die neue Klasse wollte Einfluß nehmen und organisierte sich in den größeren Städten im Rahmen von ersten 行会
háng huì Gilden, Vorläufer der 商会 sh~ng huì Kammern, die dem
Staat gegenüber die Interessen der Mitglieder zum Beispiel an niedrigen Steuern wahrnahmen.
87
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Die starke wirtschaftliche Entwicklung brachte neue Gewerbe
wie Makler und Lagerhaus-Vermieter und bislang nicht dagewesene Unternehmensformen hervor, wie
zum Beispiel Partnerschaften oder gar die
Trennung zwischen Eigentümer und FirmenManagement. Das Kreditgewerbe wuchs so
mächtig, daß ein schon zu 唐 Táng-Zeiten
bestehendes 纸币保险 zh0 bì b|o xi|n Zertifikat-System, das ein Herumtragen schwerer Metallmünzen durch QuasiPapiergeld überflüssig
machte, unter den 宋
Papiergeld-Zertifikat
Sòng weiterentwickelt
der Nördlichen ...
werden konnte: Zunächst
erhielten einige Geschäfte ein Monopol zur
systematischen Herausgabe solcher MünzErsatz-Zertifikate, für die jeweils Metallgeld
... und Südlichen ¯
hinterlegt werden mußte. Im Jahre 1120 nahm
Sòng.
der Staat dies in die eigenen Hände und
begann mit der weltweit ersten Ausgabe von Papiergeld.
Kulturell knüpften die 宋 Sòng an alles an, was für die 唐 Táng
einen hohen Stellenwert gehabt hatte, und verfeinerten es.
Das Menschen-Ideal war der Gelehrte, der Dichter, Maler, 书
法家 shã f| ji~ Kalligraph und Staatsmann in einer Person. Die
Intellektuellen wandten sich erneut den konfuzianischen Klassikern
und den idealisierten Gesellschaften des Altertums zu (wie es ein
paar Jahrhunderte später, in der Renaissance auch in Europa geschah).
Der Buddhismus blieb weitgehend als fremd und unchinesisch
verfemt. Stattdessen entwickelten Philosophen wie 朱憙 Zhã X§
(1130-1200) eine neue Staatsideologie, den Neo-Konfuzianismus,
die in typisch chinesischem Pragmatismus das anti-metaphysische
konfuzianische mit dem metaphysischen daoistischen und buddhistischen Gedankengut kombinierte, und zu jener, bis zum Ende des
dynastischen China im 20. Jahrhundert vorherrschenden rigiden
88
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Staatsdoktrin machte, die für die Herrschenden den Vorzug hatte,
daß sie den Untertanen klarmachte, wer (zurecht) oben und wer
(zurecht) unten war, wer befahl und wer zu gehorchen hatte, wer
bestellte und wer zahlte.
Die 宋 Sòng-Einigung Chinas erfolgte unter 赵匡胤 Zhào
Ku~ngyìn, einem General der 后周 Hòu ZhÇu Späteren ZhÇu (siehe
oben, Fünf Dynastien), der sich als 太祖 Tài Zß zum ersten 宋
Sòng-Kaiser (960-976) machte, nachdem er die anderen Herrscher
Zug um Zug ausgeschaltet und eine Zentralmacht im chinesischen
Stil (mit Literaten-Beamten, die aus den üblichen Prüfungen hervorgingen) aufgerichtet hatte.
Der erste 宋 Sòng-Kaiser 太祖 Tài Zß bezog auch den Süden in
das Einigungswerk ein, statt seine Kräfte ausschließlich im Norden
gegen die Nomaden oder die Khitan aufzureiben und erreichte so
eine erneute Einigung des chinesischen Reiches.
Hauptstadt der Dynastie wurde 开封 K~if‘ng (heute Provinz
河南 Hénán), das sich, was seine Größe anlangte, bald mit der 唐
Táng-Hauptstadt 长安 Cháng=~n messen konnte, und sich wie jene
bald zu einem bedeutenden Handelszentrum entwickelte.
Die Jurchen, ein Vorläufervolk der Mandschus, die 1644 China
eroberten und die letzte dynastische Herrschaft, die 清 Q§ng,
errichteten, vertrieben die 宋 Sòng 1127 aus Nordchina und auch
ihrer Hauptstadt 开封 K~if‘ng. Wie andere Dynastien zuvor setzten
die geflohenen 宋 Sòng-Herrscher ihr Regime für noch einmal 150
Jahre vom südöstlich am Meer gelegenen 杭州 HángzhÇu aus
wenigstens über Südchina fort, bevor sie von den Mongolen (siehe
unten) endgültig auch dort entmachtet wurden.
Das Trauma des 唐 Táng-Niedergangs verursachte unter den 宋
Sòng-Mandarinen eine große Debatte darüber, welche Grundlagen
ein Staat haben müsse, damit er fest und beständig sei. Befördert
wurde sie durch ein sehr offenes kulturelles Klima und eine bis
dahin ungekannte Beschäftigung mit der Geschichte Chinas aber
auch naturwissenschaftlichen Gegebenheiten und der Mathematik.
Der bereits verbreitete Buchdruck erlebte durch neu aufgekommene
Techniken einen weiteren Aufschwung, was sich wiederum sehr
befruchtend auf die intellektuelle Auseinandersetzung auswirkte.
89
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Der 宋 Sòng-Staat scheint im Vergleich zu den vorangegangenen Dynastien, jedenfalls bis zur Flucht vor den einfallenden
Jurchen, auch ein recht hohes Maß an Objektivität und Klarheit in
der Herrschaftsorganisation gehabt zu haben. Die zentrale Macht
über das Reich sicherte ein Netz von Informations-, Kommandound Kontrollstellen. Am Hof war die Herrschaftsausübung so
gestaltet, daß die klassischen Intriganten (Eunuchen, Günstlinge,
Kaiserin, Kurtisanen und Anhang) nicht so einflußreich waren wie
sonst.
Der Kaiser saß einem Staatsrat aus fünf bis neun Mitgliedern
vor, auf den sogar Außenstehende mit Vorschlägen und Kritik
einen gewissen Einfluß nehmen konnten. Das Steuersystem war
effektiv, beschränkte sich nicht nur auf die Landwirtschaft, sondern
fand auch Wege, den prosperierenden Handel und die Manufakturen mit einzubeziehen und wurde nicht generell als ungerecht
empfunden.
Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Technik und Wissenschaft
florierten unter den 宋 Sòng wie nie zuvor. In ihre Zeit fallen auch
zwei weitere der klassischen Vier Großen Erfindungen Chinas,
nämlich die des Schießpulvers, das als 飞火 f‘i hu4 fliegendes
Feuer sogar für militärische Zwecke eingesetzt wurde (erstmals
erwähnt: 1044, Europa: 1285), und die des Kompasses (1119), der
den mit großen Schiffen im Überseehandel engagierten 宋 SòngKaufleuten, deren Routen weit nach Südostasien hineinreichten,
gute Dienste leistete.
In puncto Reformen tat sich, gefördert durch den sechsten 宋
Sòng-Kaiser, den erst 20jährigen 神宗 Shén ZÇng (1067-1085)
besonders ein bekannter Dichter und Historiker namens 王安石
Wáng }nshí (1021 bis 1086) hervor, indem er zwischen 1069 und
1073 weit über den Leisten seines Handwerks hinausging und -als
Minister- in einem 万言书 wàn yán shã48 Memorandum der
48
Ein Titel, der bis heute bekannt ist und immer noch gerne in aktuellen
politischen Auseinandersetzungen verwendet wird. So legten konservative
Parteimitglieder der KPCh 1995 ihre Anwürfe gegen politisch reformerische
Ansichten ebenfalls in einem Dokument nieder, das den Titel Memorandum der
Zehntausend Wörter trug. Vgl. die Gegen-Kritik der Reformer in
(M|
¹º»¼½¾
90
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Zehntausend Wörter von der Regierung ein Handeln im Sinne des
Volkes verlangte, basierend auf den ethischen Grundsätzen des
Konfuzianismus.
Konkret forderte 王安石 Wáng }nshí Maßnahmen, die denen
glichen, die der Reformer und Namensvetter 王莽 Wáng M|ng
bereits während der 汉 Hàn-Zeit kurzzeitig umgesetzt hatte wie
zum Beispiel staatliche Marktinterventionen bei zu hohen Preisen
und Steuerreformen zugunsten der Armen, die Einführung staatlicher Schulen, eine Reform des Beamten-Prüfungssystems, die es
praktischer ausrichtete, und anderes.
Mit seinem Eifer brachte 王安石 Wáng }nshí jedoch die
Stützen des Regimes, die so wie es war von ihm profitierten, gegen
sich auf: Beamte, Großgrundbesitzer und Kaufleute. Nach dem Tod
seines Protektors, des Kaisers, resignierte er 1076 und trat zurück
(oder wurde zurückgetreten). Die intellektuelle Auseinandersetzung mit seinen Reformen aber dauerte noch lange, bis ins 12. Jahrhundert an. Selbst heute noch ist der Name 王安石 Wáng }nshí als
der eines Sozialreformers Chinesen geläufig.
Die bekanntesten seiner Gegner waren solche Berühmtheiten der
Zeit wie 欧阳修 Æuyáng Xiã und 司马光 S§m| Gu~ng, Historiker
und Konfuzianer, sowie 朱憙 Zhã X§, der Begründer des Neo-Konfuzianismus.
道学 dào xué Neo Konfuzianismus
Diese Denkrichtung, die in der 宋 Sòng-Zeit aufkam und dann bis
zum Ende des dynastischen China als Staatsideologie fortlebte,
verbindet den klassischen Konfuzius, der ethisches Denken und
praktische Staats- (Herrschafts-) organisation verbinden wollte, mit
dem spekulativen, abergläubischen Element, dem die Chinesen
weit mehr zuneigen.
Meister 孔 K4ng selbst hatte Göttern, Geistern und nebulösen
Kräften in der Natur immer ablehnend gegenübergestanden, weil
er meinte, es lohne nicht, sich mit Dingen zu befassen, die man
ohnehin nicht wissen könne. Allerdings gab es eine Hintertür, die
Lìchéng, Ji~o F‘ng [Klingen kreuzen]).
91
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
es gestattete, die unmystische Lehre des Konfuzius mit dem VolksMystizismus zu verbinden: Das 易经 Yì J§ng, Buch der Wandlungen, ein der Wahrsagerei dienendes Mysterien-Werk, wurde schon
früh dem Konfuzius zugeschrieben, war zumindest, weil ein Teil
des Werkes von Konfuzius stammen soll, Bestandteil des Kanons
der 五经 wß j§ng Fünf Schriften49.
Die Neo-Konfuzianer nutzten nun gerade dieses Werk, um die
Lehre des Meisters im 11. und 12. Jahrhundert wieder zu Ehren zu
bringen. Damit wollten sie dem volkstümlichen Buddhismus, für
den sie nicht allzuviel übrig hatten, Paroli bieten. Die Neo-Konfuzianer sahen im Buddhismus eine fremde, nicht-chinesische, ja
eine Barbaren-Religion, was für sie schon dadurch bewiesen war,
daß die an den Grenzen lebenden Nomadenstämme wie zum
Beispiel die Mongolen meist den Buddhismus anhingen.
Der aller Herrschaft feindlich oder wenigstens indifferent
gegenüberstehende, auf das Jenseits orientierte Buddhismus hatte
seit seiner Einführung im 2. Jahrhundert große Fortschritte in dem
zerrissenen Lande gemacht und viel Einfluß gewonnen, bis infolge
der Reichseinigung unter den 唐 Táng wieder eine Staatsideologie
gebraucht wurde, die der Buddhismus gerade nicht bietet. Deshalb
hatten die 唐 Táng den Konfuzianuismus über die Inhalte der
Beamtenprüfungen wieder aufgenommen und zum Ende ihrer Herrschaft sogar damit begonnen, gewaltsam und mit fremdenfeindlichen Auswüchsen gegen den mächtigen und verbreiteten Buddhismus vorzugehen.
Zu Beginn der 宋 Sòng begannen einige Gelehrte, den 易经 Yì
J§ng-Mystizismus mit der Lehre des Meisters 孔 K4ng zu verbinden und so eine neue Ideologie zu schaffen, die sie 道学 dào xué
nannten. Sie wird im Westen als Neokonfuzianismus bezeichnet.
Eine Schlüsselrolle spielte darin die Behauptung, daß allen
Dingen eine Lebenskraft innewohne, 气 qì genannt, die durch eine
vergleichbare Kraft, 理 l0, das Prinzip genannt, ergänzt werde. Der
¿À Sh§ J§ng Buch der Lieder, ÁÀ Shã J§ng Buch der Urkunden, ÂÃ
L0 Jì Buch der Riten, ÄÀ Yì J§ng Buch der Wandlungen, ÅÆ Chãn Qiã
49
(Frühlings- und Herbstanalen).
92
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Kampf zwischen den beiden Kräften entscheide nun, so meinten
die Neokonfuzianer, ob der Mensch eher gut oder eher schlecht sei.
Mensch und Moral, so die Lehre, bestünden aus dem 气 qì, doch
werde dies vom schlechteren, zumindest unzuverlässigen 理 l0
reguliert, dem deshalb alle erzieherische Aufmerksamkeit zu gelten
habe.
Mit diesem Konzept war es nun möglich zu erklären, warum es
neben guten eben auch schlechte Menschen gab, obwohl doch die
Konfuzianer einst gelehrt hatten, daß der Mensch im Kern gut sei
und sich auf dieser Basis vervollkommen könne. Die neue Ideologie rechtfertigte so die Ungleichheit zwischen den Menschen, die
ihre Ursache in den Disharmonien des dem Individuum innewohnenden 理 l0 mit ihrer Natur hatte, dem 气 qì.
Auf Basis dieser Annahme stellten die Neokonfuzianer nun ihr
Erziehungssystem zusammen, das entscheidende Werkzeug, mit
dem auf das 理 l0 einzuwirken war, um die Harmonie zwischen den
beiden Kräften herzustellen.
Mittel dazu war ihnen ein System von Verhaltensregeln (礼 l0 Riten, genannt), die dem Individuum seinen (meist unteren) Platz
in der gesellschaftlichen Hierarchie zuwiesen, ihm 仁 rén, Menschlichkeit, anerzogen.
So diente der Neokonfuzianismus also in erster Linie dazu, die
Gesellschaft stabil zu halten, indem jeder (vor allem die untenn
denen das naturgemäß etwas schwerer fällt als den oben) seinen
Platz als naturgegeben akzeptierte.50
朱憙 Zhã X§ formulierte dieses Gemisch in zahlreichen Werken
-viele davon zur chinesischen Geschichte- zu dem in sich geschlossenen System des 道学 dào xué Neokonfuzianismus, der dann bis
zum Ende des kaiserlichen China als Staatsdoktrin fungierte. Diese
Theorie des 朱憙 Zhã X§ wurde 1313 als alleingültige Basis auch
für die Beamtenprüfungen fixiert.
50
Der bekannte Sinologe Wolfram Eberhard erklärt das Aufkommen des
Neokonfuzianismus mit dem Entstehen neuer Klassen und Herrschaften in der
chinesischen Gesellschaft jener Zeit. Vgl. Wolfram Eberhard, Geschichte Chinas,
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1971, S. 265.
93
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Gemeinhin geben Chinesen dem Kaiser 徽宗 Hu§ ZÇng (1100
bis 1126) die Schuld dafür, daß diese kulturell und wirtschaftlich
entwickelste aller chinesischen Dynastien schließlich doch verloren
ging: Er habe sich zu sehr um seine Gedichte, Kalligraphien und
Bilder sowie seine starken daoistischen Überzeugungen gekümmert, heißt es, und dabei wohl die große Gefahr übersehen, die die
Jurchen darstellten, ein ostmandschurischer Stamm, der sich von
Landwirtschaft, Viehzucht und Jagd ernährte.
Im Jahre 1115 griffen diese Jurchen einen anderen, weiter
südlich lebenden Stamm, die Khitan, an, die ihren Staat 辽 Liáo
nannten und den 宋 Sòng schon lange ein Ärgernis waren. 宋
Sòng-Kaiser 徽宗 Hu§ ZÇng hielt den Angriff der Jurchen für eine
günstige Gelegenheit, sich die Khitan vom Hals zu schaffen und
verbündete sich mit den Jurchen, um das Khitan-Territorium zu
teilen.
Doch bald zerfiel diese chinesisch-barbarische Allianz, die Jurchen wandten sich sogar gegen die Chinesen und griffen 1126 die
宋 Sòng-Hauptstadt 开封 K~if‘ng an, nahmen sie ein und den
Kaiser sowie Tausende aus seinem Hofstaat gefangen. 徽宗 Hu§
ZÇng starb zehn Jahre später, immer noch in Gefangenschaft der
Barbaren.
宋 Sòng-Loyalisten waren derweil in den Süden geflohen, wo
sie einen seiner jüngeren
Söhne zum Kaiser machten
und eben jene Jurchen um
Frieden baten, von denen
sie verjagt worden waren
und die weiterhin Eltern,
Frau, Brüder und andere
Verwandte dieses Kaisers
in ihrer Gewalt hielten. Es
gelang ihnen, ihre
Herrschaft in 杭州
HángzhÇu zu stabilisieren
Südliche ¯ Sòng mit der Hauptstadt ǟ
und wenigstens die Gebiete
Lín=~n = provisorischer Frieden, das heutige Ž
südlich des 淮 Huái
 HángzhÇu.
94
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Flusses unter ihrer Kontrolle zu behalten.
In den folgenden Jahrzehnten bis zu ihrem endgültigen Ende
verloren die 南宋 Nán Sòng Südlichen Sòng zwar ihr altes Herrschaftsgebiet im Norden nicht aus den Augen, doch betrieben sie
meist nur eine Beschwichtigungspolitik gegenüber den JurchenEroberern, die ihren Staat mittlerweile 金 J§n nannten. Dabei
demütigte sich diese vielleicht feinste chinesische Dynastie soweit,
den Barbaren nach Abschluß eines Friedensvertrages sogar Tribut
zu übersenden und den Anführer des einzigen ernsthafen militärischen Vorstoßes, den deshalb bis heute gerühmten Helden-General
岳飞 Yuè F‘i, nach ersten Erfolgen zurückzurufen und sogar hinzurichten. Seinen Kopf schickten sie den 金 J§n-Jurchen.
Die heutigen chinesischen Geschichtsbücher feiern 岳飞 Yuè
F‘i natürlich als Kämpfer gegen die nördlichen Aggressoren und
schreiben ihm den Verdienst zu, wenigstens das Schlimmste für die
chinesische Dynastie verhindert zu haben.
Der oben erwähnte 司马光 S§m| Gu~ng verfaßte (nach dem 汉
Hàn-zeitlichen 司马迁 S§m| Qi~n) während der Nördlichen 宋
Sòng-Herrschaft das zweite überragende Geschichtswerk der
Chinesen, den资治通鉴 z§ zhì tÇng jiàn Spiegel der Herrschaft.
Das Werk resümiert in 294 Bänden die Zeit von den Streitenden
Reichen bis zur 宋 Sòng, einen Zeitraum von fast 1.400 Jahren
chinesischer Geschichte. 司马光 S§m| Gu~ng legte dabei besonderen Wert auf die Darstellung der Ursachen des Aufstiegs und
Niedergangs der Dynastien, die Machtkämpfe am Hofe und militärischen Maßnahmen der Herrscher.
Das zu seiner Zeit sehr kontroverse Werk entging nur knapp
seiner Vernichtung. Es gehörte in den 60er und 70er Jahren zur
Lieblingslektüre Maos, aus der dieser offenbar vielfältige Anregungen für seine eigene Machtausübung (und -erhaltung) zog. Das
Werk ist heute in vielfältigen Ausführungen in jeder größeren
Buchhandlung Chinas erhältlich.
95
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
辽 [辽]
Liáo (916 bis 1125)
Schon zu Beginn der Existenz von Staaten auf dem Gebiet des
heutigen China
und dokumentarisch verbürgt zu
Zeiten der 秦 Qín
und der folgenden
汉 Hàn wurden
die nomadischen
Steppenbewohner
im Norden von
Nord-China unter den È Liáo.
den Chinesen als
Bedrohung wahrgenommen. Der Bau von Schutz-Mauern durch die
aus der zerfallenden 周 ZhÇu-Herrschaft hervorgegangenen Einzelstaaten, deren bereits bestehende Einzelstücke der 秦 Qín-Kaiser
zur Großen Mauer verbinden ließ, und die spätere Herrscher bis hin
zu den 明 Míng immer wieder restaurierten, geht gerade auf diese
beständige Gefahr einfallender Nomaden zurück.
Eines dieser nicht-chinesischen (汉 Hàn) Nomadenvölker außerhalb der Großen Mauer, waren die im Nordosten Chinas ansässigen
Khitan. Ihnen gelang es zu Beginn des 10. Jahrhunderts, ihr Reich
nach und nach in Gebiete sogar südlich der Mauer auszudehnen,
wobei sie sich chinesischer Beamter und Militärs bedienten, die mit
ihnen zusammenarbeiteten.
Die wichtigste Kithan-Stadt im Nordosten war das heutige 哈
尔滨 H~=èrb§n Harbin, der Süden ihres Herrschaftsgebietes wurde
von 燕京 Yànj§ng (heute: 北京 Bij§ng/ Peking) aus verwaltet.
Im Jahre 1004 erreichten es die 辽 Liáo, wie die Khitan ihre
Herrschaft nannten, daß ihnen die im Süden fortexistierenden 宋
Sòng-Chinesen, wie den Jurchen, ebenfalls Tribut in Form von
Seide- und Silberlieferungen zahlten - ein weiterer schwerer
Schlag für chinesisches Selbstbewußtsein: Die 天子 ti~n z0 Söhne
des Himmels zahlen Tribut an Barbaren! Der Vertrag von 澶渊
96
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Chányu~n (1005), in dem das geregelt wurde, ist als der erste
sozusagen internationale Vertrag Chinas überhaupt, also mit einem
anderen Staat, in die Geschichte eingegangen.
Selbst übernahmen die Khitan die Herrschaftsformen und -kulte
der Chinesen für ihren Staat und reihen sich vielleicht deshalb in
den chinesischen Dynastie-Tabellen ein als wären sie keine Barbaren gewesen.
97
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
金
J§n (1115 bis 1234)
Von den 辽 Liáo übernahmen die bereits erwähnten Jurchen die
Herrschaft, die Vorfahren der späteren Mandschus. Sie verlegten
die Hauptstadt nach Peking und nannten ihre Herrschaft 金 J§n.
Wie bei den 辽 Liáo-Khitan fand auch hier eine weitgehende
Adaption chinesischer Sitten statt, und es kam wie bei den 辽 Liáo
mit den im Süden weiterexistierenden 宋 Sòng zum Austausch,
sogar zu einem weiteren Friedensvertrag mit Tributzahlungen der
Chinesen auch an diese Barbaren. Der Einfall der Mongolen unter
Kublai Khan bereitete dem 金 J§n-Regime ein Ende.
98
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
元
Yuán (1271 bis 1368)
In der Mitte des 13. Jahrhunderts hatten die Mongolen Nordchina,
Korea und die muslimischen Königreiche
in Zentralasien ihrer
Herrschaft unterworfen. Im Westen waren
sie bis weit nach Europa vorgedrungen,
das sich gerade von
den Folgen der von
den Hunnen im vierten und fünften
Jahrhundert ausgelöDas Reich der ÉYuán Mongolen.
sten grundstürzenden
Völkerwanderung zu erholen begann, aber in seiner Entwicklung
noch weit zurückgeworfen war.
Der Großsohn des berüchtigten Gingis Kahn (ca. 1167 bis 1227)
und Führer aller Mongolenstämme, Kublai Khan (1215 bis 1294),
machte sich in den Jahren 1276 bis 1279 daran, die noch über Südchina herrschenden 宋 Sòng anzugreifen und zu entmachten.
Bereits vorher, 1271, aber hatte Kublai eine nach chinesischem
Vorbild geformte Dynastie gegründet, die er 元 Yuán, Ursprung,
nannte, und die, nach der endgültigen Niederlage der Südlichen 宋
Sòng, als erste Fremdherrschaft ganz China regierte.
Die Mongolen, ein Reitervolk ohne Staatstradition und Regierungstechnik, trauten den Chinesen nicht und hielten sie deshalb
von wichtigen und einflußreichen Positionen im Staat fern, die sie
mit ihren eigenen Leuten oder Fremden, teils aus Zentralasien kommend, besetzten.
Sie teilten die Bevölkerung in vier Kategorien ein, mit sich
selbst natürlich als der höchsten. Es folgten türkisch-sprechende
Völker, danach die 汉 Hàn-Chinesen und als viertes und letztes die
99
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
南人 nán rén, Süd-Leute, die den dortigen 宋 Sòng unterstehenden
Chinesen, denen größtes Mißtrauen galt.
Da es den Mongolen an eigener Erfahrung in Sachen Staatsaufbau und Herrschaftsorganisation in einem bäuerlichen Land mangelte, restaurierten sie das während der 辽 Liáo- und 金 J§n- Wirrnisse (nach der 宋 Sòng-Flucht aus Nordchina) nicht mehr praktizierte Beamtensystem der 唐 Táng und 宋 Sòng mitsamt den dazugehörigen Prüfungen in den konfuzianischen Klassikern.
Nicht nur das alte chinesische Herrschaftssystem stellten die 元
Yuán-Mongolen so wieder her, sondern auch die wirtschaftlichen
Grundlagen des einheitlichen Reiches: Straßen, Kanäle (der Große
Kanal wurde instandgesetzt und bis nach Peking verlängert) und
andere Infrastrukturprojekte ließen sie in Form großer öffentlicher
Arbeiten anlegen und restaurieren, Getreidespeicher bauen und füllen, um Hungersnöten vorzubeugen.
Die ausgedehnten Verbindungen des riesigen Mongolenreiches
nach Westasien, ja bis nach Europa, ermöglichten es, daß ganz wie
zu Zeiten der 唐 Táng wieder viele Wirtschafts- und Kulturgüter
aus diesen Gebieten nach China gelangten wie zum Beispiel Musikinstrumente, die so Eingang fanden in die chinesische Bühnenkunst. Auf den gleichen Wegen kam auch der Islam in dieser Zeit
nach Nord- und Südwest China, und der Lamaismus, die tibetische
Version des Buddhismus, entwickelte sich unter der Mongolenherrschaft ebenfalls gut.
Bis heute von großer Bedeutung ist die Anlage der Hauptstadt
des 元 Yuán-Reiches: 大都 Dà Dã (heute: 北京 Bij§ng), von den
Mongolen Kambaluc genannt, die Stadt des großen Khan. Als
Hauptstadt übernommen wurde der Ort von den vorhergehenden 金
J§n. Neu war die Anlage eines Kaiserpalastes in strenger Nord-SüdAusrichtung mitsamt künstlicher Seen, Hügel und Parks fast genau
an der Stelle, wo er auch heute noch in Peking zu finden ist. Plan
und Ausführung des Palastes gehen auf Kublai selbst zurück.
Die ethnographische Spannweite des riesigen 元 Yuán-Reiches
beförderte eine große Weltoffenheit und einen intensiveren Austausch technischer Errungenschaften zwischen Asien und Europa:
Chinesische Erfindungen wie Drucktechnik, Porzellanherstellung,
100
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Spielkarten und medizinische Bücher gelangten in dieser Zeit nach
Europa, während europäische Glasscheiben und Emaille in China
Eingang fanden.
Die inzwischen mächtige katholische Kirche in Rom hatte schon
vor dem Beginn der 元 Yuán-Zeit ihre ersten missionarischen Fühler nach China ausgestreckt, als im Jahre 1246 einer der ersten
Franziskaner, Giovanni da Piano, mit einer Botschaft des Papstes
im Karakorum-Gebirge (heutige chinesisch-pakistanische Grenze)
auftauchte. Er schaffte es aber noch nicht bis zum Hof des Großen
Kahn zu gelangen.
Die Europäer wußten damals noch nichts von China, aber die
Christen waren fest davon überzeugt, daß ihr Paradies irgendwo im
Osten lag und weit am östlichen Ende des europäischen Kontinents
auch ein riesiges christliches Reich bestand, das Herrschaftsgebiet
des Priesters Johannes, mit dem sie Verbindung aufnehmen wollten.
In den Jahren 1253 bis 1255 machte sich deshalb der nächste
Papst-Abgesandte auf die Reise: Wilhelm von Rubruck, doch ist
unklar, ob er es bis nach Peking schaffte. 1294 aber erreichte der
erste päpstliche Abgesandte die Stadt, wo ihn die mongolischen
Herrscher freundlich aufnahmen: Giovanni da Montecorvino.
Wenige Jahre später, 1303, kam ihm der erste Deutsche in China
zur Hilfe: Arnold von Köln.
Insgesamt errichteten diese Franziskaner drei Kirchen in der
Stadt und 1307 machte der Papst Montecorvino zum Erzbischof
von Kambaluc (Peking). Etliche weitere Missionare folgten bis
zum Ende der Mongolenherrschaft, einige kehrten sogar mit Berichten aus dem geheimnisvollen Land im Fernen Osten nach Rom
zurück.
Der bis heute bekannteste Reisende ist aber der venezianische
Kaufmannssohn Marco Polo, der 1275 in Kambaluc eintraf und
China (das Mongolenreich) erst nach siebzehn Jahren, 1292, per
Schiff wieder in Richtung Italien verließ.
Sechs Jahre später, als er dort wegen der Wirren norditalienischer Machtkämpfe im Gefängnis gelandet war, erzählte er einem Mitgefangenen seine China-Reise- und Abenteuergeschichte.
101
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Der schrieb sie 1298 auf,
und der Bericht wurde ein
paar Jahrzehnte später
unter dem Titel Il Millione
zum mittelalterlichen
Bestseller in Europa.
Marco Polos Erzählungen prägten fortan für
Jahrhunderte die europäischen China-Wahrnehmung und tun dies in
gewisser Hinsicht auch
Die Reiseroute des Marco Polo.
heute noch. Dabei ist es
völlig gleichgültig, ob der Venezianer tatsächlich in China gewesen
war (woran ernsthafte Zweifel bestehen) und dort (als hoher
Beamter des Khan) getan, gesehen und erlebt hatte, was sein
Bericht enthält. Als jemand, der Europas Wahrnehmung von China
geprägt hat, waren und bleiben er und sein Bericht von großer
Bedeutung.
Die Herrschaft der Mongolen endete nach nicht einmal hundert
Jahren im üblichen Dynastie-Ende-Chaos von Mißwirtschaft, Hungersnöten und Bauernaufständen, kurz, wie die Chinesen es nennen
und fürchten: 天下大乱 ti~n xià dà luàn - große Unordnung unter
dem Himmel. Der Anführer einer solchen Rebellion, ein armer (und
zudem, wie es heißt, abgrundhäßlicher) Bauer, der siegreicher
Aufständischen-General wurde, war 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng. Er
machte sich 1368 zum ersten Kaiser einer neuen, nun wieder
chinesischen Dynastie, der 明 Míng.
102
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
明
Míng (1368 bis 1644)
Noch im jugendlichen Alter war 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng als
Mönch in ein Kloster eingetreten, nachdem seine
verarmten Eltern während
eines der verheerenden
Bettwechsel des Gelben
Flusses ums Leben gekommen waren. 朱元璋
Zhã Yuánzh~ng hatte also, bevor er der Gründerkaiser der neuen Dynastie
wurde, Armut und Elend
des Lebens der chinesischen Bauern viele Jahre
lang am eigenen Leibe
Map of Míng-China.
erfahren. Einige seiner
Geschwister sollen von den Eltern sogar weggeben worden sein,
und er selbst konnte diesen, so heißt es, nicht einmal einen Sarg
beschaffen, um sie ordentlich zu beerdigen - eine schlimme Schande, wenn man die zentrale Bedeutung der Elternverehrung bedenkt,
die dem wichtigen chinesischen Konzept des 孝 xiào und der
Ahnenverehrung zugrundeliegt.
Mit Beginn der Bauern-Unruhen schloß sich 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng 1352 der von 郭子兴 GuÇ Z0xìng geführten 红巾军 hóng j§n
jãn Armee der Roten Turbane an , in der er sich langsam aber
sicher nach oben arbeitete (nicht zuletzt, indem er die Pflegetochter
des Anführers heiratete). 1355 übernahm er, nach dessen Tod, die
Führung der Aufständischen. Schon ein Jahr später eroberte er
南京 Nánj§ng (Nanking) und vertrieb schließlich 1368 die 元
Yuán-Mongolen mit seiner 250.000-Mann-Armee aus 大都 Dà Dã
(Peking), wo er sodann den monglischen Kaiserpalast schleifen ließ
und seine neue Dynastie proklamierte.
103
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Als 国号 guó hào Regierungsnamen wählte er 大明 Dà Míng
Großes Licht51. Seine eigene Regierungszeit stellte er, der nach
seinem Tod den 庙号 miào hào Tempelnamen 太祖 Tài Zß erhielt,
unter die kämpferische Devise 洪武 Hóng Wß Großes Militär. Zur
Hauptstadt dieser neuen, nach langer Zeit wieder einmal
chinesischen Dynastie machte er die Stadt 应天 Y0ng Ti~n, das
spätere (und heutige) 南京 Nánj§ng (Nanking), was Südliche
Hauptstadt bedeutet. Erstmals hatte damit eine chinesische Herrschaft ihren Regierungssitz südlich des Jangtse gelegt.
Die 明 Míng-Armeen brachten in der Folge nicht nur den größten Teil des chinesischen Kernlandes von ihrer Basis 南京 Nánj§ng
aus nach und nach unter ihre Kontrolle, sondern stießen später bis
nach 安南 }nnán Annam, wie der Norden Vietnams hieß, vor.
Chinas heutiger Südwesten, die Provinzen 云南 Yúnnán und 贵州
GuìzhÇu, wurden so erst unter den 明 Míng vollständig in das chinesische Staatsgebiet einbezogen und in der Folge, im 15. und 16.
Jahrhundert, durch die systematische Ansiedlung von 汉 hàn Chinesen aus anderen Provinzen wie 山东 Sh~ndÇng und 山西 Sh~nx§
sinisiert.
Der 太祖 Tài Zß-Gründungskaiser hielt ein rigides Staatsregiment, das sich gegen Beamte, Literaten, Eunuchen und Reiche richtete: Wer nicht gehorchte, wurde umgehend bestraft. Sein Ideal war
eine andere Welt als die, die er kennengelernt hatte. Er wollte Gehorsam und hierarchische Unterordnung durchsetzen, Beamte
hatten zu knien, wenn sie mit ihm sprachen, und 太祖 Tài Zß
zögerte nicht, sie zu schlagen, wenn er meinte, daß sie es verdienten. Andererseits trachtete er wohl danach, die Lasten des sogenannten einfachen Volkes zu erleichtern. Die Armee zum Beispiel
wurde nicht aus dem Staatshaushalt bezahlt, sondern hatte sich mit
Hilfe den Soldaten zugewiesener Landflächen selbst zu unterhalten.
51
Dies geht möglicherweise auf die religiösen Grundlagen der Roten
Turbane zurück, die ein Gemisch aus Konfuzianismus, Daoismus und einer
Spielart des Buddhismus bestanden. Letztere betonte den Kampf zwischen dem
Dunkel und dem Licht.
104
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Der Palast-Bürokratie brachte 太祖 Tài Zß größtes Mißtrauen
entgegen, insbesondere den 宦官 huàn gu~n Eunuchen, den verschnittenen kaiserlichen Hausverwaltern und notorischen Hofintriganten, denen es verboten wurde, Lesen und Schreiben zu erlernen.
Händlern und Reichen mißtraute der Kaiser ebenso, besteuerte sie
heftig und siedelte Tausende zwangshalber, der besseren Kontrolle
wegen, in die Hauptstadt um.
120 Literaten-Beamte, die kurz nach dem Beginn seiner Regentschaft aus den höchstrangigen 进士 jìn shì Prüfungen hervorgegangen waren, beschimpfte er als Phrasendrescher. Er stoppte die
Beamtenprüfungen jahrelang, edierte später, nach Wiederaufnahme
des Systems, die Prüf-Schriften wie das 孟子 Mèng Z0 Buch
Menzius und ließ einmal einen Prüfer hinrichten, weil der es zugelassen hatte, daß sämtliche 进士 jìn shì-Prüflinge aus dem reichen
Süden kamen.
Inhaltlich richtete er die Prüfungen auf einen sehr schmalen
Ausschnitt des konfuzianischen Kanons aus, den die Kandidaten
überdies nur im Sinne der neokonfuzianischen Interpretation des
朱憙 Zhã X§ zu behandeln hatten. Der Prüfungsstoff stammte
nurmehr aus vier klassischen Büchern, nämlich:
! 论语 Lún Yß Gespräche [Konfuzius],
! 孟子 Méng Z0 Menzius und dem von den Neokonfuzianern besonders geschätzten
! ZhÇng YÇng 中庸 Maß und Mitte (The Doctrin of the Mean)
des Konfuzius sowie die
! 大学 Dà Xué Große Lehre ebenfalls von Konfuzius.
In ihren Examensaufsätzen, die etwa 600 Schriftzeichen umfaßten,
hatten die Kandidaten einzelne, ihnen von den Prüfern vorgegebene
Sätze aus einem dieser Werke zu interpretieren. Und zwar ab 1487
(bis zur Abschaffung dieser Art Prüfung im Jahre 1905) in Form
des sogenannten 八股文 b~ gß wén Achtgliedrigen Aufsatzes, der
seinen Namen daraus bezog, daß die vier Glieder des Hauptteils, 股
105
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
gß = Abschnitt52, genannt, je wiederum zweigeteilt waren, das
Werk also aus insgesamt acht Teilen bestand.
Die Gesamtgliederung eines solchen Prüfungsaufsatzes sah immer so aus:
! 破题 pò tí - das Thema knacken, in zwei Sätzen seine Essenz erläutern,
! 承题 chng tí - das Thema aufnehmen,
! 起讲 q0 ji|ng - mit der Erörterung beginnen,
! 入手 rù sh4u - beginnen mit den vier 股 gß Abschnitten des
Hauptteils, nämlich:
! 起股 q0 gß - einleitender Abschnitt,
! 中股 zhÇng gß - zentraler Abschnitt,
! 后股 hòu gß - hinterer Abschnitt und
! 束股 shù gß - abschließender Abschnitt.
Es blieb das Bestreben der 明 Míng, ihre Herrschaftshelfer, die
Beamten, nicht nur aus den vermögenden und damit gebildetsten
Familien des Landes zu beziehen. Sie wollten deshalb auch in entlegenen Gebieten Kandidaten rekrutieren, führten Quoten für die
Provinzen ein, um regionale Übergewichte zu vermeiden, und
schufen schließlich, um die Auswahl zu erweitern, eine neue, unterste Gelehrtenschicht ein, die lokal geprüften 生员 sh‘ng yuán,
die volkstümlich 秀才 xiù cai genant wurden. Wer diesen Titel
errungen hatte, durfte bereits eine eigene Kleidung tragen, war von
den Arbeitsdiensten befreit und erhielt bisweilen sogar ein Stipendium. Im 16. Jahrhundert gab es bereits ca. 100.000 dieser 生员
sh‘ng yuán / 秀才 xiù cai. Ihnen stand als nächstes die ProvinzPrüfung offen, die sie bei Bestehen zu 举人 jß rén machte, also
Kandidaten, die in der Hauptstadt an der alle drei Jahre durchgeführten höchsten Prüfung teilnehmen durften, die den Grad eines
进士 jìn shì verlieh, der den Weg in höchste kaiserliche Ämter frei
machte.
Viele der strengen Vorschriften des Dynastiebegründers wie die
52
Das Zeichen ging auch in die Aktie ein:
106
ÊË gß fèn Ì
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
gegen die Palast-Eunuchen wurden von seinen Nachfolgen jedoch
immer weniger eingehalten, so daß die Eunuchen beispielsweise
innerhalb weniger Jahrzehnte nicht nur wieder Lesen und Schreiben lernten, sondern bald sogar eigene Schulen unterhielten und
schließlich alles, was im Palast an Geschäften anstand, unter ihre
Kontrolle bekamen. Im letzten Jahrhundert der 明 Míng war ihre
Anzahl landesweit auf 70.000 angewachsen, allein in der Hauptstadt fanden sich nicht weniger als 10.000. Während der sehr langen Herrschaft (1573 bis 1620) eines der letzten 明 Míng-Kaiser,
万历 Wàn Lì, der sich überhaupt nicht mehr um irgendwelche
Regierungsaufgaben kümmerte, hatten die Eunuchen vollständig
freie Hand am Hofe und im Lande53, was immer ein Zeichen des
bevorstehenden Untergangs war.
Die von Dynastiegründer 朱元璋 Zhã Yuánzh~ng 1368 besiegten Mongolen waren nicht vernichtet worden, sondern nur nach
Norden, in ihre alte Heimat, geflohen, wo sie weiterhin eine Bedrohung des neuen Reiches darstellten und die ständige Wachsamkeit
der 明 Míng erforderten. Die trugen dieser Gefahr vor allem durch
zwei Maßnahmen Rechnung: Zum einen verlegte Kaiser 永乐
Y4ng Lè 1421 die Hauptstadt von 南京 Nánj§ng nach 北京 Bij§ng
(Peking), das so Nördliche Hauptstadt wurde, um eine bessere
Verteidigung zu organisieren. Zum anderen machten sich die 明
Míng ab 1449 an die Rekonstruktion der mittlerweile weithin
verfallenen Großen Mauer, nachdem eine bedeutende, vom damaligen Kaiser selbst angeführte Schlacht gegen die Mongolen verloren
worden und der Kaiser samt Hofstaat in mongolische Gefangenschaft geraten war. Ihre heute sichtbare Form erhielt die Mauer also
erst im 15. Jahrhundert.
In dessen erster Hälfte erreichte die 明 Míng-Herrschaft ihren
Zenit, markiert durch ein reichhaltiges Kulturleben, ein geradezu
explodierendes Buch- und Verlagswesen, zahllose Außenkontakte
mit den umliegenden Völkern sowie durch die sieben Übersee-
ÍÎ
53
Einen guten, auch detailreichen Einblick in die Zeit des
Wàn Lì
Kaisers gibt: Ray Huang, 1587 A Year of No Significance The Ming Dynasty in
Decline, Yale University Press1981. ISBN 0-300-02884-9.
107
LERN-UNTERLAGEN
Reiserouten des Admirals
CHINESISCHE GESCHICHTE
ÏÐ Zhèng Hé zu Beginn des 15. Jahrhunderts.
Expeditionen des Moslem-Eunuchen-Admirals
郑和 Zhèng Hé, der zwischen 140554 und 1433
auf Weisung des Kaisers 永乐 Y4ng Lè, mit
Hunderten riesiger Schiffe und etwa 27.000
Mann vom Hafen 刘家 Liúji~ an der JangtseMündung aus, entlang der Küsten Vietnams,
Thailands, Singapurs, Burmas, Sri Lankas,
Indiens bis nach Arabien und an das Horn von
Afrika segelte. Von dort brachte er unter
Ð
von Ï Zhèng
anderem eine Giraffe mit, die lange am Pekinger Die
Hé nach Peking
mitgebrachte
Giraffe
Hof als glücksbringendes 麒麟 qí lín chinesi- ( ©Míng-Bild).
sches Einhorn gehalten wurde.
Die zahllosen südostasiatischen Herrscher, die über die 郑和
Zhèng Hé-Expeditionen mit den 明 Míng in Kontakt gekommen
waren, schickten fortan Delegationen mit 进贡 jìn gòng Tribut an
den Kaiserhof in Peking, was dort das Gefühl verstärkte, die ganze
Welt blicke zu ihm auf, er sei das zivilisierte Zentrum der Welt.
Bis heute ist es nicht nur chinesischen Historikern ein Rätsel,
warum die 明 Míng dieses In-den-Blick-Nehmen der Welt, das die
Expeditionen des 郑和 Zhèng Hé am deutlichsten zeigten, mit dem
54
Zum 600. Jahrestag 2005 stehen große offizielle Feiern in China an.
108
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Tod des 永乐 Y4ng Lè-Kaisers umgehend beendeten, um sich fortan mit dem zu begnügen, was sie ohnehin schon hatten: ein riesiges
Reich mit 100 Millionen chinesischen Bauern-Untertanen.
Zweifellos gab es Widerstand in der neo-konfuzianischen Beamtenschaft. Auch die Kosten dürften eine Rolle gespielt haben, denn
als mit Schätzen reich beladener Eroberer war Admiral 郑和 Zhèng
Hé nicht an den Hof zurückgekehrt, eine Rendite warfen die Reisen
nicht ab. Im Gegenteil hatte er auf den Stationen seines Weges anscheinend mehr Kostbarkeiten verteilt als eingenommen.
So blieb das 明 Míng-Reich auf sich selbst fixiert und die Herrscher Chinas gewöhnten es sich an, in ihrer Gesellschaft die beste
aller möglichen zu sehen und mit dem Ausland nicht (wie es die
Europäer jetzt zu tun begannen) als Abenteurer, Eroberer oder auf
Basis eines Handelsaustausches, sondern, von oben herab, in Form
von (eher symblischen als wertvollen) Tributen zu verkehren.
Dabei hätten die 明 Míng die große Chance gehabt, China im
15., 16. Jahrhundert auf einen anderen als den eingeschlagenen
Weg der Selbstisolierung zu bringen, denn es war am anderen Ende
des Kontinents, in Europa, die Zeit der großen Entdeckungsreisen
angebrochen, die zahlreiche Gold und Kostbarkeiten suchende
Abenteurer, Entdecker und in ihrem Gefolge auch Händler nach
Osten, an die chinesische Küste, brachte.
Auch Columbus, der Amerika nur zufällig entdeckte, war eigentlich, was wenig bekannt ist, auf der Suche nach China gewesen. Er hatte deshalb die Beschreibung des Landes durch Marco
Polo intensiv studiert und sogar einen Brief des spanischen Königs
dabei, den er dem Großen Khan überreichen wollte. In einem
Tagebucheintrag nach seiner vermeintlichen Ankunft in Asien,
schrieb er am 21. Oktober 1492:
... I have already decided to go to the mainland and to the city
of Quisay [Hangzhou] and give your Highnesses= letters to the
Great Khan and ask for a reply and return with it.55
55
Zitiert nach: William Atwell, Ming China and the emerging world
economy, c. 1470 - 1650, in: Denis Twichett and Fredericl W. Mote (ed.), The
109
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Schon der 太祖 Tài Zß-Gründungskaiser aber hatte einen privaten
Außenhandel zugunsten rein tributärer Beziehungen verboten. Und
wie die auf Befehl beendeten Reisen des 郑和 Zhèng Hé zeigten,
hielten sich auch seine Nachfolger -mit Ausnahme des 永乐 Y4ng
Lè-Kaisers- an diese Politik.
Ab dem 16. Jahrhundert jedoch war die Abkapselung so strikt
nicht mehr aufrechtzuerhalten, denn immer mehr Fremde tauchten,
handeltreibend und abenteuersuchend, an der langen chinesischen
Küste auf: Japaner, Portugiesen, Spanier, Holländer. Im Verein mit
chinesischen Händlern, die Reichtum ebenso attraktiv fanden, brachen sie das wohlgeordnete System der Pekinger Herrscher nach
und nach auf. Schließlich gewährte der Kaiser den Portugiesen, die
seit 1520 immer wieder versucht hatten, nach China hineinzukommen, 1577 sogar eine eigene Handelsstation in 澳门 Àomén
Macao, um sie aus dem Inland herauszuhalten (und als Belohnung
für portugiesische Hilfe im Kampf gegen japanische Piraten).
Die Jesuiten in China
In der Mitte des 16. Jahrhunderts begann
der Orden der Jesuiten (Gesellschaft Jesu)
sich missionarisch für Japan und bald
auch für China zu interessieren, das man
als noch verschlossenes Ursprungsland
der japanischen Kultur betrachtete.
Im Jahre 1582 kam ihr erster Vertreter,
Matteo Ricci, über die portugiesische Besitzung Macao nach Südchina und begann
dort mit der Verbreitung des ChristenMatteo Ricci, 1552-1610, in tums.
Mandarin-Kleidung und mit
Um die Erlaubnis zu erhalten, sich nieseiner Weltkarte.
derzulassen, hatte Ricci die zuständigen
Mandarine mit Geschenken europäischer Herkunft wie Uhren und
Prismen, die es in China nicht gab, bestochen. Nach mehreren
weitgehend erfolglosen Jahren in der Tracht buddhistischer
Cambridge History of China, Vol 8, Cambridge University Press 1998, S. 377.
110
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Mönche gelangte er schließlich zu der Auffassung, daß die
Verbreitung seines Glaubens nur gelingen würde, wenn er von
oben, also über die Bekehrung des Kaisers selbst oder zumindest
hoher Beamter, unter das Volk gebracht würde. Deshalb verließ
Ricci den Süden des Landes und machte sich auf den Weg nach
Peking, das er 1601 nach abenteuerlichen Reisen und einem
längeren Zwischenaufenthalt in Nanking erreichte56.
Durch das Tragen der Kleidung von Mandarinen paßten sich die
jesuitischen Missionare äußerlich ihrer Zielgruppe an. Ricci, der
den chinesischen Namen 利 Lì (= Ricci) 马窦 M|dòu (= Matteo)
angenommen hatte, verfügte offenbar über ein phänomenales
Gedächtnis und brachte es im Chinesischen -in Wort und Schriftso weit, daß er ohne Probleme mit den Literaten des Landes verkehren und sogar philosophische Texte im offiziellen Stil verfassen
konnte, die gedruckt, zirkuliert und weithin unter den Mandarinen
diskutiert wurden.
Gleichzeitig nutzte er sein umfassendes europäisches Wissen in
Astronomie, Mathematik, Geographie und anderen Naturwissenschaften, um sich für die Chinesen interessant zu machen und auf
dieser Basis den katholischen Glauben zu verbreiten. Es gelang
Ricci jedoch nicht, in Peking, wo er von 1601 bis zu seinem Tod
lebte) zum 明 Míng-Kaiser 万历 Wàn Lì selbst vorzudringen, der
gleichwohl von seiner Anwesenheit wußte, über seine Beamten
auch zahlreiche Geschenke Riccis entgegennahm, sich aber dennoch weigerte, ihn persönlich zu empfangen.
1610 starb Ricci und wurde in Peking begraben. Sein Grab (und
das vieler seiner Nachfolger und Glaubensbrüder) ist dort bis heute
zu besichtigen, es liegt am Östlichen Zweiten Ring, auf dem Gelän
56
Die Geschichte Riccis in China schildert -auf Grundlage seiner vielen
Berichte- sehr anschaulich und spannend: Vincent Cronin, The Wise Man from the
West, The Harvill Press, London, 1955. Die sehr interessanten China-Berichte
Riccis liegen in einer englischen Zusammenfassung/Übersetzung vor: L.J.
Gallagher, S.J., The China That Was - China As Discovered by the Jesuits at the
Close of the Sixteenth Century, The Bruce Publishing Co. Milwaukee, 1942.
111
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
de der Pekinger Parteischule57.
Von seinem Wirken
bis heute geblieben
sind die chinesischen
Bezeichnungen der
Erdteile und vieler
Länder (darunter Europa als 欧逻 Æu Luó
und Deutschland als
德国 Dé Guó), denn
sie waren von Ricci
vergeben worden, als
er die erste, von ihm Matteo Riccis Weltkarte für den chinesischen
¶ØÙ wàn guó quá tú.
Kaiser: Í
selbst angefertigte
Weltkarte unter dem
Titel 坤与万国全图 kãn yß wàn guó quán tú Vollständige Karte
aller Länder der Erde58 in China einführte.
Als christlicher Missionar scheiterte Ricci, seine Lehre wurde
nur von sehr wenigen Chinesen angenommen. Wegen seiner umfassenden Kenntnisse der Mathematik, Naturwissenschaften, Astronomie und Geographie, wegen seines grandiosen Gedächtnisses59
und seines fabelhaften Chinesisch war 利马窦 Lì M|dòu unter den
Literaten und Mandarinen aber sehr bekannt geworden und ist bis
heute unter diesem Namen vielen Chinesen ein Begriff. Sein
größter (manche sagen: sein einziger) Missionserfolg war die Taufe
des höfischen Großsekretärs 徐光启 Xú Gu~ngq0, der als Paul Hsu
mit seinem Einfluß zwar nicht Ricci selbst, wohl aber seinem
Nachfolger den Weg zum Kaiser ebnete.
ÑÒÓÔÕÖ
57
Die seit einiger Zeit unter dem Namen
Bij§ng Xíng Zhèng
Xué Yuàn Beijing Administrative College als Schule für Staatsangestellte firmiert.
58
Die Erde hier als
× kãn,dem Orakelzeichen für Erde.
59
Das Jonathan Spence zur Basis seiner Ricci-Arbeit nimmt: The Memory
Palace of Matteo Ricci, Penguin Books, 1983.
112
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Erst mit dem Machtantritt der nicht-chinesischen 清 Q§ng
Mandschus 1644 setzte die große Zeit der Jesuiten in China ein.
Die Grundlage legte der deutsche Nachfolger Riccis, Adam Schall
von Bell60, der gemeinsam mit dem Konvertiten Paul Hsu den
unkorrekten chinesischen Kalender berichtigte und dafür vom
ersten 清 Q§ng-Kaiser 顺治 Shùn Zhì zum Hofastronomen ernannt
wurde. Auf Basis dieses Brückenkopfes gelang es nachfolgenden
Jesuiten, das Vertrauen auch des zweiten und bedeutendsten Mandschu-Kaisers, 康熙 K~ng X§, zu gewinnen, bei dem der belgische
Jesuitenpater Ferdinand Verbiest61 viele Jahre als Lehrer und sogar
militärischer Berater täglich ein und aus ging.
Allerdings beruhten die Erfolge der jesuitischen Arbeit nicht auf
der Missionierung chinesischer Seelen, sondern darauf, daß sie sich
den chinesischen bzw. mandschurischen Gegebenheiten fast vollständig anpaßten und den größten Teil ihrer Zeit mit -in China
nicht bekannten- naturwissenschaftlichen und anderen, eher weltlichen Dingen zubrachten - einschließlich des Baus von Kanonen.
Dies erregte zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Mißfallen des
Papstes und eskalierte zum sogenannten Riten-Streit, der mit der
päpstlich verfügten Auflösung der Gesellschaft Jesu im Jahre 1773
endete. Schon zuvor hatten die Jesuiten jedoch unter dem 康熙
K~ng X§-Sohn und Nachfolger 雍正 YÇng Zhèng vielerlei Repressionen erfahren, als sie auf Anweisung des Papstes darauf bestanden, daß bekehrte Chinesen ihren Ritus der Ahnenverehrung aufgaben, den Rom als heidnisch verdammt und den chinesischen Christen verboten hatte. Dies sah wiederum der Kaiser als Einmischung
in seine Angelegenheiten, die er nicht hinzunehmen bereit war.
Bis zur Auflösung des Ordens waren fast 500 Jesuiten in China tätig gewesen und hatten dabei enorme Mengen europäischen
Wissens in Naturwissenschaft, Technik, Geographie, Malerei und
Architektur in das Land gebracht. Getauft aber hatten sie in den
hundert Jahren ihrer China-Mission nur etwa 200.000 Chinesen.
60
61
ÚÛÜ T~ng Ruòwàng.
Þß Nán Huáirén.
Chinesisch: Ý
Chinesisch:
113
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Einen wesentlich größeren Erfolg hingegen erzielten sie mit
ihren Berichten aus und über China in Europa, wo sie im 18. Jahrhundert die breite Bewegung der chinoiserie auslösten.
Schon bei der Ankunft Riccis in China, 1582, hatte die 明 MíngDynastie nach 200 Jahren ihren Macht- und Kultur-Höhepunkt
überschritten. Immer wieder fielen die von ihnen gestürzten
Mongolen im Norden ein, stifteten die Japaner in Korea Unruhe
und machten sich als Seeräuber entlang der chinesischen Küste
einen sehr schlechten Namen am Hof - 倭寇 wÇ kòu wurden sie
seither genannt - japanische Banditen.
Hinzu kamen Naturkatastrophen, insbesondere Mißernten,
ausgelöst vor allem durch die Kleine Eiszeit, die zu Beginn des 17.
Jahrhunderts die Ernteerträge nicht nur in China drastisch einbrechen ließ. Die Staatsfinanzen näherten sich dem Bankrott, als
der Zufluß von Silber aus dem Außenhandel zur Mitte des 17.
Jahrhunderts aufhörte. Grund waren behindernde Maßnahmen in
Japan und durch die Spanier auf den Philippinen. Erst Unruhen,
dann Aufstände, schließlich Niedergang der Dynastie waren wie
immer die unvermeidliche Folge.
1642 öffnete eine Rebellengruppe die Deiche am Gelben Fluß,
was eine verheerende Überschwemmung, Chaos und Seuchen mit
Hunderttausenden von Toten zur Folge hatte.
Den erfolgreichsten Aufstand organiserte ein ehemaliger
Schafhirte namens 李自成 L0 Zìchéng, der bald die Provinzen 湖北
Húbi, 河南 Hénán und 陕西Sh|nx§ besetzt hatte und seine
Truppen 1644 durch 山西 Sh~nx§ und 河北 Hébi nach Peking
führte, wo der letzte 明 Míng-Kaiser sich am Kohlehügel hinter
dem Kaiserpalast an einem Baum erhängte,um seiner Gefangennahme zu entgehen.
Der entscheidende Erfolg aber, Gründer einer neuen chinesischen Dynastie zu werden, blieb 李自成 L0 Zìchéng versagt, denn
jenseits der Großen Mauer im Nordosten waren die 满族人 m|n zú
rén Mandschus, ein kleines Reitervolk, zur Stelle, um die Nachfolge der 明 Míng anzutreten.
114
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
清
Q§ng (1644 bis 1911)
Schon bevor sie China als neue Herrscher übernahmen, hatten die
Mandschus, die keine 汉
Hàn Chinesen waren, deren
Kultur in vielerlei Hinsicht
adaptiert und praktizierten
sie in ihrem Ende des 16.
Jahrhunderts gegründeten
Staatswesen außerhalb der
Großen Mauer, im Nordosten. Die Mandschus hielten sich für Nachkommen
der Jurchen, die -zeitgleich
zur Südlichen 宋 Sòng- als
àQ§ng-China.
金 J§n (1115 bis 1234) bereits über Nordchina geherrscht hatten.
Ihr erster Gebieter nach der so erlangten Seßhaftigkeit, Nurhaci,
organisierte die Mandschu-Bevölkerung in vier, später acht militärischen Abteilungen, die jeweils durch eine farbige Fahne gekennzeichnet waren und deshalb als 旗 qì Banner bezeichnet
wurden.
Kleidung, Farben und Fahnen der
áâ b~ qí Acht Mandschu-Banner.
Die Mandschus schufen sich nun auch eine eigene BuchstabenSchrift, die auf dem Mongolischen basierte, kopierten chinesische
Gesetze sowie andere wichtige Schriften und übernahmen in ihrem
neuen Staat nach und nach immer mehr chinesische Praktiken wie
zum Beispiel auch die Tempel-Rituale des Kaisers und das System
der Beamtenprüfungen.
115
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Die religiösen Rituale der chinesischen Herrscher hatten bereits in
der 秦 Qín-Zeit festere Formen angenommen, als die 五岳 Wß Yuè
fünf heiligen Berge zu wichtigen Orten ihrer Ausführung gemacht
wurden:
! der östliche Berg - 泰山 Tài Sh~n in der Provinz 山东 Sh~ndÇng,
! der südliche 衡山 Héng Sh~n in 湖南 Húnán,
! der zentrale 嵩山 SÇng Sh~n in 河南 Hénán,
! der westliche 华山 Huá Sh~n in 陕西 Sh|nx§ und
! der nördliche 恆山 Héng Sh~n in 山西 Sh~nx§.
Später ließen Kaiser Tempel errichten, wo sie in ritualisierter Form
Opfer brachten. Der 明 Míng-Kaiser 永乐 Y4nglè zum Beispiel
ließ 1420 den 天坛 Ti~n Tán Himmelstempel in Peking bauen, wo
fortan am Jahresende für eine gute Ernte geopfert wurde, eines der
wichtigsten Rituale des Kaisers. 明 Míng- und 清 Q§ng-Kaiser
errichteten innerhalb des
Palastes in Peking den
kaiserlichen 太庙 tài miào
Ahnentempel und in den
(damaligen) Vororten der
Stadt den:
!
!
!
!
日坛 rì tán Sonnenaltar,
月坛 yuè tán Mondaltar,
地坛 dì tán Erdaltar und
先农坛 xi~n nóng tán
Landwirtschaftsaltar,
wo der Herrscher fortan in
regelmäßigen Abständen
wichtige Opferrituale vollzog.
Der Sohn Nurhacis, der
aus dem Reitervolk der Mand-
©
Peking während der
Míng-Zeit mit
Verbotener Stadt (gelb) und Kaiserpalast
(rot) im Zentrum sowie: Erd-, Mond-,
Sonnen-Altar im Norden, Westen und
Osten und dem Himmels- und Erdaltar
(heute:
ti~n tán Himmelstempel) im
Süden.
ϋ
116
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
schus eine schlagkräftige, organiserte Truppe geformt hatte, ging
in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als der 明 Míng-Niedergang sich beschleunigte, noch weiter in der Übernahme chinesischer Einrichtungen, stellte auch vermehrt überlaufende chinesische Generäle und Beamte in seinem Herrschaftsbereich ein und
rief schließlich -noch vor dem Einmarsch in chinesisches Gebietdie eigene Dynastie der großen Reinheit aus, die 清 Q§ng, womit
er seine größeren Ambitionen deutlich machte, die auf eine Herrschaft über China zielten.
1644, mit dem Marsch des Rebellenführers 李自成 L0 Zìchéng
auf Peking und dem Selbstmord des letzten 明 Míng-Kaisers konfrontiert, wußte ausgerechnet der für die Verteidigung gen Norden,
gegen die Mandschus, zuständige 明 Míng-General 吴三桂 Wú
S~nguì keinen anderen Rat, als Mandschu-Truppen von jenseits der
Mauer als Helfer zur Wiederherstellung der Ordnung hereinzulassen. Tatsächlich besiegten diese die Rebellen in ganz Nordchina,
brachten 李自成 L0 Zìchéng so um seinen Triumph, blieben jedoch
als neue Herrscher in Peking, wo für die Einwohner nun eine harte
Zeit der Diskriminierung begann.
Als eine der ersten Maßnahmen siedelten die Mandschus alle
Chinesen in einen südlichen Teil der Hauptstadt um, der fortan
Chinesenstadt genannt wurde. Sie selbst blieben im nördlichen
Teil, der sogenannten Tartarenstadt. Beide Stadthälften waren vom
Umland und gegeneinander durch eine gewaltige Mauer getrennt,
von der heute nur noch das 前门 Qián Mén genannte Tor (eigentlich: 正阳门 zhèng yàng mén), südlich des Tian=anmen, vorhanden
ist. (Die Mauer wurde in den schziger Jahren abgerissen, heute
verläuft auf ihrem Fundament die Zweite Ringstraße.)
Die Tausenden Eunuchen entließen die neuen Herrscher umgehend und besetzten die Verwaltungsposten mit ihnen loyalen
Chinesen, die sie zum Teil aus ihrem alten Staatszentrum im
heutigen 辽东 LiáodÇng mitgebracht hatten.
Die Mandschus konfiszierten große Ländereien für ihre Armee
und eigenen Banner-Aristokraten. Ein Jahr nach Beginn ihrer Herrschaft befahlen sie -bei Androhung der Todesstrafe- allen männlichen Chinesen, sich innerhalb von zehn Tagen die Haare am vor117
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
deren Kopfteil bis zur Stirn zu rasieren und hinten einen Zopf
wachsen zu lassen. So sollten sie ihre Unterwerfung unter die neuen Herrscher öffentlich bezeugen.
Von größtem Mißtrauen gegen die Chinesen erfüllt, führten die
neuen Herrscher weitere diskriminierende Maßnahmen ein wie das
Verbot für Chinesen, in Mandschu-Gebiete einzuwandern oder
Mandschus zu heiraten. Den eigene Leuten wiederum war es verboten, körperliche Arbeit oder Handelstätigkeiten auszuüben. Chinesische Beamte, die weiter zahlreich den neuen Herrschern dienten, erhielten einen Mandschu-Aufpasser zur Seite.
Der militärische Widerstand gegen die Expansion der Mandschu-Herrschaft nach Süden hielt noch bis etwa 1670 an. Als
bekanntester 明 Míng-Loyalist ging 郑成功 Zhèng ChénggÇng,
von den Holländern mit dem Namen Koxinga versehen und als
Piratenkönig betrachtet, in die Geschichte ein. Zum einen, weil er
im Auftrag des nach Süden geflohenen 明 Míng-Prinzen den
vorrückenden Mandschus militärischen Widerstand leistete, zum
anderen aber, weil er, die eigene Niederlage alsbald vor Augen,
schließlich mit vielen Anhängern auf die Insel 台湾 Táiw~n
flüchtete und dort eine quasi-chinesische, 明 Míng-loyale Herrschaft etablierte.
Nach seinem Tod hielten seine Nachfolger diese noch einige
Jahre aufrecht, bis die Mandschus 1683 nach 台湾 Táiw~n übersetzten, die 郑成功 Zhèng ChénggÇng-Nachkommen entmachteten
und die Insel ihrem chinesischen Herrschaftsgebiet als Teil der
Provinz 福建 Fújiàn einverleibten. Seither gilt 台湾 Táiw~n als
chinesisches Gebiet. (Zur Provinz wurde es erst 1885 erhoben, als
japanische Ambitionen auf die Insel erkennbar geworden waren.)
Zwar übernahmen die Mandschus bei der Verwaltung ihres
nunmehr riesigen Reiches viele Praktiken der vorhergehenden chinesischen Herrschaft, unterschieden sich jedoch wie fast alle
Fremdherrschaften zunächst in einem wichtigen Punkt von den
Chinesen: Sie waren weltoffen. Vor allem der lange herrschende
und sehr berühmte zweite Kaiser der Dynastie, 康熙 K~ng X§
(1654 bis 1722, Regierungszeit: 1662 bis 1722), zeichnete sich
dadurch aus.
118
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Er gewährte den Jesuiten einen immensen Einfluß am Hofe und
beförderte so das Einströmen zahlreicher europäischer, für China
neuer Erkenntnisse in den Naturwissenschaften. Doch auch um die
überkommene chinesische Kultur erwarb er sich große Verdienste.
Ein unter seiner Herrschaft fertiggestelltes und
nach ihm benanntes
Schriftzeichen-Lexikon,
das 康熙字典 K~ng X§ Zì
Di|n, mit insgesamt
47.000 Zeichen, hatte
æçèé K~ng X§ Zì Di|n, Erstausgabe. durch seinen vereinfachten 部首 bù sh4u Index der Radikale (deren Gesamtzahl von
ursprünglich über 500 auf 214 reduziert wurde), die ein Nachschlagen gesuchter Schriftzeichen überhaupt erst ermöglichen,
große Bedeutung für die Weiterentwicklung des Systems der
chinesischen Zeichen.62
Durch eine starke Expansion nach Norden und Westen vergrößerten die Mandschus nicht nur das chinesische Gebiet, indem
sie die Mongolei dazugewannen, die heutige Provinz 新疆 X§nji~ng Sinkiang (Neue Grenze) sowie Tibet, sondern sie sicherten
durch die Eingliederung der Nomaden und Tibeter in ihr Herrschaftsgebiet auch endlich die ewig unsicheren Nord- und Westgrenzen Chinas. Nie vorher und nie nachher war das chinesische
Reich so groß und so befriedet wie im 18. Jahrhundert unter den
Mandschus.
Allerdings sollte die wahre Bedrohung des chinesischen
Kaisertums gar nicht an den Nord- und Westgrenzen auftauchen,
sondern an der Küste im Süden und Osten des Landes, wo mit
Beginn des 19. Jahrhunderts 毛鬼 máo gßi haarige Teufel, europäische und später auch amerikanische Glückritter, Händler, Missionare und schließlich Diplomaten des wirtschaftlich und
System der chinesischen Zeichen und der Erläuterung von 200 ä
å bù sh4uZum
Radikalen siehe: Jörg-M. Rudolph, Das Größte Geheimnis Chinas,
62
Teil I und II in: Sju Tsai No. 36 und 37 unter: www.xiucai.oai.de .
119
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
militärisch erstarkenden Europas in ständig größerer Zahl über den
洋 yáng = Ozean per Schiff anlandeten.
Wie immer in China, ging es aber auch mit der Mandschu-Dynastie bereits nach wenigen herausragenden Kaisern rasch bergab.
Für die 清 Q§ng mehrten sich die Anzeichen dafür mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, als das Land erneut, in mehreren Provinzen, von großen Bauernunruhen und -aufständen erschüttert wurde
und an den Küsten das Piratenunwesen wieder auflebte.
Die zunächst stabile Entwicklung des Reiches hatte im frühen
18. Jahrhundert zu einem enormen Anwachsen der Bevölkerung
geführt. Allein zwischen 1802 und 1834 kamen 100 Millionen
Menschen hinzu. Die wirtschaftliche Entwicklung jedoch hielt weder mit diesem Wachstum noch mit der starken territorialen
Ausdehnung des Reiches Schritt.
Das Herrschaftssystem
verkrustete zunehmend
und kapselte sich schließlich in großer Arroganz
vom dynamischen, sich
industrialisierenden und
dann nach China als
Absatzmarkt drängenden
Europa ab. Wir brauchen
Eure Waren nicht, ließ der 1793: Empfang der ersten englischen ChinaDelegation durch Kaiser êë î
Qián Lóng in
dritte Nachfolger (Uren- seiner Sommerresidenz
ìí‡
bì shß sh~n
“
zhu~ng in ï Rèhé (heute: ðñ Chéngdé).
kel) des 康熙 K~ng X§
Kaisers, 乾隆 Qián Lóng, Lord Macartney, dem Abgesandten des
englischen Königs George III, ausrichten, der ihn 1793 in seiner
Sommerfrische aufsuchte, dem ca. 200 Kilometer nördlich von
Peking gelegenen 热河 Rèhé (heute: 承德 Chéngdé)63.
England wollte diplomatische und Handelsbeziehungen mit dem
63
Eine phantastische, enthüllende und höchst amüsante Schilderung der
Mission (aus englischen und chinesischen Quellen und mit größter Nutzanwenung
auch für heutige China-Kontakte) ist Alain Peyrefitte gelungen: The Immobile
Empire, New York, Knopf, Random House, 1992. ISBN: 0394586549.
120
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
chinesischen Reich herstellen, doch dieser erste, in großem Respekt
unternommene Versuch scheiterte vollständig an der abweisenden
Haltung des chinesischen Kaisers und seiner Beamten. Unverrichteter Dinge mußte Macartney wieder abziehen und die lange Rückreise antreten, und als 1816/17 eine zweite britische Delegation
unter William Pitt Amherst nach Peking kam, lehnte es der 乾隆
Qián Lóng nachgefolgte Kaiser sogar ab, ihn überhaupt zu empfangen. Erfolglos und zudem gedemütigt mußte auch Amherst wieder
abziehen.
In Großbritannien bereiteten diese Fehlschläge vor allem in der
am Handel mit China interessierten Kaufmannschaft der Auffassung den Boden, daß man mit den unwilligen Chinesen dann eben
anders umgehen müsse. Ihre Lobby sorgte dann dafür, daß die
gewaltsame Öffnung Chinas ab etwa 1820, auf dem Programm der
britischen Politik stand.
Die 蛮夷 mán yí Barbaren kommen
Im Bewußtsein der mandschu-chinesischen Herrscher bestand die
Welt aus ihrem chinesischen Reich, das sie als hochkultiviert ansahen, und umliegenden Barbarenvölkern, die ihnen um so
unkultivierter erschienen, je weiter sie von China weg und damit in
immer größerer kultureller Finsternis lebten. Eine groteske Fehleinschätzung der tatsächlichen Entwicklungen und Kräfteverhältnisse in der Welt.
Gleichwohl war es schon tausend Jahre früher zu vielfältigen,
bisweilen sogar sehr intensiven Kontakten mit Fremden vom
westlichen Ende des asiatischen Kontinents gekommen - über die
Seidenstraße mit Persern, Arabern, ja, sogar Europäern, falls Marco
Polo China tatsächlich erreicht hatte.
Während der 唐 Táng-Zeit hatten sich sogar Tausende ausländischer Händler und sogar christliche Missionare (Nestorianer, eine
Sekte, die im Nahen Osten bestand) in der Hauptstadt der Dynastie
angesiedelt, die anscheinend ein rechtes Völkergemisch gewesen
sein muß. Über das Meer im Osten kamen Japaner und ebenfalls
per Schiff arabische Überseehändler.
121
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Als Europäer im 16. Jahrhundert mit ihren Entdeckungsfahrten
in die Welt begannen, landeten im Süden Chinas Portugiesen,
Spanier, Holländer und schließlich in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts vermehrt Briten an, die mittlerweile die Vorherrschaft
in Europa inne- und ein riesiges Kolonialreich auch in Asien (Indien) errichtet hatten.
Allerdings gingen alle diese Begegnungen stets von den Fremden aus, die nach China hereinkamen. Chinesen selbst verließen
vor 1860 ihr Land -mit einer Ausnahme64- nie in offiziellem
Auftrag. Europas Abenteuerlust, Geldgier, Entdeckergeist und
Missionarstum waren ihnen fremd. Die konfuzianische Selbstkultivierung galt, so gesehen, auch für das Land als solches. Wer aber
zu ihnen hereinkam, der tat das in den Augen der Herrscher und
ihrer Helfer, der Mandarine, als Überbringer von 贡品 gòng p0n
Tribut, also jemand, der den Kaiser als seinen höchsten Souverän
und China als höchste Kulturmacht der Welt anerkannte und im
Grunde von Chinas Größe profitierte. In jedem Fall blieben die
Fremden in China immer strenger und mißtrauischer Kontrolle
unterworfen und wurden bis zum Opiumkrieg 1842 regelmäßig
auch wieder hinausgeworfen, wenn sie zum Beispiel ihre Handelsgeschäfte in Kanton abgeschlossen hatten.
Diese Sicht der Überordnung Chinas über den Rest der Welt
mochte bis ins 16. Jahrhundert noch hingegangen sein, denn vor
allem der Einfall der Hunnen im 5. Jahrhundert, der die gewaltige
Völkerwanderung auslöste65, sowie der Mongolensturm Mitte des
13. Jahrhunderts hatten Europas Entwicklung, die in Griechenland
und Rom so große Höhen erreicht hatte, aufgehalten, ja sogar weit
zurückgeworfen.
Als um 1520 die ersten Portugiesen (dann Spanier und Hollän-
64
òó ôõ
Der Admiral
[
] Zhèng Hé, der zwischen 1405 und 1433 mit
einer Flotte großer Schiffe bis an die afrikanische Küste segelte, war eine
einmalige Ausnahme (und der Mann überdies ein Muslim). Siehe oben unter
Míng.
©
65
Die Hunnen wurden 451 in der Schlacht auf den Katalaunischen
Feldern (Frankreich) geschlagen und verschwanden anschließend spurlos.
122
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
der) vor der chinesischen Südküste auftauchten und ins Land hinein wollten, um Reichtümer aufzuspüren und Handel zu treiben,
war dies den Chinesen kein Anlaß zu fragen, wer die Fremden
eigentlich waren, woher sie kamen, welchen Stand in Wissenschaft
und Technik sie erreicht hatten usw. Sie waren nicht neugierig.
Zwar ging man bisweilen auf ihre Handelsanliegen ein, doch suchten die 明 Míng-Herrscher sie vor allem abzuwehren und draußen
zu halten. Nach Peking, an den Hof, sollten sie auf keinen Fall
kommen, und die, die es doch geschafft hatten, nahmen meist kein
gutes Ende wie der Portugiese Pirès, der um 1520 als einer der
ersten Besucher dort am Ende in einem chinesischen Gefängnis
umkam.66
So entging den Chinesen, daß sie es in Europa nicht nur mit
einer anderen, sondern mit einer expansiven Hochkultur zu tun
hatten, die die ganze Welt in den Blick nahm und die selbstbewußt
Anerkennung als Gleichberechtigter erwartete (wie die europäischen Fürsten es im Umgang miteinander gewohnt waren) und die
überdies von christlichem Sendungsbewußtsein und Geldgier beseelt war. Europäer fragten nicht danach, ob andere Völker sie willkommen hießen oder nicht. Sie waren es gewohnt, sich in anderen
Teilen der Welt (Afrika und später Süd- und Nordamerika) durchzusetzen - wenn es sein mußte eben mit Gewalt.
Dabei hätte man es am Kaiserhof in Peking ab etwa 1600 besser
wissen können, denn zu dieser Zeit begannen die Jesuiten damit,
China von Süden aus zu missionieren. Mattheo Ricci, der ab 1601
sogar in Peking wirkte, und seine Mitstreiter waren dabei äußerst
gebildete Vertreter Europas, exzellent bewandert in Naturwissenschaften, Mathematik, Technik, Astronomie und Geographie. Und
die Jesuiten trugen dieses Wissen in Form von technischen und
wissenschaftlichen Geschenken für hohe Beamte, über Publikationen (zum Beispiel Riccis Weltkarte) und Unterrichtung aktiv in
66
Eine sehr detailreiche und konzise Darstellung der ausländischen
Versuche, mit China in Kontakt zu treten: Nigel Cameron, Barbarians and
Mandarins Thirteen Centuries of Western Travellers in China, Oxford University
Press (China) Ltd., 1970.
123
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
die Oberschicht der chinesischen Gesellschaft hinein. Gegen Ende
des 17. Jahrhunderts hatten sie sich damit am Mandschu-chinesischen Kaiserhof sogar eine äußerst einflußreiche Stellung verschafft: Ferdinand Verbiest, der Nach-Nachfolger Riccis, ging beim
康熙 K~ng X§-Kaiser täglich ein und aus.
Aber die in Peking Herrschenden übernahmen weder die geographischen Erkenntnisse der Jesuiten auf Dauer, noch zogen sie
aus derem Wirken den Schluß, daß Europa ihnen in technischwissenschaftlicher Hinsicht überlegen war und so eine Gefahr darstellen könnte. Nach der Ausweisung der Gesellschaft Jesu gegen
Ende des 18. Jahrhunderts igelte sich die Dynastie ein. Vom Wirken der europäischen Missionare blieb nichts übrig, ihre überbrachten und zeitweilig geschätzten Erkenntnisse fielen in
Vergessenheit. Die Chinesen gingen wieder dazu über, statt der
realistischen Weltkarte, die Ricci ihnen gezeichnet hatte, ihre
eigenen absurden Erzeugnisse zu benutzen und sich in arrogantem
Überlegenheitsgefühl von Europa abzukapseln.
Dort beschleunigte sich im grundstürzenden Zeitalter der Aufklärung (18. Jahrhundert) gerade die wissenschaftliche, technische
und gesellschaftliche Entwicklung rasant: Die Religion verlor ihre
Bedeutung, nicht Glauben, sondern Wissen war gefragt, die
Naturwissenschaften begannen sich stürmisch zu entwickeln.
Montesquieu, Rousseau und andere begannen, die Organisation des
Staates als Privateigentum eines Monarchen zu hinterfragen und
boten andere Gesellschaftsmodelle, eine andere Organisation des
Staates an. Die Französische Revolution 1789 versetzte der überkommenen Welt Europas den ersten, schweren Schlag.
Handwerksbetriebe wuchsen unter aktiver Förderung durch den
Staat der Könige und Fürsten zu Manufakturen und schließlich,
nach der Erfindung der Dampfmaschine, zu Industrien. Im Außenhandel herrschte das Prinzip des Merkantilismus: der Staat
fungierte, als aktiver Förderer und Magd der Wirtschaft, achtete auf
einen Überschuß. Eine neue, sehr aktive, sehr reiche, sehr dynamische und aggressive gesellschaftliche Klasse entstand: Unternehmer, Kapitalisten, die Besitzer der neuen Fabriken, in denen bald
Tausende von Arbeitern mit großen Maschinen immer mehr
124
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Handelsgüter erzeugten, die auf die inländischen und, als diese
nicht mehr reichten, zunehmend auf die ausländischen Märkte
geworfen wurden. Die produzierte Warenmenge wuchs so stark,
daß sich die Gewinner des Systems bald auf die Suche nach neuen
Absatzmärkten nicht nur in der europäischen Nachbarschaft,
sondern sogar in ferneren Ländern machten.
Von China wußte man -dank Marco Polo und portugiesischer
und holländischer Seefahrer- und Händlerberichte nicht zuletzt
dank der Jesuiten- seit ein paar hundert Jahren, daß es groß, reich,
von enorm vielen Menschen bewohnt und im Unterschied zu
Afrika und Südamerika sogar zivilisiert war. Die China-Berichte
der Jesuiten hatten im Europa des 18. Jahrhunderts sogar eine
gewaltige Bewunderung Chinas bewirkt und eine Welle der
Chinoiserie über den Kontinent und durch dessen Herrscherhäuser
rauschen lassen, wie alte Porzellan-Designs und chinesische Teehäuser in fürstlichen Parks wie Sansoucis und vielen anderen noch
heute zeigen. Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz hatten
auch das Herrschaftssystem der Chinesen, den Staat, idealisiert und
als rationale Herrschaft des Geistes, der Philosophen, beschrieben.
Es wäre besser, sagte Leibniz, chinesische Missionare kämen nach
Europa statt umgekehrt.
So war es nicht überraschend, daß China am Ende des 18. Jahrhunderts ins Blickfeld auch der Kapitalisten und Herrscher Europas
geriet. 1783 schickte der britische König George III seinen StarDiplomaten Lord Macartney auf die einjährige Seereise ins
Mittelreich, um dort, mit dem Kaiser von China persönlich, Verträge über diplomatische und Handelsbeziehungen abzuschließen.
Doch Kaiser 乾隆 Qián Lóng wies ihn brüsk ab. Gedemütigt (er
hatte nach langem Zögern anscheinend zwar nicht den 磕头 k‘
[hart stoßen] tóu [Kopf]) Koutau vor dem Kaiser vollzogen, aber
wohl doch mehr Unterwerfung gezeigt, als er zuzugeben bereit
125
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
war67), reiste Macartney wieder zurück nach London68, wo er -trotz
allem beeindruckt- in seinen Bericht über die Begegnung mit dem
chinesischen Kaiser schrieb: Thus, have I seen King Salomon in all
his glory.
Napoleon Bonaparte, der französische Revolutions-Kaiser, der
sich sehr mit China beschäftigt hatte, war so sehr von dem Riesenland beeindruckt, das er dem britischen Gesandten Amhurst 1817,
als der von seiner gescheiterten Mission zurückkehrte und auf St.
Helena den dort gefangenen Napoleon zu einer Unterredung aufsuchte, sagte, es wäre besser, China in Ruhe lassen: Es sei ein
schlafender Drache, und wenn der sich erhebe, werde die Welt
erzittern. So lautete -mehr mit Blick auf einen militärischen
Zusammenstoß als auf die Wirtschaft- sein Diktum69, nachdem
Amherst ihm dargelegt hatte, daß China wohl nur mit Gewalt zu
öffnen sein werde.
Schon lange waren die Europäer an chinesischen Waren wie
Porzellan, Seide, Tee und 大黄 dà huáng Rhabarber interessiert, die
die Kaufleute in Kanton in immer größeren Mengen einkauften und
als Luxuswaren nach Europa brachten. Die Bedingungen, unter
denen sie dies jedoch tun mußten, waren mit dem (relativ) freien
Handel in Europa nicht vergleichbar. Der mandschu-chinesische
Staat, der Kaiser und seine Beamten, hielt nicht nur das Land,
sondern auch seine Wirtschaft unter fester Kontrolle. So durften die
Europäer sich noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer nur
67
Diesen Verdacht äußert jedenfalls Nigel Cameron, Barbarians and
Mandarins Thirteen Centuries f Western Travellers to China, Oxford University
Press (China) Ltd. Hong Kong, 1970, S. 302-303.
68
Der Verlauf der Reise ist offiziell und von Teilnehmern, darunter ein
Maler, ausführlich beschrieben worden. Der erste China-Reisebericht eines
Deutschen in deutscher Sprache stammt von dem deutschen Teilnehmer der
Expedition, vgl.: Johannes Christian Hüttner, Nachricht von der Britischen
Gesandtschaftsreise durchChina und einen Teil der Tartarei, herausgegeben von
Sabine Dabringhaus, Jan Thorbecke Verlag Sigmaringen, 1996.
69
Peyrefitte berichtet von der Begegnung Amherst - Napoleon in seinem
Buch The Immobile Empire, New York, Knopf, Random House, 1992. ISBN:
0394586549.
126
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
wenige Monate lang in Südchina und dort nur auf
einer kleinen Fluß-Insel vor 广州 Gu~ngzhÇu
(Kanton), aufhalten und ausschließlich mit den
vom Kaiser lizensierten Mandarinen, die sie
Cohong nannten (von chin.: 公行 gÇng háng =
offiziell ermächtigte Firma), Handel treiben. Ins
Landesinnere durften sie nicht reisen und nach
Ó
Cohong ö gÇng
háng in Kanton. wenigen Monaten hatten sie Kanton bis zur
nächsten Handelssaison- wieder zu verlassen. Sie
überwinterten dann, weil der Weg nach Europa viel zu weit war, in
der portugiesischen Enklave 澳门 Àomén Macao.
Im Laufe der Jahre vergrößerte sich unter diesen Bedingungen,
dem sogenannten Canton System, der chinesische Handelsüberschuß laufend. Die Europäer kauften immer mehr Tee, Seide,
Porzellan und Rhabarber, während sie ihre eigenen, industriell
erzeugten Massenwaren in China kaum absetzen konnten. Immer
mehr Silber, mit dem die Chinesen bezahlt wurden, floß so von
Europa nach China, was vor allem in London, bei der East India
Company, die den englischen Asienhandel monopolisierte, zunehmenden Unmut verursachte.
Mit dem Opium fand diese Firma gegen Ende des 18. Jahrhunderts schließlich aber doch eine Ware, die sie in China gut
absetzen konnte. In immer größeren Mengen brachten ihre Schoner
das Rauschgift aus der britischen Kolonie Indien vor die chinesische Küste und in ihre Kantoner Lagerhäuser, von wo es chinesische Beamte und Kaufleute ins Inland verbrachten und für einen
ordentlichen Gewinn verkauften.
In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte dieser
Opiumhandel solche Ausmaße angenommen, daß die Gesundheit
der chinesischen Bevölkerung flächendeckend sichtlichen Schaden
nahm. Der Kaiser verbot nun den Rauschgiftimport, und befahl
dem Gouverneur der Provinzen 湖北 Húbi und 湖南 Húnán, 林
则徐 Lín Zéxú, sein Verbot gegen die Ausländer durchzusetzen.
Das tat 林 Lín 1839. Er zwang die uneinsichtigen englischen
Kaufleute in Kanton zur Herausgabe ihrer Opiumkisten und ließ sie
verbrennen.
127
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Die, ohnehin seit langem unzufrieden mit ihrem fehlenden
Warenabsatz und Spielraum in China, wandten sich unter der Parole des free trade! Freihandels um Hilfe an ihre Regierung und
erreichten alsbald ein militärisches Vorgehen gegen China. Ein
britisches Expeditionskorps nahm zunächst Kanton und 1842 auch
上海 Shàngh|i. Diesen 1. Opiumkrieg beendete der Vertrag von
Nanking, in dem die problemlos geschlagene chinesische Regierung den Engländern zahlreiche Zugeständnisse machen mußte wie
die Abtretung der Insel Hongkong (von wo aus nun unbehelligt der
verbotene Opiumhandel organisiert werden konnte) und die
Öffnung weiterer Hafenstädte für den ausländischen Handel. Die
bekannteste geöffnete Stadt wurde in den Jahren danach 上海
Shàngh|i, das bis zum Ende der dreißiger Jahres des 20.
Jahrhunderts unter ausländischer Verwaltung blieb und noch heute
vom Geist dieser Entwicklung beseelt ist.
In einem zweiten Waffengang (sog. 2. Opiumkrieg, 1858 1860), den diesmal England und Frankreich gemeinsam führten,
suchten sich die Europäer weitere Vorteile zu sichern, da in den
Jahren nach dem 1. Opiumkrieg keine nennenswerten Fortschritte
bei der wirtschaftlichen Durchdringung Chinas gemacht worden
waren.
Das Hauptziel der europäischen Unternehmen, die an der Spitze
des Drangs nach China standen, war die wirtschaftliche Öffnung
und Nutzung des riesigen chinesischen Marktes, den sie schon in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so sahen. Die Ursache für
ihre ausbleibenden Absatzerfolge meinten sie in den unkooperativen Maßnahmen der chinesischen Herrschaft zu erkennen, gegen
die sich folglich ihr Zorn richtete. Sie verlangten von ihren eigenen
Regierungen zuhause deshalb die gewaltsame Durchsetzung des
Freihandels in China, womit sie freilich nur die Durchsetzung
zahlreicher Sonderrechte für sich selbst meinten.
Die Stellung der ausländischen Kaufleute (1842 bis ca. 1940)
Der amerikanische Sinologe John K. Fairbank unterscheidet drei
Phasen ausländischer Anwesenheit in China, die er zeitlich und
inhaltlich wie folgt festmacht:
128
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
1842 bis 1860: Aufbau des Systems der Vertragshäfen in China;
1860 bis 1890: Die 通商口岸 tÇng sh~ng k4u=àn Vertragshäfen
werden zu westlichen städtischen Zentren, zu europäischchinesischen Hybrid-Kulturen mit Ausstrahlung in ihr Umland,
also ins innere China hinein.
1890 bis 1920: Die ausländischen Einflüsse steigern sich zu einer
Flut, die den traditionellen chinesischen Stil und Staat unterspült. Liberalismus kehrt ein, eine bürgerliche chinesische Klasse entsteht. Hochphase ausländischen Einflusses in China.
Erst die japanische Invasion ab 1937 sowie der Sieg der Kommunisten 1949 beendeten dieses System70.
Treibende Kraft bei der Expansion ausländischer Vorrechte in
China war die herrschende Klasse Englands, die aus kaum mehr als
ca. 500 aristokratischen Familien bestand, sowie die Lobby der
gierigen Kaufleute, die ihre Regierung unter dem Schlachtruf des
Freihandels zur Aktion brachten.
In bezug auf China taten sich an ihrer Spitze die Herren William
Jardine (Schotte), James Matheson und John Dent hervor71.
Ziel der Briten ab 1842 war die Durchsetzung allgemeiner Handelsprinzipien, wie sie auch in Europa zwischen souveränen Staaten galten. Zum Beispiel:
! Sicherheit und Schutz für Personen und Eigentum (Art. 1, Nanking-Vertrag).
! Aufenthaltsrecht für Briten in China bzw. in den Vertragshäfen.
! Unbeschränkter Handel mit allen Chinesen, die dies wünschten
(Art. 2 und 5).
! Öffentlich bekanntgemachte Zollsätze.
Die erstmalige Umsetzung dieser Ziele erfolgte im Vertrag von
70
John K. Fairbank, *The Creation of the Treaty System+, Cambridge
History of China, Band 10, S. 214.
71
Ebd., S. 215.
129
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Nanking (南京 Nánj§ng), geschlossen auf Basis militärischer Siege
der Briten über das chinesische Kaiserreich (1. Opiumkrieg) am
29.8.1842 an Bord eines britischen Kriegsschiffes (Verhandlungsführer auf seiten der Briten: Sir Henry Pottinger). Dieser Vertrag
bestimmte im einzelnen:
! China zahlt eine Entschädigung in Höhe von 21.000.000 $ für
das verbrannte Opium,
! fünf chinesische Häfen sind für den Handel zu öffnen: 广州
Gu|ngzhÇu Kanton, 厦门 Xiàmén (damals: Amoy), 福州 FúzhÇu , 宁波 NíngbÇ und 上海 Shàngh|i,
! gleichberechtigter Kontakt zwischen ranggleichen Beamten beider Staaten (= Schluß mit der chinesischen Überheblichkeit
gegenüber den Barbaren),
! Einrichtung britischer Konsulate in den geöffneten Hafenstädten,
! Abschaffung des cohong (公行 gÇng háng) Handelsmonopols,
! einheitlicher, moderater Zoll auf importierte/exportierte Waren
(5 Prozent),
! Abtretung der Insel Hongkong (香港 Xi~ngg~ng) an Großbritannien (auf alle Zeiten).
Die Taktik der Mandschus in den Jahren nach dem ihnen mit
Gewalt aufgezwungenen Vertrag von Nanking bestand im Hinhalten der Ausländer72. Sie machten sich dabei die Fremdheit des chinesischen Staates und Lebens für die Ausländer zunutze. Zum Beispiel, indem sie die von den Europäern durchgesetzten niedrigen
Import-Zollsätze dadurch unterliefen, daß den ausländischen Waren beim Weitertransport im Inland an zahlreichen Stellen weitere
Zölle (der sogenannte 厘金 lí j§n oder: Likin) auferlegt wurden,
wovon die Briten zunächst gar keine Ahnung hatten. Ergebnis war
72
Sehr anschaulich in der britisch-chinesischen Korrespondenz zu sehen:
J.Y. Wong, Anglo-Chinese Relations 1839-1860, A Calendar of Chinese
Documents in the British Foreign Office Records, Oxford University Press,1983.
130
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
eine ungeahnte Verteuerung und daraus folgend ein schlechter
Absatz der Waren wenn sie den Endabnehmer erreichten. Der Freihandel konnte so nicht verwirklicht werden73.
Die Chancen der Fremden, mit den völlig andersartigen Bedingungen der chinesischen Schriftzeichen-Welt zurechtzukommen,
waren denkbar schlecht. Ihre Bewegungsfreiheit im Lande weiteten
sie zwar im 19. Jahrhundert ständig aus, zuletzt unterlagen sie nicht
einmal mehr chinesischem Recht, aber genützt hat ihnen das nur
wenig, denn im Zweifelsfalle standen immer die unergründlichen
Schriftzeichen zwischen ihnen und der chinesischen Umgebung.
Ohne Helfer und Mittelsleute ging für die Europäer gar nichts. Dies
war die Zeit, als die ersten China-Spezialisten/consultants aufkamen, meist ziemlich undurchschaubare, abenteuerliche Gesellen
mit Chinesisch- und Landes-Kenntnissen wie der deutsche
Missionar Karl Friedrich August Gützlaff (1803-1851).
Die Chinesen verachteten (offiziell) die Ausländer aus einem
Gefühl der kulturellen Überlegenheit heraus. In ihren Augen stellten sie Materielles, den Handel, ihre Geldgier, über die von Konfuzius definierten wesentlichen Dinge des Lebens (das Edle im
Individuum auszubilden, gut und selbstlos zu sein - wenigstens
dem äußeren Schein nach). Schlimmer noch: Diese Kaufleute
konnten sogar die Beamten ihres Staates daheim unter Druck
setzen, sie dazu bringen, ihren Wünschen zu genügen - eine glatte
Umkehr der chinesischen Hierarchie-Ordnung, die Kaufleute ganz
weit hinten in der Hierarchie der Ehrenmänner ansiedelte. (Diese
Haltung, von der sie fest überzeugt waren,hielt sie freilich niemals
davon ab, die Geschenke und Bestechungsgelder der ausländischen
Geschäfleute anzunehmen, ihnen gegen Bezahlung die chinesische
Welt zu öffnen, ja ihnen diese sogar zu verkaufen bzw. sich selbst
auf diesem Gebiet zu betätigen. Der norwegische Dramtiker Henrik
Ibsen (1828-1906) befaßte sich in seinen Theaterstücken mit einer
solchen Haltung, die auch in Europa anzutreffen ist. Er nannte sie
Lebenslüge.)
Die Einzelheiten der Ausführung der Nanking-Vertragsbestimmungen verhandelten beide Seiten bis 1843 (General Regu73
Ebd., S. 221.
131
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
lations of Trade, 22.7.1843), anschließend wurden die Vertragshäfen nach und nach geöffnet:
!
!
!
!
!
广州 Gu|ngzhÇu Kanton (27.7.1843),
厦门 Xiàmén (Amoy) (2.11.),
上海 Shàngh|i (17.11.),
宁波 NíngbÇ (1.1.1844),
福州 FúzhÇu (Juni 1844).
Auch Amerika (3.7.1844) und Frankreich (24.10.1844) schlossen
auf der Basis des Nanking-Vertrages ähnliche Abkommen mit China.
Kleine Gemeinden von Ausländern siedelten sich bald in den
geöffneten Hafenstädten an. Diese ersten Expatriates wohnten
immer zusammen, getrennt von den mittlerweile verachteten Chinesen, meist direkt am Wasser, dem Bund, bei ihren Lagerhäusern,
den sogenannten Godowns. Die Gemeinden bestanden aus Kaufleuten, Konsuln und protestantischen Missionaren.
Die größte Anziehungskraft unter den geöffneten Hafenstädten
entwickelte alsbald Shanghai, wo bereits kurz nach dessen Öffnung
1842 etwa 500 Ausländer lebten und sich ca. 200 Firmen niedergelassen hatten, deren Brot- und Buttergeschäft das Opium war.
Nach der chinesischen Zollstatistik, die wie der gesamte Zoll
bald von Ausländern, nicht von Chinesen, geführt wurde, betrug
die Anzahl der Briten, Amerikaner, Franzosen und Deutschen in
China 1903 ca. 11.000, im Jahre 1921 ca. 21.000 (hinzu kamen
1903 ca. 360 Russen, 1921, nach der Oktober-Revolution, aber
bereits ca. 70.000 plus 5.000 bzw. 144.000 Japaner).74
Alle Angelegenheiten der Ausländer unterstanden der sogenannten 领事裁判 l0ng shì cái pàn Konsulargerichtsbarkeit, was
bedeutete, daß chinesische Behörden und Beamte ihre oder die
Aktivitäten ihrer Firmen nicht beschränken, regulieren, lizensieren
oder besteuern durften. Die Ausländer standen 治外法权 zhì wài
74
Albert Feuerwerker, *The Foreign Presence in China+, Cambridge
History of China, Band 12, S. 148.
132
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
f| quán außerhalb des chinesischen Rechts, waren off limits. Sie
bewegten sich in China völlig frei und unbehelligt von der
chinesischen Verwaltung. Ihre Rechtsstreitigkeiten kamen nicht vor
chinesische Gerichte, sondern wurden von den Konsuln der
jeweiligen Länder nach derem Recht (oder konsularischem Gutdünken) entschieden.
Im Schatten der so gedeckten direkten geschäftlichen ChinaAktivitäten siedelten sich im Laufe der Jahre weitere Tätigkeiten
an, die die chinesischen Behörden ebenfalls nicht beeinflussen
konnten wie zum Beispiel ein eigenes ausländisches Pressewesen.
Eine Studie zu diesem System der Exterritorialität faßt die Position der Ausländer so zusammen:
The basic original right of freedom from Chinese court jurisdiction had been extended and broadened to include freedom
from Chinese administrative control except in matters explicitly
provided for in the treaties.75
Sämtliche Geschäftsaktivitäten der ausländischen 大班 dà b~n taipan (Bezeichnung für die Chefs der ausländischen Firmen) in
China konnten -trotz aller Freiheiten- dennoch nur mit Hilfe von
sogenannten 买办 m|i bàn Kompradoren abgewickelt werden,
Chinesen, die weitgehend selbstständig sämtliche geschäftlichen
Aufgaben im Interesse der Ausländer erledigten. Sie waren in der
zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
das entscheidende Bindeglied zwischen dem Geschäft des Ausländers und dem chinesischem Markt. Ohne sie lief nichts.
Warum dies so war, beschreibt der amerikanische Journalist,
Geschäftsmann und wahre China-Kenner Carl Crow im Kapitel
The Lordly Compradore seines Buches über die Geschichte der
Ausländer in China. Dies war, so Crow, die Situation des ausländischen Kaufmanns im Lande der Schriftzeichen:
75
John Carter Vincent, The extraterritorial system in China: final phase,
zit. nach: Albert Feuerwerker, *The Foreign Presence in China+, Cambridge
History of China, Band 12, S. 151.
133
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
The foreign merchant in fact was equipped with nothing more
than a cargo of opium, furs or sandlewood, or a few barrels of
Spanish dollars and a desire to trade with the Chinese. He did
not know how or where to secure the cargoes of tea and other
Chinese commodities or what he should pay for them. He had
only general and often mistaken ideas as to what the Chinese
might want to buy. The problem of finding markets in the
interior for the sale of goods or the purchase of produce; of
packing and inland transportation and the complicated transit
taxes were all mysteries ...76
Hier nun kam der Komprador ins Spiel, die Brücke, die den Ausländer zum Geschäft führte. Der Name entstammt dem portugiesischen compra, was kaufen heißt und darauf hindeutet, daß die
ersten Kompradoren vermutlich etwas für die Ausländer -wahrscheinlich Tee- aufkauften. Der Komprador war auch der Erfinder
des pidgin English, was sich ableitet aus business English. In dieser
Kauderwelsch (long time no see) verkehrte er mit seinem Chef,
etwa so, wie Carl Crow es unsterblich festgehalten hat:
Taipan: *How fashion that chow-chow cargo he just now stop
godown inside?+ Comprador: *Lat cargo he no can walkee just
now. Lat man Kong Tai he no got ploper sclew.+ Taipan: *How
come you talkee sclew no ploper? My have got sclew paper safe
inside.+ Comprador: *Aiyah! Lat sclew paper he no can do. Lat
sclew man he have go Ningpo more far.+
Crow bezeichnete dies als *perfectly intelligible to any old
resident+ und übersetzt den Inhalt so:
The inquiry was about the reason why a shipment of mixed
cargo (chow-chow) was still in the godown (warehouse). The
compradore replied that the cargo could not be moved (walkee)
76
Carl Crow, Foreign Devils in the Flowery Kingdom, Popular Bok
Company Shanghai, o.J., ca. 1940, S. 33.
134
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
because the security (sclew) of Kong Tai, the purchaser, was not
in order. To the taipan=s assertion that he had the security in his
safe the compradore replied that it was now worthless because
the man who had guaranteed payment for the cargo -=sclew man
had gobe Ningpo more far=- which was the local idiom for
stating that he had defaulted and run away from his
creditors.77
Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein galt dieses System, daß
es dem europäischen oder amerikanischen Expatriate gestattete, ein
Leben des Müßiggangs auf Pferderennbahnen und in den zahlreichen Clubs der geöffneten Hafenstädte (vor allem: Shanghai) zu
führen. Ihn kümmerte China nicht, weder Sprache noch Land
interessierten ihn und mußten dies auch gar nicht, denn: Alle Arbeit
erledigte der Komprador-Chinese.
Die beim Import und Export von Gütern anfallenden Formalitäten waren ohnenhin Sache der ausländischen Konsuln, nicht chinesischer Behörden, in den Vertragshäfen. Der Konsul wiederum
konnte diese Rolle nur dank seiner Dolmetscher spielen, aus deren
Kreis später sehr bekannte Persönlichkeiten hervorgingen wie
Robert Hart (fünfzig Jahre lang Chef des chinesischen Seezolls),
Francis Wade, der zusammen mit Thomas Giles das erste einheitliche, allgemein verwendete Umschriftverfahren für chinesische
Schriftzeichen entwickelte, das Wade-Giles System, und andere.
In letzter Instanz abgesichert waren die Aktivitäten der
Ausländer in China durch ihre Kanonenboote, die in den Häfen
lagen und gegen die Chinesen eingriffen, wenn ein Konsul wirklich
einmal nicht mehr weiter kam und dies verlangte.
In kurzer Zeit entstand zwischen den Ausländern und den häufig
alles andere als korruptionsfreien chinesischen Verwaltungsbeamten eine Klasse chinesischer Desparados, die teils mit den Ausländern zusammenarbeiteten, jedenfalls wie die Kompradoren
durch sie Geld verdienten, teils aber auch bald ihrer eigenen Wege
77
Carl Crow, Foreign Devils in the Flowery Kingdom, Popular Book Co.
Shanghai, ca. 1937, S. 35. Ein herrliches Buch!
135
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
gingen: der Keim eines chinesischen Bürgertums.78.
In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die
Stadt Shanghai am schnellsten von allen Vertragshäfen, bis sie
schließlich der zentrale Handels- und Geschäftsknoten Chinas, ja
ganz Asiens wurde. Ausländer verwalteten die Geschäfts-Stadt völlig selbständig und allein, was die lokalen Chinesen gerne akzeptierten, da es auch ihren entfesselten Geldgelüsten entgegenkam.
Die Stadt war de facto unabhängig79. Das Zollwesen zum Beispiel
kontrollierten die Ausländer über die Konsuln bzw. den Leiter des
Seezollwesens, Sir Robert Hart.80
Letztlich wegen der chinesischen Intransigenz in allen Dingen,
die die Engländer interessierten, kam es 1856 zum sogenannten 2.
Opiumkrieg oder Lorcha [Transportschiff] Arrow-Krieg, der sich
in Kanton aus einem Zwischenfall um das unter britischer Flagge
segelnde Schiff Arrow entzündete.
Englisch-französische Truppen öffneten in der Folge gewaltsam
die vehement ausländerfeindliche Stadt Kanton und marschierten
1858 sogar auf Peking, das bis dahin noch ausländerfrei gewesen
war. Ziel der Engländer war es, das Kaiserhaus zu zwingen, die
Bestimmungen des Nanking-Vertrages von 1842 landesweit durchzusetzen, insbesondere in Kanton, wo die chinesische Bevölkerung
während der gesamten sechzehn Jahre seit dem 1. Opiumkrieg den
Briten soviel Widerstand geleistet hatte, daß kein Ausländer die
eigentliche Stadt hatte betreten können. Deshalb wollten die Engländer eine Gesandtschaft (Botschaft) in Peking errichten, um über
die Zentralregierung Einfluß auf das intransigente Verhalten
lokaler Behörden zu nehmen. Schließlich wollte man nicht jedes
Mal wieder einen Krieg anfangen, nur um diese oder jene neue
78
John K. Fairbank, *The Creation of the Treaty System+, Cambridge
History of China, Band 10, S. 237.
79
John K. Fairbank, *The Creation of the Treaty System+, Cambridge
History of China, Band 10, S. 240.
80
Eine schöne Schilderung der Stadt und der Zustände in dieser Zeit (bis
zur Besetzung durch Japan), in: Stella Dong, Shanghai 1842 - 19949 The Rise
and Fall of a Decadent City, Harper Collins 2000, ISBN 0-688-15798-X.
136
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Forderung durchzusetzen.
Die Chinesen (Mandschus) hingegen wollten -wie sechzig Jahre
zuvor, als Lord Macartney dies schon einmal vorgeschlagen hatteeine Anwesenheit der Ausländer in der Hauptstadt auf jeden Fall
verhindern. Deshalb unterschrieben sie angesichts der militärischen
Überlegenheit Englands und Frankreichs 1858 den Vertrag von
Tientsin (天津 Ti~nj§n), der u.a. die Öffnung von weiteren elf
Städten für den internationalen Handel festlegte sowie die Erlaubnis für ausländische Schiffe, den Yangtse 长江 Cháng Ji~ng (oder
扬子江 Yáng Z0 Ji~ng) zu befahren und so auch in das Hinterland
vorzudringen. Der Einrichtung diplomatischer Vertretungen der
Ausländer aber widersetzten sie sich weiterhin: Wie konnten der
Kaiser von China oder seine Mandarine jemals gleichberechtigt mit
den Barbaren, wie die Ausländer immer noch ganz offiziell hießen,
verkehren?
So marschierten die englischen und französischen Truppen von
Tianjin aus nach Peking weiter, wo sie, um den Widerstand der
Regierung endgültig zu brechen und ein Exempel zu statuieren, den
kaiserlichen Sommerpalast 圆明园 Yuán Míng Yuán81 zuerst plünderten und dann zusammenschossen. Der 清 Qíng-Regierung blieb
nun nichts anderes übrig als die Ansiedlung ausländischer Legationen (Botschaften) in der Hauptstadt zu genehmigen sowie den
Grundsatz zu akzeptieren, über diese Vertretungen in gleichberechtigter (nicht tributärer) Weise mit den Ausländern (nicht
mehr: Barbaren) zu verkehren.
Die Europäer hatten die Chinesen mores gelehrt, nun endgültig
ihre Überlegenheit demonstriert und ihr Prinzip des gleichberechtigten Nationalstaates auch in China eingeführt. Wobei von tatsächlicher Gleichberechtigung angesichts ihrer Sonder- und Herrenreiterstellung natürlich überhaupt keine Rede sein konnte.
Auf Basis der Verträge von Nanking (1842) und Tientsin (1858)
Ðø Yí Hé Yuán Sommerpalast. Der
Nicht zu verwechseln mit dem ÷
ù©ø Yuán
Míng Yuán war im Auftrag des Kaisers êë Qián Lóng von dem
81
Jesuitenpater Guiseppe Castiglione (1688 bis 1766) im 18. Jahrhundert als
Parkanlage mit vielen Gebäuden im europäischen Stil konzipiert worden.
137
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
konnten Ausländer nun unbehelligt von chinesischer Souveränität
in den bedeutendsten Städten Chinas -selbst im Hinterland, zum
Beispiel in 武汉 Wßhàn82- leben und dort im Schutz von Extraterritorialität und Konsular-Gerichtsbarkeit Geschäfte nach ihrem
eigenen Recht und Gusto betreiben.
Ausländische Importgüter mußten nur einmal, an der Grenze,
verzollt werden (nach den Tarifen und Kungeleien eines nicht von
der chinesischen Regierung kontrollierten Zollwesens) und durften
anschließend, beim Weitertransport, nicht mehr besteuert, d.h.
verteuert werden (was die Chinesen natürlich auf ihre Weise dennoch regelten).
Die priviligierte Stellung der Ausländer in China läßt sich an
einigen juristischen Begriffen jener Jahre festmachen, die bis zum
Ende der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahhunderts gültig blieben:
最惠国 zuì huì guó Meistbegünstigung: Jede Vergünstigung, die
eine Macht der hilflosen chinesischen Regierung abpreßte wie
zum Beispiel eine Gebietsabtretung, berecjtigt automatisch
jeden anderen interessierten Staat, sich etwas Gleichwertiges
vom chinesischen Land anzueignen.
通商口岸 tÇng sh~ng k4u=~n Vertragshafen oder treaty port: So
hießen alle Hafenstädte, die entlang der Küste oder schiffbarer
Gewässer dem ausländischen Handel und damit ausländischen
Händlern zugänglich waren. Hier war ein Büro des chinesischen
Seezolls eingerichtet (der unter ausländischer Verwaltung
stand). Den Ausländern vorbehaltene Bezirke gab es in diesen
Städten offiziell nicht, doch siedelten diese meist zusammen in
bestimmten Gebieten. Nach 1860 durften Ausländer zwar frei in
China herumreisen, Wohnen und Handel jedoch waren nur in
den Vertragshäfen gestattet. (Missionare durften hingegen
überall in China wohnen, Land erwerben und verpachten und natürlich- auch missionieren.
居留地 jù liú dì Niederlassung, settlement: hießen die Stadtteile
82
Damals:
úû Hànk4u.
138
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
der Vertragshäfen, die unter Kontrolle der dort lebenden
Ausländer standen, angeführt meist durch einen Konsul. Sie
waren von den umliegenden chinesischen Gebieten und deren
Verwaltung getrennte Einheiten mit eigenem ausländischem
Stadtrat (dem in Shanghai zum Beispiel bis zum Ende der
dreißiger Jahre auch keine Chinesen angehörten) und eigener
Verwaltung, die sich um alles kümmerte - Sicherheit (Polizei),
Infrastruktur etc.- und dafür Steuern einzog. Ausländern und
Chinesen war es gestattet, dort Landeigentum zu erwerben. Niederlassungen waren, kurz, chinesischer Boden unter ausländischer Kontrolle.
租界 zã jiè Konzessionen: waren de facto Kolonialgebiete der
Ausländer in China (das als Land dem Schicksal, Kolonie zu
werden, entging - es war zu groß und die Konkurrenz der
Ausländer untereinander zu heftig). Das jeweilige KonzessionsTerritorium war von der chinesischen Regierung meist auf Zeit
(zum Beispiel 99 Jahre wie im Falle des deutschen Tsingtaos
[青岛 Q§ngd|o]) gepachtet83 worden und unterstand einem
Konsul. Juristisch, soweit dies überhaupt eine Rolle spielte,
konnte hier Chinesen oder anderen Nationalitäten der Zutritt,
das Wohnen oder der Erwerb von Grund und Boden verboten
werden. Ansonsten entsprachen die Konzessionen den Niederlassungen.
治外法权 zhì wài f| quán Exterritorialität: ist ein Schlüsselbegriff, der die Sonderstellung der Ausländer in China umfassend
bezeichnet. Er bedeutete, daß sie nicht der chinesischen Rechtsprechung unterstanden - ein fundamentaler Unterschied zu
heute. Selbst Streitigkeiten mit Chinesen wurden nach
ausländischem Recht entschieden (soweit Recht dabei überhaupt
eine Rolle spielte!). Eigenartigerweise entsprach eine solche
Sonderstellung teilweise auch mandschu-chinesischen Wünschen: Man wollte mit den Händeln der Barbaren einfach nichts
zu tun haben, weshalb bereits im ersten Vertrag mit einem
anderen Staat, den die chinesische Regierung überhaupt
83
Es ist zumindest sehr zweifelhaft, ob jemals eine Pacht gezahlt wurde.
139
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
abschloß, dem Vertrag von Nerchinsk (mit Rußland, 1689),
festgelegt worden war, daß jede Seite selbst für ihre jeweiligen
Bürger verantwortlich sein sollte. Das bedeutete für die Ausländer, daß sie, obwohl in China lebend, weiterhin dem Recht
ihres Heimatstaates unterstanden. Ihr oberster Gerichtsherr war
ihr jeweiliger Konsul. Das Ganze bewirkte einen unübersichtlichen Flickenteppich des Rechts, denn zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren immerhin 18 Staaten auf dieser Basis
in China mit Konsuln vertreten: Groß Britannien, Frankreich,
die Vereinigten Staaten, Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Brasilien, Dänemark, Italien, Japan, Mexiko, Niederlande,
Norwegen, Peru, Portugal, Rußland, Spanien und Schweden.
Es ist klar, daß unter diesen Bedingungen die Ausländer, mit einem
Wort, in China tun und lassen konnten, was sie wollten. Einer
erfolgreichen wirtschaftlichen Durchdringung des größten Marktes
der Welt stand anscheinend nichts mehr im Wege.
Freilich blieben sie stets in der Minderheit, auch wenn ihre Zahl
wie Ende der 1920er Jahre in Shanghai auf 60.000 stieg. Ihre
Exklaven waren dennoch Welten für sich, weil die Ausländer hier
alles ansiedelten, was sie in der fremden chinesischen Umgebung
vermißten aber für nötig hielten: Gerichte, Polizeieiheiten, die sie
selbst befehligten, ja bisweilen sogar kasernierte eigene Militäreinheiten samt eigenen Kanonenbooten, die für den Fall der Fälle im
Hafen vor Anker lagen. Die Infrastruktur, Wasser- und Stromversorgung, Straßen, das Bauwesen und die Anlage von öffentlichen
Parks (eine Einrichtung, die die Chinesen bis dahin gar nicht
kannten), lag ebenfalls in ausländischen Händen und wurde nach
ihren Vorstellungen gestaltet. Shanghais berühmte Uferstraße, den
Bund (chinesisch: 外滩 wài t~n), wurde nicht nur von ausländischen Investoren und Architekten gebaut und von ausländischen
Firmen benutzt, sondern auch auf Beschluß des ausländischen
Stadtrates angelegt. Chinesen hatten damit gar nichts zu tun.
Selbst wenn diese Gebiete flächenmäßig klein waren (das
größte, die internationale Niederlassung in Shanghai, erreichte ca.
10 Quadratkilometer) und von vergleichsweise wenigen Auslän140
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
dern in einem Meer von Chinesen bewohnt waren, hatten sie doch
eine erhebliche Ausstrahlung auf die chinesische Gesellschaft. Zum
Beispiel schon dadurch, daß revolutionäre chinesische Elemente,
die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend radikal gegen die
Mandschu-Herrschaft vorgehen wollten und später auch die Kommunisten, sich dort relativ frei bewegen und organisieren konnten
und vor Verfolgung weitgehend sicher waren. Das galt selbst für
manche Kriminelle, die in den zwanziger und dreißiger Jahren
Shanghai sein ganz besonderes Flair verschafften.
Für die republikanische chinesische Regierung boten die
ausländischen Enklaven schließlich in den dreißiger Jahren den
Vorteil, viele Geldgeschäfte dem Zugriff der japanischen Besatzer
im Nordosten und Osten zu entziehen.
1894 brachte einen weiteren, tiefgreifenden und nachhaltigen
Schock für China, als der Krieg gegen das angreifende Japan
verlorenging. Im folgenden Vertrag von Shimonoseki (chin.: 马关
M|gu~n) mußte die Regierung nicht nur Korea und Taiwan an die
倭寇 wÇ kòu kurzbeinigen Seeräuber, wie der Schimpfname für
Japaner lautet, abtreten, sondern den Japanern und -Meistbegünstigung- damit auch den anderen Ausländern gestatten, neben
Firmen-Vertretungen und Handelsgesellschaften in den Vertragshäfen nun auch produzierendes Gewerbe, Fabriken, in China zu
etablieren. Das war bis dahin verboten gewesen, aber natürlich
gleichwohl bereits geschehen.
Zur Jahrhundertwende hatte China damit seinen wohl tiefsten
Punkt in der Rangliste der Nationen erreicht. Die Industriestaaten
nahmen es überhaupt nicht mehr ernst und verfuhren im Lande
nach Belieben. Das kaiserliche China stand vor seinem Untergang.
141
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Innere Ursachen des Untergangs
Nicht die Konfrontation
mit den Europäern aber
bewirkte in erster Linie
den Nieder- und schließlich den Untergang des
kaiserlichen Chinas, sondern die Unfähigkeit oder
der Unwille der Herrschenden, ihren Staat in
Ordnung zu halten, der
Bevölkerung ein Überleben zu sichern..
Schon in der Mitte des
19. Jahrhunderts war die
beste Zeit der MandschuDynastie für China längst
vorbei. Nicht nur die Europäer an den Küsten und
die Russen im Nordosten
nagten am Reich, sondern
Karte des üý Taiping-Aufstandes, 1851-1864.
ein gigantischer Aufstand
im Inneren bedrohte zwischen 1851 und 1864 die 清 Q§ngHerrschaft in ihren Grundfesten. Peking konnte die 太平 Tài Píng
(Ruhe und Frieden) Rebellion letztlich nur mit aktiver militärischer
Hilfe der Ausländer in Shanghai niederschlagen, denn die Fremden
glaubten, daß sie mit den schwachen Mandschus besser führen als
mit womöglich siegreichen chinesischen Rebellen, obwohl diese
ihnen mit ihrer aus dem christlichen Glauben krude zusammengemixten europäisch-chinesischen Ideologie-Melange scheinbar
näherstanden als die eigenartigen Manschus.
Häufig bereits war es in der chinesischen Geschichte zu großen,
von Geheimgesellschaften organisierten Aufständen gegen die
herrschenden Dynastien gekommen, nicht selten mit Erfolg wie die
黄巾军 Huáng J§n Jãn Armee der Gelben Turbane (stürzten die 汉
142
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Hàn), die 白莲教 Bái Lián Ji~o Sekte Weißer Lotus (stürzten die 元
Yuán) oder Bauernführer 李自成 L0 Zìchéng, der de facto die 明
Míng-Herrschaft beendete, den die einmarschierenden Mandschus
jedoch um die Früchte seines Sieges brachten. Einen tiefen
Eindruck auf alle folgenden Herrscher (inclusive die der
Volksrepublik) hinterließen auch die gescheiterten, gleichwohl
immer sehr gefährlichen Revolten wie die des 安禄山 }n Lùsh~n
gegen die 唐 Táng und andere.
Die 太平 Tài Píng Rebellion Mitte des 19. Jahrhunderts ging
wie viele ihrer Vorgänger auf einen charismatischen, die Bauernmassen anziehenden und organisierenden Führer zurück. In diesem
Falle hieß der Mann 洪秀全 Hóng Xiùquán.
Er gehörte dem Volksstamm der 客家人 Kè Ji~ Hakka an (=
Gäste-Volk, in Südostchina ansässig, aber sehr mobil und deshalb
immer bei anderen Volksgruppen zu Gast), war durch die Beamtenprüfung gefallen und bekam anschließend religiöse Visionen, die
sich aus den völlig un-chinesischen Bibel-Geschichten und Illustrationen ableiteten, die die Mitte des 19. Jahrhunerts zahlreich
in China wirkenden christlichen Missionare verbreiteten: Ein alter
Mann mit langem Bart (= Gott) und ein jüngerer (= Jesus) hätten
ihm befohlen, die Dämonen (= Mandschus) in China auszurotten,
verkündete 洪秀全 Hóng Xiùquán.
Er war anschließend sogar überzeugt davon, daß er der jüngere
Bruder Jesus= sei, ließ sich taufen und in christlichen Zeremonien
unterweisen, wobei er sich vor allem auf das Alte Testament der
Bibel stützte. Seine sich rasch bildende Anhängerschar forderte er
auf, Götterbilder in den Tempeln zu zerstören, kein Opium zu
rauchen und keinen Alkohol zu trinken. Das Füßebinden der
Frauen und Prostitution sollten verboten werden. Die fremden
Mandschus sah er als menschgewordene Inkarnation des Teufels,
gegen die er die Chinesen mobilisierte. Damit war er Staatsfeind.
Der Ausgangspunkt des Aufstandes, Südchina, bot Mitte des 19.
Jahrhunderts ein wirtschaftlich-soziales Umfeld, das einer Rebellion sehr dienlich war: schlechte wirtschaftliche Lebensbedingungen der Bevölkerung, weit verbreiteter Opiumkonsum mit dem
daraus folgenden Verfall der sozialen Ordnung und Verelendung
143
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
sowie eine in Südchina von jeher überdurchschnittliche Fremdenfeindlichkeit.
Schon 1850 hatte 洪秀全 Hóng Xiùquán ca. 20.000 treue Anhänger um sich gesammelt, die von der Provinz 广西 Gu~ngx§ aus
zunächst gegen lokale Banditenbanden, bald aber auch gegen kaiserliche Truppen vorgingen. Der Erfolg war durchschlagend. Ermutigt nahm 洪秀全 Hóng Xiùquán nun den Ruf Stürzt die Dynastie!
in sein Mobilisierungsprogramm auf und erklärte sich selbst zum
König eines, seines, Himmlischen Reiches.
1853 erreichte die aufständische Armee 南京 Nanking, wo sie
die Mandschu-Garnison und alle anderen Mandschus umbrachten
und eine eigene Regierung gründeten.
Das verkündete Ziel der Himmlischen Rebellen war die Schaffung einer neuen Gesellschaft der Gleichheit - verkörpert in gleichem Bodenbesitz ebenso wie der Gleichberechtigung von Mann
und Frau. Die Beamtenprüfungen wurden als solche beibehalten,
jedoch inhaltlich auf die Lehre des 洪秀全 Hóng Xiùquán sowie
die Bibel gestützt.
Ein Jahrzehnt herrschten die Taiping nun von Nanking aus über
ganz Zentral- und Südchina, und die Mandschu-Dynastie hatte allen Grund, sich größte Sorgen um ihren Fortbestand zu machen.
Allerdings gelang es den Taiping nicht, die Unterstützung der
chinesischen Oberschicht aus Großgrundbesitzern und Beamten,
der sogenannten 士绅 shì sh‘n Gentry zu gewinnen. Auch die ausländischen Missionare und anderen Ausländer in China unterstützten die Rebellen trotz deren anscheinend christlicher Ideologie
nicht. 1860 und 1862 versuchten die Taiping-Truppen zweimal
Shanghai zu erobern, scheiterten jedoch an der heftigen und
aktiven Gegenwehr nicht zuletzt der Ausländer selbst, die die kaiserliche Regierung in Peking mit militärischem Rat, militärischer
Tat sowie Geld und Waffen unterstützten, da sie die Aufständischen als große Gefahr für sich und ihre China-Vorhaben ansahen.
Der ausbleibende Enderfolg und innere Auseinandersetzungen
schwächten nun die Rebellen, und der Anführer der kaiserlichen
Truppen, der Chinese 曾国藩 Z‘ng Guóf~n, begann von der Pro144
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
vinz 湖南 Húnán aus mit einer von ihm selbst neuaufgestellten
Armee zunehmend erfolgreich gegen die Taiping vorzugehen. Dennoch dauerte es bis zur Einnahme von deren Hauptstadt Nanking
noch gut zehn Jahre. Der Kampf war erbarmungslos, man geht
heute von gut 20 Millionen Toten aus. Der wirtschaftliche Schaden
für China und vor allem seine Staatsfinanzen war gewaltig.
Nach der Niederwerfung der Taiping erhoben sich sich indessen
in anderen Landesteilen weitere Rebellen-Organisationen wie die
nordchinesischen 捻子 Ni|n Zì sowie muslimische (im
Nordwesten) und 苗族 Miáo-Aufständische im Südwesten, die teils
auf Loslösung der von ihnen beherrschten Gebiete von China
zielten. Das Reich drohte zu zerfallen.
Vier weitere Jahre benötigten 曾国藩 Z‘ng Guóf~n und sein
Protegé/Schüler 李鸿章 L0 Hóngzh~ng, um auch diese Rebellionen
niederzuschlagen und der Mandschu-Herrschaft das Gefühl zu
geben, die Lage wieder unter Kontrolle zu haben.
Gerade dies indessen war zunehmend weniger der Fall. Ähnlich
wie die 唐 Táng die 安禄山 }n Lùsh~n Rebellion nur dadurch
überstanden, daß sie lokalen Machthabern größere regionale
Selbständigkeit gewährten, so standen am Ende des Taiping-Aufstandes zwei starke regionale und regional-kommandierte Armeen die des 曾国藩 Z‘ng Guóf~n in 湖南 Húnán (die sogenannte 湘军
Xi~ng-Armee, 湘 xi~ng = Kurzzeichen für 湖南 Húnán) und die
des 李鸿章 L0 Hóngzh~ng in der Provinz 安徽 }nhu§ (die
sogenannte 淮军 Huái-Armee). Die gehörten zwar der kaiserlichen
Armee an, doch wurden nun, erstmals seit Beginn der MandschuHerrschaft, bedeutende Truppen von Chinesen und nicht von
Mandschus kommandiert.
Vor allem 李鸿章 L0 Hóngzh~ng, der seinen Mentor 曾国藩
Z‘ng Guóf~n um drei Jahrzehnte überlebte, erlangte auf dieser
Basis eine beispiellos mächtige Position im China des ausgehenden
19. Jahrhunderts. Allerdings blieb er ein loyaler Beamter der regierenden Mandschus, und vielleicht ist er gerade deshalb eine bis
145
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
heute negative Figur in der chinesischen Historiographie84.
Der Beginn der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts markierte
so für die Mandschu-Herrschaft den Anfang vom Ende. Bedrängt
von den im Süden mit militärischer Gewalt, Rauschgift und Sonderrechten immer heftiger agierenden Europäern, die im sogenannten Zweiten Opiumkrieg 1860 schließlich bis in die bis dahin noch
fremdenfreie Hauptstadt Peking vordrangen, und von den Russen,
die im Nordosten immer größere Gebiete für sich abtrennten,
begann nun, im Gefolge des langewährenden Taiping-Aufstandes
die Ordnung auch im Innern zusammenzubrechen.
Einen vernichtenden Schlag für das hergebrachte chinesische
Überlegenheitsgefühl anderen Völkern gegenüber verursachte 1860
der Einzug der englisch-französischen Opiumkrieg-II-Truppen in
Peking, gekrönt von der Plünderung und Brandschatzung des kaiserlichen 圆明园 Yuán Míng Yuán Palastes. In der Folge mußte
die Dynastie die europäischen und anderen Barbaren als gleichberechtigte Staaten anerkennen und ihnen gestatten, Gesandtschaften (Botschaften) nahe dem Kaiserpalast zu unterhalten. Und
die dort residierenden Gesandten/Botschafter beanspruchten, mit
ihren chinesischen Gegenübern von gleich zu gleich zu verkehren eine unerhörte Neuerung für die chinesischen Beamten. Anwesenheit und Aktivitäten dieser Diplomaten , die ständig mit immer
weitergehenderen Forderungen zum Vorteil ihrer jeweiligen
Staaten (und zum Nachteil Chinas) vorstellig wurden85, machten es
bald vollends unmöglich, sich weiter darüber hinwegzutäuschen,
daß China dem Westen weder militärisch, noch industriell oder
kulturell etwas entgegenzusetzen hatte.
84
þÿ ж
So löste die TV-Serie
z4u xiàng gòng hé guó Auf dem Weg
zur Republik, die die letzten Jahre der Mandschu-Dynastie dramatisierte und in
L0 Hóngzh~ng naturgemäß eine zentrale Rolle spielte, im Frühjahr
der
2003 heftigste Kontroversen um seine Darstellung bis in höchste ZK-Kreise aus.
Die Serie wurde schließlich abgesetzt.
85
Sehr plastisch und konkret, in Tagebuchform, für die Zeit April 1896 bis
September 1897 beschrieben von der Frau des damaligen deutschen
Botschafters, Elisabeth von Heyking in: Tagebücher aus vier Weltteilen,
1886-1904.
146
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Überdies begann die Herrschaftselite im Gegenzug nun selbst
Diplomaten und Studenten in europäische Staaten und nach
Amerika zu entsenden und konnte alsbald in deren Berichten
nachlesen, wie die Fremden organisiert waren und sich ihre Staaten
im Zuge der Industrialisierung rasant fortentwickelten.
Mit Ausnahme des Mandschu-Kaiserhofes, der von 1861 de
facto nicht mehr vom Kaiser, sondern von der Kaiserinwitwe 慈禧
Cí X0 (Konkubine des 1861 gestorbenen Kaisers 咸丰 Xián F‘ng)
beherrscht wurde, brachte der Niedergang jedoch einige hohe chinesische Beamte wie zunächst vor allem 李鸿章 L0 Hóngzh~ng und
später auch Vertreter der intellektuellen Elite dazu, sich langsam
mit den Realitäten der Welt und der Rolle Chinas darin zu
beschäftigen. Sie erkannten bald daß ihr Land in puncto Technik,
Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft -also eigentlich in jeder Hinsicht- weit, sehr weit, hinter Europa und Amerika zurückgeblieben
war.
Ihre Unterlegenheit anzuerkennen war für die Herrscher Chinas,
die sich seit jeher als Gipfel der menschlichen Entwicklung
betrachteten und in allen anderen Völkern nur Barbaren sahen,
nicht leicht. Am ehesten gelangten noch chinesische Aktivisten zu
dieser Einsicht, die die Schuld für den beklagenswerten Zustand
ihres Landes immerhin noch anderen, nämlich den Mandschus,
anlasten konnten, die für sie selbst ja ebenfalls Fremdherrscher und
Barbaren waren und ihnen, den 汉 Hàn, in despotischer und sie
erniedrigender Weise gegenübertraten.
Nach dem verlorenen sogenannten Zweiten Opiumkrieg und der
Festsetzung der Fremden in der Hauptstadt Peking, vis-a-vis des
Kaiserpalastes, war die Frage ab 1861 nicht mehr ob, sondern was
und wie in China zu reformieren war.
Anregungen dazu lieferten vor allem jene die im Zuge der
erzwungenen Aufnahme diplomatischer Beziehungen als Botschafter, Dolmetscher, Botschaftsmitarbeiter aber auch als Studenten nach Amerika und Europa (später auch ins sich rasch industrialisierende Japan) kamen.Diese Beamten und Studenten waren
die ersten Chinesen, die mit interessierten Augen diese ihnen völlig
fremde Welt betrachteten und ihre Eindrücke und Verwirrungen
147
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
(zum Beispiel über die höfliche und respektvolle Behandlung von
Frauen, über öffentliche Parks, die Straßen usw.) in Berichten
zusammenfaßten86.
Reformversuche der Herrschenden setzten mit dem Antritt des
neuen (Kind-)Kaisers 同治 Tóng Zhì 1861 ein87 und hielten unter
der Bezeichnung 自强运动 zì qi|ng yùn dòng Selbststärkungsbewegung bis 1895 an, als China den Krieg gegen Japan verlor
und einen demütigenden Frieden mit dem früheren Tributbringer
unterzeichnen mußte.
Während der ursprüngliche Begriff 自强 zì qi|ng Selbststärkung
auf das 易经 Yì J§ng Buch der Wandlungen zurückging, in dem es
heißt, man solle den Kreislauf der Natur als Vorbild nehmen, um
aus eigener Kraft dauernd Fortschritte zu machen, verweist die
andere Bezeichnung dieser Reformbewegung, 洋务运动 yáng wù
yùn dòng, Bewegung [zur Einführung] ausländischer [= 洋 yáng =
Ozean] Dinge, darauf, worum es den Protagonisten wirklich ging:
die Übernahme europäischer Technik, Waffen etc., um damit
letztlich die chinesische Welt zu bewahren.
Im Unterschied zu Japan jedoch, das in der sogenannten MeijiRestauration etwa zur gleichen Zeit sämtliche Errungenschaften
des Westens, Technik, Organisation, Wissenschaft, Recht, radikal
und ohne Vorbehalte und ins Land hereinließ und in der
Gesellschaft systematisch umsetzte, was die japanische Gesellschaft in nur dreißig Jahren soweit modernisierte, daß sie zur
stärksten Macht in Asien wurde, blieben die Chinesen Opfer ihrer
86
ñ
Einer der ersten war
Zh~ng Déyí, der seine Eindrücke in einem
ausführlichen Tagebuch festhielt: Diary of a Chinese Diplomat, Panda Books,
Peking 1992 ISBN 0-8351-2082-1. Eine sehr interessante Sammlung von
Berichten auch in: Chinese Impressions of the West in: Renditions A ChineseEnglish Translation Magazine, No. 53 & 54, Hongkong ISSN 0377-3515 und in:
Feng Chen, Die Entdeckung des Westens, Chinas erste Botschafter in Europa,
1866 - 1894, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-596-601657. Die sehr schöne Geschichte des vermutlich ersten Chinesen in Europa, den es
bereits lange vorher, 1722, im Gefolge eines zurückreisenden jesuitischen
Missionars nach dort verschlagen hatte, schrieb Joanthan Spence auf: The
Question of Hu, Vintage Books 1988, ISBN 0-679-72580-6.
87
Den die Kaiserinwitwe
Cí X0 als de-facto-Herrscherin vertrat.
148
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
hergebrachten kulturellen Arroganz, blieben in Halbherzigkeiten
stecken und scheiterten die radikaleren Reformer am Widerstand
der Mandschus und der eng mit ihnen verbundenen obersten
Machthaber in der Beamtenschaft.
Die Reformbewegung brachte zwar erstmals ein chinesisches
Außenministerium (总理各国通商事务衙门 z4ng l0 gè guó tÇng
sh~ng shì wù yá mén - Allgemeines Büro für die HandelsAngelegenheiten aller Länder, abgekürzt zu 总理衙门 z4ng l0 yá
mén) sowie die erste Fremdsprachenschule Chinas hervor, erschöpfte sich aber ansonsten weitgehend im Einkauf ausländischer
Maschinen88, Militärtechnik sowie von Produkten des Telegrafieund Eisenbahnwesens, von denen man annahm, daß sie den Kern
der europäischen Stärke ausmachten. Einher damit ging die erste
Aufnahme einer Anleihe in Großbritannien im Januar 1865, als die
chinesische Regierung einen Kredit in Höhe von 1,4 Millionen
Pfund aufnahm.
Die wichtigsten Vertreter der Reformbewegung in diesen Jahren
waren die Bezwinger der Taiping-Rebellen, 曾国藩 Z‘ng Guóf~n
und besonders sein Schüler 李鸿章 L0 Hóngzh~ng. Er vor allem
sorgte dafür, daß Werften, Telegrafenbüros, Industrien und Fremdsprachenschulen errichtet wurden, ausländische Ingenieure als
Berater ins Land kamen und zahlreiche Kanonen, Maschinen und
Anlagen importiert wurden, um China so stark zu machen, daß es
den ausländischen Ansprüchen entgegentreten konnte. Glatt vonstatten ging all dies nicht, immer wieder traten Cliquen am Hof
oder in den Provinzen gegen diese Art von Verwestlichung auf. Die
Gegner hatten es umso leichter mit Kritik, als die Reformer nicht
wenigen Illusionen anhingen und zum Beispiel glaubten, schon
nach kurzem Studium und Üben würde es möglich sein, innerhalb
von zwanzig bis dreißig Tagen ein großes Kriegsschiff bauen zu
können. 曾国藩 Z‘ng Guóf~n selbst schrieb in einer Eingabe an
den Kaiser:
88
¶
Im Auftrag von
Z‘ng Guóf~n reiste
Yung Wing (Róng
Hóng) im Dezember 1863 als einer der ersten chinesischen Maschineneinkäufer
nach Amerika.
149
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Nachdem wir [Waffen und Schiffe] gekauft haben, sollten wir
einsichtige Gelehrte und geschickte Techniker suchen, damit sie
sich zuerst an diesen Gegenständen üben und dann versuchen,
sie herzustellen. Nach ein oder zwei Jahren können die Dampfer
... den Plänen Eurer Majestät dienlich sein89.
Nachbauen, kopieren, das schien (schon) damals der schnellste und
kürzeste Weg zum Erfolg.
Es klappte jedoch nicht. Nachdem sich die Protagonisten ein
Jahrzehnt mit den Waffen abgemüht hatten -zahlreiche Fabriken
entstanden in dieser Zeit- waren sie an dem Punkt angekommen,
wo es am Geld fehlte. Die Macht, so erkannten sie nun, beruhte
wohl eher auf Reichtum, auf Kapital, wovon es in China nicht genügend gebe
So verlegten sie sich auf die Errichtung eigener Wirtschaftsunternehmen, wollten Eisenbahnen bauen, Telegrafenleitungen
anlegen, Handel treiben. 李鸿章 L0 Hóngzh~ng veranlaßte 1880
den Bau des ersten Telegraphenamtes Chinas in 天津 Ti~nj§n und
1887 (ebenfalls dort) die Gründung der ersten Eisenbahngesellschaft. Ein anderer mächtiger Gouverneur jener Zeit, 张之洞
Zh~ng Zh§dòng, ließ das erste moderne Stahlwerk in 湖北 Húbi
bauen. Doch 李鸿章 L0 Hóngzh~ng selbst war es, der schließlich
zu der Erkenntnis gelangte, daß es so schnell nicht gehen würde mit
der Modernisierung Chinas. In einem resignierenden Bericht an
den Kaiser schrieb er:
Was China in Nachahmung hergestellt hat, ist immer das alte
Modell (des Westens) ... Auch wenn [wir die Ausländer] nach
dem neuesten Modell fragen, es fleißig untersuchen und nachahmen, entwickeln die Europäer ein paar Jahre später wieder
ein neues. China ist wieder zurückgeblieben.90
89
Kuo Heng-yü, China und die Barbaren, Pfullingen 1967, S. 61.
90
Kuo Heng-yü, China und die Barbaren, Pfullingen 1967, S. 63.
150
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Offenbar mußte noch etwas anderes geschehen. Gegen Ende des
19. Jahrhunderts traten so immer mehr in Japan und den USA,
weniger Europa, ausgebildete Intellektuelle für radikale politische
Maßnahmen ein, für den Sturz der fremden
Dynastie als einzige Rettungsmöglichkeit
Chinas. Die extremsten unter ihnen wie 瞿秋
白 Qú Qiãbái (1899 - 1935 und sicher auch
Mao Tse-tung) sahen später die Wurzel der
Rückständigkeit ihres Landes sogar in seiner
ureigensten Kultur, in den Schriftzeichen, die
er als *die 龌龊 wò chuò dreckigste, 恶劣 è liè
abstoßendste und 混蛋 hùn dàn verkommenste 毛坑 máo k‘ng Kloake des Mittelalters+91.
Qú Qiãbái.
bezeichnete.
Am 清 Q§ng-Hof hielt die Kaiserinwitwe 慈禧 Cí X0 ab 1861
bis zu ihrem Tod 1908 das Heft meist fest in der Hand. Die Kaiser
同治 TÇng Zhì (regierte von 1862 bis 1875) und 光绪 Gu~ng Xù
(regierte von 1875 bis 1908) hatten in dieser Periode mit Ausnahme
der sogenannten Reformen der Hundert Tage im Jahre 1898 (s.u.),
nichts zu sagen. Politische Reformer und erst recht die Revolutionäre verfolgte sie unnachsichtig, während der Hof den immer
hektischeren Aktivitäten und Forderungen der Europäer und bald
auch der Japaner hilflos gegenüberstand und deren fortwährend
steigenden Ansprüchen nach Konzessionen und weiteren Sonderrechten in China stets nachgab.
Zwei Ereignisse markierten das Scheitern des ersten chinesischen Reformversuches, der Selbststärkungsbewegung: die Niederlage im Krieg mit Frankreich in Südchina 1884-85, wo die
Franzosen wegen ihrer Interessen im tributpflichtigen Vietnam mit
China in Konflikt gerieten und innerhalb einer Stunde die in einer
Selbststärkungs-Werft in 福州 FúzhÇu (Provinz 福建 Fújiàn)
gebauten chinesischen Kriegsschiffe zu zerstören. Gravierender
jedoch war die Niederlage im Krieg gegen Japan, denn sie zerstörte
91
690.
Qú Qiãbái Wén Jí S Qú Qiãbái Werke, Beijing 1953, 2, S.
151
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
auch die letzten Reste chinesischen Selbstbewußtseins.
Krieg mit Japan ...
Japanisch-chinesische Kontakte sind sehr alt, lassen sich bis in das
3. Jahrhundert, also die 汉 Hàn- und nachfolgende 三国 S~n GuóZeit nachweisen, als über chinesische Kolonien in Korea erste Kontakte zustandekamen. Als Bezeichnung für die Japaner wurde der
Begriff 倭人 wÇ rén Kurzbeinige oder Zwerge verwendet, der als
Schimpfwort bis heute in China bekannt geblieben ist. Die Verbindung festigte sich in der Folgezeit, weil die Japaner die Schriftzeichen und im 6. Jahrhundert auch den Buddhismus aus China
übernahmen. Im Jahre 607 gelangte eine japanische Tributdelegation nach China und während der 唐 Táng-Dynastie sinisierten die
japanischen Herrscher Staat und Gesellschaft vollständig bis hin
zum layout ihrer neuen Hauptstadt Nara, das sie von 长安 Cháng=~n übernahmen. Dieser starke Einfluß Chinas blieb bis in das 10.
Jahrhundert erhalten, schwächte sich dann etwas ab und verstärkte
sich während der 明 Míng-Zeit erneut.
Allerdings fallen in die Zeit ab dem 12. Jahrhundert auch die
ersten Mißtöne im Verhältnis der beiden Staaten. Japanische Piraten, von den Chinesen mit dem Gattungsbegriff 倭寇 wÇ kòu
kurzbeinige Räuber, genannt, machten die Küsten von Korea bis
nach Indochina so unsicher, daß dreimal chinesische Delegationen
nach Japan reisten, um sich dort zu beschweren.
Ende des 16. Jahrhunderts entwickelten japanische Herrscher
dann einen größeren Appetit auf China und fielen mit dem Ziel von
Landeroberungen in Korea ein. Erst am 鸭绿 Y~lù-Fluß, der noch
heute heute die Grenze zwischen China und Korea bildet, konnten
明 Ming-Armeen sie aufhalten.
Zur gleichen Zeit, wie die chinesischen Herrscher Mitte des 19.
Jahrhunderts wurde auch Japan mit den europäisch-amerikaischen
Wünschen nach Handel, Öffnung und gleichberechtigten
Beziehungen konfrontiert. Nach anfänglicher Abwehr jedoch
kapitulierte es 1868 -ganz im Gegensatz zu China. Die alten Herrscher traten ab und neue, die sogenannten Meiji betrieben eine Restauration genannte Erneuerung Japans. Planvoll und vollständig
152
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
paßten sie ihr Land den europäischen und amerikanischen Vorbildern in Wirtschaft, Technik, Recht und Militär92 an. Rasch
wuchs Japan nun bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zum
industriell und militärisch stärksten Staat Asiens heran.
Und schon 1870 mußten die Chinesen sich erneut mit Japans
Ansprüchen und Expansion auseinandersetzen, als das Land die
südwestlich gelegenen, China tributpflichtigen Ryukyu Inseln
(chinesisch: 钓鱼台群岛 Diào Yú Tái Qún D|o) beanspruchte.
Anschließend fiel der Blick Japans erneut auf Chinas treuesten
Vasallenstaaten, Korea.
1876 erzwang es dessen Öffnung und schickte, als eine Rebellion in Korea ausbrach, Soldaten in das Land. Dasselbe tat die
chinesische Regierung, die sich für ihren Vasallen verantwortlich
fühlte. Es kam zu militärischen Auseinandersetzungen, die Japaner
versenkten zunächst einen chinesischen Dampfer und danach, am
17. September 1894, als es zum japanisch-chinesischen Krieg gekommen war, die gesamte chinesische 北洋舰队 bi yáng jiàn duì
Nord-Flotte vor der Mündung des 鸭绿 Y~lù-Flusses an der 辽东
Liáo DÇng Halbinsel. Diese Niederlage war insbesondere deshalb
eine schwere Demütigung Chinas, als Japan immer als Vasall
betrachtet worden war und die Nord-Flotte, ein Ergebnis der industriellen Reformanstrengungen des 李鸿章 L0 Hóngzh~ng gewesen
war, der Stolz Chinas.
Japanische Truppen besetzten die Insel 台湾 Táiw~n und chinesische Gebiete in 山东 Sh~ndÇng und auf der Halbinsel 辽东 Liáo
DÇng, die als Landbrücke zur geplanten Besetzung des gesamten
chinesischen Nordostens, der sogenannten Mandschurei dienen
sollte.
Die vernichtend geschlagenen Chinesen schickten den als Kanzler agierenden 李鸿章 L0 Hóngzh~ng selbst zu den Friedensverhandlungen in die japanische Stadt Shimonoseki (chin.: 马关 M|gu~n), wo er am 17. April 1895 im gleichnamigen Vertrag die
92
Sehr anschauliche Beschreibung der Öffnung Japans in: Gertrude C.
Schwebell (Hrg.), Die Geburt des modernen Japan in Augenzeugenberichten, dtv,
München 1970, ISBN 3-423-02708-8.
153
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
japanischen Friedensbedingungen akzeptierte und unterschrieb.
Seither gilt er in China als 卖国贼 mài guó zéi, eine Bezeichnung,
die bis heute das schlimmste Schimpfwort für innenpolitische
Gegner ist.
Im Vertrag von Shimonoseki suchte Japan sich die gemachten
Eroberungen in China und die Besetzung Koreas zu sichern. Eine
diplomatische Intervention Rußlands, Frankreichs und Deutschlands, die in 山东 Sh~ndÇng (Deutschland) und auf der Halbinsel
辽东 Liáo DÇng (Rußland) selbst sogenannte Pachtgebiete anstrebten und deshalb eine japanische Präsenz nicht wünschten, sorgte
jedoch dafür, daß Japan diese Eroberungen wieder zurückgegeben
mußte. Es behielt aber 台湾 Táiw~n und Korea und durfte fortan
Fabriken in China gründen.
... und Reformen der Hundert Tage
Erstmals war China damit auch von einer asiatischen Macht
geschlagen worden, einem Ex-Vasallen obendrein, und seine
dramatische Schwäche lag offen vor aller Augen, auch denen
chinesischer Intellektueller und Reformatoren. Es kam zu einer
ersten Protestaktion in der Hauptstadt Peking, die das Nachgeben
der Regierung gegenüber ausländischen Forderungen anprangerte.
1.200 Beamtenprüflinge, die dort gerade die 进士 jìn shì Prüfung
ablegten, versammelten sich und unterschrieben ein 万言书 wàn
yán shã Memorandum der 10.000 Worte, das die Zurückweisung
des Friedensvertrages verlangte und die Fortführung des Kampfes
gegen Japan forderte.
Anführer dieser ersten, im westlichen Stil vorgetragenen chinesischen Protestaktion gegen die eigene Regierung waren zwei Männer, die bis heute als große Reform-Denker in China bekannt und
verehrt geblieben sind: 康有为 K~ng Y4uwéi, der Verfasser des
Memorandums der 10.000 Worte, und sein Schüler 梁启超 Liáng
Q0ch~o93.
93
Über beide sowie andere chinesische Reform-Intellektuelle am Ende
der Kaiserzeit berichtet sehr lesenswert: Jonathan Spence, The Gate of Heavenly
Peace, The Chinese and Their Revolution, 1895-1980, Penguin Books 1982,
154
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
康有为 K~ng Y4uwéi (1858-1927) hatte
um 1880 herum die traditionelle Laufbahn
eines chinesischen Beamtenanwärters in der
Provinz 广东 Gu~ngdÇng begonnen. Eine
seiner Schriften erregte bald in der Welt der
chinesischen konfuzianischen Gelehrten grosses Aufsehen und machte seinen Namen in
ganz China bekannt. Besuche in Hongkong
æ K~ng Y4uwéi. und Shanghai 1882 überzeugten ihn dann
davon, daß China der Macht der Europäer
nichts entgegenzusetzen hatte und auch ihr arrogantes Abtun als
Barbaren nichts nützen würde. Er begann sich mit der Frage zu
beschäftigen, was den Westen stark gemacht hatte und war bald der
festen Überzeugung, daß nur gesellschaftliche Reformen China
retten konnten.
Nach der Niederlage seines Landes im Krieg gegen Frankreich
unterbreitete er 1888 sein erstes Memorandum. Ohne Erfolg, denn
es wurde, wie viele folgende, von der Beamtenschaft abgeblockt
und erreichte den Kaiser 光绪 Gu~ng Xù erst gar nicht. Ein zweites
Memorandum1895 wies der Hof zurück, da der Vertrag von Shimonoseki, so die Begründung, ja bereits unterschrieben sei. So
kehrte 康有为 K~ng Y4uwéi zunächst unverrichteter Dinge in
seine Heimatprovinz zurück.
Im Gefolge des japanisch-chinesischen Krieges waren zwei
andere Mächte aktiv geworden und hatten sich chinesische Gebiete
angeeignet: Deutschland (besetzte 1897 die Bucht von 胶州
Ji~ozhÇu und die dortige Ansiedlung 青岛 Q§ngd|o) und Rußland
(erhielt die auf der Halbinsel 辽东 gelegene Hafenstadt 旅顺
Lǚ shùn, [damals: Port Arthur], heute zu 大连 Dàlián gehörend,
sowie eine Eisenbahnkonzession in der Mandschurei).
Offenbar gab es nach der Niederlage gegen Japan kein Halten
mehr: Wer wollte, kam und nahm von China, was er wünschte, die
Regierung (meist in der Person des damals mächtigsten chinesischen Politikers 李鸿章 L0 Hóngzh~ng) gewährte es.
ISBN 0-14-00.6279-3, erstes und zweites Kapitel.
155
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Die neuerlichen Konzessionen an Deutschland und Rußland
veranlaßten 康有为 K~ng Y4uwéi, erneut nach Peking zu fahren,
um eine weitere Petition einzureichen, in der er Reformen vorschlug, die sich an denen Japans und Rußlands orientierten.
Diesmal nun gelang es ihm tatsächlich, in einem Treffen mit
李鸿章 L0 Hóngzh~ng seine Ideen darzulegen und sogar dem
Kaiser 光绪 Gu~ng Xù vorzutragen, der sich zu diesem Zeitpunkt
etwas vom Einfluß der Kaiserinwitwe 慈禧 Cí X0 freigemacht
hatte. Und der 27jährige Kaiser war gewillt, seinen Vorschlägen zu
folgen! Er erließ in den hundert Tagen zwischen Juni und
September 189894 in bezug auf die Institutionen des Landes, das
Erziehungswesen, das Militär, die Wirtschaft etc. einen Reformerlaß nach dem anderen.
Diese Unruhe brachte am Hofe zahlreiche Interessengruppen
und Nutznießer des bestehenden Systems gegen den Kaiser auf.
慈禧 Cí X0, die seit 1889 ihre Regentschaft zugunsten des jungen
光绪 Gu~ng Xù aufgegeben hatte, schloß sich ihnen an und entmachte diesen am 21. September 1898 de facto in einem coup
d=état. Der Kaiser lebte bis zu seinem Tod 1908 fortan unter Hausarrest. Zuvor war es ihm jedoch gelungen, 康有为 K~ng Y4uwéi
zu warnen, so daß diesem und seinem Mitstreiter und ehemaligen
Schüler 梁启超 Liáng Q0ch~o die Flucht gelang. Andere wurden
ermordet.
Bis zu ihrem Tod 1908 (einen Tag nach dem des Kaisers) hielt
nun die Kaiserinwitwe 慈禧 Cí X0 in China das Heft fest in der
Hand.
In Wahrheit allerding war das Land zum willenlosen Spielball
aller interessierten ausländischen Mächte geworden. Die Verhältnisse im Innern der Mandschu-Dynastie versteinerten, die Kräfte
einer möglichen Erneuerung wie 康有为 K~ng Y4uwéi und andere
waren für Jahre im Exil kaltgestellt.
œ
94
Nach dem traditionellen chinesischen Kalender, der Jahre und
Jahreszeiten nach einem System von Kombinationen der 10
ti~n g~n
Himmelsstämme mit den 12
dì zhi Erdzweigen vornimmt, war dies die Zeit
des
wù xã, weshalb die chinesische Bezeichnung der Reformen der 100
Tage
wù xã biàn f| ist, die Zahl 100 also nicht darin vorkommt.
156
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Der Boxeraufstand
In der Bevölkerung kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu
einem weiteren großen Aufstand, der 义和团运动 yì hé tuán yùn
dòng der Bewegung für Gerechtigkeit und Einigkeit. Die
gebräuchlichere Bezeichnung im Westen -Boxer- erhielten die Aufständischen wegen des Geheimbundes, der am Anfang stand und
sich 义和拳 yì hé quán Fäuste der Harmonie und Gerechtigkeit
nannte, was auf ihre dem 功夫 gÇng fã nicht unähnlichen Kampfübungen zurückging. Die einigende und viele Chinesen mitreißende Ideologie bestand aus einem Gemisch von Schamanismus und
Fremdenfeindlichkeit. Letztere projizierte alle Übel Chinas auf die
Anwesenheit der Fremden, ein Sündenbock-Mechanismus, der
politisch auch in anderen Kulturen ein oft gebräuchliches Mobilisierungsmittel ist.
Ihren Ausgangspunkt nahm diese aus weitgehend ungebildeten,
landlosen Bauern beschickte, mystischen Überzeugungen anhängende Bewegung in der Provinz 山东 Sh~ndÇng, wo sie sich der
Unterstützung des dortigen Gouverneurs erfreute. Sie richtete sich
in Abstufungen zunächst gegen die Fremden (Ausländer), dann
gegen Chinesen, die dem christlichen Glauben anhingen und
schließlich gegen Chinesen, die ausländische Güter kauften. Sie
richtete sich aber nicht, wie die Bewegung der Taiping gegen die
China beherrschenden Mandschus.
Im Herst 1897 ermordeten Boxer zwei deutsche Missionare in
der Provinz 山东 Sh~ndÇng, was die Besetzung der Bucht von
胶州 Ji~ozhÇu (Kiautschou) durch deutsche Truppen zur Folge
hatte und anschließend in die Abtretung der Stadt 青岛 Q§ngd|o
(Tsingtao) als sogenanntes Pachtgebiet an Deutschland mündete.
Der Pekinger Kaiserhof, vor allem die de facto-Herrscherin
慈禧 Cí X0, suchte die Boxer-Bewegung, als sie bereits eine gewisse Größe erreicht hatte, gegen die sich immer weiter ausbreitenden, mit Sonderrechten aller Art versehenen Fremden im Lande
zu richten und förderte sie heimlich. Die Boxer gewannen so
zunehmend an Stärke und ihre Armee zog schließlich gegen das
Herz der Fremden in China, das Gesandtschafts- (Botschafts-)
Viertel südöstlich des Kaiserpalastes in Peking.
157
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Am 20. Juni 1900 ermordete unweit davon ein Anhänger der
Boxer den deutschen Gesandten Clemens von Ketteler auf offener
Straße. Anschließend belagerten und beschossen die Aufständischen wochenlang das Gesandtschaftsviertel, das sie dabei dem
Erdboden gleichmachten. Trotzdem hielten die Diplomaten und
ihre Familienangehörigen in den zerstörten Gebäuden aus, bis eine
von acht Mächten95 (darunter auch Deutschland) gebildete Armee
Peking erreichte, die Aufständischen vertrieb, den verlassenen
Kaiserpalast plünderte (慈禧 Cí X0 und ihr Hofstaat waren vor den
Kämpfen nach 西安 X§=~n geflohen) und Peking anschießend
besetzt hielt.
China wurde von den siegreichen Mächten im sogenannten
Boxer-Protokoll (7. September 1901) gezwungen, eine weitere
gewaltige Summe Reparationen als Entschädigung an die Ausländer zu zahlen, alle Beamten, die die Aufständischen unterstützt
hatten, zu bestrafen, seine militärischen Einrichtungen zu reduzieren und der dauerhaften Stationierung ausländischer Truppen im
Pekinger Gesandtschaftsviertel zuzustimmen.
Deutschland, das sich besonders großspurig engagiert hatte
(Kaiser Wilhelm II hatte die Soldaten am 27. Juli 1900 in
Bremerhaven mit einer Hunnenrede96 auf die Reise nach China geschickt) verlangte überdies die Entsendung einer offiziellen chinesischen Sühnedelegation nach Berlin, die sich dort für die Ermordung des Gesandten zu entschuldigen hatte, und die Errichtung
95
Darunter 8.000 japanische, 4.800 russische, 3.000 britische, 2.100
amerikanische Soldaten sowie solche aus Deutschland, Frankreich, Österreich
und Italien. Den Chinesen bis heute immer noch gut als
b~ guó lián jãn
Armee der acht verbündeten Staaten bekannt.
á ¶
96
Diese Bezeichnung geht auf diese Passage der Rede zurück: Wie vor
tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht,
der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge
der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt
werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel
anzusehen! (Nach: Nordwestdeutsche Zeitung, Bremerhaven, 28. Juli 1900. Der
Reichsanzeiger, Berlin, veröffentlichte eine andere Version der Rede, in der diese
Passage nicht ganz so ausführlich erscheint: Führt eure Waffen so, daß auf
tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel
anzusehen.
158
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
eines acht Meter hohen und 16 Meter breiten marmornen Sühnetores an der Stelle in Peking, wo der Mord am Gesandten von
Ketteler ausgeführt worden war97. Unter der Leitung eines Bruders
des Kaiser, des Prinzen 醇王 Chún Wáng (载沣 Zàif‘ng), kam die
Delegation im September 1901 nach Potsdam und überreichte dort
dem Kaiser die chinesische Sühne-Botschaft.
Mit der Unterzeichnung des Boxerprotokolls und vielleicht am
besten symbolisiert durch die sogenannte Sühnedelegation nach
Deutschland hatte das kaiserliche China den Tiefpunkt seiner internationalen Stellung erreicht. Für jeden sichtbar war es so tief
gesunken, daß auch seine Lebenslüge von seiner allen anderen
überlegenen Kultur bei seinen eigenen Vertretern nicht mehr
überzeugend war.
China lag -vor der ganzen Welt- im Staub!
Unter den zahlreichen Befürwortern von Reformen in Staat und
Gesellschaft, die häufig aus der konfuzianischen Beamtentradition
kamen und deren Vorschläge sich nie entschieden genug daraus
lösen konnten, führte diese Entwicklung zu einer Radikalisierung.
Erstmals traten nun Revolutionäre auf, die entschieden mit dem
Hergebrachten brechen wollten und sich in ihrer Agitation dafür
auch weniger an die herrschende Klasse wandten als an die Bevölkerung selbst, ein unerhörter Vorgang. Der 19jährige 邹容 ZÇu
Róng [Tsou Jung] war einer der ersten, bekanntesten und vor
allem: radikalsten.
In seinem flammenden Manifest 革命军 gé míng jãn Revolutionäre Armee rief, nein: schrie er -vom ausländisch beherrschten
Shanghai aus- seinen Landsleuten zu:
Sweep away millennia of despotism in all its forms, throw off
millennia of slavishness, annihilate the five million and more of
97
Der Bogen steht heute, natürlich mit anderer Inschrift, im Sun Yat-senPark, westlich des Kaiserpalastes.
159
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
the furry and horned Manchu
race, cleanse ourselves of 260
years of harsh and unremitting
pain, so that the soil of the
Chinese subcontinent is made
immaculate, and the descendants
of the Yellow Emperor will all
Die
ZÇu Róng gé míng jãn - become Washingtons. Then they
revolutionäre Armee.
will return from the dead to life
again, they will emerge from the Eighteen Levels of Hell and
rise to the Thirty Three mansions of Heaven, in all their
magnificence and richness to arrive at their zenith, the unique
and incomparable of goals - revolution. How sublime is
revolution, how majestic!
I follow thereupon the line of the Great Wall, scale the
Kunlun Mountains, travel the length of the Yangzi, follow to its
source the Yellow River. I plant the standard of independence,
ring the bell of freedom. My voice re-echos from heaven to
earth, I crack my temples and split my throat in crying out to my
fellow-countrymen: revolution is inevitable for China today. It
is inevitable if the Manchu yoke is to be thrown off; it is
inevitable if China is to be independent; it is inevitable is to take
its place as a powerful nation on the globe; it is inevitable if
China is to survive for long in the new world of the 20th
century; it is inevitable if China is to be a great country in the
world and play the leading role. Stand up for Revolution!
Fellow-countrymen, are there any of you whether old or in
middle years, in your prime of life or young, be it man or
woman, who is talking of revolution or working actively for
revolution? Fellow countrymen, assist each other and live for
each other in revolution. I here cry at the top of my voice to
spread the principles of revolution throughout the land.
Revolution is the universal principle of evolution.
Revolution is the essence of the struggle for survival of
destruction in a time of transition. Revolution submits to heaven
and responds to men's needs.2 Revolution rejects what is
160
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
corrupt and keeps the good. Revolution is the advance from
barbarism to civilization. Revolution turns slaves into
masters.
Für diesen Text wurde 邹容 ZÇu Róng verhaftet und eingesperrt.
Er starb 1905 im Gefängnis. Noch heute wird in China vielfach und
offiziell dieses Mannes in positiver Weise gedacht, seine 革命军
gé míng jãn Revolutionäre Armee bezeichnet die offizielle Nachrichtenagentur Ende 2002 sogar als Chinas Manifest der Menschenrechte98.
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98
161
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
中华民国 [中华民国]
ZhÇng Huá Mín Guó
Republik China (1911 bis 1949)
Sun Yat-sen (孙逸仙 Sãn Yìxi~n, 孙文 Sãn Wén, 孙中山 Sãn
ZhÇngsh~n).
Als wichtigster Anführer der intellektuellen Umstürzler galt ab der
Jahrhundertwende der Arzt Sun Yat-sen, der
jedoch im Unterschied zu anderen bekannten
Reformern wie 康有为 K~ng Y4uwéi oder
梁启超 Liáng Q0ch~o gerade nicht aus der
Tradition konfuzianischer Literatenbeamter
kam, und vielleicht deshalb als einziger dieser
Aktivisten ein umfassendes politisches, wirtschaftliches und kulturelles Rezept für China
ausgearbeitet hatte, das er 三民主义 s~n mín
zhß yì Drei Volksprinzipien nannte.
Das Programm beinhaltete Suns Ansichten
zu den drei von ihm für die Rettung Chinas
als entscheidend angesehenen Themen
Sun Yat-sen.
! 民族 mín zú = Nationalismus,
! 民权 mín quán = Rechte des Volkes und
! 民生 mín sh‘ng = Volkswohlfahrt.
Es zielte auf Chinas internationale Gleichberechtigung sowie die
Beseitigung der Mandschu-Fremdherrschaft und der Monarchie
überhaupt, auf die Einführung eines parlamentarischen Systems
und auf wirtschaftliche Reformen und Kontrolle des Kapitals.
Es war Sun Yat-sens Studium der europäischen Gesellschaften,
das diesem Programm zugrundelag. Dabei hatte er die Meinung vor
allem sozialistischer Kritiker der bestehenden europäischen Staatsorganisation übernommen, wonach dort eben nicht alles so ideal
und vernünftig sei, wie viele andere chinesische Reformer in ihrer
Verzweifelung angesichts der europäischen Überlegenheit auf allen
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Gebieten annahmen.
Sun, der sich meist im Ausland aufhielt (Japan, Europa), gründete 1894 in Hawaii die 兴中会 xíng zhÇng huì Gesellschaft zur
Wiederbelebung Chinas die erste von vielen noch folgenden Organisationen, die seine Vorstellungen umsetzen sollten, und beteiligte
sich ab dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an zahlreichen
anderen Vereinigungen, die den Sturz der Mandschus zum Ziel
hatten.
1911 schloß er sich schließlich einer neuen politischen Partei,
der 国民党 Guó Mín D|ng (Kuomintang) an, die jedoch bereits
1913 vom auf den Sturz der Mandschu-Dynastie folgenden Machthaber 袁世凯 Yuán Shìk|i verboten wurde. 1923 reorganisierte
Sun diese Partei mit Hilfe der Kommunistischen Internationale
(Komintern), der Weltorganisation der Kommunistischen Parteien
mit Sitz in Moskau (s.u.).
Hauptziel der Kuomintang war es, zunächst das chinesische
Territorium unter eine zentrale Herrschaft zu bringen, denn das
Land war nach der Abdankung der Mandschus 1911 (Verkündung
der Republik China: 1.1.1912, begleitet von der Einführung des
westlichen Kalenders) in von einzelnen Militärmachthabern (warlords) beherrschte Gebiete zerfallen. Zu diesem Zweck stellte Sun
mit Hilfe der Komintern in Südchina eine Armee auf, verbündete
sich mit der 1921 ebenfalls von der Komintern gegründeten 中国
共产党 ZhÇng Guó Gòng Ch|n D|ng Kommunistischen Partei
Chinas und bereitete einen Nordfeldzug zur Einigung Chinas vor.
Die warlords sollten militärisch besiegt werden.
Sun Yat-sen erlebte den Erfolg des 北伐战争 bi fá zhàn zh‘ng
Nordfeldzuges über die Militärmachthaber jedoch nicht mehr. Er
starb 1925. Sein Nachfolger wurde 蒋介石 Ji|ng Jièshí (Tschiang
Kai-schek, Chiang Kai-shek), der bis dahin Leiter der Kantoner
Militärschule der Partei gewesen war.
Mit dem eigentlichen Sturz der Mandschu-Dynastie, der Abdankung des Letzten Kaisers, des sechsjährigen 溥仪 Pß Yí, und der
Ausrufung der Republik China 1911 bzw 1912 hatte der Vater der
chinesischen Republik Sun Yat-sen indessen direkt nicht viel zu
tun, weil er sich auch zu diesem Zeitpunkt, wie meist während
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CHINESISCHE GESCHICHTE
seines Lebens, im Ausland aufhielt.
Das Mandschu-Regime selbst war im Jahre 1908 an ein quasi
natürliches Ende gekommen, als der Kaiser 光绪 Gu~ng Xù starb
und anderntags auch die Regentin und eigentliche Machthaberin,
慈禧 Cí X0. Das Ableben beider lag so eng zusammen, daß an
einen Zufall nur schwer zu glauben ist. Vielleicht hat die Regentin
den erst 30jährigen Kaiser, der sich 1898 ja als reformanfällig
(Reformen der Hundert Tage) erwiesen hatte, umbringen lassen.
Als Nachfolger auf dem Thron war (unter einer Regentschaft)
ein dreijähriges Kind vorgesehen: 溥仪 Pß Yí, der es wegen seiner
Kooperation mit der japanischen Besatzungsmacht in den dreißiger
und vierziger Jahren und weil er sein Leben als Gefangener (und
sogenannter erfolgreich Umerzogener) in der VR China als Gärtner
beschloß, als Letzter Kaiser von China zu literarischer und filmischer Berühmtheit brachte.
Die Noch-Herrschenden in Peking beugten sich nach dem Tode
des Kaisers und der Kaiserinwitwe 1908 etwas mehr den Forderungen der für Reformen eintretenden Gruppen und versprachen den
Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie.
Im Jahre 1909 wurde auch tatsächlich eine Provinzversammlung, 1910 eine Beratende Nationalversammlung in Peking einberufen, für 1913 die Bildung eines Parlaments versprochen. Im April
1911 stellte der für den Kind-Kaiser 溥仪 Pß Yí handelnde Regent
der Öffentlichkeit (soweit davon in China die Rede sein konnte) ein
Kabinett vor, das jedoch ausschließlich aus Mitgliedern der Dynastie bestand, was zur Folge hatte, daß alle Reformkräfte sich einmal
mehr enttäuscht nun auch von diesen Reform-Mandschus abwandten und fortan bereit waren, jeden zu unterstützen, der das Regime
gewaltsam beseitigen würde.
Der konkrete Anlaß dazu kam im Jahre 1911. Eine wichtige
Truppenverlegung von 武昌 Wßch~ng, heute Teil der Stadt 武汉
Wßhàn, Provinz 湖北 Húbi, in die Provinz 四川 Sìchu~n war der
äußere Anlaß.
Am 10. Oktober genügte die Revolte von gerade einmal 300
dieser Soldaten in 武昌 Wßch~ng, denen sich jedoch rasch andere
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Truppenteile anschlossen, die Stadt innerhalb eines einzigen Tages
einzunehmen, eine Militärregierung für die Provinz auszurufen und
gleich noch die Republik China dazu. Am 17.10.gewannen die
Aufständischen eine Schlacht gegen kaisertreue Truppen, woraufhin sich Aufständische in anderen Provinzen ihrem Vorbild
anschlossen. Eine Provinz nach der anderen sagte sich nun von der
Mandschu-Herrschaft los und erklärte sich gar für unabhängig.
China zerfiel in einen Flickenteppich de facto unabhängiger
Gebiete.
Diese Ereignisse gelten bis heute als Revolution, ihr Datum, der 10.
Oktober, oder 双十 shu~ng shí = Doppelzehn, als offizieller Gründungstag der Republik China. Da das Jahr der Revolution -1911im chinesischen 农历 nóng lì Mondkalender durch den 天干 ti~n
g~n Himmelsstamm 辛 x§n und den 地 支 di zhi Erdzweig 亥 hài
markiert wurde, ging das Ereignis als 辛亥 X§n Hài Revolution in
die chinesischen Geschichtsbücher ein.
Die Dynastie war damit de facto (aber noch nicht de jure, qua
Abdankung) am Ende. Ihre Spieler waren auch noch da und setzten
ihre allerletzte Hoffnung auf einen ihrer wichtigsten Militärführer,
den General 袁世凯 Yuán Shìk|i, den sie nun zum Premier ernannten und zu Verhandlungen mit den Republik-Befürwortern im
Süden ermächtigten. Aus Furcht vor einem Eingreifen der Fremden
im Lande willigten die, obgleich bereits Sieger, in Gespräche ein,
die am Ende dazu führten, daß 袁世凯 Yuán Shìk|i tatsächlich zum
Präsidenten Chinas werden konnte.
Die Mandschus verkündeten daraufhin am 12. Februar 1912,
nach einem Vierteljahrtausend der Herrschaft über China, ihre Abdankung, nachdem ihnen zugesichert worden war, daß ihnen genügend Geld und Besitz verbleiben würden. Die Abdankungserklärung des dynastischen China lautete:
The Whole Country is tending towards a republican form of
government. It is the Will of Heaven, and it is certain that we
could not reject the people=s desire for the sake of one family=s
honor and glory. We, the Emperor, hand over the sovereignty to
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CHINESISCHE GESCHICHTE
the people. We decide the form of government to be a
constitutional republic. In this time of transition, in order to
unite the South and the North, We appoint 袁世凯 Yuan Shi-kai
to organize a provisional government, consulting the people=s
army regarding the union of the five peoples, Manchus,
Chinese, Mongolians, Mohammedans, and Tibetans. These
peoples jointly constitute the great State of 中华民国 Chung
Hwa Ming-Kuo [a republic of China]. We retire to a peaceful
life and will enjoy the respectful treatment of the nation. This
was signed by the Emperor; by 袁世凯 Yuan Shi-kai as Prime
Minister; and also by the other Ministers.
Nicht lange nach der Revolte am 10.10. und noch vor der
Bestellung des 袁世凯 Yuán Shìk|i zum Präsidenten war Ende
1911 auch Sun Yatsen aus Amerika nach China zurückgekehrt. Er
begab sich sofort ins revolutionäre Zentrum nach 武汉 Wßhàn und
gründete eine eigene provisorische republikanische Zentralregierung.
Am 29.12.1911 wurde Sun zum ersten provisorischen Präsidenten der Republik China gewählt und trat dieses Amt am 1.1.1912
an.
Verbunden war dies mit der Ersetzung des bis dahin gültigen
夏历 xià lì chinesischen Mondkalenders (wegen seiner teilweisen
Bezugnahme auf landwirtschaftliche Daten meist 农历 nóng lì =
Bauernkalender genannt und bei diesen heute noch im Parallelgebrauch) durch den christlich-westlichen Sonnen-Kalender. Das
Jahr 1912 zählte darin jedoch als Jahr eins der Republik China,
und bis 1949 blieb dies die Jahreszählung in chinesischen Datumsangaben, zum Beispiel in Zeitungen: 民国十四年七月一日 mín
guó shí sì nián q§ rì = 1.7.14 = 1.7.1925).
Das in den Februar oder späten Januar fallende wichtigste Fest
der Chinesen, das Neujahrsfest des traditionellen 农历 nóng lì
Mondkalenders, das zugunsten des westlichen 1. Januar entfallen
mußte, wurde bei dieser Gelegenheit zum 春节 chãn ji‘ Frühlingsfest umdeklariert.
Der entmachtete Mandschu-Hof und sein Beamten- und Eunu166
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CHINESISCHE GESCHICHTE
chenapparat befanden sich zu diesem Zeitpunkt, da Sun Yat-sen im
Süden Präsident wurde und eine Regierung bildete, immer noch im
Pekinger Kaiserpalast, und 袁世凯 Yuán Shìk~i befehligte die
Truppen (die Sun Yat-sen nicht hatte). Um ihn, das war klar, kamen
Sun und die Revolutionäre im Süden, die über keine eigenen
Soldaten verfügten, nicht vorbei. So boten sie 袁世凯 Yuán Shìk|i
an, die Präsidentschaft der Republik zu übernehmen und der neuen
Staatsform Chinas so zum landesweiten Durchbruch zu verhelfen.
袁 Yuán willigte ein, verriet aber schon
1913 die Republik, als er, nach den ersten
Parlamentwahlen Chinas, den Organisator
der Kuomintang-Wahlsieger, 宋教仁
Sòng Ji~orén, umbringen ließ. Den in
einigen Provinzen nun gegen ihn
einsetzenden Widerstand schlug er
µ¶· Yuán Shìk~i. militärisch nieder und stand alsbald als
starker Mann Chinas da, was ihm selbst
soweit zu Kopf stieg, daß er sich Ende 1915 zum Kaiser einer
neuen Dynastie ausrief, die am 1. Januar 1916 beginnen sollte.
Dieses Problem löste sich jedoch schon im Sommer 1916 von
selbst, als 袁 Yuán überraschend starb. Viele andere Fragen jedoch
blieben offen, insbesondere die, wer denn nun in China das Sagen
hatte.
Die südchinesischen Revolutionäre jedenfalls waren nicht in der
Lage, die Gelegenheit zu nutzen, ihnen fehlten Truppen, um einen
Machtanspruch im ganzen Lande durchzusetzen. So füllten einzelne Militärführer, sogenannte warlords, in ihren jeweiligen Regionen (Provinzen) das Machtvakuum - meist gegeneinander kämpfend und jeweils kräftig unterstützt von unterschiedlichen
ausländischen Mächten, die über diese Schützlinge ihre Interessen
in China zu wahren suchten. Das Land zerfiel in einen
Flickenteppich von faktischen Kleinstaaten wie häufig nach dem
Niedergang einer lange herrschenden Dynastie. Gangsterbanden
hatten überall freie Hand. Gebiete, die die Mandschus dem
chinesischen Reich einverleibt, aber kulturell nicht integriert hatten
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CHINESISCHE GESCHICHTE
wie die Mongolei, Sinkiang und Tibet erklärten sich (teils mit
ausländischer Förderung und Unterstützung) für unabhängig.
In der Hauptstadt Peking agierte eine sogenannte Zentralregierung, die nichts zu sagen hatte. Wieder einmal war ein Zustand
erreicht, der viele Chinesen an den ersten Satz ihres berühmten
Romans 三国演义, S~n Guó Y|n Yì Die Drei Reiche denken
ließ:
Für die Dinge der Welt gilt: Was lange geteilt war, muß vereint
werden und was lange vereint war, wird geteilt
说话天下大势,分久必合,合久必分
shuÇ huà ti~n xià dà shì, fèn jiß bì hé, hé jiß bì fèn
Während sich so die blanke Anarchie in China ausbreitete, waren
die Europäer am westlichen Ende der eurasischen Landmasse auf
ihrem Kontinent mit dem europäischen Bürgerkrieg, dem Ersten
Weltkrieg, beschäftigt, was ihren Zugriff auf China etwas lockerte
und so einer anderen neu aufstrebenden Macht Gelegenheit gab,
das Vakuum zu füllen.
Japan nutzte sofort die Gunst der Stunde des Kriegsausbruchs
1914, um seinen Zugriff auf China auszuweiten. Bereits 1895 hatte
es -wenn auch nur teilweise erfolgreich- damit begonnen, sich
chinesisches Gebiet einzuverleiben, als es den Tributstaat Korea
dem Namen nach unabhängig in Wahrheit zu seiner Kolonie machte und die Insel 台湾 Táiw~n -seit 1873 eine Provinz Chinasbesetzte und als Kolonialgebiet behielt. Acht Jahre später, 1904,
besiegte Japan sogar das (in chinesischen Augen) europäische
Rußland, das sich die Mandschurei aneignen wollte (die Japan
gerne selber gehabt hätte) und schaffte dadurch, was 1894/95
wegen der deutsch-russisch-französischen Intervention mißglückt
war, die Besitznahme der an Korea grenzenden chinesischen Halbinsel 辽东 LiáodÇng mit der wichtigen Hafenstadt 大连 Dàlián99,
99
Die Mandschurei, auf die es die Japaner eigentlich abgesehen hatten,
bekamen sie nicht, weil u.a. Deutschland gegen eine entsprechende Klausel im
Friedensvertrag von Shimonoseki erfolgreich *Einspruch+ erhoben.
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CHINESISCHE GESCHICHTE
die bis dahin den Russen gehört hatte.
Schon in den ersten Kriegswochen des Herbstes 1914 marschierten japanische Truppen -Tokio hatte sich zum Verbündeten
Englands und Frankreichs gemacht- in der Provinz 山东 Sh~ndÇng
ein und besetzten nach kurzem Kampf 青岛 Q§ngd|o (Tsingtao).
Damit war die deutsche China-Präsenz nach nur siebzehn Jahren
beendet. Die gefangenen Deutschen wurden nach Japan abtransportiert und blieben bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dort
interniert.
Die (nominelle) Regierung der Republik China in Peking erklärte noch am 14. August 1917 Deutschland offiziell den Krieg. Chinesische Soldaten griffen zwar nicht in die Kämpfe ein, aber die
Regierung hatte (gegen Bezahlung, die sie freilich nie erhielt)
140.000 Arbeiter nach Frankreich geschickt, wo sie Schiffe entund beluden, Schützengräben aushoben, Leichen auf den
Schlachtfeldern einsammelten und andere kriegs- und sonstwie
wichtige Dienste verrichteten. Am Ende des Krieges trat damit die
interessante Situation ein, daß das bis dahin von Europa geschundene China plötzlich Sieger über eine ehemalige Kolonialmacht
war!
Chinesische Vertreter reisten denn auch voller Selbstvertrauen
nach Versailles, um mit den anderen Siegern über die Nachkriegsordnung Europas und das weitere Schicksal Deutschlands zu beschließen. Von wirklichem Interesse für sie war allerdings nur die
Frage, was nun mit der ehemals deutschen China-Besitzung in
山东 Sh~ndÇng geschehen sollte (bzw., bei erfolgreicher Regelung
dieses Problems, mit den Sonderrechten auch der anderen ImperialMächte im Lande!). Natürlich ging man davon aus, daß dieses nun
von Japan besetzte Land zurückgegeben werden würde.
Zur Überraschung der Regierung, vor allem aber der seit dem
Sturz der Mandschus ohnehin in Dauer-Aufruhr stehenden zahlreichen politischen Gruppen und Parteien, die sich in China gebildet
hatten, beschloß die Versailler Konferenz jedoch nicht, wie erwartet, das ehemals deutsche Kolonialgebiet an China zurückzugeben,
sondern an - Japan. In Geheimabsprachen mit Großbritannien,
Frankreich und Italien hatten die Japaner sich dieses Ergebnis
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CHINESISCHE GESCHICHTE
gesichert. Die anderen Mächte mit eigenen Besitzungen in China,
England und Frankreich vor allem, hatten kein Interesse an einem
Rückgabe-Präzedenzfall. Sie fürchteten, daß die so ermutigten,
ohnehin in Aufbruchstimmung stehenden Chinesen, als nächstes
dann womöglich auch ihre Konzessionen zurückfordern könnten.
Sie nahmen deshalb lieber Japan in ihren Club auf, als China
Gleichberechtigung zu gewähren, ein Land, mit dem sie seit achtzig
Jahren nach Belieben verfuhren. So schnell sterben alte Gewohnheiten nicht.
Außerdem erhofften sie sich von Japan ein Gegengewicht gegen
die revolutionären Kommunisten, die 1917 in Rußland an die
Macht gekommen waren und bald damit begonnen hatten, ihrer
eigenen Isolation dadurch entgegenzuwirken, daß sie den Chinesen
Ouvertüren machten und zum Beispiel 1920 feierlich verkündeten,
daß Sowjetrußland auf alle zarischen Vorrechte in China verzichte100. Das war bei den vielen Unzufriedenen und Gekränkten dort
sehr gut angekommen, auch bei Sun Yatsen.
Als nun die Nachricht aus Versailles die Hauptstadt Peking
erreichte, daß die deutsche Kolonie nicht an China, zurück,
sondern an Japan weitergegeben werde, löste sie am 4. Mai 1919
einen Proteststurm unter den Studenten der Peking Universität aus,
der als 五四运动 wß sì yùn dòng Bewegung des Vierten Mai ein
bis heute offiziell und tatsächlich ein höchst bedeutsames
Geschichtsdatum in China markiert.
In Demonstrationen vor dem 天安门 Ti~n=~nmén, dem südlichen Eingangstor zur 紫禁成 z0 jìn chéng Verbotenen Stadt101
(einen Platz gab es dort damals nicht), forderten Tausende in der
ersten Großdemonstration Chinas, daß die Regierung diese Entscheidung der Versailler Konferenz zurückweise und durchsetze,
daß die Bucht von 胶州 Ji~ozhÇu mit der Stadt 青岛 Q§ngd|o
zurückgegeben werde.
100
Dabei vermied es die Lenin-Regierung freilich, auch die von Rußland
im Laufe der Zeit annektierten chinesischen Gebiete, an China zurückzugeben.
101
der das
Nicht zu verwechseln mit dem Eingang zum eigentlichen Kaiserpalast,
¸¹ wß mén ist.
170
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Der Protest weitete sich schnell auf andere Städte aus und wurde
bald nicht mehr nur von der Intelligentsia der Hauptstadt getragen,
sondern auch von der entstehenden bürgerlichen und der Arbeiterklasse in anderen Städten (in Peking gab es keine Industrie - nur
Beamte).
Die Proteste ebbten zwar bald wieder ab, ohne, daß sie ihr Ziel
erreicht hätten. Immerhin jedoch weigerte sich die Regierung, den
Versailler Vertrag zu unterschreiben und blieb, bis zu einem
Separatfrieden, mit Deutschland im Kriegszustand.
Die Demonstranten des 4. Mai bewirkten in der Folge einen
enormen Aufschwung der schon vorher unter Intellektuellen
virulenten sogenannten 新文化运动 x§n wén huà yùn dòng
Bewegung der Neuen Kultur. Mit Macht brachen sich nun,
beflügelt durch die weggefallene Unterdrückung der fremden
Mandschu-Despotie einerseits und den vom Sieg der Revolution in
Rußland ausgehenden Anregungen und Hoffnungen andererseits
Anschauungen unter den Aktivisten Bahn, die Demokratie als
Staatsform, Übernahme westlicher Wissenschaft und Technik, kurz
die Modernisierung Chinas forderten.
Eine zentrale Rolle in der Bewegung der
Neuen Kultur spielte der an der Peking
Universität als 文科学长 wén k‘ xué zh|ng
Dekan für Literatur arbeitende 陈独秀
Chén Dúxiù, der seit 1915 allen Erneuerern
mit seiner Zeitschrift 新青年 X§n Q§ng
Nián Neue Jugend ein Forum bot, in dem er
auch selbst politisch publizierte.
Der Name war Programm. Wie 陈独秀
Chén Dúxiù in der ersten Nummer schrieb,
sei es nun an der Zeit, mit den konfu- Die erste Ausgabe der
»„
Reform-Zeitschrift º
zianischen Dogmen zu brechen, zuerst mit x§n
q§ng nián Neue Jugend.
dem, das Jugend dem Alter zu gehorchen
habe: Jugend, schrieb er, ist wie der frühe Frühling, wie die auf-
171
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
steigende Sonne ... wie eine frisch geschärfte Klinge102. Die Jugend
solle daher nicht ihre Zeit damit vertun, mit den Alten über dies
und jenes zu diskutieren, sondern selbst denken und es nicht zulassen, daß sie von den Alten zurückgehalten werde. Und: Wir müssen
uns vollkommen darüber im klaren sein, daß Konfuzianismus und
... die neue Gesellschaft, der neue Staat, unvereinbar sind103.
陈独秀 Chén Dúxiù holte im Laufe der Zeit weitere, im Ausland
ausgebildete intellektuelle Köpfe der Reformen, ja der Revolution
an die Universität, wie 胡适 Hú Shì, der sich nachhaltig dafür
einsetzte, mit dem 古文 gß wén klassischen Schreibstil aufzuhören
und Zeitungen und Bücher stattdessen in der Umgangssprache zu
schreiben. Eine tote Sprache, sagte er, kann keine lebendige Literatur hervorbringen104.
Bald erschien daraufhin die 新青年 X§n Q§ng Nián Neue Jugend
in Umgangssprache. Und einer der ersten Schriftsteller mit gesellschaftlichem Anspruch, der seine, die chinesische Gesellschaft
scharf und kritisch beschreibenden Werke in dieser Form verfaßte,
war Chinas bald bekanntester Literat des Zwanzigsten Jahrhunderts, 鲁迅 Lß Xùn [Lu Hsun].
In der Februar-Ausgabe 1919 der 新青年 X§n Q§ng Nián Neue
Jugend veröffentlichte 李大钊 L0 Dàzh~o, Leiter der Bibliothek der
Peking Universität, eine Einführung in die marxistische Gesellschaftstheorie, die damit erstmals Eingang in China fand, und der
viele Intellektuelle wegen der Oktoberrevolution in Rußland und
ihrer Desillusionierung mit den westlichen Staaten, die China in
Versailles verraten hatten, große Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Bald entstanden marxistische Studiengruppen, und auch 陈
独秀 Chén Dúxiù wurde ein Anhänger der kommunistischen Revolution. Er kündigte an der Universität und ging nach Shanghai, wo
unter dem Schutz der ausländischen Machthaber ein besseres
Arbeiten in dieser Richtung möglich war.
102
103
104
»„¼½¾, ¼¿À‰‰‰¼ÁÂúÄÅÆ.
ÇÅȁºÉÊ, º ‘Ë, ºÌÍÎÏПÃÑÒ, ÎÏΩÓÔÃÕÖ.
×ØÙÚÎÛ܈ÝØÞ.
172
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Auch ein Mann aus der Provinz 湖南 Húnán namens 毛泽东
Máo ZédÇng [Mao Tse-tung] veröffentlichte 1917 in der 新青年
X§n Q§ng Nián Neue Jugend seinen ersten Aufsatz: 体育之研究 t§
yù zh§ yán jiã Eine Studie in Leibeserziehung - für die Zeit ein
durchaus revolutionäres Stück, das mit dem für Maos Denken bald
programmatischen Satz begann:
Unserer Nation fehlt es an Stärke. Der militärische Geist wird
nicht ermutigt105.
In neu entstandenen Zeitschriften seiner Heimatprovinz wie der
湘江评论 Xi~ng Ji~ng P§ng Lún Xiang Fluß Rundschau, die er im
Sommer 1919 gründete, schrieb Mao weiter gegen die alte Gesellschaft an, ohne jedoch zu wissen, wie eine neue genau aussehen
sollte.
Das begann sich freilich zu ändern, als er 1919 aus seinem Heimatort nach Peking kam, wo er an der Peking Universität dem Bibliothekar 李大钊 L0 Dàzh~o vorgestellt wurde, der ihm eine
Tätigkeit als Hilfskraft in der Bibliothek vermittelte.
Die erste Einheitsfront (1923 bis 1927)
Sun Yat-sen nahm im Jahre 1921 direkten Kontakt zur Kommunistischen Internationale (Komintern) in Moskau auf, um Hilfe
beim organisatorischen und programmatischen Aufbau einer neuen
Kuomintang-Partei zu erhalten. Die Hilfe wurde in Form von
Beratern gewährt und führte zu einer Organisationsform der Partei,
die dem Lenin=schen Konzept einer kommunistischen Partei folgte:
Es gab ein Zentralkomitee und die Mitglieder unterlagen dem
militärischen Grundsatz von Befehl und Gehorsam (in der Parteisprache): Die Mehrheit hat sich der Minderheit zu fügen, die unteren Parteieinheiten den oberen, gefaßte Beschlüsse sind ohne
Wenn und Aber auszuführen, auch von Mitgliedern, die dagegen
stimmen. Dies -organisatorisch und praktisch umgesetzt- ist das
Rezept für eine (im wahrsten Sinne des Wortes) höchst schlag105
‘ßàá}âãÎä.
173
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
kräftige Partei, zumal, wenn sie auch noch über eine eigene Armee
verfügt und zahlreiche Mitglieder hat, was beides bald der Fall
war.
Zur gleichen Zeit jedoch halfen andere Komintern-Berater bei
der Gründung der 中国共产党 ZhÇng Guó Gòng Ch|n D|ng Kommunistischen Partei Chinas, die in Form eines ersten Parteitages
von 12 Delegierten, darunter Mao, der Bibliothekar 李大钊 L0 Dàzh~o und der ehemalige Professor der Peking Universität und
Gründer und Herausgeber der Neuen Jugend, 陈独秀 Chén Dúxiù,
am 23. Juli, 1921 in Shanghai erfolgte106 und einherging mit ihrer
Aufnahme als Sektion China in die kommunistische Weltorganisation Komintern. Damit unterstanden die chinesische KP, die damals
knapp 60 Mitglieder hatte, und ihre Politik den Weisungen aus
Moskau. Generalsekretär der KP wurde Professor 陈独秀 Chén
Dúxiù107.
Leider gab es damit nun gleich zwei revolutionäre Parteien in
China, was die Moskauer Strategen der Weltrevolution nicht als
optimal ansahen. Aus diesem Grund sorgte 1923 ein weiterer
Abgesandter der Komintern dafür, daß beide Parteien zu einer
außergewöhnlich engen Zusammenarbeit kamen, die so aussah, daß
Mitglieder der KP gleichzeitig Mitglieder der Kuomintang sein
konnten. Bis in die Führungsgremien der Kuomintang ging diese
sonderbare Kooperation - auch Mao war dort eine Weile Mitglied!
Dies nannten die Kommunisten Einheitsfront - beide Parteien
würden nun einheitlich für das nächste politische Ziel in China
kämpfen, nämlich die Militärmachthaber, die das Land zersplittert
hielten, zu beseitigen und China zu einer einigen, tatsächlichen
Republik zu machen.
Als entscheidendes Instrument dazu sahen alle Beteiligten den
106
Der offizielle Gründungstag ist der 1. Juli, der in China zwar kein
Feiertag ist, aber eine Gelegenheit für die Parteiführung bietet, die jeweils letzten
Gewißheiten bzw. ideologischen Neuerungen zu verkünden.
107
Eine konzise Darstellung der Parteigeschichte gibt zum Beispiel die
Cambridge History of China, Band 12: Jerome Chen, The Chinese Communist
Movement to 1927 (S. 505-526) und Band 13, The Communist Movement 19271937, S. 168-229.
174
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Aufbau einer eigenen Partei-Armee (国民革命军 guó mín gé mìng
jãn = Nationalrevolutionäre Armee) an, die baldmöglichst in einem
militärischen Feldzug gegen die warlords im Norden das Werk der
Einheit Chinas vollenden sollte.
Auf der Flußinsel 黄埔 Huáng Pú nahe Kanton gründete die
Kuomintang deshalb im Mai 1924 eine Militärschule zur Offiziersausbildung, die als Whampoa Military Academy berühmt wurde.
Militärischer Direktor der Akademie wurde ein gewisser 蒋介石
Ji|ng Jiéshí, besser bekannt als Tschiang Kai-schek (engl.: Chiang
Kai-shek), dem (wegen der Einheitsfront) als Politkommissar ein
Kommunist namens 周恩来 ZhÇu ÷nlái (Tschu En-lai, engl.: Chou
En-lai) zur Hand ging, der spätere langjährige Außenminister und
Premier der Volksrepublik und (außer Mao) einzige Altkader, der
sämtliche politischen Kämpfe und Säuberungen der KP bis zu
seinem Tod 1976 heil überstand.
Im Juli 1926 begann die Nationalrevolutionäre Armee, kommandiert von Tschiang Kai-schek, in einer Stärke von 10.000
Mann den 北伐 bi fá Nordfeldzug von ihrer Basis in der Provinz
广东 Gu~ngdÇng aus.
Schon bald konnte 长沙 Chángsh~, die Hauptstadt der Provinz
湖南 Húnán, besetzt werden. Im September 1926 fiel der wichtige
Nord-Süd-Verkehrsknotenpunkt 武汉 Wßhàn, im Dezember 福州
FúzhÇu, die Hauptstadt der Ost-Provinz 福建 Fújiàn, und
schließlich im März 1927 南京 Nánj§ng (Nanking) und dann das
Ausländer-Eldorado 上海 Shàngh|i. 1928 wurde auch Peking
eingenommen. Zur Hauptstadt Chinas aber machte Tschiang Kaischek Nanking, wo er am 18. April 1927 die 国民政府 guó mín
zhèng fß Nationalregierung gründete. 北京 Bij§ng verlor sein
Hauptstadt-Suffix 京 j§ng und wurde bis zum Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg 1949 mit einem 平 p§ng getröstet: Die Stadt
hieß nun 北平 Bip§ng (engl.: Peiping).
Erster Bürgerkrieg in China (1927 - 1937)
Obwohl der Nordfeldzug scheinbar von Kuomintang (Nationalisten) und Kommunistischer Partei gemeinsam, in der sogenannten 统一战线 tÇng y§ zhàn xiàn Einheitsfront organisiert und
175
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
durchgeführt wurde, hatten sich schon in der frühen Phase dieser
seltsamen Kooperation zahlreiche Konflikte zwischen beiden Parteien ergeben, die hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen
Gestaltung Chinas nach dem Sieg über die warlords völlig gegensätzliche Auffassungen vertraten. Insbesondere nach dem Tod des
Übervaters Sun Yat-sen 1925 und der Machtübernahme des streng
antikommunistischen (aus dem Shanghaier Gangstermilieu aufgestiegenen) Tschiang Kai-schek gerieten beide Parteien zunehmend
auf Konfrontationskurs, der zunächst innerhalb der KP zur Ausbildung von zwei Fraktionen führte.
Zum einen gab es die Parteiführung in Shanghai, die sich weitab
vom militärischen Geschehen im Inland und damit auch der
chinesischen Wirklichkeit aufhielt, eigentlich sogar isoliert war und
im wesentlichen den Anweisungen der Komintern in Moskau
folgte, die freilich auch nicht so genau wußte, wie in China die
Dinge lagen.
Dort hatte mittlerweile auch Stalin das Sagen, ein Mann der sich
gerade in bezug auf China für besonders kompetent hielt und
ständig und aktiv mit Weisungen zum weiteren Vorgehen der KP
eingriff. Stalins Linie zielte darauf, die Kooperation der KP mit der
Kuomintang um jeden Preis zu erhalten. Er glaubte nicht, daß es
der schwachen KP Chinas angesichts des verheerend rückständigen
Zustandes der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft gelingen
konnte, eine Revolution allein zum Sieg zu führen. Und selbst
wenn, so wäre das in den Augen Stalins gar nicht wünschenswert
gewesen.
Sein Festhalten an der Zusammenarbeit um jeden Preis führte
dazu, daß die KP-Führung in Shanghai, die diese Moskauer Politik
1 : 1 exekutierte, es der zunehmend anti-kommunistisch agierenden
Kuomintang-Führung gegenüber an jeder Vorsicht fehlen ließ,
Tschiang Kai-schek nicht entschieden gegenübertrat, ihn zu
besänftigen suchte und deshalb eigene KP-Aktionen im Inland zum Beispiel zur Unterstützung aufständischer Bauern, die sich
gegen Großgrundbesitzer richteten-, verhindern wollte, um die
Kuomintang nur ja nicht zu reizen.
Auf der anderen Seite standen jedoch Parteimitglieder, die, wie
176
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Mao Zedong, der Gründungs- und ZK-Mitglied war, auf dem
chinesischen Lande agierten, und vor allem in der Provinz 湖南
Húnán Aufstände und Aktionen der Bauern, ja sogar Streiks von
Arbeitern gegen Großgrundbesitzer und lokale Machthaber förderten und führten und dabei erkannten, welch großes revolutionäres
Potential in den chinesischen Bauernmassen steckte. Dieser Teil
der KP, der mangels ständiger Verbindung mit der Zentrale in
Shanghai weitgehend auf eigene Faust agierte, war dabei so
erfolgreich, daß er im Laufe der Zeit ein immer größeres Selbstbewußtsein entwickelte.
Mao, der Mann vor Ort, vertrat aufgrund seiner praktischen
Beobachungen bereits in dieser Phase der auslaufenden Zusammenarbeit mit der Kuomintang (1926/27) eine ganz andere politische Linie als seine Leitungsgenossen in Shanghai. So war er
keineswegs der Ansicht, daß man Tschiang Kai-schek trauen könne
oder daß es klug sei, die eigenen revolutionären Parteiziele ganz
hinter den Erhalt der sogenannten Einheitsfront zurückzustellen
und zum Beispiel die aufständischen Bauern zu zügeln.
Mao hielt im Gegenteil daran fest, daß die chinesischen Bauern
eine große Kraftquelle für die Revolution seien108, während die KPFührung in Shanghai allein die Arbeiter in den chinesischen Städten als revolutionäre Klasse ansah, so wie sie es in ihren Marxismus-Leninismus-Kursen auf der Moskauer Parteischule gelernt
hatte. Arbeiter aber gab es nicht viele in China, weshalb man noch
warten und gut mit der Kuomintang zusammenarbeiten müsse.
Diese unterschiedlichen Auffassungen über den weiteren Weg
der Partei führten Mao und die Genossen in Shanghai umso mehr
in Konflikt, wie sich Tschiang Kai-schek mit zunehmenden Fortschritten beim Nordfeldzug immer offener anti-kommunistisch
108
Zur Stützung dieser seiner Auffassung schrieb Mao seine ersten
beiden bekannten kommunistischen Parteidokumente: Analyse der Klassen in der
chinesischen Gesellschaft (März 1927) und ein Jahr später, bereits direkt gegen
die aktuelle Politik der damaligen Parteiführung gerichtet, seinen
Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan, die als die ersten
beiden Beiträge in den Kanon seiner Werke aufgenommen wurden. Mao Tsetung, Ausgewählte Werke Band I, deutsche Ausgabe, Peking, 1968.
177
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
gebärdete.
Zum direkten militärischen Vorgehen gegen den Verbündeten
ging Tschiang im April 1927 über, nachdem seine Truppen Shanghai eingenommen hatten. Gemeinsam mit den chinesischen
Gangster-Banden der Shanghaier Unterwelt109, der er selbst entstammte, ging Tschiang innerhalb der Stadt gegen alles vor, was
nach Kommunisten, Gewerkschaftern und Linken aussah. Auf
offener Straße wurden Menschen angehalten und an Ort und Stelle
umgebracht. Es kam zu regelrechten Massakern, Leichen türmten
sich in der Stadt.
Im Ergebnis war damit die Zusammenarbeit KP-Kuomintang
beendet, die KP-Organisation in Shanghai weitgehend zerschlagen,
und Tschiang Kai-schek in Süd-, Ost- und Nordchina zum alleinigen Herrscher Chinas geworden.
In Form einiger Aufstände, bei denen die zentralchinesischen
Parteigliederungen eine entscheidende Rolle spielten, versuchten
Komintern und KP-Führung daraufhin im Sommer 1927 das
Geschick zu wenden. Sie stützten sich dabei auf bewaffnete
Parteiverbände, die Mitte der zwanziger Jahre unter Mao Tse-tung
und anderen in den zentralen Provinzen 湖南 Húnán und 湖北
Húbi aufgebaut worden waren.
Am 1. August kam es in der Stadt 南昌 Nánch~ng (Provinz
江西 Ji~ngx§) zu einer ersten Rebellion von 30.000 Soldaten, die
von 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, 贺龙 Hè Lóng, 叶挺 Yè T0ng, 朱德 Zhã
Dé und 刘伯承 Liú Bóchéng angeführt wurden, Kommandeure, die
allesamt bis zu ihrem Tod in den 70er Jahren eine wichtige Rolle
in der chinesischen Politik spielten.
Es gelang den Aufständischen tatsächlich, die Stadt 南昌 Nánch~ng vorübergehend zu besetzen und ein Revolutionskomitee zu
gründen. Einige Tage später zog die Armee jedoch aus der Stadt ab
und südwärts, wo sie im Oktober von Kuomintang-Truppen besiegt
109
Die Situation dieser von Ausländischen Geschäftsleuten beherrschten
Stadt beschreibt sehr anschaulich: Stelly Dong, Shanghai 1842-1949, The Rise
and Fall of a Decadent City, Harper Collins Publishers, New York 2000, ISBN 0688-15798-X, vor allem die Kapitel City of Transformations und Capitalists,
Warlords and Thieves.
178
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
wurde. Ein Teil der Resttruppen flüchtete sich dann unter Führung
von 朱德 Zhã Dé in das zentralchinesische 井冈山 J0ngg~ngsh~n
Gebirge, wo er im April 1928 eintraf. Empfangen wurden die
Truppen von Mao Zedong, der dort mit seinen eigenen Leuten eine
Basis aufgebaut hatte.
Der 1. August, der Tag des 南昌 Nánch~ng-Aufstandes, gilt bis
heute als Gründungstag der chinesischen Armee, der heute 解放军
ji fàng jãn genannten Volksbefreiungsarmee, ein Name, den sie
aber erst 1946 erhielt.
Mao selbst organisierte im ZK-Auftrag und mit ca. 5 000 Mann
im Grenzgebiet der Provinzen 湖南 Húnán und 江西 Ji~ngx§
(Provinzkürzel: 湘赣 xi~ng gàn) am 9. September 1927 den 秋
收起义 qiã shÇu q0 yì, der als Herbsternteaufstand bekannt ist.
Zunächst war es das Ziel, Städte, darunter die Provinzhauptstadt
长沙 Chángsh~, anzugreifen, doch sah Mao dies rasch als illusorisch an und dirigierte seine Truppen in das von feindlichen Kräften nicht kontrollierte, abgelegene und unzugängliche Berggebiet
des 井冈山 J0ngg~ngsh~n Gebirges in der Provinz 江西 Ji~ngx§,
das sie im Oktober 1927 erreichten.
Mit der Vereinigung dieser Truppen Maos mit den unter 朱德
Zhã Dé im Frühjahr 1928 dorthin geflüchteten Einheiten, die fortan
als Rote Armee firmierten, begann die eigentliche chinesische
Revolution, die mit diesen letztlich erfolgreichen Besonderheiten
in die Geschichtsbücher eingegangen ist:
! Der Devise 枪杆子里面出政权 qi~ng g~n zì l0 miàn chã zhèng
quán Die politische Macht kommt aus den Läufen der
Gewehre,
! mit einer Bauernarmee,
! ländlichen Stützpunktgebieten (Staaten im Staate) und
! der Einkreisung und Eroberung der Städte vom Lande her.
Nach einigen weiteren Fehlversuchen, Städte mit militärischer
Gewalt anzugreifen und so eine Revolution in China zu entfachen,
beschränkte sich Mao in den Jahren bis 1934 darauf, eine
sogenannte 中华苏维埃共和国 Chinesische Sowjetrepublik aufzu179
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
bauen, die de facto ein KP-Staat in Zentralchina war, mit allem,
was dazugehörte: einer Armee, einer Verfassung, einer eigenen
Währung, eigenen Briefmarken usw.110.
Diesen Zustand wollte die antikommunistische Nationalregierung unter Tschiang Kai-schek natürlich nicht hinnehmen und
mobilisierte ab 1928 ihre eigenen Truppen gegen diese Gebiete Ausrottung der kommunistischen Banditen lautete die Devise. Ziel
war es, durch eine Einkreisung und Ausrottung der Rebellen Gesamtchina unter die Kontrolle der Kuomintang zu bringen.
Geschickt, mit Guerillataktiken, wehrten die Mao-Truppen lange Zeit die Angreifer ab, bis es diese, beraten durch den deutschen
General Alexander von Falkenhausen, mit einer neuen Taktik im
Herbst 1934 schafften, Sowjet-Gebiet zu erobern. Im Oktober des
Jahres entzogen sich die Resttruppen und Mao selbst der
vollständigen Vernichtung und begannen eine wilde und
verlustreiche Flucht, die später als 长征 cháng zh‘ng Langer
Marsch in die Geschichte und die Mythen Chinas einging.
Zweite Einheitsfront (1937 bis 1945)
Am Abend des 10. Oktober 1934 brachen die kommunistischen
Truppen, insgesamt ca. 80.000 Männer und Frauen, nahe der
Hauptstadt des größten Sowjetgebietes, 瑞金 Ruìj§n, Provinz 江西
Ji~ngx§, zu der schließlich 25.000 li (12.500 km) langen sogenannten strategischen Verlegung auf, die eher ein Irrweg flüchtender
Soldaten kreuz und quer durch Zentral- und Südwest- schließlich
nach Nordchina war als die planvolle Verlegung einer großen
Armee.
Durch ein gutes Dutzend Provinzen führte der Lange Marsch der
ständig vom Feind verfolgten und immer weiter dezimierten,
verelendeten Truppen, bevor nach einem Jahr schließlich ein
kläglicher Rest von 7.000 Mann nahe der nordchinesischen Stadt
110
Eine gute Übersicht über deren Umfang und Bedeutung vermittelt die
Dokumentensammlung Räte China - Dokumente der chinesischen Revolution
(1927-31), herausgegeben von Manfred Hinz, Ullstein Verlag, Frankfurt, Berlin,
Wien, 1973, ISBN 3 548 03003 3.
180
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
延安 Yán=~n, Provinz 陕西 Sh|nx§, ankam.
Unterwegs jedoch war die auf dem Marsch anwesende KPFührung vom 15. bis zum 17. Januar 1935 in der Stadt 遵义 Zãnyi,
Provinz 贵州 GuìzhÇu, zu einer sogenannten erweiterten Sitzung
des Politbüros zusammengekommen. Erweitert hieß, daß es auch
Teilnehmer gab, die dem Gremium gar nicht angehörten, während
andererseits große Teile der tatsächlichen Parteiführung nicht
teilnahmen. Der Generalsekretär und andere hielten sich nämlich
im 上海 Shàngh|ier Untergrund oder gar in Moskau auf. Es waren
dies Leute, die als sogenannte 28 Bolschewiken weiter die von Mao
als verhängnisvoll angesehenen Moskauer Direktiven getreulich
umzusetzen suchten, obwohl sie damit bereits ein um das andere
Mal gescheitert waren, ja, die Partei an den Rand der Vernichtung
gebracht hatten.
Auf der 遵义 Zãnyi-Sitzung, die sich im Nachhinein als eine der
wichtigsten der KP überhaupt herausstellte, kritisierte Mao die
Politik der Komintern und Stalins sowie der städtischen Parteiführung und machte sie für das fast vollkommene desaster der Partei
verantwortlich. Nicht zuletzt aufgrund der von ihm arrangierten
Teilnehmerliste der Tagung, setzte Mao sich mit seinen Ansichten
durch. Das Ergebnis war die Absetzung der bisherigen, moskautreuen Führung und die Etablierung Maos als faktischer Parteiführer, auch wenn er nicht Generalsekretär und noch nicht 主席
zhß xí, Vorsitzender, wurde.
Bedeutsam war die Konferenz wegen der fortan wirksamen
Abwendung der KP Chinas von äußeren Einflüssen, konkret:
solchen aus der Sowjetunion. Von nun an war die Führung unter
dem Einfluß Mao Tse-tungs entschlossen, ihre Politik und Strategie
allein, entsprechend der, wie sie sagte, konkreten Bedingungen
Chinas, auszuarbeiten. Die Partei Maos war eine selbständige und
unabhängige Partei geworden. Sie blieb dies -mit erheblichen Konsequenzen für die internationale Politik vor allem ab Anfang der
60er Jahre des 20. Jahrhunderts (s.u.)- bis heute.
Während der wilden Flucht der Kommunisten hatte Japan seine
Aktivitäten zur Besetzung Chinas verstärkt. Schon seit seinem Sieg
181
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
über Rußland 1905 hatte es sich einen dominierenden Einfluß in
Nordostchina (südliche Mandschurei) verschafft, wo auch bereits
Truppen stationiert waren. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges
hatte es sich vom ersten Präsidenten 袁世凯 Yuán Shìk|i zahlreiche wirtschaftliche Vorzugspositionen in China geben lassen.
Ende der zwanziger Jahre waren, unter Ausnutzung des
chinesischen Chaos, die Truppen in der Mandschurei wieder aktiv
geworden, um das japanische Einflußgebiet auszuweiten. 1931 und
1932 beschleunigte Japan seine Versuche, weitere chinesische
Gebiete in Besitz zu nehmen, besetzte kurzfristig die mandschurische Hauptstadt 沈阳 Shnyáng und griff später vier Monate lang
sogar die Ausländerstadt 上海 Shàngh|i an. Schließlich setzte es
1931 den letzten Mandschukaiser 溥仪 Pß Yí als Oberhaupt eines
von Tokio selbst geschaffenen mandschurischen Separat- und
Marionttenstaates namens Mandschukuo ein. Damit gehörte der
chinesische Nordosten Japan.
All dies hatte, erst recht vor dem Hintergrund des ohnehin seit
dem Krieg von 1894/95 sehr schlechten bilateralen Verhältnisses,
zu einer massiven anti-japanischen, sehr nationalistischen Stimmung in wichtigen Teilen der chinesischen Bevölkerung geführt,
die nun immer lauter von der Tschiang Kai-schek-Regierung
verlangten, sich der japanischen Expansion endlich militärisch zu
widersetzen.
Tschiang glaubte jedoch, daß erstens seine Armee der japanischen weit unterlegen war und zweitens zunächst einmal die kommunistsichen Störenfriede der sogenannten nationalen Einheit
besiegt werden müßten. Aus diesem Grunde mobilisierte er seine
Truppen weiter gegen die KP und ließ die Japaner de facto gewähren. Genau hier erkannte Mao einen wichtigen, vielleicht entscheidenden Ansatzpunkt, um wieder in die Offensive zu gelangen und
öffentliche Unterstützung zu finden.
Kurz nach der Ankunft der jämmerlichen Reste seiner Roten
Armee im Norden der Provinz 陕西 Sh|nx§ sprach Mao Ende
Dezember 1935 erstmals über den Kampf gegen Japan: Die
grundlegende Besonderheit der gegenwärtigen Lage, sagte er vor
Parteiaktivisten, besteht darin, daß der japanische Imperialismus
182
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
bestrebt ist, China in seine Kolonie zu verwandeln111. Mao rief auf,
erneut eine nationale Einheitsfront gegen Japan zu bilden und
dahinter alle Differenzen und Feindseligkeiten der Vergangenheit
zurücktreten zu lassen. Es komme nicht darauf an, daß die Kräfte
der Revolution makellos sauber blieben. Trotz allem, was geschehen war, setzte sich Mao damit für eine erneute Kooperation KP Kuomintang ein!
Tschiang Kai-schek jedoch kümmerte sich nicht um dieses
Angebot einer anti-japanischen Einheitsfront, sondern mobilisierte
weiter ausschließlich gegen die KP.
Bei einer Inspektion seiner gegen den kommunistischen
Stützpunkt in Stellung gebrachten Truppen in 西安 X§=~n im
Dezember 1936 zeigte sich jedoch, daß Maos Aufruf sogar bei
zweien seiner Generäle auf fruchtbaren Boden gefallen war - sie
verhafteten ihn und waren bereit, ihn der KP auszuliefern. Deren
Führung jedoch unterdrückte ihre Rachegelüste und befürwortete
seine Freilassung gegen das Versprechen, von nun an den Kampf
gegen Japan aufzunehmen und zu diesem Zweck eine erneute
Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei einzugehen.
Wie zum Beweis der Richtigkeit dieser Politik Maos, begann die
japanische Armee nur ein halbes Jahr später, am 7. Juli 1937, mit
einem inszenierten Zwischenfall an der südwestlich Pekings gelegenen 卢沟桥 LúgÇuqiáo (Marco-Polo-) Brücke ihren unverhüllten, breit angelegten Angriff zur Eroberung ganz Chinas.
Von Nord- nach Südchina marschierte Japans Armee, erreichte
im Spätsommer das Yangtse-Delta, schloß im Oktober 1937 die
Besetzung Nordchinas ab, eroberte gegen heftigen chinesischen
Widerstand im November 1937 上海 Shàngh|i, bei dessen
Verteidigung ca. 250.000 der besten Truppen Tschiang Kai-scheks
vernichtet wurden, und wandte sich anschließend gegen die
chinesische Hauptstadt Nanking, die sie am 13. Dezember 1937
besetzte und in einer siebenwöchigen Gewalt- und Plünderungsorgie - das 南京屠杀 Nánj§ng tú sh~ Massaker von Nan111
Mao Tse-tung Ausgewählte Werke, Band I, Verlag für Fremdsprachige
Literatur, Peking, 1968, S. 177.
183
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
king- terrorisierte. 300.000 Chinesen kamen dabei ums Leben.
Im Verlauf des Jahres 1938 vollendeten die Japaner ihre
Eroberung ganz Ostchinas, Tschiangs Regierung zog sich nach
重庆 Chóngqìng, im westlichen 四川 Sìchu~n gelegen, zurück, das
damit zur neuen Hauptstadt Chinas wurde.
Hier begann eine harte Zeit für die eingekesselte Regierung,
denn in den Folgejahren eroberten die japanischen Truppen auch
ganz Südostasien -Hongkong, Singapur, Burma- und schnitten
damit alle Hilfslieferungen für China ab. Nur ein Trumpf blieb in
der Hand Tschiang Kai-scheks: Die japanische Expansion in Asien
traf zunehmend auf amerikanische Ablehnung, womit China fast
automatisch zum natürlichen Verbündeten der USA aufstieg. Der
japanische Überfall auf die in Pearl Harbour, Hawaii, stationierte
US-Flotte am 7. Dezember 1941 markkiierte dann den direkten
Kriegseintritt der Vereinigten Staaten in Asien.
Tatsächlich sah US-Präsident Roosevelt in China fortan einen
wichtigen Verbündeten gegen Japan und wünschte, daß es zu einer
Vormacht in Asien aufsteige. Deshalb setzte er es, gegen den
Widerstand Churchills- durch, daß Tschiang an wichtigen
Kriegskonferenzen der Verbündeten als Alliierter teilnahm; zum
Beispiel an der Konferenz von Kairo und der Konferenz von Jalta.
Außerdem sorgte Roosevelt dafür, daß China auch in der Nachkriegsordnung eine gewichtige Rolle spielen konnte, indem er es
zum Ständigen Mitglied des Sicherheitsrates der neugeschaffenen
Vereinten Nationen machte. So wurde aus dem heruntergekommenen, rückständigen und tief gedemütigten China, mit dem
vor allem die europäischen Mächte seit einhundert Jahren nach
Belieben umgesprungen waren, im Handumdrehen eine Großmacht. Jedenfalls dem Anschein nach. Und nachdem die beiden
US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki Japan im August
1945 zur Kapitulation gezwungen hatten, konnte sich China -wie
schon nach dem Ersten Weltkrieg- wieder zu den Siegern zählen.
Die Frage war nur: welches China? Das Tschiangs? Oder das
Maos? Letzterer hatte es im Verlauf der jahrelangen japanischen
Besetzung nämlich klug verstanden, nicht nur sein Territorium mit
der Hauptstadt 延安 Yán=~n auszuweiten und de facto erneut einen
184
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Staat im Staate aufzubauen. Auch eine starke KP-Armee gab es
wieder und -vielleicht am Wichtigsten- erheblichen Einfluß auf die
Köpfe vieler chinesischer Bauern und Intelletueller sowie die von
zahllosen Sympatisanten in Amerika, denn die kommunistischen
Truppen reklamierten für sich, mit aller Kraft (und eigentlich auch
ohne die Nationalrmee Tschiangs) gegen die Japaner zu
kämpfen.
Mit der Kooperation der beiden Parteien KP und Kumintang war
es tatsächlich auch bei diesem zweiten Versuch nach den zwanziger
Jahren nicht weit her. Im Gefolge des 西安事件 X§=~n shì jiàn
Sian-Zwischenfalls vom Dezember 1936 war es zwar zu einer
gewissen Gemeinsamkeit im Kampf gegen Japan gekommen. So
unterstellten die Kommunisten ihre Armeen dem Oberkommando
der Regierung und änderten deren Namen von Rote Armee in ein
neutrales 八路军 b~ lù jãn Achte Route Armee und 新四军 x§n sì
jãn Neue Vierte Armee. In der Hauptstadt 重庆 Chóngqìng vertrat
auch ein alter Bekannter Tschiang Kai-scheks aus den Tagen der
Whampoa Miluitärakademie, 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, als Quasi-Botschafter die KP.
Doch schon Anfang 1941 war es wieder zu militärischen Auseinandersetzungen der sogenannten Verbündeten gekommen, die
sich von da ab häuften. In öffentlichen Erklärungen für die
chinesische Bevölkerung aber auch für die amerikanischen
Alliierten bezichtigten sich die Partner dann gegenseitig, die
wahren Schuldigen zu sein, die Einheitsfront zu verraten.
Nachdem indessen 1945 mit Japan der einzige Einigungsgrund
gänzlich weggefallen war, gab es bald kein Halten mehr. Ein
Wettrennen der beiden Parteien um die Beherrschung Chinas
begann, das begleitet wurde von zahllosen amerikanischen Vermittlungsbemühungen.
Bürgerkrieg 1945 bis 1949
Nach ihrer Ankunft in Nord-陕西 Sh|nx§ 1935 schien die
vollständige Beseitigung der Kommunistischen Partei und ihrer
Truppen nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die kläglichen Reste,
die die Flucht aus dem einst beeindruckenden, sogenannten
185
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Sowjetgebiet überlebt hatten, schienen keine Chance gegen die
Regierungstruppen zu haben. Japans Krieg gegen China ab
Sommer 1937 und der Sian-Zwischenfall vom Dezember 1936,
erlaubten es Tschiang Kai-schek jedoch nicht, den Beweis dafür
anzutreten, so daß Mao die nötige Zeit fand, in Nordchina erneut
einen Staat im Staate aufzubauen mit allen Zutaten, die dafür nötig
waren und die man schon aus der Zeit der frühen dreißiger Jahre
kannte. Hauptstadt dieses Staates wurde die Stadt 延安 Yán=~n,
Provinz 陕西 Sh|nx§.
Hier lebten ab 1936 Mao und die anderen KP-Führer ein für den
Außenstehenden anscheinend sehr einfaches, volkstümliches Leben. Man wohnte wie die Bauern in Erdhölen, die in die lehmigen
Berghänge gegraben waren, aß das Essen der Bauern und jeder
kannte jeden und ging mit jedem um, die Ideale eines Lebens in
Einfachheit und Gleichheit schienen verwirklicht. Schulen wurden
aufgebaut, später sogar eine Universität, es gab Theater- und
andere Kulturgruppen und Bildungsveranstaltungen aller Art, auf
denen nicht selten Mao selbst Vorträge hielt.
Der amerikanische Journalist Edgar Snow besuchte als erster
Ausländer das Gebiet und hatte dabei sehr viel Gelegenheit mit
Mao und den anderen Führern zu sprechen. Seine ausführlichen
Notizen und Beschreibungen, darunter eine Biographie Maos, die
dieser ihm selbst berichtet hatte, fanden Eingang in sein bis heute
berühmtes Buch Red Star over China, das einen gewaltigen Einfluß
auf die amerikanische Wahrnehmung der chinesischen Kommunisten nahm.
Trotz der sich gnadenlos in China entfaltenden japanischen
Kriegsmaschine hatten Mao und seine Getreuen in 延安 Yán=~n ein
paar Jahre Zeit und Muße, sich erstmals intensiv mit der ideologischen Parteivergangenheit, den zwanziger Jahren, auseinanderzusetzen, mit den damaligen Führern, denen die Fehler angelastet
wurden, endgültig abzurechnen und dabei wichtige Grundsteine
eines neuen, eigenständigen, chinesisch-kommunistischen Glaubensbekenntnisses auszulegen, auf denen die Partei grundsätzlich
bis heute ruht.
In zahlreichen Schriften dieser Zeit arbeitete Mao (mit Hilfe
186
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
seines Sekretärs 陈伯达 Chén Bódá) diese Basis aus, die vor allem
in einer sogenannten Massenlinie bestand, was bedeutete, daß die
Parteifunktionäre bei den chinesischen Bauern, der wichtigsten
Kraft für die Revolution, zu lernen hätten. Es gelang Mao, sich mit
dieser Linie in der Partei vollständig durchzusetzen und dabei alle
seine Gegner auszuschalten, bevor dies es mit ihm taten.
Auch dieser innerparteiliche Kampf zweier Linien , wie er fortan
genannt wurde, gehörte zu seinem Konzept des Parteilebens:
Immer gäbe es zwei Linien, eine rechte und eine linke, eine des
Opportunismus, der Anbiederung an den Feind, und eine des
Ungestüms und Abenteurertums, die miteinander um die Vorherrschaft in der Partei kämpften. Dies sei aber -so Mao, der damit
ganz in der Tradition der 阴阳 Y§n und Yáng-Theorie und des
Neokonfuzianismus stand- völlig normal: Nicht die Harmonie
treibe die Entwicklung voran, sondern der Kampf der Gegensätze,
die jedem Ding innewohnten. Von entscheidender Wichtigkeit sei
es, dies anzuerkennen und immer offensiv zu vertreten.
Die Mao-KP war somit in seinen Augen kein Hort der warmen
Gemeinsamkeiten, sondern ein Kampffeld politischer Auseinandersetzungen -路线斗争 lù xiàn d4u zh‘ng Linienkämpfe- die genau
das spiegeln, was auch den Kurs der Gesellschaft bestimme: die
Auseinandersetzung zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse: Klassenkampf.
So konnte jeder, der die falsche Linie vertrat und die Auseinandersetzung verlor, rasch zum Klassenfeind werden, obwohl er
eben noch Genosse gewesen war. Mao selbst hielt bis zu seinem
Tod 1976 an diesen Postulaten fest und wandte sie oft und stets
erfolgreich, zum Nachteil seiner innerparteilichen Gegner an.
Der im April 1945 in 延安 Yán=~n abgehaltene 7. Parteitag der
KP Chinas brachte diese Konsolidierungs- und Neuausrichtungsphase zu einem vorläufigen Abschluß und bestätigte dies durch die
Wahl Maos zum nun auch formalen Vorsitzenden des Zentralkomitees der Partei und die Aufnahme seiner politischen Ansichten
als 毛泽东思想 Máo ZédÇng s§ xi|ng Mao Zedong-Ideen in die
Parteisatzung.
Als die japanischen Truppen im Herbst 1945 überall in China
187
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
kapitulierten,
! stand die KP somit auf einem eigenständigen, den, wie sie sagte,
chinesischen Bedingungen angepaßten ideologischen Fundament,
! hatte den festen Willen zur Macht,
! verfügte über eine wiedererstarkte eigene Armee und
! mit der Sowjetunion, die die letzten Kriegstage genutzt hatte, in
der Mandschurei einzumarschieren, über einen helfenden Verbündeten nahebei.
Schon bei der Entwaffnung der ca. zwei Millionen japanischen
Soldaten (eine Million war der Sowjetunion in die Hände gefallen)
begann der Kampf mit der Regierung um die bessere Ausgangsposition für das, was unweigerlich kommen würde: der abschliessende Machtkampf um die Beherrschung Chinas.
Die USA beförderten zunächst über 100.000 Kuomintang-Regierungssoldaten in die süd- und ostchinesischen Küstenstädte, um
ihnen so rasch eine günstige Ausgangsposition zu verschaffen, und
entsandten gleichzeitig eigene Truppe unter anderem nach Peking
und 天津 Ti~nj§n, um hier die Stellung für die Regierung zu halten.
Im Nordosten demontierten derweil die Russen soviel von den
japanischen Industrianlagen, wie sie konnten und brachten sie in
die Sowjetunion, überließen aber gleichzeitig die japanischen Waffen der KP-Armee.
Bis 1947 hielten parallel dazu amerikanische Vermittlungsbemühungen zwischen KP und Kuomintang an, die darauf hinausliefen, daß beide Parteien die chinesische Regierung bilden sollten.
Höhe- und Ausgangspunkt dieser Aktivitäten war das Zusammentreffen der Todfeinde Mao und Tschiang zu den 重庆谈判
Chóngq§ng tàn pàn Verhandlungen in der Noch-Hauptstadt 重庆
Chóngq§ng am 28. August 1945. Freilich hatte keine der beiden,
von US-Botschafter Patrick Hurley an den Verhandlungstisch
gebrachten Seiten die Absicht, tatsächlich irgendwelche Gemeinsamkeiten zu vereinbaren. Mao war -wie Tschiang- überzeugt, über
188
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
die wahren Absichten des Partners genug zu wissen, um die
Gespräche nur als Mittel zu nutzen, der Öffentlichkeit dessen
Hinterhältigkeit zu beweisen.112
Kluge Truppenbewegungen der als Fanal am 1. Mai 1946 in
Volksbefreiungsarmee umbenannten kommunistischen Einheiten
und eine effektive Öffentlichkeitsarbeit auf der einen, kommunistischen Seite, bodenlos korrupte und despotische Verhältnisse in der Verwaltung sowie hohe Inflation und wirtschaftliches
Chaos auf der anderen, der Kuomintang-Regierungsseite führten ab
1947 dazu, daß die von der Regierung 共匪 gòng fi kommunistische Banditen genannten KP-Truppen ab 1947 zunehmend die
Oberhand in den Kämpfen erlangten.
Schon im Folgejahr 1948 gestand sich Tschiang die sichere
Niederlage ein und veranlaßte den Auf- und Ausbau der Insel 台湾
Táiw~n zum letzten Rückzugsgebiet113 der Regierung der Republik
China. Zu diesen Vorbereitungen gehörte die Übersiedlung von
Hunderttausenden verdienter Anhänger, Beamter, Militärs und
Funktionäre sowie zahlloser, in Tausenden Kisten verpackter historischer Schätze aus dem ehemaligen Kaiserpalast114, die bis heute
im 台湾故宫博物院 Táiw~n gù gÇng bó wù yuàn Taiwaner
Palastmuseum in Taipei ausgestellt sind. Sie sollten, nach der
Niederlage in China, der auf der Insel weitergeführten Republik
China als Legitimation dienen.
112
Eine sehr gute Übersicht über diese Periode bis zum Ende der
Republik China im Herbst 1949 gibt die vom US-State Department im August
1949 herausgegebene Sammlung offizieller US-Dokumente: United States
Relations With China, With Special Reference to the Period 1944-1949, die als
The China White Paper sehr bekannt wurde.
113
Die Insel, die von 1897 bis zur japanischen Kapitulation 1945 eine
japanische Kolonie gewesen war, hatte US-Präsident Roosevelt 1941 auf der
Kairoer Konferenz dem dort teilnehmenden und dies fordernden Tschiang Kaischek zugesprochen.
114
Die Preziosen, ca. 200.000 Stücke, Bilderrollen, Kalligraphien,
Porzellan etc., waren schon 1931, als offensichtlich geworden war, daß Japan
China besetzen wollte, aus dem Kaiserpalast heraus- und zunächst nach
Shàngh|i, dann nach
Sìchu~n, nach dem Ende des Krieges wieder nach
Nanking verbracht worden.
åæ
çè
189
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
In einer für alle Beteiligten wohl überraschenden Rasanz zerfiel
die Herrschaft Tschiang Kai-scheks ab dem Spätherbst 1948.
Von Norden kommend überrannten die kommunistischen Truppen das Land und die millionenstarke Nationalarmee in einem
atemberaubenden, von der Führung selbst nicht erwarteten glatten
Siegeszug: Im Oktober 1948 fiel die Stadt 长春 Chángchãn, im
Januar 1949 天津 Ti~nj§n, dann 北平 Bip§ng (Peiping). Die alte
(und bald wieder neue) Hauptstadt übergab der KuomintangKommandeur kampflos, was die desolate und aussichtslose Lage
der Regierung zeigte.
Am 25. März 1949 nahm die KP-Führung dort ihren Sitz.
Am 27. Mai fiel Chinas wichtigste und größte Stadt -上海
Shàngh|i. Im November 1949 wurde 重庆 Chóngq§ng genommen
und am 8. Dezember verkündete die Kuomintang-Regierung ihren
Rückzug nach Taipei. Tschiang Kai-schek trat von seinen Ämtern
zurück.
190
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
中华人民共和国
ZhÇng Huá Rén Mín Gòng Hé Guó
Volksrepublik China (1949 bis heute)
Der Sieges-Sturmlauf der KP-Truppen in den Jahren 1947, 1948
und 1949 war zunächst nicht das Resultat ihrer zahlenmäßigen
Überlegenheit im Vergleich zu Tschiangs Armee oder ihrer besseren Ausrüstung. Das Gegenteil war anfangs der Fall.
Eine bedeutsame Rolle spielten die klügere Strategie und Taktik
der Kommunisten, vor allem zu Beginn der offenen Auseinandersetzungen, als Tschiang Kai-schek seine weit überlegenen
Streitkräfte erneut gegen das von ihnen beherrschte Gebiet zusammengezogen hatte, um zu vollenden, was 1934 nicht gelungen war
- die 围剿 wéi ji|o Einkreisung und Ausrottung der KP-Truppen.
Dieses Vorhaben vereitelten außer Mao, der Vorsitzende des
Revolutionären Militärausschusses des Chinesischen Volkes115, und
朱德 Zhã Dé, der Oberbefehlshaber der Volksbefreiungsarmee116,
auch die Kommandeure der großen kommunistischen Operationen
gegen die Tschiang-Armee, die zwischen Frühjahr 1947 und Herbst
1948 den Bürgerkrieg militärisch entschieden. Zu nennen sind
hier:
! 彭德怀 Péng Déhuái und 贺龙 Hè Lóng, Kommandeure der
Nordwestarmee, die im März 1947 mit einer List die Offensive
der Regierungstruppen im Raum 延安 Yán=~n zerschlug.
! 林彪 Lín Bi~o, Befehlshaber der ersten großen
kommunistischen Operation, der West- 辽宁Liáonìng- 沈阳
Shnyáng-Operation, die so viele Kuomintang-Truppen in
Nordostchina vernichtete, das erstmals eine zahlenmäßige Überlegenheit der KP gegeben war, die nun überdies die riesige
Mandschurei besaß und dort direkten Kontakt zur Sowjetarmee
115
yuán huì.
116
‹‘éstšêëìÊíî zhÇng guó rén mín gé mìng jãn shìw‘i
‹‘éïðšñòó zhÇng guó rén mín jifàng jãn z4ng s§ l0ng.
191
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
bekam. Dieser Sieg schuf die Voraussetzungen für den
folgenden Aufmarsch gegen 天津 Ti~nj§n und Peking Ende
1948.
! 陈毅 Chén Yì, Befehlshaber der 淮海 Huái H|i-Operation, die
im Herbst 1948 Ostchina in die Hand der KP brachte. Im Ergebnis standen ihre Truppen damit vor den Toren der KuomintangHauptstadt Nanking. Diese erfolgreiche Operation hatte den de
facto Zusammenbruch der Regierungsarmee und den Rücktritt
Tschiangs zur unmittelbaren Folge.
Alle diese Truppenführer spielten in den ersten zwanzig Jahren der
Volksrepublik China eine wichtige innenpolitische Rolle im
Machtgefüge der Partei, bis Mao sie ab Ende der 50er Jahre einen
nach dem anderen entmachtete, weil sie nicht (mehr) mit seinen
politisch-revolutionären Vorstellungen, die auf eine völlige Beseitigung der überkommenen chinesischen Kultur zielten, übereinstimmten (s.u.).
Die bedeutendste Ursache für Maos raschen militärischen Erfolg
im Bürgerkrieg war jedoch die Tatsache, daß Tschiang Kai-scheks
Regime -nach einer Phase der Hoffnung, die auf die japanische
Kapitulation folgte- seine Herrschafts-Legitimation sehr schnell
und weitgehend in der chinesischen Bevölkerung, in seiner Armee,
bei den Soldaten und schließlich auch bei der amerikanischen
Regierung verspielt hatte.
Im letzten Jahr der Republik China lag die Wirtschaft des
Landes, das sich de facto seit den frühen zwanziger Jahren
unablässig im Kriegszustand (mit sich selbst oder mit Japan)
befunden hatte, in Trümmern. Die Inflation schoß in immer neue
Höhen, Korruption und Willkür der Beamten und Parteifunktionäre
aller Ebenen waren in den Augen vieler grenzenllos geworden und
ein wichtiger Grund dafür, daß Hoffnungslosigkeit mit Blick auf
die eigene Zukunft, aber auch die des Landes grassierte. Der
Zustand entsprach ganz demjenigen, der in der Geschichte Chinas
immer zum 革命 gé mìng Entzug des Mandats des Himmels geführt
hatte. Nur hieß 革命 gé mìng inzwischen, so weit war China bereits
modernisiert: Revolution.
192
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Im Vergleich dazu gab die Kommunistische Partei in ihrer
scheinbaren Schlichtheit ein Bild der Unschuld, des Redlichen und
Unverdorbenen ab.
Das war die Situation, in der die KP die Macht über das
bevölkerungsreichste Land der Erde übernahm. Am 1. Oktober
1949 rief Mao in Peking, vom Rostrum des 天安门 Ti~n=~nmén
den neuen chinesischen Staat aus, die Volksrepublik China. In
seiner Rede sagte er den Satz, auf den viele gewartet hatten und der
bis heute die -inzwischen selbstverständliche- Leitlinie chinesischer Politik abgibt: 中国人民站起来了 zhÇng guó rén mín zhàn
q0 lái le - das chinesische Volk ist aufgestanden. Mit anderen
Worten: In China bestimmen nun Chinesen, niemand sonst. Von
jetzt ab muß die restliche Welt die Würde China anerkennen und
sich dem Land gegenüber entsprechend verhalten.
Eine neue Gesellschaft scheitert (1949 bis 1971)
Eine andere, bis heute sehr gängige Metapher für das, was
geschehen war, ist die Bezeichnung des neuen Staates als 新中国
x§n zhÇng guó - Neues China. Die Nation, ein Viertel der
Menschheit, war nun, vierzig Jahre nach dem Sturz der mandschurischen Fremd-Dynastie, erstmals wieder unter einer effektiven, das ganze Land beherrschenden Zentralmacht geeint und
nach gut 150 Jahren außerdem frei von jeglicher ausländischer
Einmischung in seine staatlichen Belange. Wie würde sich das ganz im Sinne Napoleons 1817- nun aufgeweckte und wache
Riesenland entwickeln? Und welche Konsequenzen würde das für
den Rest der Welt haben?
Die neuen Herrscher hatten in den vergangenen zwei Jahrzehnten ihres Kampfes viele praktische Erfahrungen im Verwalten eines
Gemeinwesens gesammelt und wußten daher recht gut, wie Macht
zu organisieren war. Sie hatten sozusagen einen fliegenden Start:
Vom ersten Tag an besaßen sie eine eigene Armee, einen eigenen
Geheimdienst, Schulen und Universitäten, eine landesweit arbeitende, zentral und militärisch geführte Parteiorganisation sowie politische Institutionen, die ihren Herrschaftswillen umsetzten. Die
Jahre des Überlebenskampfes hatten sie überdies äußerst vorsich193
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
tig, mißtrauisch und gnadenlos gemacht - Tugenden, die sie -bei
Strafe des Untergangs- einzuhalten fest entschlossen waren.
Die neuen Herrscher besaßen aber nicht nur diese Mittel, sondern auch eine westliche Ideologie und soziale Vorstellungen, wie
das Neue China aussehen sollte - letztlich so wie die Sowjetunion:
sozialistisch und kommunistisch und vor allem: industrialisiert
Am Beginn der radikalen Umgestaltung Chinas stand außerdem
die Liquidierung der Träger des Alten China, die sozialen Stützen
der Gesellschaft, die seine Struktur ausgemacht und seine
legitimatorische Ideologie bestimmt hatten, der sogenannten Eliten
in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft (hier vor allem Großgrundbesitzer, Industrielle gab es nur wenige). Sie wurden zu Beginn der
fünfziger Jahre politisch ganz und physisch fast vollständig
ausgeschaltet.
In dieser Radikalität lag ein wichtiger Unterschied zu früheren
Dynastiewechseln, als auch einfache Bauern, untere Beamte oder
Militärführer die Macht übernommen hatten, der personale Herrschaftsapparat der Vorgänger jedoch erhalten blieb und die chinesische Kontinuität auch äußerlich bewahrte.
1949 jedoch war ein vollständiger Neuanfang. Die Gründung
der Volksrepublik China markierte einen radikalen Bruch mit der
bisherigen chinesischen Gesellschaft. Den neuen Herren war -nicht
zuletzt aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung am MarxismusLeninismus- abei auch klar, daß es nun darauf ankam, die sogenannten Produktivkräfte zu entwickeln, das legitimatorische Hauptziel des Kommunismus. Sie wollten China unter allen Umständen
industrialisieren. Nur aus dieser Quelle würde ihnen die Kraft
zuwachsen, auf der Bühne der Nach-Weltkriegsmächte zu agieren,
sich selbst und China (wieder) zu anerkannten, gleichberechtigten
und eines Tages auch globalen Mitspielern zu machen, die Schande
der letzten einhundert Jahre abzuwaschen. Und China vielleicht
sogar zur Nummer Eins zu machen?
Im Rahmen ihrer politischen Reorganisation des Staates ersetzte
die KP-Führung die alten Herrschaftsstrukturen durch ihre neuen,
am sowjetischen Vorbild orientierten und seit den dreißiger Jahren
in den sogenannten befreiten Gebieten schon vor 1949 jahrelang
194
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
eingeübten.
Drei Institutionen spielen hier -von Städten über Kreise,
Provinzen bis hinauf zur nationalen Ebene- auch heute noch die
maßgebliche Rolle:
! 中国共产党 ZhÇng Guó Gòng Ch|n D|ng - Kommunistische
Partei Chinas. Sie ist mit heute ca. 70 Millionen, in sogenannten Zellen an ihren Arbeitsplätzen -Unternehmen, Büros,
Organisationen, Ämtern, Schulen, Universitäten etc. organisierten Mitgliedern die alles bestimmende Kraft im Lande. Die
Partei ist nach dem Lenin=schen Prinzip strikt hierarchisch
aufgebaut, die obere Einheit befiehlt der unteren, ihre Beschlüsse müssen ausgeführt werden, ob man sie individuell teilt oder
nicht. Nominell höchstes Gremium ist der 中国共产党全国
代表大会 zhÇng guó gòng ch|n d|ng quán guó dài bi|o dà huì
Parteitag, der unter Mao nur sehr unregelmäßig, seit seinem
Tod aber alle fünf Jahre zusammentritt. In der Zeit dazwischen
trifft sich das vom Parteitag gewählte 中央委员会 zhÇng y~ng
wi yuán huì Zentralkomitee (ZK) der Partei (meist einmal
jährlich, im Herbst). Öfter tritt das vom ZK gewählte 中央政
治局 zhÇng y~ng zhèng zhì jú Politbüro des Zentralkomitees
zusammen, noch öfter der 中央政治局常务委员会 zhÇng y~ng
zhèng zhì jú cháng wù w‘i yuán huì Ständige Ausschuß des
Politbüros des Zentralkomitees, in dem heute die neun höchsten
Machthaber Chinas sitzen, die über alles im Lande entscheiden
(können). Bei der Machtübernahme der KP im Jahre 1949
gehörten diesem Gremium nur fünf Personen an: 毛泽东 Máo
ZédÇng, 刘少奇 Liú Sh|oqí, 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, 朱德 Zhã Dé
und 陈云 Chén Yún. Später kam auch 邓小平 Dèng Xi|op§ng
(als Generalsekretär) dazu.
! 全国人民代表大会 quán guó rén mín dài bi|o dà huì Nationaler Volkskongreß. Dies ist das Parlament Chinas bzw.
der jeweiligen Gebietskörperschaft. Auf nationaler Ebene tritt
es jährlich (im Frühjahr) für zwei Wochen zusammen, alle fünf
Jahre erfolgt eine sogenannte Neuwahl (ohne daß es freilich
einen landesweiten oder überhaupt einen öffentlichen Wahl195
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
kampf gibt bzw. andere Parteien sich um Sitze bewerben könnten). Während dieser Tagungen hören die ca. 3.000 Abgeordneten den Bericht der Regierung den der Premier vorträgt, und
diskutieren anschließend in diversen sogenannten 工作小组
gÇng zuò xi|o zß Arbeitsgruppen. Der Volkskongreß verabschiedet die national gültigen Gesetze und wählt die Regierung
Chinas, den sogenannten 国务院 guó wù yuán - Staatsrat
(Kabinett), dem die Ministerien als Abteilungen unterstehen,
sowie den 总理 z4ng l0 Premierminister (Ministerpräsident,
entspricht dem Bundeskanzler) und den 国家主席 gu4 ji~ zhß
xí Staats-Vorsitzenden (= Präsidenten, Staatsoberhaupt). Zwischen den Tagungen des Volkskongresses übernimmt der
Ständige Ausschuß des Nationalen Volkskongresses die Zuständigkeit des Parlaments. Der Vorsitzende des Ständigen Ausschusses (= Parlamentspräsident) ist die No. 2 in der chinesischen Machthierarchie, nach dem Staatsvorsitzenden und vor
dem Premier. Der Volkskongreß beschließt selbstverständlich
nur, was die KP-Führung (= neun Mitglieder des Ständigen
Ausschuß des Politbüros des Zentralkomitees) gutheißt.
! 中国人民政治协商会议 zhÇng guó rén mín zhèng zhì xié shàng
huìyì - Politische Konsultativkonferenz des chinesischen
Volkes. Die Organisation, die ähnlich strukturiert ist wie der
Volkskongreß (mit Ständigem Ausschuß, Ablegern auf Provinzund darunter liegenden Ebenen etc.) dient offiziell als ein die
regierende und alles bestimmende KP -vom Nicht-Kommunistischen-Standpunkt aus beratendes Organ und hat seine
Wurzel bereits in der Zeit vor 1949. In der Konsultativkonferenz
sind deshalb bekannte Persönlichkeiten als Ehrenmänner/frauen aus (Privat-)Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft
vertreten, die nicht unbedingt KP-Mitglieder sind. Seit der
Gründung der Konsultativkonferenz dient das Gremien der
Partei dazu, eine sogenannte 统一战线 t4ng y§ zhàn xiàn
Einheitsfront mit Nicht-Kommunisten herzustellen, um so der
KP-Alleinherrschaft eine Schein-Legitimation als von allen
Bevölkerungsgruppen unterstützte herrschende Partei zu verschaffen.
196
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Zügig brach die Partei zu Beginn der 50er Jahre zunächst den
verbliebenen politischen Widerstand und brachte anschließend das
Finanzwesen (Banken, Versicherungen), die Industrie und den
Handel unter ihre Kontrolle.
Diesen Zwecken dienten in den Jahren 1950 bis 1952 die beiden
ersten einer ganzen Reihe noch folgender sogenannter Massenbewegungen, die alle nach dem gleichen, von Mao in den vierziger
Jahren in 延安 Yán=~n entwickelten Schema abliefen:
! Die KP-Führung definiert eine negative Auswahl von Personen
oder Gruppen (zum Beispiel Kapitalisten, Spekulanten, Steuerhinterzieher, Abweichler von der offiziellen Parteilinie oder
Konterrevolutionäre etc. und
! brandmarkt sie und ihr angebliches Tun in der Öffentlichkeit als
negative Taten/Pläne einer kleinen Minderheit gesellschafts/parteischädlicher Elemente.
! Auf dieser Basis putschen die Propagandawerkzeuge wie
Zeitungen, Radio, Lautsprecheranlagen etc. und die Parteifunktionäre aller Ebenen vor Ort sodann die übrige Bevölkerung
(auch zum Beispiel Angehörige der Beschuldigten) im Rahmen
großer und kleiner Veranstaltungen auf (an denen die
bekämpften Personen oft selbst als Beschuldigte teilnehmen).
Sie werden hier kritisiert und von den Massen verurteilt bis sie
keinen Einfluß mehr in der Gesellschaft haben, entweder weil
sie sozial diskreditiert oder wirtschaftlich enteignet sind, ihre
Positionen verloren haben oder -alles zusammen- tot sind.
Im Rahmen der 镇压反革命运动 zhèn y~ f|n gé mìng yùn dòng
Bewegung zur Unterdrückung der Konterrevolutionäre (1950), der
ersten vieler noch folgender solcher Bewegungen im Landesmaßstab, nahm die KP -vor allem in den Dörfern- ihre Feinde aus
dem Bürgerkrieg ins Visier und entmachtete sie vollends: Kuomintang-Funktionäre, sogenannte Großgrundbesitzer und andere.
In den Jahren 1951 und 1952 folgte dann -vor allem in den grossen Städten- die sogenannte 三反五反运动 s~n f|n wß f|n yùn
dòng Drei-Anti und Fünf-Anti Bewegung, die die Enteignung der
197
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
industriellen und Handels-Kapitalisten zum Ziel hatte und ebenfalls
nach dem Schema der Massenmobilisierung organisiert war.
Trotz der schädlichen Rolle, die die sowjetische Führung (konkret: Stalin) während der gesamten Zeit des militärischen Machtkampfes in China für die KP gespielt hatte, und trotz des Kurses
der Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die die chinesische Parteiführung um Mao deshalb seit den vierziger Jahren grundsätzlich
verfolgte, sah sie nach der Machtergreifung die Sowjetunion als
ihren besten und natürlichen Verbündeten an.
Nur wenige Wochen nach der Ausrufung der Volksrepublik
reiste Mao selbst deshalb schon im Dezember 1949 per Zug nach
Moskau, um dort über die zukünftige Zusammenarbeit, konkret:
Hilfe, zu verhandeln. (Es war seine erste Auslandsreise überhaupt,
der 1957 nur noch eine zweite, ebenfalls nach Moskau, folgte.)
Zu diesem Zeitpunkt war der Kalte Krieg zwischen den
ehemaligen Kriegsalliierten USA und UdSSR bereits ausgebrochen
(Berlin Blockade 1948-49) und Moskau kam ein Verbündeter von
der Größe und zentralen Rolle Chinas in Asien gerade recht, um
dort gegen die USA in die Vorhand zu kommen.
In Washington hatte derweil die Niederlage Tschiang Kaischeks gegen Mao tiefe Gräben zwischen Regierung und Opposition, aber auch in der sehr großen sinophilen amerikanischen
Öffentlichkeit gerissen und eine heftige Debatte darüber verursacht, wer Schuld sei am Verlust Chinas117.
Die offizielle China-Linie der amerikanischen Regierung zur
Jahreswende 1949/50 war deshalb eine der Neutralität - natürlich
die Abwendung vom kommunistischen China, aber auch ein enttäuschtes Fallenlassen des ehemaligen engen, wichtigen und so
stark geförderten Verbündeten Tschiang Kai-schek auf Taiwan.
Washington war in bezug auf China paralysiert.
Am 5. Januar 1950 verkündete US-Präsident Truman, daß seine
117
Ausdruck dieser heftigen Auseinandersetzung war das sogenannte
China White Paper (offiziell: United States Relations With China), das die
Trueman-Regierung herausgab, um mit einer Unmenge auch interner und
diplomatischer Papiere zu beweisen, daß sie nicht Schuld war am Verlust Chinas.
Die Dokumente druckte die Stanford University Press 1967 nach.
198
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Regierung sich nicht in den chinesischen Bürgerkrieg einmischen
werde und Taiwan (Formosa) -wie auf der Konferenz von Kairo118
beschlossen- als zu China gehöriges Territorium ansehe. Vor
diesem Hintergrund mußten alle Beteiligten -Stalin, Mao,
Tschiang- davon ausgehen, daß die Vereinigten Staaten sich einer
Invasion Taiwans durch Pekinger Truppen nicht widersetzen
würden. Allerdings vermied es die US-Regierung unter dem
Einfluß prominenter Tschiang-Freunde weiterhin, den neuen Staat,
die Volksrepublik China, diplomatisch anzuerkennen. Nicht nur
das: Der amerikanische UNO-Vertreter im Sicherheitsrat stimmte
auch nicht dem sowjetischen Antrag zu, den Tschiang Kai-schek/
Republik China-Vertreter dort auszuschließen, wie es die KP seit
Herbst 1949 immer wieder verlangte. Und als am 13. Januar 1950
ein erneuter Ausschluß-/Aufnahme-Antrag Pekings im Sicherheitsrat (eingebracht über die Sowjetunion) am US-Veto scheiterte,
verkündete die Sowjetunion, daß sie das Gremium nun solange
boykottieren werde, wie der Tschiang-Kai-schek-Vertreter dort den
Platz Chinas einnehme.
Zu diesem Zeitpunkt hielt sich
Mao immer noch in Moskau auf,
wo er insgesamt fast drei Monate
blieb und damit den wohl längsten
Staatsbesuch aller Zeiten absolvierte. Anders als viele im Westen, die hier zwei Freunde an
keinem guten Werk arbeiten
Mao und Stalin in Moskau, 1950.
sahen, mißtraute aber Stalin dem
Sieger im chinesischen Bürgerkrieg sehr und war nicht so ohne
weiteres bereit, Mao mit allzufreigiebiger Hilfe zur Seite zu treten.
Mao seinerseits hatte seit dem Ende der zwanziger Jahre genügend
schlechte Erfahrungen mit Stalins China-Politik gemacht, um nicht
118
Kriegskonferenz zwischen den USA (Roosevelt), Großbritannien
(Churchill) und China (Tschiang Kai-schek) in Kairo, die in einem kurzen
Kommuniqué vom 1. Dezember 1943 verkündete, daß die seit 1895 japanisch
besetzte Insel Formosa /(Taiwan) nach der japanischen Kapitulation an China
zurückzugeben sei. Darauf hatte Tschiang Kai-schek bestanden.
199
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
auf der Hut zu sein. Mit großer Beharlichkeit und viel Geduld
gelang es ihm und dem schließlich nachgereisten 周恩来 ZhÇu
÷nl|i, Stalin einen 30jährigen Vertrag über Freundschaft und
gegenseitige Hilfe abzuringen, der China Kredite und umfangreiche
sowjetische Wirtschaftshilfe beim Aufbau der für entscheidend
wichtig gehaltenen Schwerindustrie zusagte.
Das westliche Lager aber nahm diese Vereinbarung und erst
recht den ungewöhnlich langen Aufenthalt Maos in Moskau als
Ausdruck besten Einvernehmens, enger Zusammenarbeit und fester
Verbundenheit zweier kommunistischer Bruderstaaten wahr und
begann in dem Block eine Bedrohung zu sehen. Dieses Gefühl
wurde zur Gewißheit, als Ende Juni 1950 Truppen des sowjetisch
beeinflußten Nordkoreas die Trennlinie zum (amerikanisch
beeinflußten) Südkorea überschritten und diesen Landesteil innerhalb kürzester Zeit überrollten.
Die USA reagierten sofort und brachten im UNO-Sicherheitsrat
eine Resolution durch, die militärische UN-Hilfe für Südkorea
legitimierte (die Sowjetunion war wegen ihres Boykotts nicht
anwesend, so daß sie kein Veto einlegen konnte). Weiterhin redefinierte die Truman-Administration umgehend die Sicherheitsinteressen der USA in Asien neu, die nun, in Abkehr von dem, was
erst ein paar Monate zuvor verkündet worden war, die Insel
Taiwan mit einschlossen. Auf dieser Basis entsandte Washington
sodann zum Schutz Taiwans vor einer chinesischen Invasion die 7.
Flotte in die 台湾海峡 Táiw~n h|i xiá Taiwan Straße, um eine
Invasion der Insel durch die KP-Truppen zu verhindern.
Kaum jemand im Westen hatte zu diesem Zeitpunkt einen
Zweifel daran, daß der nordkoreanische Blitzkrieg von Moskau und
Peking, womöglich gemeinsam während des langen Mao-Besuches,
geplant worden war. Das Neue China stand als aggressive Macht
da!
Vollends in den Status eines internationalen Paria (für den
Westen) fiel es dann im Oktober 1950, als Millionen-Mann starke
chinesische Truppen (sogenannte Volksfreiwillige) den Grenzfluß
鸭绿 Y~lù nach Nordkorea überquerten, um die gegen die UNO/US-Truppen, mittlerweile in große Bedrängnis geratene nordko200
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
reanische Invsionsarmee militärisch zu unterstützen. Unter riesigen
Opfern gelang es den Chinesen auch tatsächlich, die UNO-/USStreitmacht, die schon weit im Norden Koreas, unweit der
chinesischen Grenze stand, wieder hinter die ursprüngliche
Trennlinie des 38. Breitengrades zurückzudrängen, wo sich die
Front bis heute eingefroren ist.
Für die internationale Position Chinas wie auch für seine
politische und wirtschaftliche Entwicklung hatte das aktive
militärischen Eingreifen in den Koreakrieg einschneidende Folgen.
Vor allem in dieser Hinsicht:
! es verzehrte die letzten wirtschaftlichen Kräfte des von jahrelangem Bürgerkrieg und japanischer Besetzung ohnehin ausgelaugten Landes;
! es führte zur jahrzehntelangen Isolierung Chinas von den
westlichen Industriestaaten, denn Peking wurde als militanter
Aggressor (gefährlicher noch als die Russen) gesehen und mit
wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen belegt;
! die KP in Peking ihrerseits fühlte sich und ihr Regime fortan
akut von außen bedroht und verschärfte deshalb Tempo und
Drastik der Unterdrückung und Kontrolle im Inland;
! China stand nun fest im sowjetischen Block, dem einzigen Verbündeten (wie Mao später sagte, beseitigte das aktive Eingreifen
in Korea Stalins Mißtrauen ihm gegenüber);
! Taiwan bzw. das Tschiang-Kai-schek Regime, das dort als
Republik China die Legitimität der chinesischen Regierung
bedrohte und herausforderte, erlangte die diplomatische, militärische und politische Unterstützung der Vereinigten Staaten,
wurde zum Verbündeten, blieb als Vertreter Chinas im Sicherheitsrat der UN und behielt diese herausgehobene Position zu
den USA 20 Jahre lang bis 1971.
Innenpolitisch hingegen trug der Erfolg der chinesischen Streitkräfte in Korea zu einem immensen Ansehens- und Legitimitätsschub des KP-Regimes bei: Erstmals seit 1840 hatten
chinesische Streitkräfte eine militärische Auseinandersetzung mit
201
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
dem Imperialismus gewonnen - noch dazu gegen die stärkste
Macht der Welt, die USA.
Völlig vom Westen isoliert, nur auf die Sowjetunion gestützt,
aber mit einem stark aufgebauten Selbstbewußtsein machten sich
die in Peking Regierenden nach dem Abschluß des Waffenstillstandsvertrages in Korea (27. Juli 1953) daran, ihre innenpolitischen und wirtschaftlichen Vorstellungen für China in die Tat
umzusetzen.
Eng an das sowjetische Vorbild angelehnt begann der
wirtschaftliche Umbau Chinas 1953-1957 mit dem 第一个五年
计划 dì y§ ge wß nián jì huà Ersten 5-Jahrplan konkrete Gestalt
anzunehmen. Die Entwicklung einer Schwerindustrie stand dabei
im Mittelpunkt. Wie eine Fabrikleitung wollte die Parteiführung
fortan die wirtschaftlichen Entwicklungen des Riesenlandes planen
und steuern. Die Investitionen sollten sich dabei so verteilen:
! Gesamtinvestitionen: 76,6 Mrd. Yuan (was dem damaligen Wert
von von 20.000t Gold entsprochen haben soll119).
! 56 Prozent davon sollten in den Aufbau industrieller Grundlagen und der Infrastruktur, sogenannter 基本建设 j§ bn jiàn
shè, Investbau120, gehen.
! Nur rund acht Prozent hingegen waren für die Entwicklung der
Land-, Forst- und Wasserwirtschaft vorgesehen.
Die nötigen Ressourcen für die industrielle Entwicklung im
Eiltempo sollte also die Landwirtschaft liefern, die, um einen
effektiven Zugriff auf ihre Ressourcen zu ermöglichen, deshalb
unter die Kontrolle der Partei(funktionäre) gebracht werden mußte.
Aus diesem Grund konzentrierte sich die Führung darauf, die
119
Im Report on the First Five-Year Plan For The Development of The
National Economy of The People=s Republic of China (Peking 1955) sprach der
L0 Fùchãn von 700 Millionen
damalige Vize-Premier und Planungschef
taels (li|ng, eine alte Währungseinheit Chinas) Gold. Bei einem tael = 28g ergibt
sich diese Zahl.
³ô¾
120
Ein Begriff aus der sozialistischen Wirtschaftswelt ohne genaue
Entsprechung im Westen. Engl.: capital construction.
202
õ
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Verhältnisse auf dem Land als erstes so umzugestalten, daß ihre
Helfer diesen Zugriff auch bekamen.
Zunächst ging es gegen Konterrevolutionäre, gegen die sogenannten Großgrundbesitzer und reichen Bauern. Mit Hilfe der zu
diesem Zweck aufgeputschten und organisierten armen Bauern und
Landarbeiter, die bislang von diesen Leuten drangsaliert und ausgebeutet worden waren, wurde das im wesentlichen 1950/51 zuwege
gebracht. Schätzungen variieren von einigen hunderttausend Toten
bis zu einigen Dutzend Millionen.
Auf dem ganzen chinesischen Land waren im Ergebnis die seit
Jahrhunderten gültigen sozialen Hierarchien auf den Kopf gestellt,
die herrschend Klasse sogar weitgehend physisch beseitigt, in
jedem Fall aber enteignet und entmachtet. Viele Millionen arme
Bauern und Landarbeiter waren von der KP auf diese Weise zu
(Mit-) Tätern gemacht worden. Zur Belohnung erhielten diese
Bauern nun den Ackerboden der Entmachteten und Liquidierten
zugeteilt.
Dies war freilich nur ein Geschenk auf Zeit, denn die
Kommunistische Partei verfolgte keineswegs das Ziel, fortan mit
vielen hundert Millionen kleiner Einzelbauern zum Sozialismus zu
kommen. Schon kurze Zeit später begannen die Parteifunktionäre
daher, diese neuen und die verbliebenen alten Individualbauern
dahingehend zu bearbeiten, daß sie sich in sogenannten 农业合作
nóng yè hé zuò Kooperativen zusammentaten. Dort wurden ihre
gerade übereigneten Ressourcen -Boden und Geräte- in größeren
Einheiten zusammengeführt - kollektiviert, im Klartext: ihnen
wieder weggenommen. Die Entlohnung der Mitglieder solcher
landwirtschaftlichen Fabriken erfolgte zunächst auf Basis ihres
Anteils, also der von ihnen eingebrachten Ressourcen wie Land,
Gerätschaften und Tiere sowie ihrer täglichen Arbeitsleistung im
Kollektiv.
Die Verwaltung der Kollektive jedoch nahmen Perteifunktionäre
in die Hand, für die das Ganze somit eine Pfründen-Beschaffung
erster Güte war. Sie hielten nun die Verfügungsgewalt über
sämtliche landwirtschaftliche Ressourcen Chinas in den Händen,
was -zusammen mit dem staatlichen (= partei-eigenen) Aufkauf203
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
System eine wichtige Vorbedingung für die Auspressung des Landes zugunsten der Industrialisierung darstellte.
Schon 1954 aber forcierten die KP-Funktionäre den Übergang
zu einer noch größeren Zentralisierung (Kooperation), indem sie
die Entlohnung ausschließlich aufgrund der persönlichen Arbeitsleistung der Mitglieder vornahmen. Der Bezug auf ihren einstigen
Besitz ging den Bauern verloren, und so wurden aus ehemals
unabhängigen Bauern de facto Landarbeiter, deren Fabriken
(Eigentümer: die Parteifunktionäre) 生产队 sh‘ng ch|n duì Produktionsgruppen hießen oder 生产大队 sh‘ng ch|n dà duì
Produktionsbrigaden. Ihren gerade erhaltenen Besitz hatten diese
Proletarier nun wieder verloren. Gewonnen hatten sie dafür Gruppen- und Brigadeleiter -Vorgesetzte- in Form von Parteifunktionären, die auch politisch und gesellschaftlich das Sagen auf dem
Lande übernahmen.
Zusammen mit der Beseitigung der alten herrschenden Klasse
war so, schon etwa Mitte der fünfziger Jahre, eine völlige
Umwälzung der ländlichen Gesellschaft Chinas vollzogen und
durch die große Zahl physischer Liquidierungen dabei sichergestellt, daß die alten Verhältnisse so schnell nicht wiederkommen
würden. Alles Land gehörte (und gehört) dem Staat = der Parteiführung.
Parallel zu dieser rasch und reibungslos vonstatten gehenden
Umgestaltung der Verhältnisse auf dem Land brachten die
Parteifunktionäre den Getreide- und anderen landwirtschaftlichen
Handel unter ihre Kontrolle. Fünf bis zehn Prozent der Ernte
mußten die Kollektive fortan als Steuern abgeben. Einen geringen
Teil behielten die Arbeiter des Kollektivs für die eigene Ernährung.
Der verbleibende größte Teil aber mußte staatlichen Aufkäufern zu
einem vom Staat, also dem Käufer, festgesetzten Preis verkauft
werden.
Auf diese Weise, durch Auspressung der Landwirtschaft,
gewann die KP die Mittel für die industriellen Pläne ihres 1. Fünfjahrplanes, ein Prozeß, der ganz und gar der sogenannten
ursprünglichen Akkumulation entsprach, die zu Beginn der
Industrialisierung Englands im ausgehenden 18. Jahrhundert die
204
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
nötigen Investitionssummen für die neu entstehenden, mit teuren
Dampfmaschienen betriebenen Textilfabriken zusammenbrachte allerdings ohne Parteifunktionäre.
Die Reibungslosigkeit, mit der diese radikale Umgestaltung der
chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft vonstatten ging, ermutigte vor allem Mao, den noch unangefochtenen Herrscher Chinas,
der von einem sozialistischen Aufschwung auf dem chinesischen
Lande121 sprach, auf diesem vermeintlich erfolgreichen Weg
weiterzugehen und dabei die Gangart noch drastisch zu verschärfen. Denn Mao hatte noch wesentlich mehr vor: die Zertrümmerung
der chinesischen Welt, ganz so, wie es viele der ersten Reformer
um 1900 in ihrer Verzweifelung bereits gewollt hatten. Sein
Werkzeug war ihm die kommunistische Ideologie, wie er sie
verstand und in den ruhigen Jahren in 延安 Yán=~n kodifiziert
hatte.
Genau hier aber tat sich Mitte der 50er Jahre ein unvorhergesehnes Problem auf: Politische Entwicklungen in der sowjetischen KP schienen ihm genau dieses Werkzeug zu schwächen.
Der sowjetische Parteiführer Chruschtschow, der nach einem
kurzen Macht-Gleichgewicht nach Stalins Tod (März 1953) in
Moskau bestimmte, rechnete im Februar 1956, in einer
nichtöffentlichen, nicht mit den anderen Parteien abgesprochenen,
geheimen Sitzung während des XX. Parteitages der sowjetischen
KP mit dem bis dahin als Gott verehrten Stalin als einem der
schlimmsten und blutrünstigsten Despoten der Menschheitsgeschichte ab.
Obwohl Mao fast von Beginn seiner revolutionären Laufbahn
an allen Grund hatte, Stalin wegen seiner der KP Chinas nur
schadenden Politik zu kritisieren, begrüßte er Chruschtschows
Verdammung keineswegs. Im Gegenteil ahnte er wohl, daß hier die
Axt an die Wurzeln nicht nur des sowjetischen Systems gelegt
worden war und der sensationelle Geheimbericht in der Folge das
gesamte sogenannte sozialistische Lager, den Ostblock, erschüttern
121
cháo.
ö÷øùúûüýþÿ
zhÇng guó nóng cãn de shè huì zhß yì g~o
205
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
würde, auf dessen Unterstützung China dringend angewiesen war.
Parteiintern sprach sich Mao deshalb von Anfang an scharf gegen
das Vorgehen Chruschtschows aus und verhinderte, daß die chinesische Partei der sowjetischen folgte, die nun eine umfassende
Entstaliniserung in Angriff nahm, den Anfang vom langen Ende
des Regimes.
Am 5. April 1956, nicht lange nach Chruschtschows Geheimbericht, veröffentlichte das Parteiorgan 人民日报 Rén Mín Rì Bào
Volkszeitung deshalb einen von Mao inspirierten Leitartikel, der
sich deutlich kritisch mit dessen Stalin-Kritik auseinandersetzte122.
Tatsächlich kam es im Sommer 1956 in Polen und stärker noch im
Herbst in Ungarn zu anti-kommunistischen Aufständen, die die
sowjetische Armee militärisch niederschlagen mußte, um Polen und
Ungarn nicht verloren gehen zu lassen (Ungarn wollte zum
Beispiel aus dem Warschauer Pakt austreten).
Mao sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, lobte das
Vorgehen der sowjetischen Armee in Ungarn ausdrücklich und ließ
im Dezember 1956, wieder im Parteiorgan Volkszeitung, einen
zweiten, ebenfalls von ihm autorisierten Artikel veröffentlichen,
der sich, immer noch verhüllt, aber wieder sehr kritisch mit dem
Vorgehen Chruschtschows auseinandersetzte, und es auch für die
Vorgänge in Polen und Ungarn verantwortlich machte123. Ein
unerhörter, wenn auch noch nicht öffentlicher Vorgang, der freilich
in Moskau nicht unbemerkt geblieben war.
Für Mao war ab jetzt klar, daß sich gefährliche Risse im sogenannten sozialistischen Lager zeigten. In seinen Augen begann die
sowjetische KP, die Übermutter aller Kommunistischen Parteien
der Welt, mit der Kritik an Stalin eine Richtung einzuschlagen, der
er nicht folgen wollte, weil er sie für falsch, nicht im Sinne der
kommunistischen Ideologie hielt, aber auch als für die KPHerrschaft sehr gefährlich ansah. Wenn er den Moskauer Kurs
ú
Über die historischen Erfahrungen der
Diktatur des Proletariats.
ú
Noch einmal über die historischen
122
123
Erfahrungen der Diktatur des Proletariats.
206
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
nicht ändern konnte, würde China wieder allein stehen - eine
ernsthafte Bedrohung seiner Pläne mit China.
Und aus beidem, dem reibungslosen Vorankommen seiner
Politk im Lande und der Gefahr, die sich in Moskau zusammenbraute, folgerte er, daß die chinesische Partei schneller auf eigene
Füße kommen, schneller das alte China zerschlagen und, wie es
bald hieß, schneller den Sozialismus aufbauen mußte.
Auf der vermeintlich festen Basis seiner Erfolge wandte sich
Mao am 2. Mai 1956 in einer Rede an die Intellektuellen Chinas,
denen die Partei für den weiteren Aufbau ihres Staates eine
vermehrt wichtige Rolle zuschrieb und die sie daher überzeugen
wollte mitzutun.
Es war keine leichte Überzeugungsarbeit, die hier geleistet
werden mußte, denn die Geistes- und Naturwissenschaftler und
anderen Sinnproduzenten der neuen Gesellschaft hatten in den zurückliegenden Jahren vielfach die häufig auch körperlich schmerzhafte Erfahrung gemacht, daß die eher bäuerlichen Parteifunktionäre sie zwar für ihre Zwecke nutzen, ihnen aber nicht gestatten
wollten, sich frei zu äußern. Ihre Hoffnungen, die sie mit dem
Abtritt der Tschiang Kai-schek-Regierung verbunden hatten, waren
bald von der neuen politischen Realität eingeholt und zerschlagen
worden. Viele hatten sich deshalb zurückgezogen.
Nun aber wollten Mao, sein Propagandachef 陆定一 Lù Dìngy§
und andere Funktionäre sie aktivieren. Schon im Januar 1956 hatte
sie Premier und Außenminister 周恩来 ZhÇu ÷nl|i deshalb als
einen Teil der Arbeiterklasse bezeichnet, also als Leute, die von der
KP nichts zu befürchten hätten. Das sollte Vertrauen schaffen. In
seiner berühmten, aber bis heute im tatsächlichen Wortlaut
unveröffentlichten Rede vom 2. Mai 1956 ging Mao einen großen
Schritt weiter und rief ihnen zu:
现在春天来了嘛,一百种花都让他开放 ... 百家争鸣是诸
子百家,春秋战国时代,二千年前那个时候,有许多学说,
大家自由争论,现在我们也需要这个。在中华人民共和国
宪法范围之内,各种学术思想,正确的,错误的,让他们
去说,不去干涉他们。李森科、非李森科,我们搞不清,
207
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
有那么多的学说,那么多的自然科学,就是社会科学,这
一派,那一派,让他们去说,在刊物上、报纸上可以说各
种意见
Jetzt ist der Frühling da, hundert Blumen lassen ihn aufblühen
... hundert Denk-Schulen wetteifern miteinander und zwar 100
verschiedene. In der Frühlings- und Herbstperiode und zur Zeit
der Streitenden Reiche vor 2000 Jahren gab es sehr viele Denkrichtungen und alle disputierten frei miteinander. Das wollen
wir jetzt auch. Im Rahmen der Verfassung der VR China darf
jede Denkrichtung sich äußern - die korrekten ebenso wie sie
falschen. Laßt sie alle sprechen, mischt Euch nicht bei ihnen
ein. Für oder gegen Lysenko124, das ist ganz egal, wir können es
ohnehin nicht klären. Es gibt so viele Wissenschaftler, so viele
Naturwissenschaften und in der Sozialwissenschaft diese Richtung und jene - laßt sie kommen und sprechen, in den Magazinen und Zeitungen sollen sie alle ihre Ansichten äußern.
Vom Partei-Propagandapparat unter dem Schlagwort 百花齐放,
百家争鸣 b|i hu~ qí fàng, b|i ji~ zh‘ng míng Laßt hundert Blumen
blühen und hundert Schulen miteinander wetteifern weiter forciert
in die Öffentlichkeit gebracht, begann diese im Sommer 1956 eine
immer lebhafter werdende Debatte über Fragen aller Art, die sich
bald dem politischen System, der Politik und Rolle der Partei und
der Funktionäre zuwandte, zusehends kritischer wurde und eine
eigene Dynamik mit eigenen Publikationen und dem Mittel der
später berühmt werdenden 大字报 dà zì bào Wandzeitung entfaltete, Papierbögen mit selbst und in großen Schriftzeichen geschriebenen Artikeln, die die Verfasser an öffentliche Wände und
Mauern klebten.
Rasch wurde den Verantwortlichen, auch Mao, klar, daß unter
den sogenannten Intellektuellen ein großes oppositionelles Poten-
124
Sowjetischer Naturwissenschaftler, der -im Gegensatz zur geltenden
Lehre- behauptete, auch erworbene Eigenschaften könnten weitervererbt werden,
was bei Stalin auf großes Wohlwollen stieß, weil sich so die Möglichkeit eröffnen
würde, den kommunistischen Menschen quasi zu züchten.
208
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
tial steckte, und erhebliche Teile der städtischen Bevölkerung
keineswegs mit ihrer Ordnung der chinesischen Dinge
einverstanden waren.
Die Funktionäre, Mao voran, schlugen mit den Mitteln zurück,
die sie in politischen Auseinandersetzungen immer anwandten,
weil sie sich bewährt hatten: Sie mobilisierten über die Parteizellen,
die in allen Bereichen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens
bestanden, die Bevölkerung gegen eine gefährliche, zu vernichtende, feindliche, verschwindende Minderheit, die aus sogenannten
Rechten bestand. Den so als 右派 yòu pài Rechte oder Bürgerliche
identifizierten Personen unterstellten die Funktionäre, im Gegensatz zu den revolutionären Linken, dem bürgerlichen Lager, also
dem Westen, zuzuneigen, das gegebene chinesische Regime stürzen
zu wollen, damit das alte wieder zurückkehre. Das mußte verhindert, die Drahtzieher mußten bestraft werden.
Die Reaktion, die sogenannte Anti-Rechts Bewegung, setzte
nach einer weiteren Rede Maos im Februar 1957 -Über die richtige
Behandlung der Widersprüche im Volk- ein und wurde im Sommer
des Jahres zusehends missionarischer und erbarmungsloser als
Denunziationskampagne geführt, die alle Institutionen des Landes
ergriff.
Etwa eine halbe Million Menschen (= kleine Minderheit),
zumeist Wissenschaftler, Schriftsteller und Intellektuelle, aber auch
manche Parteifunktionäre galten fortan als Rechte und als antisozialistische Elemente. Sie wurden häufig auf Jahre hinaus zur
劳改 láo g|i Umerziehung durch Arbeit aufs Land, zu den Bauern
(tatsächlich in Arbeitslager) deportiert, wo sie, von den harten
Lebensbedingungen und der schweren körperlichen Arbeit umerzogen, zur Unterstützung des herrschenden Regimes gebracht
werden sollten. Nicht selten blieben sie dort zehn Jahre und länger
und gerieten ihre Familienangehörigen in Sippenhaft. Sie alle
behielten das Stigma Rechter bis zum Ende der siebziger Jahre mit
allen schweren Nachteilen, die das für ihr Leben und ihre Arbeit
bedeutete - sofern sie die Verbannung überlebten.
Für die soziale Struktur Chinas, in der die Gebildeten, die
209
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Scholars, wie ein berühmter Roman125 sie nennt, die Kontinuität
und den Charakter der chinesischen Gesellschaft garantierten, war
die Bewegung gegen die Rechten wenn nicht der Todesstoß, so
doch ein der Vernichtung sehr nahekommender Schlag. Die alten
scholars waren nun entweder physisch fort oder sie wagten es nie
mehr, öffentlich bemerkbar Einfluß zu nehmen. Sie blieben als
gebrochene Persönlichkeiten zurück.
Mindestens genauso prägend für die chinesische Gesellschaft
aber war, was an ihre Stelle trat, denn ihre das geistige Leben des
Landes bestimmenden Positionen blieben ja nicht leer: Leute
rückten dort nach, die sich nicht durch Bildung, sondern durch
Eigenschaften auszeichneten, wie sie professionelle Parteifunktionäre als proletarisch schätzten - Soldaten, Bauern und Arbeiter,
der unumschränkt herrschenden Partei völlig ergeben, immer
dankbar und immer bereit, jeden Befehl ohne zu fragen auszuführen.
Die klassische Bildung kam in China in Verruf, und es war kein
Zufall, daß gerade zu dieser Zeit auch die einzigartigen Träger
dieser Kultur, die Schriftzeichen, einer radikalen Reform unterzogen wurden - als erster Schritt zu ihrer völligen Abschaffung:
Die Partei nannte sie nun verächtlich 繁体字 fán t0 zì komplexe
Schriftzeichen und legte einen Plan vor, der aus ihnen 简体字 ji|n
t0 zì vereinfache Schriftzeichen mit weniger Strichen machte: aus
汉 hàn (= Chinese) wurde 汉 hàn126.
Der Westen nahm die dramatischen Ereignisse, die auf die
Stalin-Enthüllungen Chruschtschows 1956 in Polen, Ungarn und
China folgten als Tauwetter wahr, viele glaubten, den Anfang vom
Ende der kommunistischen Partei-Despotien zu sehen. Gestützt
wurden solche Annahmen durch die Entmachtung hoher Stalin-
The Scholars, Wú Jìngz0, eine englische Übersetzung
dieses klassischen Romans aus der Míng-Zeit hat der Pekinger Verlag für
125
Fremdsprachige Literatur 1957 herausgebracht.
126
Freilich knüpfte diese Politik an Pläne an, die bereits in den 20er und
30er Jahren aufgekommen waren. Mehr dazu in: Jörg-M. Rudolph, Das Größte
Geheimnis Chinas, Teil I, Sju Tsai No. 36.
210
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Mitarbeiter wie Molotow (Außenminister) und Malenkow (eigentlich Nachfolger) im Sommer 1957 und eine darauf folgende konziliantere Außenpolitik der Sowjetunion, die anscheinend von der
Weltrevolution als Ziel ablassen und sich mit den USA verständigen und ausgleichen wollte: Im Herbst 1959 besuchte Chruschtschow als erster Sowjetführer seit 1917 die Vereinigten Staaten und
wurde von Präsident Eisenhower auf dem Landsitz Camp David
empfangen. Das von Chruschtschow anschließend geprägte und
immer wieder verwendete Wort vom Geist von Camp David stand
für seine Ansicht, daß es einen Ausgleich zwischen den USA und
der Sowjetunion geben könnte. Beide Großmächte gemeinsam, so
sagte er, wären in der Lage, die Dinge der Welt zu regeln.
Das jedoch war nichts, was Mao ruhig schlafen ließ.
Einen Ausgleich zwischen Imperialismus und Sozialismus, so
meinte er, könne und werde es nicht geben. Für ihn war Chruschtschow zu diesem Zeitpunkt bereits zu einem Verräter am Sozialismus geworden, der die revolutionäre Sache des Kommunismus
und die Befreiung der Menschheit aus Ausbeutung und Unterdrückung auf dem Altar sowjetischer Großmachtinteressen opferte.
Nicht zuletzt auf Kosten Chinas.127
Aus dieser Analyse einer für China gefährlichen Entwicklung
ergab sich für Mao:
! das eigene Land wirtschaftlich (und das hieß: industriell) wesentlich schneller als bisher voranzubringen, um zu erwartendem äußeren Druck widerstehen zu können, aber auch, um zu
zeigen, daß der eigene Weg der erfolgreichere, der richtige
war;
! darauf zu achten, daß die eigene Partei in der Ideologie sauber
127
Sehr detailliert und erstmals auf Basis der internen chinesischen Akten
ist diese Entwicklung inzwischen von einem chinesischerseits von Anfang an in
die Auseinandersetzung einbezogenen Funktionär, dem ehemaligen Chef der
Nachrichtenagentur
X§nhuá,
Wú L‘ngx§ (protokolliert worden:
Wú L‘ngx§,
1956-1966
Der zehnjährige Disput, Die
chinesisch-sowjetischen Beziehungen, Erinnerungen, Verlag für Dokumente des
Zentralkomitees, Peking 1999. Wú starb am 16.6.2002.
ö !"
211
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
blieb, und hier keine Entwicklungen einsetzten, wie man sie
gerade beim Großen Bruder beobachtete - Abweichungen von
der Lehre, deren Uminterpretierung, Revisionismus, was schlielich in die Wiedereinführung des kapitalistischen Wirtschaftssystems führen würde, zur Rückkehr der gerade gestürzten alten
Kräfte und damit auch zum Sturz des eigenen politischen
Herrschaftssystems,
! zu retten, was zu retten war, d.h. den ideologischen Kampf gegen die KPdSU aufzunehmen und die sogenannten Bruderparteien der anderen sozialistischen Staaten auf die eigene Seite zu
ziehen,
! die eigene Verteidigungsfähigkeit erhöhen - es fiel die Entscheidung Maos zum Bau einer eigenen Atombombe.
Mao übernahm von Anfang an sehr entschlossen die Führung in
allen vier Bereichen - Entwicklung der chinesischen Wirtschaft,
Reinhaltung der eigenen Partei, Opposition gegen die ideologischen Abweichungen der sowjetischen Partei, militärische Unangreifbarmachung Chinas.
In bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung griff er alles auf,
unterstützte und propagierte, was dem ins Auge gefaßten Ziel, den
Sozialismus schneller, besser und wirtschaftlicher aufbauen, zu
dienen schien und initiierte im Herbst 1957 den 大跃进 dà yuè jìn
Großen Sprung nach Vorn.
Auf dem Land wurde mit der Organisation von 人民公社 rén
mín gÇng shè Volkskommunen, in die die gerade gegründeten
Produktionsgenossenschaften eingebracht wurden, die totale Vergesellschaftung des Lebens der Bauern und ihrer Familien verwirklicht - Kommunismus sozusagen. Massen-Arbeitseinsätze der so
vergesellschafteten Menschen zielten gleichzeitig darauf, die Ernteerträge in nicht dagewesenem Umfang zu steigern und die Dörfer
zu industrialisieren, um so die Effizienz, ja Überlegenheit des
neuen chinesischen Systems (auch der Sowjetunion) zu beweisen.
Noch heute stehen für diese Vergesellschaftung des Bauernlebens
die großen Gemeinschaftskantinen und anderen Einrichtungen, die
das chinesische Familienleben beseitigen sollten, und für die
212
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Industrialisierung Chinas die sogenannten Hinterhofstahlöfen, in
denen Bauern und andere überall im Land alles einschmolzen, was
aus Eisen gemacht war, um so die Stahlproduktion Chinas im
Rekordtempo zu erhöhen.
Auf allen Gebieten der Volkswirtschaft setzten die Partei-Planer
utopische Mengenziele und meldete das Trommelfeuer der Propaganda im Sommer und Herbst 1958 die unglaublichsten Erfolge.
Durch deren Brille nahm nun auch der Westen die Vorgänge in
China wieder wahr: als Massenkampagnen der straff organisierten,
fleißigen, gesichts- und willenlosen blauen Ameisen. Bilder, die
Tausende, an Infrastrukturprojekten wie Staudämmen, Straßen und
Eisenbahnlinien schaufelnde Chinesen in blauer Arbeitskleidung
zeigten, prägten am Ende der fünfziger Jahre die China-Wahrnehmungen Europas und Amerikas so nachhaltig, daß viele Phänomene des geöffneten China der neunziger Jahre wie McDonald=s,
Millionäre oder Porsche-Verkaufsstellen vor diesem Hintergrund
(noch 2004, fast fünfzig Jahre danach!) als höchst erstaunlich und
berichtenswert empfunden werden.
Der Große Sprung nach Vorn erwies sich jedoch schon bald,
spätestens im Frühjahr und Sommer 1958, als ein großes wirtschaftliches Fiasko. Wegen des Einsatzes vieler Bauern bei den
riesigen Infrastrukturprojekten oder weil sie tatsächlich ihre Werkzeuge zu unbrauchbarem Stahl eingeschmolzen hatten, konnte die
Ernte nur sehr unvollsändig eingebracht werden. Mangelerscheinungen, ja Hunger, waren bald nicht mehr zu übersehen.
Im Sommer brachte Verteidigungsminister 彭德怀 Péng Déhuái,
ein alter Mitkämpfer Maos, Kommandeur der chinesischen
Truppen in Korea, auf einer Konferenz der obersten Parteiführung128 diese ernste Situation im Lande zur Sprache und kritisierte
in einem Brief an Mao die Politik des Großen Sprungs. Mao, den
diese Kritik damit für das desaster verantwortlich machte,
128
%
Es ist die 8. (Erweiterte) Plenartagung des VIII. Zentralkomitees, die
vom 2. Juli bis zum 16. August in dem Ort
Lúsh~n (Provinz
Ji~ngx§)
stattfand.
#$
213
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
verteidigt sich vehement129 und erreichte auf der Tagung tatsächlich
die Verurteilung des 彭德怀 Péng Déhuái als Rechten, die Bewertung seiner Kritik als antiparteiliches Cliquenwesen und seine
Absetzung als Minister.
Der Sieg Maos über seine innerparteilichen Gegner machte es
ihm und seinen Genossen möglich, die Politik des Großen Sprungs
-wenn auch etwas modifiziert- weiterzuführen, wodurch sich die
bereits sehr prekäre Wirtschaftssituation weiter verschlechterte.
Obwohl bereits die Ernte des Sommers 1958 nicht vollständig hatte
eingebracht werden können, fuhren lokale Funktionäre damit fort,
gar nicht existierende Rekordernte-Mengen an die zentrale Planungsbehörde zu melden, die dann auf dieser Basis große
Getreidemengen auf dem Lande requirierte. Dort blieben infolgedessen immer weniger Nahrungsmittel übrig. Als dann wegen
schlechter Witterung 1959 und 1960 die Erträge auch noch
erheblich geringer ausfielen als normalerweise, war eine
Hungersnot die Folge, wie sie China lange nicht mehr erlebt hatte:
Selbst in der Hauptstadt Peking begannen die Menschen
Baumrinde zu essen. Aus späteren Volkszählungen haben die
Behörden rekonstruiert, daß vermutlich zwischen zwanzig und
dreißig Millionen Menschen in diesen Jahren verhungerten.
Auf dem Höhepunkt dieser fast existentiellen Krise des Regimes
griff Chruschtschow, der sich ganz persönlich (und durchaus zu
recht!) seit Jahren von Mao politisch und ideologisch kritisiert und
herausgefordert, ja lächerlich gemacht sah, zu einem Zwangsmittel,
um den Chinesen zu disziplinieren: Chruschtschow beorderte quasi
über Nacht alle sowjetischen Spezialisten nach Hause, die seit
Jahren, auf Bais des bilateralen Freundschaftsvertrages, bei
wichtigen industriellen und infrastrukturellen Projekten in China
Schlüsselrollen innehatten.
Doch anstatt nachzugeben verstärkte sich der Widerstand Maos
und verschaffte ihm, der wegen der Wirtschaftskrise nun auch
129
Seine Rede zum Beispiel in: Stuart Schramm (Editor), Mao Tse-tung
Unrehearsed, Talks and Letters 1956-1971, Penguin Books 1974, S. 131-146,
Speech at the Lushan Conference, 23 July 1959.
214
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
innerparteilich immer stärker unter den Druck seiner obersten
Parteigenossen geraten war, die einen Sündenbock brauchten, diese
Moskauer Politik letztlich sogar die Chance, in einem politischen
Gegenschlag längst verlorenes Macht-Terrain zurückzugewinnen,
ja seine Gegner letztlich allesamt ins politische Abseits und Aus zu
manövrieren.
Der immense Druck von Außen bewirkte nicht eine Differenzierung und Entmachtung Maos, sondern im Gegenteil ein Zusammenstehen der chinesischen Parteiführung!
Nach der zu Beginn des Langen Marsches im Januar 1934 in dem
Ort 遵义 Zãnyì (Provinz 贵州 GuìzhÇu) abgehaltenen Tagung war
Mao bis zum 7. Parteitag 1945 der faktische Führer der KP
gewesen. Auf dem Parteitag wurde er als 主席 zhß xí Vorsitzender
des Politbüros auch offiziell Parteichef, seine ideologischen
Auffassungen als 毛泽东思想 Máo ZédÇng s§ xi|ng überdies in die
Parteisatzung aufgenommen. Infolgedessen verband sich der Sieg
über Tschiang Kai-schek ebenso untrennbar mit seinem Namen wie
die Gründung der Volksrepublik, das als Sieg über Amerika wahrgenommene militärische Eingreifen in den Koreakrieg, die Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage und sichtlich besser werdenden
Lebensumstände zumindest in den Städten bis zur Mitte der
fünfziger Jahre.
Mao stand 1956, als Chruschtschow Stalin posthum zertrümmerte, auf dem Höhepunkt seines Ansehens und seiner Macht und
dachte daran, die Führung langsam in die Hände anderer Parteiführer zu übergeben. Dies wurde sichtbar während des 8.
Parteitages 1956, auf dem nicht Mao, sondern 刘少奇 Liú Sh|oqí
den sogenannten Politischen Bericht vortrug. Überdies ließ er es
zu, daß aus dem geänderten Parteistatut die 1945 eingefügten Mao
Zedong-Ideen wieder gestrichen wurden.
Dieser Rückzug aus der ersten Linie, wie Mao es nannte, führte
dazu, daß andere Funktionäre in den Vordergrund gerieten,
namentlich 刘少奇 Liú Sh|oqí. Zunächst ergaben sich daraus
keine für Mao negativen Konsequenzen. Im Gegenteil trugen diese
Genossen der ersten Linie sowohl seinen gegen Moskau gerich215
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
teten unabhängigen ideologischen und machtpolitischen Kurs mit
und unterstützten auch eifrig die von ihm angeregten innenpolitischen Maßnahmen wie die sogenannte Hundert-BlumenKampagne (samt der anschließenden Tyrannei gegenüber Zehntausenden Intellektueller), den Großen Sprung und auch die Volkskommunen.
Als das Regime jedoch infolge dieser Politik zunächst in eine
politische und dann auch noch in eine tiefgreifende wirtschaftliche
Krise abstürzte, so daß 1959/60 die Legitimät der Parteiherrschaft
direkt gefährdet schien, begannen sich diese Funktionäre der ersten
Linie intern sichtlich von Mao abzuwenden, ihn als Schuldigen zu
betrachten (sich selbst folglich als unschuldige Opfer) und auf
innenpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet eigene Maßnahmen
zu ergreifen, die ihr Regime aus dieser Krise führen sollten.
Die Entmachtung ihres Genossen 彭德怀 Péng Déhuái hatte
ihnen freilich gezeigt, daß der nach wie vor präsente Vorsitzende
Mao auch in zweiten Reihe nicht davor zurückschreckte, selbst
sogenannte engste Kampfgefährten ohne zu zögern von der Macht
zu entfernen, wenn sie sich offen gegen eine von ihm für notwendig gehaltene Politik wandten. (Im übrigen mag es ihnen auch eine
Lehre der chinesischen Geschichte gewesen sein, daß der erste
Kaiser einer neuen Dynastie nicht selten seine engsten Mitkämpfer
auf dem Weg zur Macht alsbald umbrachte oder wenigstens politisch unschädlich machte.)
So zogen es 刘少奇 Liú Sh|oqí, der im Frühjahr 1959 das Amt
des 国家主席 guó ji~ zhß xí Staatspräsidenten von Mao übernommen hatte, und der langjährige Generalsekretär der Partei, 邓小平
Dèng Xi|op§ng, vor, nicht mit Mao darüber zu diskutieren, welche
der von ihm weiter befürworteten innen- oder wirtschaftspolitischen Maßnahmen sie warum zurücknahmen oder änderten. Sie
schoben Mao mehr und mehr an die Seite, ohne viel mit ihm
darüber zu reden, was sie planten und auch taten.
Ein Feld allerdings überließen die Mao-Gegner dem Vorsitzenden weiterhin, wohl weil sie es für nicht so wichtig hielten (ein
verhängnisvoller Fehler, wie sich mit der Kulturrevolution für sie
herausstellte): die marxistisch-leninistische Ideologie, die Theorie
216
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
der sozialistischen Revolution und ihre Praxis als Partei-Diktatur.
Mao nutzte diesen seinen letzten Freiraum ab Anfang der sechziger
Jahre konsequent und mit viel Eifer, indem er die bereits 1956
begonnene Auseinandersetzung mit der sowjetischen Partei
(damals wegen Chruschtschows Stalin-Kritik) fortführte und auf
grundsätzliche Ideologiefragen zuspitzte - auf die legitimatorische
Basis des Regimes. Daß dies auch praktische Folgen für sie selbst
und ihre Politik haben würde, bermerkten die Reformer um 刘少奇
Liú Sh|oqí erst, als es zu spät für ihre Posten war.
Vom September 1963 bis zum Juli 1964
(Entmachtung Chruschtschows) entstanden,
erstellt von einer eigens gebildeten
Arbeitsgruppe aus Ideologie-Profis,
sogenannter marxistisch-leninistischer
Theoretiker, unter der Aufsicht Maos130
zahlreiche lange Aufsätze, die im
Zentralorgan der KP Chinas, der 人民日报
Rén Mín Rì Bào Volkszeitung, erschienen,
und sich zunehmend kritisch mit der
sowjetischen Auslegung des Marxismus Wú L‘ngx§
Leninismus auseinandersetzten, diese als enthüllt die Details des
Revisionismus, als Veränderung der Theorie ideologischen
Kampfes
und als Abweichung von der Wahrheit analymit Moskau.
sierten.
1965, als diese ideologische Auseinandersetzung der beiden
Parteien um die marxistisch-leninistische Wahrheit auch für die
Welt kein Geheimnis mehr war, veröffentlichten die Chinesen diese
Artikel in einem 600-seitigen Sammelband unter dem Titel Die
Polemik über die Generallinie der internationalen kommu-
130
ö !"
Auch dies wird erstmals aus chinesischen Quellen und autoritativ
dargelgt in:
Wú L‘ngx§,
1956-1966
Der
zehnjährige Disput, Die chinesisch-sowjetischen Beziehungen, Erinnerungen,
Verlag für Dokumente des Zentralkomitees, Peking 1999.
217
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
nistischen Bewegung131.
Während sich die westliche Politik darüber freute, daß der lange
Zeit monolithisch erscheinende Sowjetblock nun offensichtlich
unheilbar gespalten war -China (und Albanien, das sich als einziges
Land der Pekinger Sowjetkritik anschloß) gegen den Rest- war es
Mao inenpolitisch gesehen mit dieser Artikelserie gelungen das
festzuschreiben, was eine komunistsiche Partei ausmacht und ihre
Theorie und Praxis definiert - quasi einen benchmark-Test des
wahren Kommunismus
Zu seinen Kernpunkten, die auch die Kritik am sowjetischen
System ausmachten, zählten hier im wesentlichen:
! Die Politik bestimmt die Entwicklung des Landes, sie steht an
erster Stelle, sie muß korrekt sein, sonst geht der Sozialismus
unter und die alten Kräfte kehren zurück, wird der Kapitalismus
restauriert.
! Die Politik hat sich an den Forderungen der Ideologie für die
sogenannte neue Gesellschaft auszurichten.
! Der Kampf gegen die (besiegten) Vertreter der sogenannten
alten Gesellschaft (= Klassenkampf) geht auch nach der Machtergreifung der KP weiter.
! Innerhalb der herrschenden Kommunistischen Partei kann sogenanntes bürgerliches Denken Platz greifen, über kurz oder lang
die Politik bestimmen und dann zu einer Wiederherstellung des
Kapitalismus bzw. der alten Gesellschaft führen.
! Die innerparteilichen Vertreter einer solchen Restauration des
Kapitalismus (Funktionäre der herrschenden KP) müssen genauso bekämpft werden wie einst die sogenannten Klassenfeinde,
die ja in China kein schönes Ende gefunden hatten.
Mit diesen Kriterien maß Mao -immer noch von der zweiten Linie
aus- die Politik und wirtschaftlichen Maßnahmen der neuen ersten
Linie: Legitim war nur, was die Maßstäbe dieser Generallinie
131
Der Pekinger Auslandspropagandaverlag Verlag für frendsprachige
Literatur brachte diese Dokumente in zahlreichen Sprachen 1965 heraus.
218
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
erfüllte.
Aber genau das war mit der Politik der Männer der ersten Linie,
刘少奇 Liú Sh|oqí, 邓小平 Dèng Xi|op§ng und andere, keineswegs der Fall. Ein später zu weltweiter Berühmtheit gelangter Satz
des Generalsekretärs der KP, 邓小平 Dèng Xi|op§ng, bezeichnete
am besten deren Vorgehen: Egal, ob die Katze weiß oder schwarz
ist, Hauptsache ist, sie fängt Mäuse132. Mit anderen Worten: Nichts
ist erfolgreicher als der Erfolg, alles ist erlaubt, wenn nur das
Ergebnis stimmt.
Gemäß diesem einprägsamen, dem chinesischen Pragmatismus
genau entsprechenden Satz ging die erste Linie ab 1961 vor, um
das im wirtschaftlichen Bereich auch von ihr angerichtete Unglück
zu beseitigen. Die in Anschlag gebrachten Maßnahmen glichen
dabei weitgehend dem, was auch der von Mao gerade dafür
vernichtend kritisierte Chruschtschow in der Sowjetunion getan
hatte. Die neue Führung in Peking privatisierte de facto Ackerland
und setzte in der Industrie auf die Zahlung von Prämien zur
Erhöhung der Produktion.
Bei all dem vergaß diese (mittlerweile zur Partei-beherrschenden Fraktion gewordene) Gruppe jedoch erstens, daß Mao
sehr wohl noch da war, als Gründer des Neuen China weiterhin
Prestige und Charisma genoß und überdies aus seiner zweiten Linie
genau beobachtete, was die erste Linie tat. Und sie vergaßen auch,
daß sie Maos prinzipielle Kritik der sowjetischen Theorie und Praxis selbst aktiv mitgetragen hatten, Deng sogar die ideologischen
Kernthesen des Vorsitzenden über die Gefahr einer Restauration
des Kapitalismus und die daraus folgende Notwendigkeit einer
Fortsetzung der Revolution und des Klassenkampfes auch im
Sozialismus persönlich in Moskau gegenüber den Theoretikern der
KPdSU vertreten und begründet hatte.
Mit anderen Worten: Die erste Linie saß, was die ideologischen
Grundlagen des Regimes anlangte, im gleichen Boot mit Mao praktizierte freilich genau das Gegenteil, nämlich all das, was
132
&'()*)+,-./012) bú gu|n bái m~o, h‘i m~o, dài zhù
l|o shß jiù shì h|o m~o.
219
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
dieser (und sie selbst) verworfen hatte.
Ihr vorrangiges Ziel war es 1961, der KP-Herrschaft wieder eine
wirtschaftliche Grundlage zu beschaffen und so ihr Überleben zu
sichern: Dynastien gehen zugrunde wenn das Volk nichts zu essen
hat.
Im Frühjahr des Jahres legte zum Beispiel Deng auf einer ZKKonferenz in 广州 Gu~ngzhÇu, weit weg von Peking und Mao, ein
Programm vor, das die Volkskommunen de facto beseitigte. Im
Kulturbereich, den Feuilletons der Zeitungen und im Theater,
mehrten sich derweil Stücke und Serien, die Mao Selbstherrlichkeit
vorwarfen, ungerechten Umgang mit sogenannten verdienten Funktionären, insbesondere die Entmachtung des Verteidigungsministers 彭德怀 Péng Déhuái 1959 sowie seine Großer-Sprung- und
Volkskommunen-Politik. Nur dünn verschleiert und scharf-satirisch
nahmen die Autoren den Großen Vorsitzenden aufs Korn133.
Besonders provokativ empfand Mao das im Sommer 1961
uraufgeführte Theaterstück 海瑞罢官 H|i Ruì bà gu~n Hai Rui
wird seines Amtes enthoben. Darin kritisierte der Verfasser,
Pekings Vize-Bürgermeister 吴晗 Wú Hán, nur dünn verschleiert
am Beispiel eines guten und loyalen, den geschichtsbewußten
Chinesen durchaus bekannten Beamten aus der 明 Míng-Dynastie
namens 海瑞 H|i Ruì, der furchtlos vor dem Kaiser 嘉靖 Ji~ Jìng
(= Mao) für die armen Bauern Partei ergriffen und dafür sein Amt
verloren hatte, die Absetzung des 彭德怀 Péng Déhuái.
Mao beobachtete diese gegen seine politischen Ziele gerichteten
Kritiken und ihre Verfasser genau und begann, sich außerhalb
Pekings, in Shanghai, Verbündete in den unteren Rängen der
Funktionäre zu suchen und seinen Gegenangriff vozubereiten.
133
7$89
<=ù>?
ABC
3456
Zum Beispiel -unter Pseudonym- in der
Bij§ng W|nbào
Pekinger Abendzeitung die Serie
Y~nsh~n yè huà Abendgespräche am
[im Westen Pekings gelegenen] Berg Yan, des lokalen hohen Parteifunktionärs
Dèng Tuò oder die Serie
s~n ji~ cãn zhá jì Aufzeichnungen aus
dem Drei-Familien-Dorf, die er gemeinsam mit den Funktionären
Wú Hán
(Pekinger Vize-Bürgermeister!) und
Liào Mòsh~ abwechselnd in einer
anderen Zeitschrift veröffentlichte. Eine deutsche Übersetzung in: Joachim
Glaubitz, Opposition gegen Mao - Abendgespräche am Yenshan und andere
Dokumente, Walter Verlag Freiburg, 1969.
;
220
@
:
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Dazu nutzte er nutzte seinen Freiraum im ideologischen Bereich.
Sein Gegenangriff begann auf der 10. Tagung des VIII.
Zentralkomitees im September 1962 mit erster Kritik am Vorgehen
von 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng134. Gleichzeitig initiierte er mitten in China -in seiner Heimatprovinz 湖南
Húnán und dem benachbarten 湖北 Húbi- eine sogenannten
sozialistische Erziehungsbewegung135.
Der damals bereits 69jährige Mao hatte sich damit wieder auf
das Land zurückgezogen, um von dort, wie schon einmal, die
Städte einzukreisen. Er begann, eine öffentliche Meinung zu schaffen, die die Grundlage abgeben würde für konkretes Handeln, nämlich die Absetzung seiner innerparteilichen Gegner und die NeuAusrichtung der Partei-Ideologie.
Ziel der Erziehungsbewegung, die in Form von Massenversammlungen ablief, war erstens die Indoktrinierung der Menschen
mit dem Gedanken, daß es immer noch Feinde der neuen Gesellschaft gab -selbst innerhalb der Partei- ,
die bekämpft werden mußten, sollte eine
Rückkehr der alten Gespenster -Großgrundbesitzer, Kapitalisten, Kuomintang,
Tschiang Kai-schek etc.- verhindert
werden. Zweitens sollten große Teile der
Landbevölkerung gegen diese sogenannten Klassenfeinde in ihrer Umgebung
auch praktisch mobilisiert, d.h. aufgehetzt werden.
Tatsächlich machten sich die chine- Aburteilung sogenannter LM
NO fù nóng f‘n z0 Reicher
sischen Bauern wieder zu Mittätern,
Bauern-Elemente.
identifizierten in ihren Dörfern und Krei134
Maos Rede auf dieser Tagung in: Stuart Schramm (Editor), Mao Tsetung Unrehearsed, Talks and Letters 1956-1971, Penguin Books 1974, S. 188196, Speech at the Tenth Plenum of the Eighth Central Committee, 24 September
1962. Mit Blick auf die Feuilleton-Angriffe auf ihn, sagte Mao zum Beispiel: Writing
novels is popular these days, isn=t it? The use of novels for anti-Party activity is a
great invention.
135
DEFGHIJK shè huì zhß yì ji~o yù yùn dòng.
221
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
sen sogenannte reiche Bauern und Parteifeinde etc., die sie unter
Anleitung der lokalen Parteifunktionäre vor Versammlungen von
Tausenden bäuerlicher Zuschauer schleppten und dort als
Ausbeuter, Klassenfeind, Element etc. beschimpften, anklagten und
verurteilten136.
In den folgenden Jahren dehnte sich die Bewegung aus. Es war
ja Maos Ziel, sie in die Städte zu tragen und die dort im kulturellen
Bereich so frech tätigen Intellektuellen damit zu konfrontieren. Es
war ihm nicht entgangen, daß diese sich zunehmend deutlich,
gedeckt von der ersten Linie, gegen seine Politik wandten, sich
sogar über ihn lustig machten.
Eine solche Ausdehnung suchten 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓
小平 Dèng Xi|op§ng auf der anderen Seite zu verhindern, indem
sie ihre Sicht unterstützende Parteimitglieder in die sozialistische
Erziehungsbewegung einschleusten und auf diese Weise versuchten, sie in ihrem Sinne zu steuern, ihr die Spitze zu nehmen.
Allerdings fehlte ihnen die ideologische Basis, um gegen Maos
revolutionäres Tun zu argumentieren. Das sowjetische Beispiel als
Vorbild zu nehmen war ihnen verwehrt, hatten sie doch Maos
Kritik daran mitgetragen. Außerdem suchte Moskau in dieser Zeit
China wirtschaftlich, politisch und sogar militärisch unter Druck zu
setzen, um es seinen Vorstellungen gefügig zu machen. Eine
Zusammenarbeit mit dem Kreml unter diesen Umständen verbot
sich deshalb auch für die Mao-Gegner. Eine Öffnung zum Westen
aber war zu diesem Zeitpunkt schon deshalb nicht möglich, weil
vor allem die Vereinigten Staaten kein Interesse daran hatten, sich
mit Rotchina, wie es hieß, einzulassen.
So schleppte sich die politische Auseinandersetzung der beiden
Parteifraktionen nicht-öffentlich, in Form innerparteilicher Grabenkämpfe und nach außen als sozialistische Erziehungsbewegung
vernebelt in den Jahren 1964 und 1965 dahin, wobei Mao jedoch
zunehmend den Boden gewann, auf dem er nach und nach sein
136
PQR
Eindrucksvolle, erst kürzlich veröffentlichte Photos soclher
Versammlungen in:
L0 Zhènshèng, Red-Color News Soldier, Phaidon
Press Limited, London 2003, ISBN 9-780714843087.
222
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Personal rekrutierte, seine Truppen zusammen- und aufstellte, mit
deren Hilfe er 1966 schließlich die gnadenlose Kulturrevolution
entfesselte, die seine Gegner tatsächlich vollständig und für eine
Zeitland restlos von der Macht entfernte.
Zu Hilfe kam ihm hier eine personelle Weichenstellung, die er
bei der Entmachtung des Verteidigungsministers 彭德怀 Péng Déhuái 1959 vorgenommen hatte, indem er einen verdienten Truppenführer aus dem Bürgerkrieg gegen Tschiang Kai-schek, den ihm
ergebenen Marschall 林彪 Lín Bi~o, zu dessen Nachfolger machte.
Damit hatte er sich den ungestörten Zugriff auf die Armee gesichert, eine entscheidend wichtige Maßnahme, kommt doch, gemäß
seiner eigenen Maxime, die politische Macht aus den Läufen der
Gewehre.
林彪 Lín Bi~o begann Anfang der sechziger zielstrebig damit,
die Loyalität der Armee zu Mao sicherzustellen, ein später weltweit
bekanntes Markenzeichen dafür war die Schaffung eines kleinformatigen Buches (später) in einem grell-roten Plastikumschlag mit
dem Titel 毛主席语录 Máo zhß xí yß lù Worte des Vorsitzenden
Mao. Es enthielt kurze Auszüge, clips, aus den Schriften Maos der
Jahre vor 1949. Diese kurzen, ausgewählten Sentenzen dienten als
politisches Schulungsmaterial für die vielen Millionen Soldaten,
die damit fest auf Mao und seine Ansichten zu allen Fragen des
Lebens eingeschworen wurden.
Da Mao, der zu dieser Zeit unter den führenden Parteifunktionären außer 林彪 Lín Bi~o und dem ihm ebenfalls treu ergebenen
Geheimdienstchef 康生 K~ng Sh‘ng kaum jemanden auf seiner
Seite hatte, aktivierte 1964 auch noch seine Frau 江青 Ji~ng Q§ng
mit dem Ziel, über sie, eine Schauspielerin aus den dreißiger
Jahren, die er in 延安 Yán=~n geheiratet hatte, die ihm besonders
verhaßten sich schriftstellerisch mehr oder weniger öffentlich
gegen ihn betätigenden Parteifunktionäre wie die erwähnten 吴晗
Wú Hán (Vize-Bürgermeister von Peking) , 邓拓 Dèng Tuò (KPBildungssekretär in Peking) und 廖沫沙 Liào Mòsh~ (Chef der
Einheitsfront-Abteilung der Pekinger Stadtverwaltung) sowie vor
allem den sie deckenden mächtigen Pekinger Bürgermeister und
Parteichef, das Politbüromitglied 彭真 Péng Zh‘n, zu Fall zu
223
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
bringen.
Im Januar und erneut im Juli 1964 trat 江青 Ji~ng Q§ng erstmals
öffentlich auf, als sie auf zwei Konferenzen zu Fragen der Kultur
die Repertoirs der Theater und deren gängige 京剧 j§ng jù PekingOpern im Sinne Maos angriff.
Die verantwortlichen Kulturpolitiker, so lautete dessen Vorwurf,
brächten nicht die Helden der neuen, sozialistischen Zeit auf die
Bühne, sondern nur Kaiser und deren Beamte, Gestalten der alten,
ausbeuterischen Gesellschaft, die man sich doch gerade vom Hals
geschafft hatte. In der Folge widmete sich die ehemalige Schauspielerin 江青 Ji~ng Q§ng der Revolutionierung der Peking-Oper,
was in die Schaffung von acht revolutionären Musterstücken137
mündete, die an westlichem Musik- und Tanzstil orientiert die
Kommunistische Partei und den Sozialismus verherrlichten.
Als Helfer für die anstehenden Angriffe auf die erste Linie
gewann 江青 Ji~ng Q§ng in 上海 Shàngh|i zwei bis dahin unbekannte Funktionäre: 姚文元 Yáo Wényuán, ein Journalist bei der
上海 Shàngh|ier Tageszeitung 解放日报 Jifàng Rìbào, und 张
春桥 Zh~ng Chãnqiáo, ein Sekretär des 上海 Shàngh|ier Stadtparteikomitees. Mit beiden arbeitete sie bis zu ihrem Sturz 1976
eng zusammen.
Zunächst wurde 姚文元 Yáo Wényuán aktiv und verfaßte im
Herbst 1965 -in enger, über 江青 Ji~ng Q§ng vermittelter Abstimmung mit Mao- eine scharfe Kritik an dem Schlüssel-Theaterstück
über den für seine gerechten Ansichten gemaßregelten Beamten
海瑞 H|i Ruì. Den Aufsatz veröffentlichte die 上海 Shàngh|ier
Tageszeitung 文汇报 Wén Huì Bào am 10. November 1965.
Diese Kritik, die de facto das Pekinger Stadtparteikomitee und
darüber hinaus ein mächtiges Mitglied des herrschenden inneren
Zirkels, 彭真 Péng Zh‘n, zum Ziel hatte, gilt als der Startschuß
dessen, was als 文化大革命 wén huà dà gé mìng in die chinesische
Geschichte einging. Der Artikel entlarvte das Theaterstück als eine
Intrige gegen und Attacke auf Mao persönlich, den Sozialismus
und die Kommunistische Partei und griff seinen Verfasser entspre137
STUVWXY b~ g gé mìng yàng b|n xì.
224
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
chend scharf an. Ein unerhörter, aufsehenerregender Vorgang.
Einige Tage später erschien der Shanghaier Artikel noch einmal,
aber diesmal in der zentralen Parteizeitung, der 人民日报 Rénmín
Rìbào. Eine monatelange Polemik in anderen Blättern und auf
Versammlungen gegen den Pekinger Vize-Bürgermeister und
Autoren des 海瑞 H|i Ruì-Stückes, das giftige Unkraut, begann.
Bald kamen, aktiv unterstützt aus der 林彪 Lín Bi~o unterstehenden Armee und wiederum über einen kritischen Aufsatz des
姚文元 Yáo Wényuán, auch die anderen gegen Mao schriftstellernden Funktionäre der Pekinger Stadtverwaltung unter
Beschuß - bis hin zu ihrem Anführer, dem sie deckenden Bürgermeister von Peking, 彭真 Péng Zh‘n, ein enger Politbüro-Vertrauter von 刘少奇 Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng, die beide
das letztliche Ziel von Maos Gegenangriff waren.
Deng und Liu ahnten zu diesem Zeitpunkt vielleicht, was sich
da gegen sie zusammenbraute, doch hatten sie die schlechteren
Karten in dieser ideologischen Auseinandersetzung. Gegen Maos
argumentativen Vorstoß konnten sie deshalb nur ihre administrative Bürokraten-Macht einsetzen, was sie in der üblichen Weise
taten, indem sie in die Anfang 1966 auch offiziell als Kulturrevolution deklarierte Bewegung ihre eigenen Leute einschleusten,
die ihr die Spitze nehmen und sie in eine andere, für sie ungefährliche Richtung steuern sollten. Ausgerechnet 彭真 Péng Zh‘n,
das erste größere Ziel Maos, übernahm beispielsweise als Vorsitzender der neu gebildeten Arbeitsgruppe für die Kulturrevolution
des Zentralkomitees der KP die oberste Leitung der Bewegung.
Mao entging freilich nicht, daß hier der Bock zum Gärtner
gemacht worden war. Im März griff er deshalb 彭真 Péng Zh‘n
direkt und namentlich an, und auf einer sogenannten erweiterten
Tagung des Politbüros (an der auch Nicht-Mitglieder teilnahmen,
die natürlich Maos Verbündete waren) gelang es ihm, 彭真 Péng
Zh‘n und weitere zentrale Funktionäre, die auf Seiten von 刘少奇
Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng gegen ihn arbeiteten, aus
diesem Gremium auszuschließen, die bisherige Gruppe für die
Kulturrevolution aufzulösen und eine neue, 17-köpfige, einzusetzen, der nur noch ihm treue Funktionäre angehörten:
225
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Z[
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de
Z[
Mitglieder der Gruppe für die Kulturrevolution mit Mao und
Lín Bi~o auf
K~ng Sh‘ng,
ZhÇu ÷nl|i, Mao,
einem Propaganda-Plakat: v.l.
Lín Bi~o,
Chén Bódá und
Ji~ng Q§ng.
\]
abc
! als Leiter sein langjähriger Sekretär und Verfasser zahlreicher
seiner Schriften, 陈伯达 Chén Bódá,
! der Geheimdienstchef 康生 K~ng Sh‘ng,
! seine Frau 江青 Ji~ng Q§ng (als Vize-Leiterin, nach allgemeiner
Auffassung aber Chefin der Gruppe),
! der Verfasser der Theaterkritiken, 姚文元 Yáo Wényuán,
! der 上海 Shàngh|ier Funktionär 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo,
! plus einige weitere kleinere, aber sehr nützliche Lichter.
Mit der Entmachtung des 彭真 Péng Zh‘n hatte Mao eine wichtige, ja entscheidende Bresche in die obere Phalanx seiner innerparteilichen Gegner geschlagen, die freilich in den Personen 刘少奇
Liú Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng noch die oberste Parteiund Staatsführung innehatten und den gesamten zentralen und
lokalen Apparat der Partei in Peking, den Provinzen, Städten, Kreisen und Dörfern beherrschten.
Mit der Gruppe für die Kulturrevolution hatte er ein ihm treu
ergebenes zentrales Instrument zur Organisierung einer landesweiten Massenbewegung in der Hand, einen Kommandostab, der ganz
und gar außerhalb der üblichen (von Deng und Liu beherrschten)
Parteigremien zu seiner eigenen, ungehinderten Verfügung stand.
Die Mitgieder dieser Gruppe waren seine eigenen Leute, geführt
von seiner Frau, mit der Mao in dieser Zeit enge Verbindung
hielt.
Die Zertrümmerung der chinesischen Welt konnte beginnen.
226
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Um den Widerstand der Parteikader, ja diese selbst, flächendeckend, im ganzen Land, auszuschalten, was er wollte, setzte Mao
wie immer auf die Mobilisierung der sogenannten Massen - diesmal jedoch nicht der Bauern (wie hätten die in den Städten die
politischen Verhältnisse ändern sollen?), sondern er appellierte an
die Millionen begeisterungsfähigen, von den Funktionären geschurigelten und überall im Lande lebenden Schüler und Studenten. Ihr
Haß auf die 干部 gàn bù Kader würde das Feuer sein, in dem sie
verbrannten, sie mußten nur entfesselt werden.
Mit dem im Frühjahr 1966 zurückeroberten Propagandaapparat
und flammenden Aufrufen im Namen Maos (zum Beispiel dem
berühmten Leitartikel der Parteizeitung vom 1. Juni 1966: Hinweg
mit den Rinderteufeln und Schlangengeistern138, d.h. den alten
Funktionären) appellierte die Gruppe für die Kulturrevolution an
deren Sinn und Begeisterungsfähigkeit für Bewegung, Unruhe,
Aufbegehren und Umgestaltung, für Gerechtigkeit und gegen die
ihr gesamtes Leben verwaltenden und bestimmenden, Widerspruch
nicht duldenden Apparatschiks der Partei. Sie glaubten, die große
Freiheit stehe bevor, sie müßten nur herzhaft-revolutionär zugreifen, dann wäre sie da.
Es war ein voller Erfolg: Die Jugendlichen organisierten sich ab
dem Frühjahr 1966 landesweit in ihren Schulen und Universitäten
in Gruppen unter dem Namen 红卫兵 hóng wèi b§ng Rote Garde die sich als dezentrale Kampftruppen, als neue Armee des Vorsitzenden Mao begriffen und damit begannen, zunächst in ihrem
unmittelbaren Umfeld, den Universitäten und ihnen angeschlossenen Schulen, Revolution zu machen, die Gegner Maos dort
(Direktoren, Lehrer, Parteisekretäre) namentlich zu fixieren, dann
öffentlich zu kritisieren und schließlich auch physisch zu bekämpfen. Eine Revolution, so griffen sie ein bekanntes Mao-Wort auf, ist
kein Deckchen-Sticken, sondern eine durchaus gewaltsame Angele
ijklm héng s|o niú gu0shé shén, Verfasser war Maos
fgh
bc
Sekretär a
Chén Bódá, der die Leitung des Parteiblattes übernommen hatte.
138
227
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
genheit, bei der auch Blut
fließt. Es muß nur das richtige sein.
Den Startschuß zu dieser
Jugend-Rebellion gab eine
Dozentin an der Peking Universität namens 聂元梓 Niè
Yuánz0, die am 25. Mai 1966
in einer auf dem Campus
Wandzeitung der z{| Niè Yuáz0 in der angeschlagenen 大字报 dà zì
Peking Universität.
bào Wandzeitung die Leitung der Hochschule politisch scharf angriff. Mao selbst machte
sich den Text und die Art, wie er dargeboten worden war, als
Wandzeitung, ein schnell anzufertigendes, sehr öffentliches Pamphlet, Anfang August, während der 11. Plenartagung des VII. ZK
zu eigen und verfaßte einen kurzen, aber feurigen eigenen Text
unter der Überschrift Bombardiert das Hauptquartier - Meine erste
Wandzeitung139. Darin legitimierte er die Wandzeitung der Dozentin
聂元梓 Niè Yuánz0 als marxistisch-leninistisch und rief das ganze
Land zum Nachahmen auf - Zielrichtung: gewisse führende Genossen, im Klartext: die oberste Parteiführung.
Ein paar Tage später, am 18. August, goß er neues Öl ins Feuer
und empfing, gemeinsam mit seinen Getreuen, auf dem Platz des
Himmlischen Friedens 1,5 Millionen Mitglieder von Rote-GardeVerbänden. Dabei stieg er aus dem Wagen aus und ging durch die
wie von Sinnen begeisterte Menge der Jugendlichen hindurch - ein
Alptraum für seine Wachleute, ein Ansporn für die versammelten
1,5 Millionen Studenten und Schüler. Es konnte für die chinesische
Jugend (und alle anderen) nun gar einen Zweifel mehr geben, auf
welcher Seite Mao stand und was er von den Massen, von ihnen,
erwartete: Angriff auf die Funktionäre und Zerschlagung der alten
chinesischen Gesellschaft.
Weitere sieben solcher Massenaufmärsche folgten bis zum Ende
139
bào.
nopqrstuhvwxy b~o d| s§ l0ng bù - w4 de y§ zh~ng dà zì
228
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
des Jahres und stachelten eine Bewegung an, wie sie die Welt und
schon gar nicht China je gesehen hatte. Die entfesselten Jugendlichen, Schüler und Studenten, machten sich, ungehindert von Polizei oder anderen Sicherheitsorganen, allerorts über die bislang
unantastbaren Institutionen der herrschenden Partei her, brachten
die verhaßten Funktionäre vor riesige Versammlungen, veröffentlichten deren interne Papiere und zertrümmerten deren Organsiation.
Mao empfängt die revolutionäre Jugend auf dem
August 1966.
}~ Ti~n=~nmn Platz:
Im ersten Halbjahr 1967 herrschte so für die 反潮流 f|n cháo liú
gegen den Strom schwimmende Rebellenfraktionen eine Freiheit
wie weder vor- nach nachher einmal wieder: 造反有理 zào f|n y4u
l0 Rebellion ist gerechtfertigt lautete der von Mao selbst sanktionierte Schlachtruf, den sie unbehelligt von Polizei oder Armee
bald landesweit auslebten: Schulen und Universtäten waren geschlossen, freie Zugfahrten (unter katastrophalen hygienischen
Bedingungen in den völlig überfüllten Waggons140) im ganzen
Land ermöglichten die Kontaktaufnahme und Ausbreitung der
Bewegung über die lokalen Grenzen hinweg, eine nie dagewesenen
Organisationsfreiheit führte zur Bildung zahlloser politischer
Gruppen, die Publikationsfreiheit zur Veröffentlichung von Wandzeitungen, Broschüren, Flugblättern und Zeitungen, die sich durch140
Ein später geflohener Rotgardist berichtete über diese Zeit: Ken Ling,
Maos kleiner General, 1974, dtv 01024.
229
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
weg gegen die bislang unbehelligt herrschenden und 1967 weiter
in Oposition gegen Mao verharrenden Parteifunktionäre richteten.
Überall in China zerrten Jugendliche die alten Partei-Funktionäre
aus ihren Büros und Wohnungen, stellten sie auf riesigen öffentlichen Versammlungen, häufig in Sportstadien, zur Rede und zur
Schau, demütigten und quälten sie, sperrten sie ein, so, wie diese
selbst es zuvor und ohne Gewissensbisse mit ihren Gegnern auch
getan hatten.
Im Hintergrund freilich saßen erfahrene Drahtzieher, zu diesem
Zeitpunkt vor allem die Mitglieder der Gruppe für die Kulturrevolution, angeführt von Maos Frau 江青 Ji~ng Q§ng. Sie förderten den Personenkult um Mao, der mit seinen chinesischen
Charakteristika alles in den Schatten stellt, was die Welt bis dahin
kannte, intrigierten und mobilisierten gegen die als Angriffsobjekte
ausersehenen Funktionäre in Universitäten, Stadtverwaltungen,
Ministerien etc., trafen und instruierten in kleinen Gruppen gezielt
die Anführer von Rotgardistenorganisation, damit diese kleinen
Generale ihre Sturmtruppen in Stellung brachten, per Hausdurchsuchungen bei Parteifunktionären aller Ebenen (inklusive des Staatspräsidenten 刘少奇 Liú Sh|oqí!) Denunziationsmaterial beschafften.
Sie intrigierten vor allem
mit dem Ziel, 刘少奇 Liú
Sh|oqí und 邓小平 Dèng Xi|op§ng, den Staatspräsidenten und
den Generalsekretär der Partei,
zu entmachten. Arbeitsgruppen
beschäftigten sich mit dem
Z u s a m m e n s t e l l e n Jugendliche greifen den Staatspräsiden‚
denunziatorischen Materials ten und Mao-Gegener € Liú Sh|oqí
Wohnsitz im Funktionärsviertel
ƒ„…
gegen sie und andere. Die Vor- in seinem
ZhÇng Nán H|i an.
würfe reichten dabei häufig bis
in die dreißiger Jahre der chinesischen Revolution zurück. Schon
damals hätten sie gegen den Vorsitzenden Mao gearbeitet, die
Partei verraten und ähnliche hahnebüchene Anschuldigungen
schwerster Art. Sie lauteten generell auf Abweichung vom Mar230
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
xismus-Leninismus über die Wiederherstellung des Kapitalismus in
China bis zum Landesverrat und zur früheren geheimen Kollaboration mit Tschiang Kai-schek.
Immer wieder und immer öfter kam es jedoch im Frühjahr 1967
über absurde Fragen der Treue zum Vorsitzenden Mao zu Spaltungen der aufgeputschten Rotgardisten-Organisation, die sich
alsbald sehr handgreiflich zu bekämpfen begannen, nicht selten
auch mit Waffen, die sich von der ansonsten stillhaltenden Armee
besorgt hatten.
Im Kampf um die Etablierung der neuen revolutionären Machthaber in zentralen und dezentralen Stellen suchten sich die
Aspiranten auf die neuen Posten Handhaben und Argumente gegen
die abzusetzenden Funktionäre. Sie funktionalierten deshalb die
eifernden Jugendlichen, schickten sie mit Hilfe lancierter Denunziationen und Verleumdungen in Auseinandersetzungen, veranlaßten sie (nicht die Polizei) zu zahllosen Verhaftungen und
Deportationen ihrer verunglimpften Gegner in abgelegene Landstriche und Provinzen, stachelten sie auf zu überfallartigen, willkürlichen Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen persönlichen Eigentums sowie zu langwierigen Überprüfungen des
persönlichen Hintergrunds auf sogenannte Klassenzugehörigkeit
und politische Korrektheit.
All dies betraf bald nicht mehr nur verhaßte Partei-Funktionäre,
sondern viele Millionen anderer Menschen, Nachbarn und Arbeitskollegen, die dadurch in jahrelanges Unglück stürzten. Zunehmend
wurden auch private Rechnungen auf diese Weise beglichen, kam
es zu Mord und Totschlag und schließlich zur freien Entfaltung des
Mobs in ganz China.
Schon im Juli 1967 explodierten die Spannungen zwischen
sogenannten revolutionären Massenorganisationen141 in der zentralchinesischen Stadt 武汉 Wßhàn (Provinz 湖北 Húbi) in
großflächige und vor allem bewaffnet, unter Beteiligung lokaler
141
†‡ˆr
‰Š‹Œ
Zwei große Organisationen waren beteiligt, das von der lokalen Armee
unterstützte
gÇng rén z4ng bù Arbeiterhauptquartier und die
b|i wàn xióng sh§ Eine Million Helden-Löwen.
231
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Truppenteile ausgetragene Straßenkämpfe, die überdies zu einem
Zeitpunkt ausbrachen, als Mao selbst sich gerade in der Stadt
aufhielt. Mehrere Mitglieder der damaligen Pekinger Führung,
darunter Militärs und auch Premier 周恩来 ZhÇu ÷nl|i, der Maos
Politik stets getreulich umsetzte und so den großen Umbruch der
Funktionärswelt unbeschadet überstand, mußten persönlich vor Ort
eingreifen, um den Vorsitzenden unter großem Sicherheitsaufwand
zu evakuieren. In anderen Landesteilen setzte sich diese dramatische Verschärfung der Straßenkämpfe fort.
Am 1. August 1967, dem Gründungstag der chinesischen Armee
und ein gutes Jahr nach der Entfesselung der Massen, veröffentlichte die Parteizeitung plötzlich zahllose Artikel zum Lobe des
Volkskrieges, die als Unterstützung für die zunehmenden bewaffneten Auseinandesetzungen interpretiert werden konnten. Außerdem rief das KP-Magazin 红旗 Hóng Qí Rote Fahne, über das die
Gruppe für die Kulturrevolution die eigenen Anhänger landesweit
steuerte, in einem gleichzeitig erschienenen Beitrag dazu auf, die
kleine Zahl [sogenannter kapitalistischer Machthaber = Mao-Gegner] in der Armee zu ergreifen142.
Die Armee jedoch war der letzte, Mao und seiner Fraktion verbliebene Ordnungsfaktor im Land. Nur mit ihrer Hilfe würde es je
möglich sein, die zu Millionen kämpfenden Chinesen wieder einzufangen und -nach Konsolidierung der eigenen Macht- wieder in den
Alltag zurückzuführen. Eine Spaltung oder Auflösung der Armee
in sich bekämpfende Fraktionen wollten die Gewinner der Kulturrevolution im Interesse des eigenen Überlebens unbedingt verhindern, um nicht selbst noch im Chaos untergehen.
Die Situation am 1. August 1967 gebot es deshalb, die sichtlich
aus dem Ruder laufende in blanke allgemeine Anarchie abgleitende
Bewegung umgehend, jetzt, in kontrollierbare Bahnen zu lenken.
Mit anderen Worten: Die größten Scharfmacher hatten ausgedient
und konnten entmachtet werden.
Zunächst erfolgte eine Säuberung oben, in der Zentrale, in der
Gruppe für die Kulturrevolution, wo die radikalsten Radikalen, die
142
Ž‘ jiã jãn nèi xi|o cuÇ.
232
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
auch für den 红旗 Hóng Qí Rote Fahne-Artikel verantwortlich
waren, der zur Säuberung der Armee aufgerufen hatte, am 31.
August verhaftet wurden143. Anschließend übernahm es 林彪 Lín
Bi~o mit Hilfe eines aktiven Eingreifens der Armee, die JugendOrganisationen zu bezähmen. Kurz darauf, Ende 1967, begann
überdies die systematische Verschickung von Millionen Rotgardisten 上山下乡 shàng sh~n, xià xi~ng auf die Berge hinauf und ins
Land hinuter, wo sie gemeinsam mit den chinesischen Bauern
Leben und Arbeit teilen, von diesen lernen sollten. In Wahrheit
ging es darum, der Bewegung durch die (freiwillige!) Deportation
der Aktivsten die Dynamik zu nehmen, denn deren Zweck -die
Entmachtung der Widersacher Maos in der obersten Partei- und
Staatsführung- war Ende 1967 so gut wie erreicht.
Zügig war in der zweiten Hälfte 1967 und der ersten 1968 der
Austausch entmachteter Parteifunkionäre in den Provinzen durch
häufig aus der Armee kommende neue Kader erfolgt. Statt 党委
d|ng wi Parteikomitee wie bisher, hießen die neuen Machtorgane
nunmehr 革命委员会 gé mìng wi yuán huì - Revolutionskomitees.
Im Oktober 1968 waren diese neuen Machtorgane in allen
Provinzen installiert und die Lage damit soweit stabil, daß eine
Tagung des Zentralkomitees (12. Plenartagung des VII. ZK)
zusammentreten und eine erste Bilanz ziehen konnte. Dabei zeigte
sich, daß ca. zwei Drittel der ursprünglichen ZK-Mitglieder nicht
mehr teilnahmen. Sie waren als Revisionisten, von der sogenannten
revolutionären Linie abweichende Funktionäre, und machthaber,
die den kapitalistischen Weg gehen, entmachtet und für Jahre zur
Umerziehung durch Arbeit auf das Land deportiert, wo sie in
sogenannten 7. Mai Kaderschulen, landwirtschaftliche Arbeiten
leisteten oder -wie Mao zu sagen beliebte- von den Bauernmassen
lernten. An ihre Stelle in den Partei- und Staatsorganen waren
zumeist Angehörige der Armee getreten, was viele Beobachter im
Westen veranlaßte, vom kulturrevolutionären China als einer
Militärdiktatur zu sprechen.
143
Es handelte sich um
’“ Wáng Lì und ”• Gu~n F‘ng.
233
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Die Tagung des Zentralkomitees beschloß den Ausschluß des
seit einem Jahr als Chruschtschow Chinas und Oberster Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht, und sogar als Landesverräter geschmähten und von den Rotgardisten auch physisch
ruinierten 刘少奇 Liú Sh|oqí für alle Zeiten aus der Partei. Er
starb bald danach, völlig allein gelassen und elend, im Oktober an
unbehandelten Krankheiten. Generalsekretär 邓小平 Dèng Xi|op§ng (Machthaber No. 2, der den kapitalistischen Weg geht) verlor
ebenfalls seine Ämter und ging in die Verbannung aufs Land, wo
er sich dem Vernehmen nach um Schweineställe kümmerte (eine
Tätigkeit, die er bis dahin immer nur anderen zugewiesen hatte).
Auf dem im folgenden Frühjahr 1969 unter vollkommener
Geheimhaltung durchgeführten 9. Parteitag der KP, der die aktivistische Phase der Kulturrevolution abschloß, erhielt Maos
wichtigster Helfer in diesem nunmehr gewonnen Machtkampf,
林彪 Lín Bi~o, seine Belohnung als treuester Kampfgefährte: Das
verabschiedete neue Parteistatut legte ihn als Nachfolger des zu
diesem Zeitpunkt bereits 76jährigen Mao fest.
Allerdings war das machtpolitische Gefüge Chinas damit noch
keineswegs stabilisiert. Zwar waren alle alten Fraktionen beseitigt,
ihre Protagonisten entweder tot oder -in der Mehrzahl- in sehr
einame und öde Gegenden Chinas verbannt worden. Aber an ihre
Stelle war keine eine einheitliche, Mao-treue Clique getreten. Die
höchste Macht im Land der 800 Millionen Menschen verteilte sich
1969/70 vielmehr auf vier sowohl im fünfköpfigen Ständigen
Ausschuß des KP-Politbüros als natürlich erst recht im 21
Mitglieder zählenden Politbüro selbst vertretene Gruppen, die in
der Folgezeit, bis zum Tod Maos 1976, immer intensiver damit
fortfuhren, gegeneinander zu arbeiten, um allein die Macht über
China zu genießen:
! Mao und der ihm bedingungslos ergebene Premier 周恩来 ZhÇu
÷nlái mitsamt einigen Politbüromitgliedern, die zu den Revolutionären der ersten Stunde gehörten, und die als Machthaber
unantastbar geworden waren, solange sie lebten.
! 林彪 Lín Bi~o mitsamt der von ihm ins Politbüro gebrachten
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Generäle, die seinen Zugriff auf die Armee sicherten, und
! der höchst zwielichtige Geheimdienstchef 康生 K~ng Sh‘ng
sowie zu diesem Zeitpunkt noch Maos Ex-Sekretär und Marxismus-Leninismusberater 陈伯达 Chén Bódá, die den Einfluß der
nur bis ins Politbüro aufgestiegenen Emporkömmlinge der Kulturrevolution vertraten: Maos Frau 江青 Ji~ng Q§ng, des
Verfassers der berühmten Theaterkritik, 姚文元 Yáo Wényuán,
und des 上海 Shàngh|ier Funktionärs 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo,
der in dieser wichtigen Industriestadt für den Sieg der Kulturrevolution gesorgt hatte, ohne daß dieses Wirtschaftszentrum
Chinas komplett ausgefallen wäre.
In einer ersten Runde der post-kulturrevolutionären Machtkämpfe
suchte der engste Kampfgefährte Maos und sein amtlicher Nachfolger 林彪 Lín Bi~o die eigene Position dadurch zu verbessern,
daß er Mao aus dem Weg zu schieben suchte. Den ersten Anlauf
dazu unternahm er auf der zweiten Plenartagung des IX. Zentralkomitees, die im August 1970 am gleichen Ort stattfand, wo Mao
1959 seinen aufmuckenden ehemaligen Verteidigungsminister
彭德怀 Péng Déhuái vernichtet und 林彪 Lín Bi~o dessen Nachfolge angetreten hatte, in dem Sommerfrische-Ort 庐山 Lúsh~n
(Provinz 江西 Ji~ngx§).
Wie sich im Verlauf der Tagung für Mao zeigte, suchte 林彪
Lín Bi~o die Vorbereitungsarbeit für eine neue Verfassung Chinas
in der Weise für sich zu nutzen, daß er selbst das vakante Amt des
Staatsvorsitzenden (= Präsidenten), das der entmachtete und inzwischen tote 刘少奇 Liú Sh|oqí innnegehabt hatte, für sich beanspruchte.
Der schlaue Mao durchschaute den Plan, ging aber zunächst
noch nicht gegen 林彪 Lín Bi~o selbst vor, sondern konzentrierte
sein rhetorisches Feuer144 auf den Lin unterstützenden 陈伯达
Chén Bódá, der in der Folge verhaftet und in Form einer mehr-
tuh–—˜
144
Mao schrieb einen Artikel unter der Überschrift
w4 de y§
di|n yì jiàn Meiner Meinung nach, den er auf der Konferenz verteilen ließ und in
dem er vorderhand nur
Chén Bódá angriff.
abc
235
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
monatigen innerparteilichen Versammlungs-Kampagne ideologisch
vernichtet wurde.
Für den Nachfolger und engsten Kampfgefährten 林彪 Lín Bi~o
folgte aus dieser Niederlage jedoch -so die bis heute offizielle Lesart der KP- nicht, seine Ambitionen auf- und sich mit dem Erreichten zufriedenzugeben. Stattdessen arbeitete er bis zum Herbst des
Folgejahres 1971 gemeinsam mit seiner Frau, die Mitglied im Politbüro war, sowie einigen von ihm ebenfalls in dieses Gremium
gebrachten Generälen (und seinem in der Armee tätigen Sohn!) an
der Entmachtung und physischen Beseitigung Maos durch einen
Militärputsch.
Obwohl auch in China eine recht große Menge von Material,
angeblichen Beweisen und auch Erinnerungen mehr oder weniger
direkt beteiligter Personen bis heute veröffentlicht werden, bleibt
dieses abenteuerlich anmutende Unternehmen des 林彪 Lín Bi~o
über weite Strecken im Obskuren und teils Unglaubhaften. Fest
steht wohl, daß Lin am Abend des 12. September 1971 zusammen
mit seiner Frau und seinem Sohn das Scheitern ihres Vorhabens
einsahen und einen Fluchtversuch per Flugzeug ausgerechnet in die
Sowjetunion unternahmen, die zu diesem Zeitpunkt zum Hauptfeind Chinas geworden war. Das Flugzeug, in dem außer Lin auch
seine Frau und sein Sohn als Passagiere saßen, stürzte jedoch in
den frühen Morgenstunden des 13. September über dem Gebiet der
damaligen Mongolischen Volksrepublik, außerhalb Chinas, ab.
Alle Insassen kamen dabei ums Leben.
Fest steht weiterhin, daß Mao nach der ZK-Sitzung im Herbst
1970 in 庐山 Lúsh~n, erst recht aber in den letzten Monaten vor
der Flucht des 林彪 Lín Bi~o, dessen Umsturzvorbereitungen
geahnt und einige Vorkehrungen dagegen getroffen und es so zum
Scheitern gebracht hatte.
Und fest steht schließlich auch, daß diese Eeignisse, die der
Öffentlichkeit weder in China noch in der Welt, auf Dauer verschwiegen werden konnten, das nach-kulturrevolutionäre Regime
(inclusive Mao selbst) in hohem Maße erschütterten und seine
Legitimität nachhaltig beschädigten. Nach und nach nur sickerte
zunächst durch, daß der Nachfolger und engste Kampfgefährte des
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Vorsitzenden Mao, 林彪 Lín Bi~o, diesen zuerst hatte umbringen
wollen und nach dem Scheitern des Vorhabens dann zum Feind
nach Moskau hatte überlaufen wollen.
Wie war es möglich gewesen, mag sich mancher gefragt haben,
daß dem allzeit korrekten Mao ein solcher Fehlgriff unterlaufen
war? Unmittelbar nach Lins Flucht erfolgte die Entmachtung aller
seiner Gefolgsleute, die fast allesamt hohe Generäle der Armee
waren. Erst Ende 1971, Anfang 1972 hatte sich die Propagandamaschine dann soweit ausgerichtet, daß eine heftige neue
Massenkampagne zur Verurteilung des Verräters 林彪 Lín Bi~o
begonnen werden konnte.
Auch Mao hatten diese Ereignisse sichtlich zugesetzt. Der zu
diesem Zeitpunkt fast 80jährige Greis verfiel fortan physisch immer
mehr und offensichtlicher, blieb aber gleichwohl aktiv.
Es war eine seit dem Frühjahr 1971 parallel zur 林彪 Lín Bi~oKrise ablaufende, für die Chinesen und die Welt völlig unerwartete,
wiederum von Mao eingeleitete außenpolitische Entwicklung, die
das Regime nach dem 林彪 Lín Bi~o-Abgang vor einem Totalbankrott bewahrte: die sogenannte Öffnung zum Westen.
Die wahre Weltrevolution: Chinas Öffnung (1971 bis 2003)
Mit dem militärischen Eintritt chinesischer Armeeeinheiten als
Gegner der UN-/US-Truppe, die in Korea gegen die vorstürmenden
Nordkoreaner kämpften, war China von der UNO als aggressive
Macht verurteilt und vom Westen unter Quarantäne gestellt worden: keine diplomatische Anerkennung des neuen Staates erfolgte,
kein politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Austausch, ein
Handelsboykott schnitt die Volksrepublik effektiv von der Teilnahme am gewinnbringenden internationalen Wirtschaftsverkehr
ab. Was dem neuen China einzig blieb, waren die Sowjetunion und
die ihr verbundenen Regime in Osteuropa, Asien (Nordkorea,
Nord-Vietnam) und später Amerika (Kuba). China war isoliert.
Der aktive chinesische Widerstand gegen das aufdringlicher
werdende sowjetische Großmachtgehabe Ende der fünfziger Jahre
und die folgende ideologische Kritik an der KPdSU in der ersten
Hälfte der sechziger Jahre beantworte Moskau mit dem de facto
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Abbruch seiner Beziehungen zu Peking und zwang bis 1965 auch
seine Vasallenstaaten (inklusive der DDR), ihre eigenen Beziehungen zu China ebenfalls einzufrieren. So stand Peking am Beginn
der Kulturrevolution bereits recht einsam in der Welt da:
! Mit Ausnahme Frankreichs, das gegen erheblichen amerikanischen Widerstand 1964 aus der westlichen Boykottfront ausgeschert war und diplomatische Beziehungen mit China aufgenommen hatte, und Großbritannien, das (wegen seiner Kolonie
Hongkong) einen Geschäftsträger (keine Botschaft!) in Peking
unterhielt, gab es 1966 keine weiteren, NATO-Staaten angehörenden Botschafter in der chinesischen Hauptstadt.
! Die Ostblockländer unterhielten zwar weiterhin ihre Botschaften
in Peking, doch gab es zwischen ihnen und den chinesischen
Stellen keinen substantiellen Austausch mehr.
! Der einzige europäische Verbündete Albanien, einige gerade
unabhängig gewordene ehemalige Kolonien in Afrika sowie
Länder des Nahen Ostens wie Ägypten waren so die einzigen
Staaten, die diplomatisch aktiv in Peking vertreten waren nicht gerade das, was Chinesen ernst nahmen oder als der
Würde ihres Landes angemessen sahen.
Die Kulturrevolution verschärfte die internationale Isolierung
Chinas insofern, als seine gesamte herrschende Klasse durcheinandergewirbelt, um- und umgeschichtet und schließlich zu großen
Teilen ausgetauscht wurde. Das Land besaß zwischen Sommer
1966 und dem IX. Parteitag im Frühjahr 1969 nicht einmal eine
Regierung, geschweige denn eine Diplomatie. Die wenigen Botschafter, die im Ausland auf Posten waren, wurden ebenso wie alle
anderen Funktionäre auf ihre Treue zum Vorsitzenden Mao überprüft, wozu sie ihre Botschaften verließen, um nach China zurückzukehren und ihr Überleben zu sichern. Ein Viertel der Menschheit
lebte so in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre praktisch vollständig isoliert vom Rest der Welt.
Im August 1967 marschierten dann sowjetische Truppen in die
Tschechoslowakei ein, deren reformorientierte Parteiführung sich
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
aus dem Moskauer Machtbereich zu lösen suchte, und unterdrückten gewaltsam den sogenannten Prager Frühling. In Peking nahm
der Premier dazu Stellung und bezeichnete das Vorgehen als
Aggression. Es sei der Beweis, daß die Sowjetunion nicht nur das
Glaubensbekenntnis, den Marxismus-Leninismus, verrraten habe,
sondern in der Folge dessen selbst zu einem imperialistischen Staat
geworden sei. Die ganze revolutionäre Welt, so Peking, möge
daran erkennen, wohin es führe, wenn die wahre kommunistische
Lehre aufgegeben werde.
Die chinesischen Machthaber fühlten sich jedoch vor allem
selbst bedroht von der Moskauer Aktion gegen die Tschechoslowakei und begannen in sehr intensiver Weise Vorbereitungen
gegen einen befürchteten sowjetischen Militärschlag zu treffen. Im
Frühjahr 1969, wenige Wochen vor dem IX. Parteitag, kam es dann
im Nordosten, an der sowjetisch-chinesischen Grenze am UssuriFluß, tatsächlich zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen
Grenztruppen beider Länder und die gegen Moskau gerichtete und
vor Moskauer Kriegstreibereien warnende chinesische Propaganda
begann sich förmlich zu überschlagen.
Wer immer diese Grernzscharmützel ausgelöst hatte, Russen
oder die Chinesen selbst, eines steht fest: Die chinesische Führung
fühlte sich von Moskau bedroht und suchte nach einer Strategie,
die es ihr erlaubte, mit Hilfe anderer Staaten, Druck auf die Sowjetunion auszuüben, um sie so von militärischen Aktivitäten entlang
der gemeinsamen Grenze fernzuhalten. Nach Lage der Dinge
kamen dafür nur die NATO-Staaten in Frage, insbesondere der
mächtigste von ihnen: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Ende 1970 verordnete der Realpolitiker Mao deshalb einen
atemberaubenden außenpolitischen Schwenk um 180 Grad - China
sollte sich den seit über zwanzig Jahren als größten Feind der
Völker (und natürlich Chinas) geschmähten, den Erzfeind Tschiang
Kai-schek auf Taiwan unterstützenden US-Imperialisten zuwenden! Und zwar ohne, daß die Amerikaner etwas an ihrer Außenpolitik gegenüber China oder anderswo (Vietnam) geändert
hätten!
Im Dezember 1970 sagte Mao zu dem ihn besuchenden alten
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Bekannten, dem amerkanischen Journalisten Edgar Snow, Präsident Nixon sei willkommen, wenn er China besuchen wolle - heimlich oder öffentlich, das sei ihm egal145. Snow übermittelte das
Angebot (eigentlich schon eine Einladung) sogleich nach seiner
Rückkehr, doch nahm es die Administration in Washington nicht
zunächst ernst. So setzte Peking bald nach.
Der sensationelle Salto kündigte sich im Frühjahr 1971
unübersehbar an, als Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái -auf Maos Weisung natürlich- persönlich dem amerikanischen Tischtennis-Team,
das zu dieser Zeit an den Weltmeisterschaften in Japan teilnahm,
eine kurzfristige Einladung nach Peking aussprach.
Der Besuch, der als Ping-Pong-Diplomatie in die Geschichte
einging, fand vom 10. bis 17. April statt und löste in den westlichen
Medien ein gewaltiges Echo aus. Anschließend zog, wie später
bekannt wurde, der Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Nixon, Henry Kissinger, alle Fäden der Geheimdiplomatie und
reiste am 9. Juli 1971 heimlich von Pakistan aus nach Peking, wo
er in Verhandlungen mit den obersten Machthabern die Voraussetzungen für den im Februar 1972 folgenden ersten Besuch eines
US-Präsidenten in China überhaupt -von der Zeit nach 1949 ganz
zu schweigen!- vorbereitete. Der sensationelle Besuch wurde eine
Woche später bekanntgegeben.
Zu klären war für Kissinger dabei nicht der umgehende Abzug
der riesigen US-Armee, die in Vietnam Krieg gegen Pekings
revolutionäre Verbündete in Hanoi führte, sondern einzig, wie in
einem anläßlich des Nixon-Besuches zu veröffentlichen Kommuniqué der chinesische Territorialanspruch auf die Insel Taiwan mit
den fortbestehenden diplomatischen Beziehungen Amerikas zu
dieser sogenannten Republik China und dem ebenfalls weitergeltenden Sicherheits- und Bündnisvertrag der USA mit Taipei in
Einklang gebracht werden könnte.
Bevor die Airforce One Maschine mit dem amerikanischen
Präsidenten jedoch ein halbes Jahr später auf dem Pekinger Flug145
Der Text dieser Gesprächspassage in: Mao Zedong On Diplomacy,
Foreign Languages Press Beijing1998, S. 449f.
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
hafen landete, fuhr die
chinesische Regierung als
Belohnung für ihre Volte
schon im Herbst 1971 eine
reiche außenpolitische Ernte
ein: Im September 1971
gelang es Washington nicht
mehr wie in allen Jahren
zuvor, den Einzug Chinas in
›
die UNO und sogar den Vize-Außenminister ™š Qiáo Gu~nhuá
Sicherheitsrat über eine Mehr- (links) nimmt Chinas Platz in der UNO ein.
heit in der Vollversammlung zu verhindern. Das Gremium stimmte
-für Washington überraschend- mehrheitlich der Aufnahme Chinas
zu und verbannte gleichzeitig die Republik China, den Verbündeten
der USA, den Todfeind Pekings, aus dem obersten UN-Gremium,
aus der Vollversammlung und allen UN-Unterorganisationen.
Für China war dies nach 22 Jahren der größte und wie sich in
einer Kettenreaktion bald zeigte auch der entscheidende außenpolitische Erfolg. Die Kontaktaufnahme zu Amerika bewirkte den
Durchbruch zum Weltmachtstatus, brachte die Belohnung für die
gegen die Sowjetunion als Hauptgegner zielende Pekinger Außenpolitik, bewirkte einen gewaltigen Legtimierungsschub, eine
Sauerstofftherapie, für das kurzatmige, zu diesem Zeitpunkt innenpolitisch und wirtschaftlich weitgehend abgewirtschaftete KPRegime. Den verheerenden 林彪 Lín Bi~o-Schock, der gleichzeitig
an den letzten ideologischen und legitimatorischen Grundfesten der
Herrschaft in Peking rüttelte, milderte dieses außenpolitische
Manöver soweit, daß er sich nicht so gefährlich auswirkte, wie es
sonst wohl der Fall gewesen wäre.
Am 21. Februar 1972 traf der amerikanische Präsident und
Kommunisten-Hasser per se, Richard M. Nixon, in Peking ein, wo
ihn Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái am Flughafen empfing und
herzlich begrüßte.
Nixon traf Mao und unterschrieb zum Abschluß seiner Reise in
上海 Shàngh|i das Shanghaier Kommuniqué, das die chinesischamerikanischen Beziehungen auf eine Basis stellte, von der aus der
241
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Weg geradewe g s zur
Aufnahme diplomatischer
Beziehungen (1979) und in
den neunziger Jahren dann zu
den gewaltigen DollarInvestitionen amerikanischer
und anderer westlicher (und
östlicher) Investoren führte,
den US-Präsidenten Richard
die China heute zu einem der 1972: Mao trifftNixon
in Peking.
weltweit gefragtesten Wirtschaftspartner machen.
Nur etwas mehr als ein halbes Jahr dauerte es nach Nixons
Abreise, bis alle wichtigen Länder der Erde mit der Volksrepublik
China diplomatische Beziehungen aufgenommen und den Staat
damit als gleichberechtigt anerkannt hatten. (Auch die Bundesrepublik Deutschland gehörte dazu, die am 3. Oktober 1972 diesen
Schritt vollzog. Die DDR hatte die Volksrepublik bereits 1949
anerkannt.)
Parallel zu dieser Entwicklung geriet Tschiang Kai-scheks
Taiwaner Republik China -auf aktives Betreiben Pekings hin- Zug
um Zug in größere politische Isolation: Zunächst aus der UNO und
anschließend aus allen ihren Unterorganisationen ausgeschlossen,
verlor das Land auch rasch seine diplomatischen Partner. Peking
stimmte einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen konsequent
immer nur dann zu, wenn alle etwa bestehenden offiziellen Beziehungen zu Taiwan abgebrochen wurden, was für die neuen Freunde
kein Problem war - eine kleine Insel gegen ein Viertel der
Menschheit. Nur gut zwei Dutzend kleine und kleinste Staaten
unterhalten heute noch Botschaften in Taipei, meist, weil sie dafür
mit erklecklichen Geldüberweisungen belohnt werden. Der wichtigste Partner unter ihnen ist der Vatikanstaat. Und der Papst wird
wohl solange zu Taiwan halten, wie sich Peking einer für den
Vatikan befriedigenden Regelung des Status der papsttreuen
katholischen (sogenannten Untergrund-)Kirche in China verweigert. (Die KP Chinas lehnt es kategorisch ab, auf ihrem Territorium
Organisationen zuzulassen, die wie die katholische Kirche aus dem
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Ausland gesteuert werden. Zugelassen ist eine sogenannte
nationale katholische Kirche.)
Nur die USA taten sich auch nach dem Nixon-Beusch während
der gesamten siebziger Jahre weiterhin schwer mit der
Anerkennung der Volksrepublik China. Wie sonst nirgends hatte
sich hier in zwei Jahrzehnten der engsten Kooperation alle ChinaPhantasie mit dem Regime Tschiang Kai-scheks auf Taiwan
verbunden, was, wie bei allen Angewohnheiten, nicht so leicht
rückgängig zu machen war. Überdies hatte sich eine sehr professionell arbeitende Taiwan-Lobby in Washington organisiert, die alles
unternahm, um ein Fallenlassen der Insel zugunsten diplomatischer
Beziehungen mit China zu verhindern.
Dies gelang tatsächlich bis Ende 1978, als die Charter-Regierung beschloß, die Beziehungen zu China zum 1. Januar 1979
aufzunehmen. Allerdings nicht, ohne über ein Gesetz, den Taiwan
Relations Act, alle folgenden Regierungen Amerikas auf den
Schutz Taiwans vor einer nicht gewollten Übernahme durch China
zu verpflichten. Auf Basis dieses amerikanischen Gesetzes liefern
die USA bis heute Waffen zur Selbstverteidigung nach Taiwan und
finden, ständig von China kritisiert, quasi-offizielle Beziehungen
aller Art zwischen beiden Ländern statt.
In den frühen siebziger Jahren machten Mao und die anderen
chinesischen Machthaber auf der durch Nixons Besuch geschaffenen stabilisierten außenpolitischen Basis den nun in immer
größerer Zahl Peking besuchenden ausländischen Regierungschefs
deutlich, daß sie größtes Interesse daran hatten, die Sowjetunion,
den Hauptfeind des Westens, zu isolieren und einzudämmen, und
daß sie aus diesem Grund am allerliebsten mit den konservativsten
westlichen Politikern zusammentrafen. Das galt auch für sogenannten Führer der Dritten Welt, Despoten aus Entwicklungsländern,
die aktiv aufständische, linke Bewegungen bekämpften: Wer gegen
die Sowjets war, war in Peking willkommen.
Mao selbst hatte diese außenpolitische Linie mit seiner
sogenannten Theorie der drei Welten abgesichert, die, aufbauend
auf seinem alten Konzept der Einheitsfront, davon ausging,
243
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
! daß es eine erste Welt der Supermächte gebe, USA und Sowjetunion, deren verwerfliches Ziel es sei, alle anderen Länder, die
gesamte Erde, zum eigenen Nutzen zu beherrschen. Beide
Supermächte seien schlecht und zu bekämpfen; indessen sei die
sowjetische die aggressivere von beiden Supermächten und
daher augenblicklich der Hauptgegner.
! Die zweite Welt bildeten danach vor allem die europäischen
Industrieländer sowie Japan, Australien etc., die eine mittlere
Position einnnähmen, sich sowohl vor den USA als auch der
UdSSR fürchteten und daher nach Verbündeten umsähen.
! Schließlich gebe es noch die dritte Welt, die armen Entwicklungsländer, die sowohl zur ersten als auch zur zweiten Welt in
Widerspruch ständen.
Gerade so wie in seiner Einheitsfrontstrategie, die der KP letztlich
den Sieg über Tschiang Kai-schek und später über ihre innerchinesischen Gegner ermöglicht hatte, suchte Mao damit die
Länder der Welt aufzuteilen, um dann wie einst 秦 Qín bei seinem
Kampf mit den anderen Staaten, eine möglichst große Allianz gegen den größten Feind, in diesem Fall die Sowjetunion,
zusammenzubringen.
Gerade dieses Bestreben kam, bis zu einem gewissen Grade,
auch den NATO-Staaten, vor allem den USA, und den konservativen Parteiführern Westeuropas sehr entgegen, weshalb sie sich
schnell auf Mao einließen - freilich mit dem entgegengesetzten
Ziel, nämlich Moskau einen starken, ablenkenden Gegner an seiner
Ostflanke zu verschaffen, während Peking dies an seiner Westgrenze sehen wollte.
Fast zwanzig Jahre lang, bis zur Auflösung der Sowjetunion,
wuchs auf dieser von Mao gelegten win-win-Basis ein sehr enges
politisches Verhältnis zwischen dem Westen und China, das nicht
selten in eine ungewohnte China-Begeisterung gerade konservativer Kreise umschlug. Während die sogenannten Linken in Europa
die Pekinger Realpolitik schon bald nicht mehr nachvollziehen
mochten und sich sukzessive enttäuscht abwandten, begeisterten
sich in den siebziger Jahren gerade Rechte immer stärker für den
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Vorsitzenden Mao. Delegation um Delegation brachen sie nach
Peking auf und zeigten sich durchweg beeindruckt, wenn nicht gar
tief beeindruckt und sehr positiv angetan von dem, was sie in
Rotchina sahen (bzw. zu sehen vermeinten). Bald nahmen auch
ihnen politisch verbundene, steinreiche Wirtschaftsführer an den
Besuchen teil und begannen, vom riesigen chinesischen Markt zu
schwärmen, der ihnen (bzw. ihren Vorgängern) seit der Besetzung
Chinas durch Japan Ende der dreißiger Jahre, erst recht aber nach
Gründung der Volksrepublik, verschlossen gewesen war.
So wuchs, vergleichbar der chinoiserie des 18. Jahrhunderts in
den siebziger Jahren des 20. die westliche China-Sympathie in Europa und Amerika wieder einmal ins Unendliche und entfachte
zusätzlich die Hoffnungen, die Firmen-Manager entwickeln, wenn
sie einen unerschlossenen Markt sehen - zumal, wenn es der größte
Markt der Welt ist.
Diesen Vorstellungen, die nahtlos an jene anschlossen, die zur
ersten sogenannten Öffnung Chinas in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts geführt hatten, stand in dieser Phase jedoch die weiter
geltende völlige wirtschaftliche Abschottung und die ideologisierte, von pausenlosen Machtkämpfen gekennzeichnete innenpolitische Situation in China entgegen, konkret: die Fraktionierung
der aus der Kulturrevolution überkommen Machthaber und sonstigen Kader. Auch hier würde aber nun eine Bereinigung
stattfinden.
Mit der Flucht des 林彪 Lín Bi~o war eine der drei nachkulturrevolutionären herrschenden Fraktionen, nämlich die Armee,
weitgehend ausgeschaltet (= verhaftet) worden. Da Militärs nach
der Zerschlagung der Parteiorganisation 1967/68 sehr viele Funktionärs-Positionen eingenommen hatten, während ihre revisionistischen, den kapitalistischen Wege gehenden Vorgänger in abgelegenen Provinzen in der Landwirtschaft oder mit sich selbst
beschäftigt waren, sich umerzogen, verursachte die post 林彪 Lín
Bi~o-Säuberung eine große Vakanz auf vielen leitenden Posten.
Deshalb besann sich Mao nolens volens auf die alten, vielleicht auf
dem Land tatsächlich geläuterten Kader. Sehr zügig ließ er einen
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Gestürzten nach dem anderen, häufig sogar in seine alte Position
zurückkehren, aus der ihn Rotgardisten ein paar Jahre zuvor mit
Schimpf und Schande und unter demütigenden Umständen
vertrieben hatten.
Am 10. Januar 1972 gab Mao den Startschuß zu den danach wie
eine Flut ansteigenden sogenannten Rehabilitierungen, als er, für
alle sehr überraschend, an der
Beerdigung des ehemaligen Außenministers und alten Mitkämpfers 陈毅
Chén Yì teilnahm, den er persönlich,
Anfang 1967 entmachtet hatte146. 陈毅
Chén Yì sei ein guter Genosse gewesen, sagte er zu der trauernden Witwe,
womit der Mann posthum rehabilitiert
war - ein deutliches Signal. Viele andere namhafte und vor allem: lebendige Funktionäre folgten, nach und
Mao kondoliert
auf
der
Trauerfeier
nach füllten sich die Vakanzen mit

für œ Chén Yì dessen Witwe.
alten Gesichtern und am 10. März
1973 beschloß das Zentralkomitee der Partei, auch den in der
Kulturrevolution als kapitalistischen Machthaber No. 2 abgesetzten
邓小平 Dèng Xi|op§ng zu rehabilitieren und zum Vize-Premier,
also zum Stellvertreter von 周恩来 ZhÇu ÷nlái zu machen.
Als Legitimation dieser Umwertung der Werte diente der Verrat
des 林彪 Lín Bi~o: Er und seine Clique hätten diese guten Funktionäre durch ungerechtfertigte Anschuldigungen aus ihren Ämtern
entfernt, um in China selbst die Macht zu ergreifen und das Land
in die alte Gesellschaft zurückzuführen. Mao habe das nicht gewußt oder sei getäuscht worden.
Mit dem Abtritt der Militärs und der Rückkehr des 邓小平 Dèng
Xi|op§ng waren freilich noch längst nicht alle Fakten der
146
œ
Gemeinsam mit anderen alten Armeeführern hatte sich
Chén Yì
im Februar 1967 offen gegen die Kulturrevolution gewandt, eine Meuterei, die von
den Befürwortern der Bewegung als
èr yuè nì liú Februar-Gegenströmung bezeichnet wurde.
žŸ ¡
246
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Kulturrevolution beseitigt, weder deren ideologische Maxime vor
allem im Bereich der Wirtschaft, ja nicht einmal alle Machthaber,
die von der Bewegung profitiert hatten, waren im Gefolge der 林彪
Lín Bi~o-Affäre verschwunden.
Es blieb die in und mit der Kulturrevolution auf Kosten der AltKader aufgstiegene Funktionärsgruppe um Maos Frau, 江青 Ji~ng
Q§ng, die weiterhin im Politbüro des Zentralkomitees saß und dort
erhebliche Macht ausübte, insbesondere auf die Propagandamedien,
die Universitäten und den gesamten Kulturbereich. Gerade sie
waren es gewesen, die 1967 und 1968 mit allen Kniffen der Kunst
der Intrige und den aufgestachelten und manipulierten Jugendlichen die nun zurückgekehrten Alt-Kader entmachtet hatten. Zwischen dieser Gruppe und den zurückgekehrten Alt-Funktionären
herrschte deshalb ein unüberbrückbarer Gegensatz, ja blanker, sehr
persönlicher Haß, der früher oder später durch die Entmachtung
der einen oder der anderen aufgelöst werden mußte.
Ihr Aufeinander-Losgehen verhinderte bis zu seinem Tode jedoch der unantastbare, gottgleiche Große Vorsitzende Mao, der
weiterhin daran festhielt, wie er seinem alten Freund Edgar Snow
und anderen im persönlichen Gespräch immer wieder anvertraute,
daß er in seinem Leben eigentlich nur zwei große Taten vollbracht
habe, nämlich: Tschiang Kai-schek auf jene Insel zu vertreiben
und: die Kulturrevolution ausgelöst zu haben147. Auf letzteres blieb
er bis zu seinem Ende ganz besonders stolz.
Von den Werten der Kulturrevolution war 1973 freilich nichts
übriggeblieben als mehrere hundert Millionen zutiefst vor sich
selbst erschrockener Chinesen, Mao als ewiger Führer, die kleine,
aber mächtige Funktionärsgruppe um seine Frau und die offizielle
Ideologie, daß der Klassenkampf und die Revolution, also der
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147
Nach der Überlieferung durch seinen langjährigen Leibwächter
W~ng DÇng xìng sagte Mao:
247
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Machtkampf, immer weitergeführt geführt werden müßten.
Dem gegenüber stand aber nun die Phalanx der rehabilitierten
und rachelüsternen Alt-Funktionäre, die sich um 邓小平 Dèng
Xi|op§ng scharte, der vom ersten Tag seiner Rückkehr intensiv
und unermüdlich daran zu arbeiten begann, mit den Resten der
Kulturrevolution, auf jeden Fall aber mit der Gruppe um Maos
Frau, seine ganz persönlichen Feinde, und der offiziellen Ideologie
der Bewegung, aufzuräumen.
邓小平 Dèng Xi|op§ng war dabei -wie zu Beginn der sechziger
Jahre, immer noch fest davon überzeugt, daß das Parteiregime nur
dann überleben konnte, wenn sich die Politik der Wirtschaft unterordnete, sein Wahlspruch war und blieb das Katzen-Zitat: Egal, ob
die Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt, ist es
eine gute Katze.
Freilich blieb der Vize-Premier klug genug, niemals direkt
gegen Mao aufzutreten, solange der seine Hand weiter schützend
über die Resultate der Kulturrevolution hielt, obgleich die kaum
mehr waren als nur noch sehr dünne Propaganda-Kulissen. Aber
die Kulturrevolution war Maos Hauptwerk, sein ganzer Stolz, denn
sie war als ein ganz und gar westliches Produkt von Massen-Wahn
ein schwerer Schlag gegen die chinesische Welt gewesen, die
Fanatismus nie gekannt hatte. An der Kulturrevolution hielt Mao
unerschütterlich fest ohne zu schwanken, bis zu seinem Ende. Auch
Deng, der schon einmal gegen Mao verloren hatte, schien es da
nicht ratsam, frontal gegen sie und ihre Protagonisten vorzugehen.
Er mußte einen anderen Weg finden.
Unter der Oberfläche und von außen nur schwer einsehbar,
hoben die beiden Fraktionen -die Alt-Apparatschiks auf der einen
und die von Mao gedeckten Emporkömmlinge um seine Frau auf
der anderen Seite- ihre Stellungen für die Zeit aus, da Mao bei
Marx sein würde, wie er sagte, und verhakten sich in den Jahren
1972 bis 1976, bis zum großen showdown im Oktober jenen Jahres,
in vielerlei kleinen, verbissenen, bisweilen absurd anmutenden
Machtkampf-Scharmützeln, meist über Fragen, wie die weiter
gegenüber der Außenwelt völlig abgeschirmte und beinahe ruinierte chinesische Wirtschaft zu entwickeln sei.
248
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Während 邓小平 Dèng Xi|op§ng auf Reformen hier und da
drängte, die das Ziel verfolgten, den die Entwicklung lähmenden
Einfluß der Ideologie zurückzudrängen, zum Beispiel mehr Schlüsseltechniken aus dem westlichen Ausland zu importieren, hielt die
Gruppe um 江青 Ji~ng Q§ng stets dagegen, beschwor den sogenannten Geist des 自力更生 zì lì g‘ng sh‘ng auf die eigenen Kräfte stützen (= autark sein) oder 不怕苦不怕死 bú pà kß bú pà s0
weder Härte noch Tod fürchten und verdammte alle Bestrebungen
Dengs, vom Westen zu profitieren als Speichelleckerei gegenüber
den Ausländern, als Ausverkauf Chinas, ja letztlich als Wiedereinführung der alten Gesellschaft. Die Gruppe um 江青 Ji~ng Q§ng
setzte dabei ihren Propagandaapparat ein, der zahllose Artikel in
diesem Sinne veröffentlichte, die jedoch nicht den von Mao
zurückgeholten 邓小平 Dèng Xi|op§ng direkt angriffen, sondern
dies über Anspielungen taten, die für Außenstehende damals
schwer aber nicht unmöglich zu interpretieren waren.
Im August 1973 konsolidiert der X. Parteitag die nach dem
Sturz des 林彪 Lín Bi~o hergestellte Machtbalance. Mao, mittlerweile 80 Jahre alt, ließ es zu, daß der gerade zurückgekehrte 邓
小平 Dèng Xi|op§ng Mitglied des Zentralkomitees (nicht jedoch
des Politbüros) wurde.
Im obersten Führungsgremium der Partei, dem Politbüro, waren
die Nutznießer der Kulturrevolution vor allem in den Personen
江青 Ji~ng Q§ng, 姚文元 Yáo Wényuán, 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo
und -neu dazugekommen- dem ehemaligen 上海 Shàngh|ier RoteGarden-Führer 王洪文 Wáng Hóngwén vertreten. Mit der Person
des letzteren freilich stellte diese Fraktion -vielfach als ultralinke
bezeichnet- jedoch den prospektiven Nachfolger Maos: Der Vorsitzende selbst hatte ihn dazu ausgewählt. 王洪文 Wáng Hóngwén,
trug dem Parteitag den Bericht über die Abänderung des Parteistatuts vor.
Der vergleichsweise junge Mann stand fortan protokollarisch
nach Mao und 周恩来 ZhÇu ÷nlái an dritter Position der chinesischen Machthierarchie und symbolisierte Maos weiteren Glauben
an die Kulturrevolution, die er ohnehin noch mehrfach wiederholt
sehen wollte. Denn über die Zähigkeit der chinesischen Welt
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CHINESISCHE GESCHICHTE
machte er sich keine Illusionen. Es würde lange dauern, sie zu
beseitigen.
Da sowohl die Nummer 1, Mao, als auch die Nummer 2, 周恩来
ZhÇu ÷nlái, zu diesem Zeitpunkt bereits sehr alt und sogar auch
recht gebrechlich waren, konnte die Gruppe um 江青 Ji~ng Q§ng
sich tatsächlich Hoffnung machen, über 王洪文 Wáng Hóngwén
alsbald in die Vorhand zu gelangen. Allerdings nicht automatisch,
denn sowohl 江青 Ji~ng Q§ng als auch 姚文元 Yáo Wényuán
hatten es nicht geschafft in den wahrhaft entscheidenden inneren
Zirkel der Macht, den damals neunköpfigen Ständigen Ausschuß
des Politibüros zu gelangen (nur 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo und
王洪文 Wáng Hóngwén waren dort vertreten). Nicht einmal im
Politbüro hatten sie eine Mehrheit, sondern sahen sich vielmehr
zahlreichen rehabilitierten Alt-Funktionären gegenüber, die in
ihnen ihre Peiniger von gestern sahen und eigentlich an nichts
anderes dachten, als sich zu revanchieren.
Eine Entscheidungsschlacht war unermeidlich - Untergang
oder Durchmarsch! so hieß ab 1973 die Alternative für beide Seiten.
Zunächst machten die Alt-Kader einen wichtigen Punkt, als es
ihnen gelang, im Januar 1975, auf der 2. Plenartagung des X.
Zentralkomitees, ihre anti-kulturrevolutionäre Speerspitze 邓小平
Dèng Xi|op§ng -nur ein Jahr nach seiner Rehabiliterung- endlich
in den inneren Zirkel, den Ständigen Ausschuß des Politbüros, zu
befördern, wo er sogar einer der fünf stellvertretenden Vorsitzenden Maos wurde.
Die nächste große Gelegenheit, nach den Personalentscheidungen innerhalb der Partei, Pflöcke einzuschlagen und wichtige Posten zu besetzen, bot die Tagung des IV. Nationalen Volkskongresses, des chinesischen Parlaments, das erstmals seit 1964 im Januar
1975 wieder zusammentrat. Es gelang dabei, 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo als stellvertretenden Premier zu installieren und über ihn
Zugriff auf die Regierung zu erlangen. Allerdings blieb 张春桥
Zh~ng Chãnqiáo der einzige ernstzunehmende Vertreter der
Kulturrevolution im Regierungskreis und damit isoliert und
250
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CHINESISCHE GESCHICHTE
schwach.
Er sah sich dort aber nicht nur einer Mehrheit rehabilitierter
Funktionäre gegenüber, sondern auch einer gegen revolutionäre
Vorstellungen gerichteten neuen Programmatik. Das auf der Tagung beschlossene Programm zur Entwicklung Chinas hatte
nämlich mit den ideologischen Vorstellungen der Kulturrevolution
nicht mehr viel zu tun - wohl aber denen Dengs: Der IV. Volkskongreß beschloß die sogenannten Vier Modernisierungen, mit
denen die Landwirtschaft, die Industrie, die Landesverteidigung
und Wissenschaft und Technik Chinas bis zur Jahrtausendwende
auf einen der vordersten Plätze in der Welt gebracht werden sollte.
Diese Politik der Vier Modernisierungen, die grundsätzlich bis
heute gilt, markierte einen substantiellen Erfolg der zurückgekehrten Kader.
Auf konventionelle Weise konnten die sogenannten Radikalen
weder gegen dieses mehrheitsfähige Programm noch gegen die
Übermacht der Alt-Funktionäre etwas ausrichten. Die Beförderung
des 张春桥 Zh~ng Chãnqiáo zum Vize-Premier war ein PhyrrusSieg, und so führten die Radikalen über ihre Machtpositionen in
den Bereichen Presse, Propaganda, Kultur und Universitäten ihren
kulturrevolutionären Grabenkampf gegen die neuen Revisionisten
fort.
Das Jahr 1976 brachte die endgültige Entscheidung. Im Januar
starb Maos treuester Helfer, Premierminister 周恩来 ZhÇu ÷nlái,
nach langer schwerer Krankheit und es stellte sich damit die Frage,
wer seine Nachfolge antreten würde. Mao selbst war mittlerweile
83 Jahre alt und aufgrund der Parkinsonkrankheit nur noch sehr
eingeschränkt kommunikationsfähig. Aber: Er lebte noch und blieb
gewillt, inmitten des Lobbying der beiden Hauptfraktionen in der
Partei, auf wichtige Personalentscheidungen bestimmenden Einfluß
zu nehmen.
Die für die weitere Entwicklung in China jetzt entscheidende
Frage war, ob es 邓小平 Dèng Xi|op§ng gelingen würde, die Nachfolge des 周恩来 ZhÇu ÷nlái anzutreten. Westliche Beobachter wie
auch die chinesische Öffentlichkeit (soweit davon die Rede sein
konnte) rechneten fest damit, erst recht, nachdem es Deng gewesen
251
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CHINESISCHE GESCHICHTE
war, der am 15. Januar die Trauerrede auf 周恩来 ZhÇu ÷nlái
gehalten hatte. Im Falle seiner Ernennung aber war mit einem
Durchmarsch der sogenannten Pragmatiker und der endgültigen
Marginalisierung der Kulturrevolutionäre zu rechnen, einer allgemeinen Wende in der chinesichen Politik, einer Entwicklung freilich, die auch der allgemeinen Stimmung der zermürbten Bevölkerung Rechnung getragen hätte.
Mao aber zögerte. Er mißtraute Deng weiter und entschied sich
für eine überaschende Lösung: Am 7. Februar 1976 wurde ein bis
dahin weitgehend unbekannter Funktionär (Parteichef seiner
Heimatprovinz 湖南 Húnán) namens 华国峰 Huá Guóf‘ng zum
amtierenden Premierminister ernannt. Eine scharfe Auseinandersetzung vor allem zwischen Deng und der sogenannten RadikalenFraktion um die Mao-Frau 江青 Ji~ng Q§ng, die wußte, daß es um
ihre Existenz im Wortsinne ging, hatte zu diesem Ergebnis geführt,
das damit keine der beiden Seiten zum Sieger machte. Die
Hängepartie dauerte an, allerdings verschärfte sich der Fraktionskampf weiter und strebte zügig auf die endgültige Entscheidung zu.
Sie würde fallen, sobald Mao bei Marx war.
Zunächst gewannen aber noch einmal die Radikalen. Sie konfrontierten zu Beginn des Jahres 1976 Deng erstmals direkt und
bezichtigten ihn, mit der systematischen Zurückholung von in der
Kulturrevolution gestürzten Funktionären eine Revision der
gefällten Urteile zu betreiben und vor allem: ein besserungsunwilliger Machthaber auf dem kapitalistischen Weg zu sein. In
ihren Propagandamedien ließen sie Deng dafür angreifen, daß er
die ideologischen und personellen Ergebnisse der Kulturrevolution
rückgängig machte, ein gute Schachzug, denn die war Maos
Lebenswerk, von dem er nicht lassen wollte. Tatsächlich gelang es
ihnen damit, Maos Unterstützung zu bekommen. Im Frühjahr
verschärfte sich das propagagandistische Feuer auf Deng, der seit
seiner 周恩来 ZhÇu ÷nlái-Trauerrede im Januar auch nicht mehr in
der Öffentlichkeit aufgetreten war.
Zunehmend mischte sich in diesen Wochen und Monaten an
vielen Orten Chinas, trotz strengster Überwachung und Kontrolle,
die politisch immer wache chinesische Bevölkerung in den Macht252
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CHINESISCHE GESCHICHTE
kampf ein und nahm zum Beispiel über
heimlich angebrachte Wandzeitungen
unmißverständlich für Deng und gegen die
von Mao gestützte Fraktion um 江青 Ji~ng
Q§ng Stellung. Die Chinesen wollten endlich besser Leben und waren sicher, daß
sie dies nur mit Deng konnten.
Am 4. April, dem traditionellen
chinesischen 清明节 q§ng míng ji‘ Demonstration am 4. April
Totengedenktag kam es zum de facto- 1976: Mit Kränzen gegen
die Despotie.
Aufstand in der Hauptstadt. Zahlreiche
Menschen versammelten sich auf dem Platz des Himmlischen
Friedens in Peking. Sie legten Kränze für den im Januar verstorbenen Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái nieder, den sie für einen quasi
Heiligen, einen Premier des Volkes hielten, der auf ihrer Seite
stand148, deklamierten politisch-oppositionelle Gedichte und Texte
zu seinem Lobe und zur Verdammung der Radikalen-Fraktion.
Eine wahre Volkserhebung
schien sich anzubahnen,
Alarmstufe 1 bei 江青 Ji~ng
Q§ng und ihren Partnern,
die diese Aktivitäten als
blanke Konterrevolution
ansahen - von Deng
unterstützt und gefördert.
In der Nacht zum 5.
,- Ti~n=~nmén shì April entfernten Sicher1976: Der erste }~
jiàn Ti~n=~nmén-Zwischenfall - Demonstration heitskräfte die Zeichen des
gegen die Diktatur.
offenen Volks-Protestes,
148
!()*+
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Ein Irrtum, wie
G~o Wénqi~n in einem Buch
Die
späten Jahre des ZhÇu ÷nlái,
Mirror Books, Hongkong, 2003
nachwies.
ZhÇu ÷nlái stand immer nur auf seiner eigenen Seite und
betätigte sich immer als treuer Diener seines Herren Maos. Keine einzige
Entscheidung hat der Mann auf eigene Kappe getroffen, sondern vorher immer
seinen Herren und Meister gefragt. So sicherte er sich sein erstaunliches
Überleben in der Welt der pausenlosen Machtkämpfe der chinesischen Politik.
Eine Meisterleistung.
$%&
253
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CHINESISCHE GESCHICHTE
was die Wut der Menschen aber nur steigerte. Im Verlauf des Tages
(5. April) versammeln sich daraufhin gut 100.000 Demonstranten
auf dem Platz und skandierten Rufe wie Nieder mit der KaiserinWitwe (eine Anspielung auf das angeblich despotische Wesen der
Mao-Frau 江青 Ji~ng Q§ng) und auch Die Ära des 秦始皇 Qín Sh0
Huáng ist vorüber! ein direkter Angriff auf Mao (der sonst
durchaus Gefallen daran fand, mit dem Ersten Kaiser verglichen zu
werden). Am Abend griffen die Sicherheitskräfte direkt ein,
prügelten die Demonstranten vom Platz und töteten dabei auch
viele (die Rede ist von ca. 100 Toten, genaueres ist jedoch bis
heute nicht bekannt, kein ausländischer Journalist, kein CNN etc.
waren dabei, wohl nicht einmal andere ausländische Augenzeugen). Damit kehrte auf den öffentlichen Plätzen Chinas wieder
Ruhe ein.
Intern jedoch begannen sich nun die seit Jahren eingefrorenen
Machtverhältnisse zu verschieben: Die Radikalen setzten sich
durch. Die Parteiführung erklärte die Demonstration vom 4. und 5.
April umgehend zu einem konterrevolutionären Aufstand und verkündete am 7. April die zweite Entmachtung Dengs, dem sie vorwarf, als Drahtzieher hinter den Kulissen die Menschen letztlich
gegen Mao, in jedem Fall aber gegen die Resultate der Kulturrevolution aufgehetzt zu haben. Sein Ziel sei es gewesen, einen 右
倾反案风 yòu q§ng f|n àn f‘ng rechten Wind zur Revision der
gefällten Urteile zu entfachen, konkret, die als kapitalistische
Machthaber gestürzten Alt-Funktionäre wieder in ihre Ämter zu
bringen und sie, obwohl sie sich nicht im geringsten gebessert
hatten, weiter zu fördern. Dengs Ziel sei es, sein von Mao als
revisionistisch eingestuftes Wirtschaftsprogramm wieder aufzunehmen und die Ergebnisse der Kulturrevolution zurückzunehmen. Mit
diesem Argument konnte Mao wie erwartet gewonnen werden, auf
sein Hauptwerk ließ er nichts kommen.
Gleichzeitig mit dieser Verurteilung setzte das Politbüro -auf
Vorschlag Maos- Deng von allen seinen Ämtern ab. Am 8. April
feierten organisierte Massenaufmärsche diese weise Entscheidung.
Ein zweites Mal hatte Deng damit bei einem entscheidenden
Machtkampf in Mao und den Radikalen seinen Meister gefun254
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CHINESISCHE GESCHICHTE
den.
Indessen getattete Mao auch der zunächst siegreichen Fraktion
um seine Frau nicht, nun selbst die Macht zu übernehmen. Er sorgte stattdessen für die Ernennung des seit Jahresbeginn als amtierender Premier wirkenden 华国峰 Huá Guóf‘ng zum nunmehr
offiziellen Premier des Staatsrates und darüber hinaus auch zum
ersten stellvertretenden Parteivorsitzenden, also seiner selbst.
Umgangen, ja herabgestuft war damit der einst als Nachfolger
angetretene 王洪文 Wáng Hóngwén. Er hatte Mao schnell enttäuscht.
Bisher hatte es das Amt eines ersten stellvertretenden Parteivorsitzenden in der KP noch nicht gegeben. Seine Übernahme durch
den unbekannten Phönix aus der Asche 华国峰 Huá Guóf‘ng war
ein durchaus hoffnungsvolles Zeichen für die Altfunktionäre. Sie
mußten den neuen Mann nur noch für sich gewinnen und verhindern, daß er sich in der Folgezeit tatsächlich auf die Seite der 江青
Ji~ng Q§ng-Fraktion stellte.
Tat er das nicht, hätten die sogenannten Radikalen wieder nur
einen Phyrrus-Sieg errungen: Zwar war es ihnen gelungen, den
verhaßten Deng erneut auszuschalten und ein zweites Mal zu
erniedrigen, doch waren sie selbst wieder nicht zum Zuge gekommen. Im Gegenteil: Der bisherige Vize-Vorsitzende der Partei (seit
dem X. Parteitag) und prospektive Mao-Nachfolger, ihr Fraktionsmitglied 王洪文 Wáng Hóngwén, hatte durch die überraschende
Ernennung des 华国峰 Huá Guóf‘ng sogar eine Degradierung
erfahren, denn wenn 华国峰 Huá Guóf‘ng nun erster Vize-Vorsitzender war, dann war 王洪文 Wáng Hóngwén nur noch zweiter wenn überhaupt. Außerdem hatte das Politbüro zwar die Absetzung
Dengs von allen Ämtern beschlossen, aber ihm die entscheidende
Parteimitgliedschaft belassen, um zu sehen, wie er sich zukünftig
verhält, wie es offziell hieß. Erst der Parteiausschluß aber hätte den
Mann wirklich erledigt. So war er noch da und konnte von zu Haue
aus seine starken Beziehungen zu den noch im Amt befindlichen
Alt-Funktionären nutzen, um zu kungeln und Fäden zu ziehen und
wieder in die Vorhand zu kommen, wenn Mao gegangen war. Und
255
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
genau das tat er auch149.
Für die weitere Entwicklung Chinas hatte der inzwischen
todkranke Mao, nur wenige Monate vor seinem Ableben, die
Weiche noch einmal, wie sich ein halbes Jahr später herausstellte,
in entscheidender Weise, gestellt: gegen die Radikalen, für eine
Rückkehr Dengs und alles, was damit, wie wir heute wissen,
verbunden war: Der Eintritt Chinas in die Welt, das, was der
französische Kaiser Napoleon bereits 1817 in dem Satz zusammengefaßt hatte: China ist ein schlafender Drache ... wenn er sich
erhebt, erzittert die Welt.
Am 9. September 1976 stirbt Mao, 82jährig. Zehn Tage später,
am 18. September findet
eine
gewaltige
Trauerkundgebung auf
dem Platz des Himmlischen Friedens vor dem
Kaiserpalast der 元 Yuán-,
明 Míng- und 清 Q§ngDynastien statt. 华国峰
Mao-Trauerfeier in Peking am 18.9.1976.
Huá Guóf‘ng der Erste
Vize-Vorsitzende, hält die Trauerrede, die Mitglieder der 江青
Ji~ng Q§ng-Fraktion stehen direkt neben ihm in sehr prominenter
Position.
Aber wie würde es nun mit ihnen weitergehen, da sie ihren
großen Rettungsstern Mao unwiederbringlich verloren hatten?
Sie ahnten, daß die nächsten Tage den showdown im Kampf um
die Macht über China bringen würden. Am 30. September, dem
Vortag des Nationalfeiertages, ließen sie in den von ihnen kontrollierten Zeitungen Leitartikel mit Aufrufcharakter veröffentlichen,
u01
./
3
2£
149
In dem sehr realistischen Doku-Roman
Du|n zàn de chãn
qiã Ein kurzes Jahr beschreibt der Schriftsteller
Sh§ DÇngb§ng sehr
kenntnisreich, wie Deng sein comeback in dieser Zeit durch pausenloses
Strippenziehen hinter den Kulissen vorbereitete. Das Buch war auf dem Pekinger
Schwarzmarkt um 1996 herum ein Hit, durfte offiziell jedoch -wie die meisten
Romane des
Sh§ DÇngb§ng nicht erscheinen. Es bietet ein sehr
reichhaltiges Lehrstück zum Thema Politik in China.
2£3
256
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
die vor einem bewaffneten, konterrevolutionären Umsturz durch
die Bourgeoisie in der Partei warnten. Am 1. Oktober riefen ihre
Medien dazu auf, nach den festgelegten Richtlinien Maos zu handeln150, also denen der Kulturrevolution, was hieß: die ungebesserten Alt-Funktionäre kritisieren, bekämpfen und stürzen. Ob auch
der Erste Vize-Vorsitzende 华国峰 Huá Guóf‘ng dazu gehören
würde?
Der ließ es gar nicht erst soweit kommen, dies herauszufinden.
Überredet von und im Komplott mit dem Deng-Freund und Mitglied im höchsten Parteizirkel, dem alten Armeeführer Marschall
叶剑英 Yè Jiàny§ng, ließ er fünf Tage später die vier Unruhestifter
und Quälgeister der Alt-Funktionäre kurzerhand verhaften. Es war
ein Putsch, ein klassischer coup d´état - freilich einer, der auf breite
Unterstützung zählen konnte.
Erst am Folgetag bestätigte das Politibüro (nachträglich und
natürlich ohne die Stimmen der Verhafteten, die dort auch Mitglied
waren, einzuholen) die Aktion und drückte den Vieren dabei die
griffige Bezeichnung 四人帮 sì rén b~ng Viererbande auf, unter
der sie seither bekannt sind. (Sie stammt freilich von Mao selbst,
der seine Frau und ihre Anhänger zu seinen Lebzeiten mehrfach
davor gewarnt hatte, sich als kleine Fraktion zu heftig mit den AltFunktionären anzulegen.) 华国峰 Huá Guóf‘ng aber belohnte das
Politbüro in der gleichen Sitzung mit der Wahl zum Vorsitzenden
der KP Chinas und damit zum offiziellen Nachfolger Maos.
Damit hatte sich der Kreis geschlossen: Gleich vielen anderen
sogenannten radikalen Führern vor ihnen, die Maos siegreicher
Machtkampf namens Kulturrevolution erst nach oben gebracht und
-nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hatten- wieder ausgeschaltet
hatte, fraß sie nun, wenige Tage nach dem Tod ihres genius, ihre
allerletzten Profiteure. Die Kulturrevolution war damit wirklich zu
Ende, der Zustand Chinas entsprach in etwa jenem der Jahre
1962/63 nach dem Großen Sprung. Das Land hatte (außer in der
Außenpolitik) eine 13jährige Kreisbewegung hinter sich.
Dies einzugestehen erforderte freilich noch eine gewisse
150
45®67 àn jìdìng f~ng zh‘n bàn.
257
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Schamfrist, in der die neuen Machthaber der Kulturrevolution und
Mao weiterhin verbal die Treue schworen, bevor der bald von
ihnen zurückgeholte Deng, sie für alle denkbaren Unzulänglichkeiten Chinas verantwortlich machte und ihre Analyse und Diskussion dann einzustellen befahl.
Nicht übersehen werden sollte bei einer Bewertung dieser
Episode jedoch, daß sie für ein knappes Jahr (1967/68, vor allem:
1. Halbjahr 1968) der chinesischen Jugend freien Lauf gelassen
hatte. Nie vorher und bislang auch nicht nachher hatte diese einen
solchen politischen Freiraum, in dem sich der Idealismus von
Millionen praktisch entfalten konnte. Alsbald aber, als die entfesselten Individuen feststellten, daß sie nur Bauern waren, die auf
dem Schachbrett eines politischen Machtkampfes ganz oben
gezogen (= benutzt) und geopfert wurden, blieb eine ganze Generation tief enttäuscht zurück.
Die maßlose Frustration, die diese Erkenntnis hinterließ, immunisierte sie fortan gegen jegliches gesellschaftliches Engagement
und Interesse im Rahmen des KP-Systems. Einzig um sich selbst
blieben sie besorgt, ihr Motto lautet bis heute: Nichts ist
erfolgreicher als der Erfolg, der mit allen Mitteln erreicht werden
muß, wenn das Leben überhaupt noch eine Bedeutung haben
soll.
Auf der Basis dieser ideologischen Wüste bekamen die neuen/alten Machthaber völlig freie Hand, mit China nach Belieben zu
verfahren. Solange die Individuen schnelle persönliche Vorteile
realisieren konnten, kümmerten sie sich nicht um die Gesellschaft.
Ein zynischer Aufruf des alten Deng, der Anfang der neunziger
Jahre zu Weltruhm kam, 致富光荣 zhì fù gu~ng róng reich werden
ist glorreich! konnte nur auf dem Boden dieses Kahlschlages so
aufgehen, wie es der Fall gewesen ist.
Nach ihrem coup d=état brauchte die neue Führung um 华国峰
Huá Guóf‘ng und 叶剑英 Yè Jiàny§ng noch einige Tage, um auch
in den Hochburgen der Viererbande, vor allem 上海 Shàngh|i,
deren Anhänger zu verhaften und die Propagadamedien unter die
Kontrolle eigener, zuverlässiger Leute zu bekommen. Deshalb hielt
sie die Verhaftungen vorerst geheim.
258
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Am 12. Oktober begannen jedoch erste ausländische Zeitungen
zu spekulieren, daß in Peking anscheinend etwas sehr Entscheidendes geschehen war. Doch die Ungewißheit hielt an. Erst am 21.
Oktober, zwei Wochen nach ihrem coup, gaben die neuen Machthaber die geschaffenen Fakten auf riesigen, landesweiten JubelMassenkundgebungen
auch der Welt die Absetzung der Viererbande und
die Ernennung des 华国峰
Huá Guóf‘ng zum Nachfolger Maos bekannt.
Im überkommenen Stil
suchte die Parteiführung
in den nächsten Monaten,
Offizielle Demonstration: Nieder mit der
Viererbande.
die Teufel der Viererbande mit dem Beelzebub der Kulturrevolution und der Politik Maos
auszutreiben, was zunehmend unglaubwürdiger aussah, schließlich
wußte jeder, daß die Politik der letzten Jahre maßgeblich von
diesen Leuten mit der Unterstützung Maos bestimmt worden war.
Es war ein Schlag gegen den gesunden Menschenverstand zu behaupten, der Vorsitzende habe sie bekämpft. Bald machte der Satz
die Runde, es sei keine Vierer-, sondern eine Fünferbande am
Werk gewesen.
In den Monaten nach dem coup zog der offiziell zunächst weiter
als Konterrevolutionär verfemte und entmachtete Deng hinter den
Kulissen unermüdlich die Fäden seines Netzes. Pausenlos sprach
er mit diesem und jenem hohen Funktionär und alten Genossen
bzw. nahm ihre Besuche entgegen und hörte ihre Bitten, er möge
doch in den inneren Kreis zurückkehren und das Heft in die Hand
nehmen.
Im Januar 1976 griffen von diesen Konspiratoren initiierte
Wandzeitungen im Zentrum Pekings zwei hohe Parteikader dafür
an, daß sie die Pro-Deng-Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Frühjahr 1975, die zu Dengs Entlassung führte,
hatten unterdrücken lassen. Sie fordern die Absetzung dieser Funktionäre und Dengs Rehabilitierung und Wiedereinsetzung in seine
259
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CHINESISCHE GESCHICHTE
›89
>?@
:
:DEF
Deng im Rahmen der neuen Parteiführung,
Huá Guóf‘ng
August 1977, von links:
Yè Jiàny§ng
Dèng Xi|opíng
L0 Xi~nniàn
W~ng DÇngxìng.
;<=
BC
:
:A
alten Ämter. Und das geschah tatsächlich im Juli
1977 auf einer ZKTagung: Deng, der mittlerweile das Image des
Anti-Mao genoß, war
plötzlich wieder da und,
wie sich bald zeigte, fest
entschlossen, sich diesmal
das Heft nicht noch
einmal aus der Hand
nehmen zu lassen.
Dabei geriet er im Laufe der folgenden Monate zunehmend in
Konflikt zur No. 1 in der Partei, dem Mao-Nachfolger 华国峰 Huá
Guóf‘ng, der zwar die Viererbande hatten verhaften lassen, jedoch
weiterhin an Mao und etlichen Konventionen und Propagandaformeln der Kulturrevolution festhielt sowie auch an einigen immer
noch in der Parteiführung verbliebenen Profiteuren dieser Bewegung. Es gelang Deng durch Ausnutzung unterschiedlicher Kräfte,
darunter einer 1979 entstandenen Demokratiebewegung, zunächst
diese Leute, dann die Demokratiebewegung und schließlich 华
国峰 Huá Guóf‘ng selbst auszuschalten.
Um den Jahreswechsel 1980/81 ließ er die noch lebenden Mitglieder der sogenannten 林彪 Lín Bi~o-Gruppe wie auch der
Viererbande in einem wochenlangen, steckenweise öffentlichen
TV-Schau-Prozeß als Verantwortliche für alle Greueltaten der
Kulturrevolution zu langen Haftstrafen verurteilen. Anschließend
rechnete ein im Sommer 1982 verabschiedetes autoritatives
Parteidokumentes ( Resolution über einige Fragen zur Geschichte
der KP Chinas seit 1949) mit Maos Politik der Jahre nach 1956
ab: sie sei falsch und irrtümlich gewesen und habe großes Unglück
über das Land und seine Bewohner gebracht. Es folgte die landesweite Demontage der Millionen an öffentlichen Gebäuden und
Plätzen angebrachten Mao-Bilder und kulturrevolutionären
Parolen. Nur auf dem Platz des Himmlischen Friedens, am Tian=anmen Tor, blieb Maos Porträt bis heute hängen und bekräftigt so die
260
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CHINESISCHE GESCHICHTE
fortdauernde große Bedeutung dieses Mannes und seines Werkes:
!
!
!
!
!
die Einigung Chinas,
seine Etablierung als Großmacht,
die Beseitigung seiner (Selbst-) Isolation,
seine Öffnung und -vor allemdie fortbestehende Herrschaft der Partei-Funktionäre über das
ganze Riesenland, das ihnen als Beute gehört.
Damit legte Deng diese Periode ad acta. Eine weitergehende, tiefgreifende Diskussion war unerwünscht, alle, die das versuchten,
ließ er umgehend verhaften und für lange Jahre in Arbeitslager
bringen. Ruhe war die erste Bürgerpflicht.
Zwar erschienen seither zahlreiche Bücher und Artikel in China,
die sich mit den Vorgängen um den Großen Sprung, die Hundert
Blumen und vor allem die Kulturrevolution beschäftigen, doch
bleibt die Erörterung dieser Fragen bis heute nur bis zu einem
gewissen Grade möglich. Sobald Autoren weitergehende Fragen
erörtern wollen, die das Herrschaftssystem oder das Verhalten
seiner Funktionäre betreffen, schiebt die Zensur bis heute einen
festen Riegel davor. Eine der ersten in China geschriebenen, KPunabhängigen und sehr detaillierten Darstellungen der Kulturrevolution zum Beispiel, darf bis heute nicht offiziell erscheinen151. Ein
bekannter Schriftsteller des Landes, konnte zwar in den neunziger
Jahren Biographien jener vier Funktionäre herausbringen, die die
sogenannte Viererbande um Maos Frau gebildet hatten, doch sah
er sich immer mit großen Problemen konfrontiert, als er daran ging,
noch lebende Anführer der Kulturrevolution nach Details aus dem
151
GH G~o G~o, IÙJ Yán Ji~qí, 1966-1976: ÿ wUV°ÈÉK
1966-1976: Die Kulturrevolution, Eine zehnjährige Geschichte. Das über 700
Seiten starke, gut dokumentierte Buch zirkuliert als Raubdruck bis heute. Die
Verfasser leben im ausländischen Exil.
261
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CHINESISCHE GESCHICHTE
inneren Kreis zu befragen152. Zwar weicht auch diese Front
mittlerweile langsam auf, eine öffentliche Debatte jedoch bleibt
weiter unerwünscht.
Nachdem er so die ideologischen Grundlagen und personellen
Verbündeten des 华国峰 Huá Guóf‘ng beseitigt hatte, stürzte Deng
schließlich diesen selbst. Auf der gleichen ZK-Tagung im Juni
1981, die die Resolution veranschiedete, ließ er ihn als Vorsitzenden des ZK absetzen (gleichwohl durfte er, wegen seiner Verdienste um die Beseitigung der verhaßten Viererbande im ZK verbleiben).
Nachfolger als Parteichef (mit der neuen Bezeichnung 总书记
z4ng shã jì Generalsekretär, statt dem Mao vorbehaltenen 主席
zhß xí, Vorsitzender) wurde ein enger Mitarbeiter Dengs, 胡耀邦
Hú Yàob~ng, zu dessen Stellvertreter 赵紫阳 Zhào Z0yáng gewählt. Deng selbst übernahm den Vorsitz der ZK-Militärkommission und sicherte sich so den Zugriff auf die nach dem Zerfall
der ideologischen Legitimierung der KP-Herrschaft letzte Machtbasis der Partei, die Gewehre.
Die Beseitigung der kulturrevolutionären raison d=être der
Parteiherrschaft hatte die neue Führung ab 1976/77 vor die Frage
gestellt, worauf sie denn ihre fortbestehende Herrschaft gründen
wollte. Die propagandistisch weiter hochgehaltene Ideologie war
tatsächlich abgewirtschaftet und gab keinerlei Legitimätsgründe
mehr her. Die Machthaber verlegten sich daher auf den Bereich der
Wirtschaft. Ihr Schlagwort wurde dabei die vom verstorbenen
Premier 周恩来 ZhÇu ÷nlái auf dem Volkskongreß 1975 vorgetragene Losung von den 四个现代化 sì g xiàn dài huà Vier Modernisierungen. In den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft & Technik und Militärwesen sollte China in den verbleibenden 25 Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts auf einen der
vordersten Plätze in der Welt gebracht werden. Für die Bevölkerung verband sich dies mit der Hoffnung auf einen besseren
152
MN
L
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OP 
U
RÙS
Der Schriftsteller
Yè Y4ngliè beschreibt seine Schwierigkeiten
zum Beispiel in
H‘i hóng nèi mù Hinter dem schwarzen Vorhang,
Autorenverlag Peking 1999 ISBN 9 787506316187.
TD
262
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Lebensstandard und Anerkennung der Würde Chinas durch andere
Staaten, ein tiefsitzendes Bedürfnis, das für Chinesen eine erhebliche Rolle spielt.
Die China gegenüber wegen dessen sowjet-feindlicher Haltung
ohnehin sehr aufgeschlossenen westlichen Staaten (auch Japan)
begrüßten dieses Modernisierungsprogramm vorbehaltlos (inclusive des Bereichs Militär!), da es ihren politischen Intentionen
gegenüber Moskau entgegenkam und gleichzeitig die Hoffnung
nährte, der chinesische Markt, der seit Marco Polo als der größte
der Welt in den Köpfen der Kaufleute, Kapitalisten und Manager
lebte, würde alsbald ihren Produkten geöffnet und Absatz ohne
Ende garantieren. Schon der Nixon-Besuch 1972 und die folgende
Welle der Aufnahme diplomatischer Beziehungen hatten auf Seiten
vor allem konservativer Politiker und export-orientierter Manager
und Unternehmer das China-Interesse wachsen lassen und ab
1973/74 eine bis dahin noch nicht dagewesene Reisewelle nach
Peking ausgelöst. 1975 hatte auch die Bundesrepublik in Peking
erstmals eine Industrieschau, die Technogerma organisiert, auf der
ein breites Angebot deutscher Spitzentechnik vom Maschinenbau
bis zum Farbfernsehsystem Pal gezeigt wurde.
Die Entmachtung der sogenannten Radikalen und die Ausrichtung der chinesischen Machthaber auf die wirtschaftliche Entwicklung ihres Riesenlandes verstärkten dieses Interesse enorm. Zu
einer regelrechten China-Euphorie kam es erstmals gegen Ende der
70er Jahre, als chinesische Funktionäre zunehmend ins westliche
Ausland reisten und dort riesige Wirtschaftsprojekte vorstellten, für
die sie Maschinen und Anlagen in gigantischem Ausmaß einkaufen
wollten. Anfang der 80er Jahre hatten sie tatsächlich Kauf- und
Lieferverträge für Maschinen, Anlagen, Bergwerke und vieles
andere in Höhe Hunderter Milliarden Dollar mit europäischen und
japanischen Unternehmen abgeschlossen. (Die amerikanischen
konnten damals noch nicht zum Zuge kommen, weil bis 1979 keine
diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern
bestanden. Die Kauf-Offensive bei der Konkurrenz wirkte hier als
stärkstes Druckmittel auf Washington, China diplomatisch anzu263
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
erkennen und Taiwan fallenzulassen.)
1981/82 jedoch mußten die überall auf das herzlichste begrüßten staatlichen Großeinkäufer eingestehen, daß ihre Augen größer
gewesen waren als ihr Portemonnaie: Es fehlte ihnen das Geld für
die meisten ihrer Bestellungen. In der Folge mußten viele der
bereits abgeschlossenen Vereinbarungen gekündigt, reduziert oder
verzögert werden, was nicht selten Konventionalstrafen zur Folge
hatte. China zahlte, aber neben dem guten Ruf, der diesen
Vertragsbrüchen zunächst einmal zum Opfer fiel, gingen der
Staatskasse so auch wertvolle Devisen für nichts verloren. Auch
dies lastete Deng geschickt dem Partei- und Staatschef 华国峰
Huá Guóf‘ng an. Er beschuldigte ihn eines neuen Großen Sprungs
und machte dessen Traumtänzerei zu einem weiteren Argument für
seine Absetzung.
Damit freilich war nun die Frage zu beantworten, wie die Parteiführung -ohne nennenswertes Eigenkapital, sie hatte nichts- denn
nun ihr Ziel erreichen wollte, das riesige Land zu modernisieren,
um in der Weltspitze mitzuspielen, ganz vorne, am besten auf Platz
eins.
Wenn dieses Ziel tatsächlich angestrebt werden sollte, andererseits jedoch keine eigenen Mittel zur Verfügung standen, dann gab
es nur eine Möglichkeit: Das Ausland, nach Lage der Dinge: der
Westen, Amerika, Japan und Westeuropa, mußten den Aufbau
finanzieren!
Die chinesischen Auslandsschulden lagen zu diesem Zeitpunkt
bei Null. Nach 1949 war es -nolens volens- die Politik Maos gewesen, keinerlei Abhängigkeit vom Ausland zuzulassen. Stattdessen
hatte die Regierung dreißig Jahre Land ganz auf Autarkie gesetzt
und mit eigenen Mitteln, auf die eigenen Kräfte bauend153 ein
vollständiges, landesweites Industriesystem geschaffen, das sich in
all den Jahren selbst genügt hatte. So bestand theoretisch die
Möglichkeit, bei ausländischen Banken und Regierungen Kredite
aufzunehmen. China galt als gute Adresse. Allerdings war es sehr
153
VWXY zì lì g‘ng sh‘ng hieß die vielverwandte Parole - sich auf die
eigenen Kräfte stützen, wörtlich: sich durch die eigene Kraft wiederbeleben.
264
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
fraglich, ob die gewaltigen Mittel, die nötig waren, auf diese Weise
würden beschafft werden können, zumal China zu diesem Zeitpunkt (außer der UNO) keinen internationalen Organisationen wie
der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds, der Asiatischen Entwicklungsbank etc. angehörte. Sein Status als sozialistisches Land verhinderte auch ein reichhaltiges Fließen von Entwicklungshilfegeldern. Überdies war auch die Angst noch groß,
sich in die Abhängigkeit der Imperialisten zu begeben bzw. dessen
beschuldigt zu werden - ein großes Tabu.
Deng wählte deshalb den unter diesen Umständen einzig
gangbaren Weg, den überdies auch andere Länder in Asien wie
zum Beispiel Taiwan mit seinen export processing zones bereits
sehr erfolgreich gegangen waren: Er wandte sich nicht an ausländische Staaten oder internationale Finanzorganisationen, sondern bot
ausländischen Managern und Unternehmern an, in China zu investieren, dort Fabriken aufzubauen und mit sogenannten billigen
chinesischen Arbeitskräften Waren für den Export zu produzieren.
Aus heutiger Sicht stellte das Joint-Venture-Gesetz von 1979
die Weichen in eine Richtung, die zur Punktlandung führte, zu
einem Erfolg, der seinesgleichen auf der Welt sucht, zu einem 2004
akkumulierten Finanzmittelzufluß aus dem Ausland in Höhe von
ca. 1.000 Milliarden Dollar.
Im August 1980 beschloß der Nationale Volkskongreß ergänzend die Einrichtung sogenannter 经济特区 j§ng j0 tè qã Sonderwirtschaftszonen in den Städten 深圳 Sh‘nzhèn, 珠海 Zhãh|i,
汕头 Shàntóu (alle in der Provinz 广东Gu~ngdÇng) und 厦门
Xiàmén (Provinz 福建 Fújiàn). Hierhin verlagerten als erste
Unternehmen aus Hongkong ihre Export-Produktion, später folgten
Firmen aus Taiwan, Europa, den USA und Japan mit Investitionen
in Fertigungsbetriebe. Mit ihrer Hilfe sowie gezielten Finanzierungen seitens der Zentral- und Lokalbehörden wuchsen diese Sonderzonen, inbesondere die von 深圳 Sh‘nzhèn in der unmittelbaren
Nachbarschaft Hongkongs, rasch zu relativ reichen Millionenstädten heran, die jene Ausländer, die sich daran gewöhnt hatten,
China als maoistisch-ideologisiertes, fanatisiertes Land der blauen
Ameisen zu sehen, immer wieder in Staunen versetzten.
265
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Zur Anmeldestelle für alle Investoren hatte das Joint-VentureGesetz eine noch zu gründende 中信公司 zhÇng xìn gÇng s§ China
International Trust and Investment Corp. (CITIC) bestimmt und sie
staatlicherseits mit Kapital ausgestattet.
CITIC oblag die Koordinierung, Vermittlung, Prüfung und
Bewertung ausländischer Investitionen und Technologien, die nach
China verbracht werden sollten: Jeder Investor hatte bei der CITIC
sein Projekt vorzustellen. (Später ging die Prüfung auf das 对外
经济贸易合作部 duì wài j§ng j0 mào yì hé zuò bù Ministry of
Trade and Economic Cooperation, MOFTEC154 bzw. bei Volumina
unter 30 Millionen Dollar dessen Provinz-Ableger über.)
Die CITIC-Gründung erleichterte es der chinesischen Führung
überdies, auch ausländische Finanzierungen für Infrastruktur- und
andere Projekte ins Land zu holen, denn CITIC durfte Kredite
aufnehmen. Da die Regierung hinter der Firma stand und China
schuldenfrei war, hatten die ausländischen Banken keine Probleme
mit dem Ausreichen. CITIC war bald Chinas erstes window to the
world, durch das Milliardensummen an Investitionen und Finanzierungen aus dem Ausland hereinkamen.
Zum Generaldirektor und Präsidenten machte Deng 荣毅仁
Róng Yìrén, einen waschechten 上海 Shàngh|ier Kapitalisten aus
der Zeit vor 1949. Da auch er während der Kulturrevolution im
Schweinestall gelitten hatte, strahlte der Nationalbourgeois nun in
dieser glanzvollen, von Deng persönlich geschaffenen Position
größte Glaubwürdigkeit im Ausland aus: Mit dem würde es keine
politischen Abenteuer geben. Die Vorstandsliste der Gesellschaft
tat ein übriges: Sie las sich wie ein Who is Who der 上海 Shàngh|ier Kapitalisten und Kompradore der Jahre vor 1949.
荣毅仁 Róng Yìrén wirkte in dieser Phase als das seriöse
Aushängeschild von CITIC, war aber damals vielleicht auch der
einzige in China, der sich mit den finanztechnischen Details der
angestrebten Finanzgeschäften überhaupt auskannte. Seine Sache
machte er so gut, daß er später zum stellvertretenden Staatspräsi154
Das Ministerium erfuhr 2003 eine Umbenennung in
bù Handelsministerium.
266
Z[r sh~ng wù
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
denten aufstieg.
Auf der Pressekonferenz anläßlich der Geschäftsaufnahme
verkündete er den anwesenden Journalisten auch bereits eine erste
erfolgreiche Transaktion, eine Finanzierungszusage der US-Firma
E-S Pacific Corp. (Cyrus Eaton JR. - C.B. Sung), die zusagte,
CITIC drei Jahre lang jährlich 50 Millionen Dollar als Investition
in Gemeinschaftsunternehmen zur Verfügung zu stellen. Weiterhin
informierte 荣毅仁 Róng Yìrén darüber, daß auch mit einem
Schweizer Unternehmen Vorverträge im Gesamtwert von 30 Millionen US-Dollar abgeschlossen worden seien155. Als ein Journalist
fragte, an welche Adresse sich interessierte Investoren wenden
könnten, antwortete er in typisch chinesischer Arglosigkeit, es
genüge, Peking, Goldfischgasse auf den Umschlag zu schreiben156.
Die Schweizer Firma war der Lift-Hersteller Schindler. Dieses
Unternehmen gründete im März 1980 mit der China-Schindler
Elevator Company Ltd.157 als erstes ausländisches Unternehmen der
neuen Zeit ein Joint Venture in China. Die Fahrstühle waren dabei
nicht für den Export, sondern für den chinesischen Markt bestimmt.
16 Millionen Dollar betrug das Gesellschaftskapital, Schindler war
mit 25 Prozent beteiligt, zwei chinesische Maschinenbaufirmen, je
eine in Peking und 上海 Shàngh|i, hielten 75 Prozent und brachten, ein gängiges Verfahren bei Gemeinschaftsunternehmen, ihren
Anteil in Form ihrer Fabrikgebäude und des Bodens ein. Letzteren
hatten die Partner so hoch bewertet, daß ein Schindler-Vertreter
sarkastisch bemerkte, dafür hätte man ein entsprechend großes
Gelände auch in der Schweiz bekommen können158.
155
"China Trust Investment Co. nimmt Geschäftsbetrieb auf", Nachrichten
für Außenhandel, 9.10.1979.
156
Carol Bargmann, "Adresse: Peking, Goldfischgasse", Fankfurter
Allgemeine Zeitung, 5.10.1979.
157
¥¦\c]^§_`p zhÇng guó xùn dá diàn tí y4u xiàn gÇng s§.
158
Carol Bargmann, "Erstes europäisches-chinesisches Unternehmen",
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.3.1980.
267
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Die Schindler-Unternehmung hatte Signalfunktion, in einer
Phase da noch viele am Gelingen der Joint-Venture-Strategie
zweifelten, abwarteten und beobachteten.
Das anfängliche Zögern der europäischen Investoren hatte vor
allem damit zu tun, daß viele Beobachter noch kurz vor der Bekanntgabe des Gesetzes über chinesisch-ausländische Gemeinschaftsunternehmen überzeugt waren, daß ein Funktionieren
solcher Konstruktionen im sozialistischen System ganz ausgeschlossen sei.
Daß Ausländer Fabrikgebäude oder Ausrüstungen auf chinesischem Boden ganz oder teilweise ihr eigen nennen können
überstieg 1980 die Vorstellungskraft der meisten Experten. Es
würde schon deshalb nicht zu einem wirkungsvollen Know-HowTransfer kommen, weil dieser nicht einfach in [das] gegenwärtige
System eingespeist werden kann, das fast keine Arbeitsteilung und
Spezialisierung kennt, und dem schlichtweg die Infrastruktur für
moderne Anlagen fehlt159, meinte zum Beispiel die damalige FAZKorrespondentin in China, Carol Bargmann.
Diese Beobachter irrten. Solche Bedenken galten (und gelten)
nichts in einem Land, das hundert Jahre lang mit Vertragshäfen
und Exterritorialität für Ausländer gelebt hatte, und es heute mit
ein Staat, zwei Systeme in puncto Hongkong tut. So gründlich
deutsch oder juristisch dachte (und denkt) kein Chinese, daß erst
der sozialistische Schlamassel aufzuräumen wäre, bevor man die
ordentlichen, spezialisierten, hochtechnischen kapitalistischen Betriebe hereinlassen kann.
Die durften vielmehr gerne gleich kommen, was nicht paßte,
machten die Behörden umgehend passend, denn Funktionäre allein
bestimmen, was in China geschieht. Und wenn Gesetze fehlten
oder einem Vorhaben entgegenstanden, so bedeutete (und bedeutet)
auch das in China nichts: Die Machthaber erließen (erlassen) sie
nachträglich paßten sie an oder strichen sie: Nichts ist erfolgreicher
als der Erfolg, war die Devise oder, wie Deng es als Modernisie159
Carol Bargmann, "Für Koproduktionen fehlen China noch alle
Voraussetzungen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.1979.
268
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
rung seiner eigenen Schwarze-Katze-Weiße-Katze-Theorie nun
ausdrückte: 摸石过河 mÇ shí guò hé Den Fluß überqueren, indem
man die Steine mit dem Fuß erfühlt, also: alles ausprobieren und
sehen, was geht.
So pragmatisch bzw. willkürlich war China immer und ist es
noch, weshalb das damalige kommunistische System auch mit
eingesprengselten kapitalistischen Betrieben funktionierte. Sogar
mit ausländischen. Es war eben ein chinesisches kommunistisches
System.
Schon ein Jahr nach der Pressekonferenz des 荣毅仁 Róng
Yìrén arbeiteten allein in der Südprovinz 广东 Gu~ngdÇng eintausend chinesisch-ausländische Kooperationen, wenn auch meist mit
Kleinfirmen-Partnern aus Hongkong160. Aber die große Zahl machte wieder Eindruck auf andere, die noch draußen standen und von
dort das Geschehen interessiert beobachteten.
Für die meisten westlichen Manager, die ganz anders denken
und wirtschaften als chinesische Hongkong-Kapitalisten, stimmte
das chinesische Umfeld aber zunächst nicht, so daß die achtziger
Jahre keine übermäßig großen Schritte der Europäer, Amerikaner
und Japaner sahen. Produkte hätten wohl alle gern in China
verkauft, aber Kapital wollten sie nicht bringen, solange keine volle
juristische Sicherheit herrschte. Die Rechtsabteilungen und Vorstände der Großfirmen, die zunächst angesprochen waren, legten
erst einmal die Elle bürgerlicher Legalität und Rechtssicherheit an
die Gesetze, Erlasse und sonstigen Veröffentlichungen der Chinesen.
Da sich alle westlichen Manager ähnlich verhielten, entstand
auch kein nennenwerter Konkurrenzdruck unter ihnen, der -wie in
den folgenden Neunzigern, als das asiatische Wunder die westliche
Manager-Wahrnehmung beherrschte- dazu führte, alle Bedenken
fahren zu lassen und aus Angst, abgehängt zu werden und einen
riesigen Markt zu verpassen, Multi-Milliarden-Investitionen in
China vorzunehmen. Nur einige wenige Weltfirmen kamen so in
160
"Praktisch müßte alles Prioritätsstufe eins erhalten", Blick durch die
Wirtschaft, 27.6.1980.
269
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
den achtziger Jahren und auch die testeten erst einmal mit nur
kleinen Einsätzen den Boden einer Investition im Kommunismus.
Im März 1983 nahm das erste echte deutsch-chinesiche Joint
Venture die Produktion auf: die Wella AG. Die Investition betrug
freilich nur 1,5 Millionen DM. Das Unternehmen, das bereits in
Japan eine Kosmetika-Herstellung betrieb, hatte auf eine mögliche
Expansion dort verzichtet und war mit Haut- und Haarpflegeprodukten statt dessen lieber nach China gegangen. Die Manager
meinten, daß in China nicht nur Frauen, sondern mehr noch die
Männer Wert darauf legen, kein graues Haar zu zeigen161 und
wollten daher den chinesischen Markt beliefern. Wer Ende der
neunziger Jahre die schwarzhaarigen bald achtzigjährigen der
damaligen chinesischen Führung sah, konnte bestätigen, daß die
Wella-Manager mit ihrer Annahme sehr richtig lagen. (Mit anderen
freilich überhaupt nicht, weshalb die Firma nichts erreichte.)
Die größte öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland erfuhr
der Volkswagen-Konzern mit seinen China-Aktivitäten. Sehr früh,
vielleicht bei einer der damaligen chinesischen Einkauftouren, kam
es bereits 1978 zum ersten Kontakt. VW erkannte eine große
Bedeutung Chinas für seine künftige Entwicklung162. 1979 und
1980 setzten beide Seiten die Gespräche fort, die sich um die
Möglichkeit drehten, in China eine Jahresproduktion von 150.000
PKW aufzubauen.
Wie immer in solchen Fällen hatten die Chinesen natürlich dafür
gesorgt, daß die Volkswagen-Manager das Gefühl bekamen,
möglicherweise zu spät zu kommen und den riesigen Markt an
einen Konkurrenten zu verlieren: Die Funktionäre sprachen zu
dieser Zeit auch mit Franzosen, Citroën hieß hier der Partner. Le
161
Carol Bargmann, "Kosmetik für die Männer Chinas", Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 30.3.1983. Die wunderschöne Überschrift spielt an auf ein
Kapitel im bis heute wohl lesenswertesten Wirtschaftsbuch zu China: "Pillen für
die Krankheiten Chinas", in Carl Crow, Vierhundert Millionen Kunden, Berlin 1937,
S. 200-214.
a 8bcdƒ8
efgh
162
So interpretieren es jedenfalls die Chinesen, vgl.: 2001
2001 Report of Transnational Corporations= Investment in China (chin.),
Peking 2001, S. 211.
270
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Monde meldete am 9. Juni 1980, das Werk habe mit dem Kantoner
Automobilwerk und dem Ersten Maschinenbau Ministerium einen
Vertrag unterzeichnet, der die Montage der Modelle CX und GSA
vorsehe. Das französische Blatt vergaß natürlich nicht zu erwähnen, daß es hier um einen Markt von nicht weniger als einer
Milliarde Menschen gehe, ein Phantasme de constructeur - ein
Ingenieurs-Traum, wie Le Monde das nannte.
1982, vier Jahre nach dem ersten VW-China-Kontakt, hatten
sich die Verhandler soweit vorgearbeitet, daß sie verlauten ließen,
VW werde möglicherweise ... einen Vertrag mit China unterzeichnen, den das VW-Werk als >Einstieg in die chinesische
Automobilindustrie= wertet. Verhandlungspartner sei die
Shanghaier Autofabrik SAIC (Shanghai Automobile Industry
Corporation163). Vorgesehen sei die Montage des Modells Santana,
VW werde die Teile liefern, die die Chinesen selbst zusammenbauen würden164. Doch es dauerte noch einmal drei Jahre bis SAIC
und Volkswagen damit beginnen konnten, das Santana-Modell aus
angelieferten Einzelteilen zu montieren.
Im März 1985 verkündeten die Partner die Gründung des
Gemeinschaftsunternehmens Shanghai Volkswagen Automotive
Ltd.165 Damit war VW nach etwa sieben Verhandlungsjahren der
erste und bis Mitte der neunziger Jahre der einzige ausländische
PKW-Hersteller im Lande. Die Kundschaft bestand ausschließlich
aus staatlichen Stellen und Staatsunternehmen, zu denen auch die
Taxigesellschaften gehörten. Die ausländische Konkurrenz kapitulierte derweil vor der chinesischen Zollmauer für PKW (100 Prozent) und blieb draußen.
Nicht lange nach Produktionsbeginn ging VW ein zweites Joint
Venture ein, diesmal mit der First Automobile Works166 in der nord163
i…jklm Shàngh|i qì ch‘ gÇng yè.
164
"Zusammenarbeit zwischen VW und Steyr", vwd, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 17.5.1982.
165
166
i…nojklmbc Shàngh|i dà zhòng qì ch‘ gÇng yè gÇng sì.
pqjkrst Dì y§ qì ch‘ zhì zào ch|ng.
271
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
chinesischen Stadt 长春 Chángchãn. Ab 1988 erhielt diese Fabrik
zunächst die Lizenz zum Bau des Audi 100167. Alles schien gut zu
laufen für die Deutschen: Ende der neunziger Jahre lag ihr Anteil
am chinesischen PKW-Markt bei 60 Prozent.
Die bedeutendste Reformmaßnahme in der chinesischen Wirtschaft selbst war in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die Auflösung zunächst der Volkskommunen und alsbald auch aller Arten
von Kooperativen, die Übertragung der Landnutzungsrechte (alles
Land gehört dem Staat) an die Bauern und die Freigabe der Preise,
was zu einem starken Wachstum der ländlichen Wirtschaft führte,
weshalb die Parteiführung ähnliche Maßnahmen Mitte der achtziger Jahre zunehmend auf die städtische Wirtschaft und die Industrie übertrug.
Während der gesamten achtziger Jahre trieben die Machthaber
in Zentral- und Lokalbehörden auf wirtschaftlichem Gebiet die
sogenannte Öffnung Chinas ohne nennenswerte Rückschläge voran. Der Außenhandel des Landes stieg von nur 3,8 Milliarden USDollar 1980 auf 11,1 Milliarden 1989 und die akkumulierten ausländischen Direktivestitionen von 1,8 Milliarden US-Dollar (1983)
auf 16 Milliarden 1989.
Nicht ganz so schnörkellos jedoch verlief die Öffnung des
Landes im politischen Bereich.
Das Verdikt über die Vergangenheit war zwar gesprochen: Fast
alles, was die Partei unter Mao ab Ende der fünfziger Jahre getan
hatte, war offiziell für falsch erklärt und die oberen Ränge der
Machthaber waren zugleich von hartnäckigen Anhängern der alten
Politik gesäubert worden. Doch waren auch die neuen Machthaber
in und mit den alten Bewegungen aufgewachsen, und es fiel ihnen
schwer, sich gänzlich von den alten Gewohnheiten zu trennen und
eine lupenreine Politik der Reform und Öffnung zu verfolgen, wie
die Partei ihre Linie bald nannte. Die Furcht, daß ihnen das Heft
aus der Hand genommen würde blieb sehr groß.
Schon 1983 suchten die Machthaber sogenannte ungesunde
167
Chinesisch:
uv ào dí.
272
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Tendenzen durch eine Kritikkampagne gegen ausländische Mode
wie Schlaghosen und Sonnenbrillen zu stoppen. Nur das Gute, hieß
es, solle aus dem Ausland übernommen werden, die dekadenten
Tendenzen aber sollten draußenbleiben. Das Definitionsmonopol
für dekadent oder ungesund lag dabei einzig bei den Machthabern,
Veteranen des Langen Marsches zumeist, die weit über siebzig
Jahre alt waren, und die ständig ihre persönlichen Ansichten zum
Maßstab der Gesellschaft zu machen suchten.
Auf diese Gängelei antworteten -ausgehend von der Technischen Universität 合肥 Héféi (Provinz 安徽 }nhu§) Ende 1986
Studenten in zahlreichen Städten mit der Forderung nach mehr
Freiheiten, die rasch zu Protesten wurden und schließlich in einer
Demonstration von 60.000 Menschen in Shanghai gipfelten. Was
mit Forderungen nach Verbesserung ihrer Studien-, Wohn- und
Lebenssituation begonnen hatte, mündete umgehend in Kritik an
Funktionären und schließlich dem lauten Ruf nach Demokratie und
Freiheit. Unterstützung fanden die Studenten bei 方励之 F~ng
Lìzh§, dem Prorektor der Technischen Universität von 合肥
Héféi.
Die Parteiführung unter Deng unterstützte die Forderung nach
einer Reform auch des politischen Systems nicht, weil sie fürchtete,
das selbst ein geringes Öffnen dieser Schleuse rasch zu ihrem
Machtverlust führen würde. Sie reagierte hart und kompromißlos,
schloß 方励之 F~ng Lìzh§ wegen bürgerlicher Liberalisierung aus
der Partei aus und entieß ihn fristlos aus den Diensten der
Universität: Wer die Partei nicht unterstützt, soll auch nichts essen.
(1989, als 方励之 F~ng Lìzh§ sich aktiv an der Pekinger Studentenbewegung, s.u., beteiligte, erklärte die Parteiführung ihn
sogar zum Konterrevolutionär. Einer langjährigen Haftstrafe entgingen er und seine Frau nur durch die Flucht in die amerikanische
Botschaft in Peking, von wo sie später heimlich in die Vereinigten
Staaten gebracht wurden.)
Ganz im hergebrachten Kampagnenstil begann die Parteipresse
alsbald eine koordinierte Kritik an totaler Verwestlichung, der
Negierung des Sozialismus und ähnlichem. Im Februar 1987 entmachtete eine erweiterte Sitzung des KP-Politbüros den Generalse273
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
kretär 胡耀邦 Hú Yàob~ng, der mit Deng in schwerer Zeit gegen
die Viererbande und danach gegen den Mao-Nachfolger 华国锋
Huá Guóf‘ng gekämpft hatte, weil er die Forderungen nach einer
Reform des politischen Systems unterstützt hatte, beließ ihm jedoch
seine Mitgliedschaft im Zenralkomitee
Zum Nachfolger ernannte das Gremium seinen bisherigen
Stellvertreter 赵紫阳 Zhào Z0yáng, der gleichzeitig Premier des
Staatsrates war. Weitere Parteiausschlüsse prominenter Mitglieder
sollen den Drang nach poltischen (neben den wirtschaftlichen)
Reformen vollends brechen.
Zunächst aber gelang es dem vorsichtig taktierenden Generalsekretär und Premier 赵紫阳 Zhào Z0yáng, der selbst Reformen
nicht abgeneigt war, auf der 1. Tagung des XII. Zentralkomitees im
November 1987 eine starke Verjüngung des Gremiums durchzusetzen. Zahlreiche alte Funktionäre, die die Politik Chinas seit
1949 bestimmten, verließen den inneren Kreis des Ständigen Ausschusses des Politbüros und traten einem sogenannten Zentralen
Beratergremium bei, darunter auch Deng, der jedoch das Amt des
Vorsitzenden der Militärkommission behielt und so die Armee (und
de facto alle Fäden der chinesischen Politik) weiter zur Hand hielt.
(赵紫阳 Zhào Z0yáng selbst enthüllte 1989, daß es ein Arrangement gegeben habe, demzufolge Deng in allen entscheidenden
Fragen das Recht der letzten Entscheidung behielt und damit bis
zu seinem Tod Anfang 1997 der faktische Alleinherrscher Chinas
blieb.)
Im Anschluß an den XIII. Parteitag im Herbst 1987 erhöhte die
Regierung unter 赵紫阳 Zhào Z0yáng das Reformtempo im Wirtschaftsbereich und schränkte den bislang totalen Zugriff der
Behörden auf die Unternehmen etwas ein. Nicht mehr alle Gewinne
mußten die Geschäftsführer (Funktonäre) abführen,und sie erhielten etwas mehr Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich der Produktion die so teilweise den Planvorgaben entkam.
Wie zuvor in der Landwirtschaft so zeigten sich auch im industriellen, städtischen Bereich alsbald -im Vergleich zu vorhererfreuliche Resultate: Die Warenmenge nahm zu, neue Produkte
kamen auf den Markt, der Bevölkerung begann es merklich besser
274
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
zu gehen.
Im Sommer 1988 zeigten sich jedoch auch andere, für die
Machthaber beunruhigende Nebenerscheinungen in Form einer
ungewohnten Inflation, was bei der städtischen Bevölkerung zu
fallenden Realeinkommen und entsprechender Unruhe führte. Eine
bislang nicht gekannte soziale Differenzierung setzte ein,
verschärfte sich schnell und bewirkte eine zunehmende Unzufriedenheit (Reiche nennen es Neid), die kontinuierlich anwuchs.
Ähnlich wie der Tod des seinerzeitigen Premiers 周恩来 ZhÇu
÷nlái im Frühjahr 1976 zum Kristallisationspunkt eines aufgestauten Unzufriedenheitspotentials geworden war, gab 13 Jahre
später, im Frühjahr 1989, der Tod des entmachteten, als reformfreudig geltenden ehemaligen Generalsekretärs 胡耀邦 Hú
Yàob~ng (15. April 1989) erneut den Anlaß für Trauer und Proteste
und innerhalb weniger Wochen eskalierte dies zu einer wahren
Massenbewegung in der chinesischen Hauptstadt, die sich rasch
organisierte, eigene Führer herausbildete und sich offen gegen die
Herrschaft der KP und die Korruption ihrer Funktionäre richtete.
Hunderttausende von Demonstranten, die aus allen Ämtern
inklusive der Redaktion des Parteiorgans Volkszeitung auf die
Straßen Pekings und den seit der 4. Mai Bewegung 1919 immer
zentralisierenden, wie ein Magnet wirkenden Tian=anmen Platz zu
Versammlungen strömten, verlangten eine radikale Änderung des
politischen Systems Chinas und Ende April gar den Rücktritt der
Hunderttausende, nicht nur Studenten, demonstrieren im Frühjahr 1989 in Peking
gegen die Willkür-Herrschaft und Korruption der KP.
275
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Regierung - eine Ungeheuerlichkeit, mit der die Machthaber noch
nie konfrontiert worden waren168.
Am 26. April veröffentlichte das autoritative Parteiblatt Volkszeitung einen warnenden Leitartikel mit dem Titel Es ist notwendig,
eine klare Haltung gegen das Chaos einzunehmen, der die
Massenbewegung als geplantes Komplott (natürlich einer Minderheit) denunzierte. Dies sei der ernsteste politische Kampf für die
Partei und die gesamte Nation.
Mit hoher Geschwindigkeit, ganz wie zu Beginn der
Kulturrevolution, traten immer neue Führer der Massenbewegung
hervor, bildeten sich neue Organisationen und erschienen nicht
kontrollierte Publikationen. Es zeigte sich wieder einmal, daß im
Angesicht eines versteinerten politischen Systems die Machtfrage
sehr schnell gestellt wird, weil den Herrschenden Kompromisse
kaum möglich sind, ohne gleich selbst zur Disposition zu stehen.
Nachgeben in einem Punkt beruhigt die Lage nicht, sondern bringt
sie, im Gegenteil, insgesamt ins Rutschen, da sofort an anderer
Stelle neue Forderungen auftauchen.
Die Schwäche der Bewegung war jedoch ihre Uneinheitlichkeit,
eine fehlende, effekive zentrale Führung nach dem Vorbild der
Kommunistischen Partei. Immer wieder ermöglichten es widersprüchliche Beschlüsse und Forderungen den Machthabern, diese
auszunutzen, ihre Gegner zu spalten und selbst zu eigener Einheit
zu gelangen, die die Grundvoraussetzung für ihre Herrschaft ist.
Die Demokratiebewegung, wie die Unruhen heute pauschal
168
Die dramatischen Abläufe der Bewegung und die hektischen, zunächst
hilflosen, dann aber entschlossen-brutalen Reaktionen der um ihr Leben
kämpfenden KP-Führung umd Deng Xiaoping sind in dem spannenden Buch von
Zh~ng Liáng (herausgegeben von Andrew J. Nathan und Perry Link), The
Tiananmen Papers, Public Affairs, New York, 2001 detailliert dargstellt. Nach
Angaben der Herausgeber beruht der Inhalt des Buches großenteils auf internen
oder gar geheimen Papieren der Parteiführung, Beschlüssen und
Gesprächsprotokollen, die ein hochrangiges Parteimitglied namens
Zh~ng
Liáng aus China herausgeschmuggelt habe. Der Name ist dabei ein Pseudonym
und geht zurück auf eine gleichnamige Person am Ende der Streitenden Reiche.
Zh~ng Liáng soll in seiner Jugend vergeblich versucht haben, den späteren
Ersten Kaiser zu ermorden. Später soll er
Liú Bang geholfen haben, die
Qín-Dynastie zu stürzen und die
Hán zu errichten.
vw
vw
vw
{
xy
276
z
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
außerhalb Chinas heißen, zeigte überdies, in welch rasender
Geschwindigkeit sich in China Menschen zu Hunderttausenden
zusammenfinden können, sobald sie eine Chance sehen, etwas zu
erreichen. Gerüchte haben dabei eine große mobilisierende Wirkung, und Gewaltanwendung der anderen Seite schreckt zunächst
nicht unbedingt ab. Politische Bewegungen in China, auch dies
zeigte sich, sind immer schrecklich emotional und theatralisch mit
dem Ablegen von Eiden, Selbstmorden, Opfern, dem Errichten von
Götterstatuen und natürlich den pathetischen Worten China,
Vaterland und Patriotismus.
Im Mai sah sich das Regime mit Hunderttausenden Demonstranten konfrontiert, keineswegs nur Studenten, und so sehr in
Frage gestellt, daß die Machthaber sich entschieden, die mittlerweile als 反动动乱 f|n dòng dòng luàn konterrevolutionäres Chaos
bezeichnete Bewegung mit militärischer Gewalt niederzuschlagen.
Diese Entscheidungsfindung im obersten Parteigremium, dem
Ständigen Ausschuß des Politbüros war nicht einfach, denn das
Gremium war gespalten: Sein Generalsekretär, 赵紫阳 Zhào Z0yáng, sperrte sich gegen ein gewaltsames Vorgehen. Damit war die
schlimmste denkbare Situation für die Machthaber eingetreten: eine
Spaltung des Inneren Zirkels.
Zum Glück bestand diese Opposition jedoch nur aus einer
Person und konnte das Problem so durch die de facto-Entmachtung
des Parteichefs 赵紫阳 Zhào Z0yáng bereits am 24. April gelöst
werden (ohne, daß die Öffentlichkeit davon erfuhr). Am 20. Mai
dann beschloß ein informeller Kreis von Alt-Funktionären, die dem
Zentralen Beratergremiun angehörten, angeführt vom de facto
obersten Machthaber 邓小平 Dèng Xi|op§ng, unter Umgehung der
Parteisatzung, den damaligen Shanghaier Parteichefs 江泽民 Ji~ng
Zémín als Parteichef einzusetzen169.
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Dies geht deutlich aus dem im Sommer 2004 veröffentlichten
| Dèng Xi|op§ng
nián pß Biographische
des Dèng Xi|op§ng hervor.
An der
 Péng
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Einsetzung waren Deng sowie œ Chén Yún,
L0
Xi~nniàn,
€‚ YángShàngkãn, ƒ„ Wáng Zhèn, …† L0 Péng, ‡ˆ Qiáo Shí, ‰
Zh‘n,
Š‹ Yáo
Y§lín, Œ Sòng P§ng und andere beteiligt, also Personen, die gar
169
277
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Am 19. Mai verhängte der damalige Premierminister 李鹏 L0
Péng -wiederum auf Basis einer Absprache mit dem informellen
Inneren Kreis um Deng Xiaoping- mit Hilfe eines Beschlusses des
Ständigen Ausschusses des Politbüros (ohne dessen abgesetzten
Leiter 赵紫阳 Zhào Z0yáng), und im Namen des Staatsrates das
Militärrecht über die chinesische Hauptstadt. Ziel sei es, Einheit
und Stabilität wiederherzustellen und das reibungslose Vorankommen von Reform und Öffnung und des Aufbaus der sozialistischen
Modernisierung zu sichen170.
Drei Wochen aber dauerte es in der Folge noch, bis die Machthaber ihre Armeeeinheiten mobilisiert und aus der Provinz nach
Peking gebracht hatten, wo sie langsam in Richtung Zentrum
vorrückten, dabei immer Tausenden Demonstranten gegenüberstehend, die sie -oft mit Erfolg- zum Nichtbefolgen ihrer Befehle zu
bewegen suchten.
In der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1989 erhielten die ArmeeEinheiten den Befehl, den Platz des Himmlischen Friedens, das
politische Herz Chinas, auf dem immer noch Tausende Demonstranten trotz des Militärrechts ausharrten, zu räumen. Ihrem entschlossenen Vorgehen (Massaker), bei dem sie ausgiebig von ihren
Schußwaffen Gebrauch machten, fielen nach heutigen Erkenntnissen nahezu tausend, meist junge Leute zum Opfer.
Erstmals in der Geschichte war das Ausland während dieser
über Monate sich hinziehenden höchsten politischen Krise in China
sozusagen live dabei, denn der noch relativ neue US-Nachrichtensender CNN übertrug die Ereignisse als sie stattfanden. Vor dem
Hintergrund der zu dieser Zeit in Osteuropa sich quasi täglich verschärfenden und nicht mehr zu übersehenden Auflösungserscheinungen des Sowjetblocks, die als erstes die Deutschen betrafen
(Ungarn hatte im Frühjahr seine Grenzen geöffnet und täglich mehr
keinem Parteigremium mehr angehörten bzw. nicht einmal der gesamte Ständige
Ausschuß des Politbüros, von einem größeren Kreis ganz zu schweigen. Siehe:
Dèng Xi|op§ng nián pß, Band 2, S. 1277.
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170
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Flüchtlinge aus der DDR suchten über die ungarisch-österreichische Grenze in die Bundesrepublik zu gelangen), gerieten die
Ereignisse in China rasch in den Mittelpunkt des westlichen Interesses.
Ein gigantischer Systemzusammenbruch schien sich abzuzeichnen, ein seit vierzig Jahren als bedrückend, unbeweglich, versteinert und wohl unzerstörbar angesehenes Staatensystem der Despotie löste sich auf. Und China schien dabeizusein!
Diese Wahrnehmung und die sehr erregenden live Bilder erst
von den monatelangen Pekinger Protesten, dann ihrem blutigen und
brutalen Ende und dem gänzlich unverholenen und in seiner
Primitivität nur schwer zu überbietenden offenen Triumph der
siegreichen Machthaber (jeder der schießenden Soldaten erhielt als
Auszeichnung eine Armbanduhr geschenkt, Verhaftete junge Leute
wurden im Fernsehen als armselige Gestalten vorgeführt) über ihre
erfolgreiche Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung bewirkten
in Westeuropa und in den USA eine große und in vielen Teilen der
Bevölkerung nachhaltige Abscheu über und Verachtung für die
chinesische Führung.
Das Regime seinerseits ließ sich dadurch nicht beeindrucken.
Der die Befehle Deng Xiaopings ausführende Premier 李鹏 L0
Péng war ab der Kriegsrecht-Verhängung der öffentlich wahrnehmbare, handelnde Machthaber. Er führte aus, was Deng im
Hintergrund, bei Besprechungen mit gar nicht zu Entscheidungen
legitimierten Altfunktionären in seinem Wohnzimmer befahl. 李鹏
L0 Péng trieb Dengs Anordnungen voran, verkündete und rechtfertigte sie ohne Wenn und Aber. 赵紫阳 Zhào Z0yáng wurde nach
der endgültigen Niederschlagung der Protestbewegung am 23./24.
Juni, auf der 4. Plenartagung des 13. Zentralkomitees für seine
Haltung zu den Protesten kritisiert und nun auch offiziell aller seiner Ämter enthoben. Er ist bis heute eine Unperson (wird nicht
erwähnt, erscheint nicht auf historischen Bildern) und steht in
Peking unter Hausarrest.
Zu seinem Nachfolger wählte die ZK-Versammlung den bis
dahin der in- und ausländischen Öffentlichkeit eher Unbekannten
江泽民 Ji~ng Zém§n, Parteisekretär von Shanghai, der freilich
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CHINESISCHE GESCHICHTE
bereits einen Monat vorher, am 20. Mai, von einem statuarisch
nicht vorgesehenen Gremium und unter Umgehung des Parteistatuts, zum Nachfolger des entmachteten 赵紫阳 Zhào Z0yáng
ernannt worden war.
Damit herrschte in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 zwar
wieder Ordnung auf den Straßen, war der Innere Kreis der Machthaber wieder einig und sorgte die gnadenlose Verfolgung aller, die
sich aufmüpfig gezeigt hatten, für Friedhofsruhe im Volk, doch
waren die den Demonstrationen zugrunde liegenden Ursachen
keineswegs beseitigt. Die Unzufriedenheit hatte vor allem deshalb
ein solch breites Ausmaß erreicht, weil die Reformen des Wirtschaftssystems zu Inflation und damit dem Herausfallen breiter
städtischer Bevölkerungsschichten aus der gewohnten Sicherheit
geführt hatten.
Schon vor den Unruhen war es wegen dieser Entwicklungen zu
Debatten unter den Machthabern gekommen. Wie weit konnte man
gehen, ohne das überkommene Herrschaftssystem und damit die
eigene Position als Machthaber zu gefährden? Ein Teil der
Funktionäre befürwortete schon seit längerem ein Zurückdrehen
der Wirtschaftsreformen, während ein anderer Teil, zu dem der
Parteichef 赵紫阳 Zhào Z0yáng gehört hatte, ein schnelleres
Vorangehen favorisierte. Gerade diese Fraktion fand sich im Herbst
1989 personell wie ideologisch stark geschwächt wieder. Die
unaufhaltsame Auflösung des ehemaligen Ostblocks und die gerade
überstandene akute Systemkrise zu Hause verschafften den Reformgegnern im Herbst 1989 Auftrieb und weitere Argumente, die
sie im folgenden auch in praktische Maßnahmen umsetzen konnten,
um die gerade geschaffene Marktmechanismen zugunsten einer
Rückkehr zur Planwirtschaft wieder außer Kraft zu setzten.
Anführer dieser Fraktion war der seinerzeit bereits über
80jährige Parteiveteran 陈云 Chén Yún, der in den fünfziger Jahren
maßgeblich das Planwirtschaftssystem in China organisiert und
stets der obersten Parteiführung angehört hatte. Dort besaß er zu
diesem Zeitpunkt zwar keine offizielle Position mehr, aber als
Leiter eines sogenannten 中央顾问委员会 ZhÇng y~ng gù wèn wi
yuán huì Zentralen Beraterkomitees, in das alle sehr alten Ex280
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Parteiführer Ende der 80er Jahre von Deng abgeschoben worden
waren, übte er weiter großen Einfluß auf die Politik, insbesondere
die Wirtschaftspolitik aus. Die gerade überwundene Krise und die
Einsetzung einer neuen Parteiführung verstärkten seinen Einfluß
noch mehr.
Während der auf die Krise folgenden Jahre 1990 und 1991
gelang es 陈云 Chén Yún und seinen Bundesgenossen, die von
Deng weiter vertretene Reform und Öffnung der chinesischen
Wirtschaft zu konterkarieren und, wenn nicht auf einen Weg
zurück, so doch in einen Stillstand zu führen. Insbesondere das
Hereinkommen ausländischen Kapitals und ausländischer
Unternehmen kritisierte die Fraktion um 陈云 Chén Yún171 als
Ausverkauf Chinas und Abkehr vom Sozialismus (den auch Deng
gewahrt sehen wollte).
Deng, der 1991 bereits 88 Jahre alt und ganz offenbar gebrechlich war, versuchte, diesen Widerstand dadurch zu überwinden, daß
er sich immer wieder in die Politik einmischte und darauf drängte,
schneller und mutiger voranzugehen, keine Angst zu haben, das
Ungewöhnliche zu probieren und dabei auch Fehler in Kauf zu
nehmen. Damit stand er nicht alleine. Zwar nahm die 陈云 Chén
Yún-Fraktion in dieser Zeit einen starken Einfluß auf die
Machtzentrale in Peking, doch hatte die Reformpolitik der achtziger Jahre vor allem in Südchina (广东 Gu~ngdÇng) und einigen
Provinzen an der Ostküste (insbesondere 浙江 Zhèji~ng und 福建
Fújiàn) bereits zu Ergebnissen geführt, die die dortigen Machthaber
nicht wieder aufgeben wollten. Einen weiteren starken regionalen
Bundesgenossen gewann Deng dadurch, daß er nun auch die
Funktionäre Shanghais, der wichtigsten Industriestadt Chinas,
immer wieder und sehr deutlich drängte, im großen Stil mit
Wirtschaftsreformen und dem Aufbau einer Sonderwirtschaftszone
im Stadtteil 浦东 PßdÇng voranzugehen.
Gestützt auf seine eigene Autorität sowie Macht und Einfluß der
171
Eine gut dokumentierte zeitgenössische Übersicht: Peter Schier, Deng
Xiaopings letzte Entscheidungsschlacht um Chinas Zukunft in China aktuell, April
1992 (S. 228-235) und Mai 1992 (S. 305-309).
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CHINESISCHE GESCHICHTE
Provinzen und Shanghais
holte Deng im Februar 1992
zum entscheidenden Schlag
gegen die retardierenden Kräfte aus: Der alte Mann besuchte
im Rahmen einer -wie es bei
den Kaisern üblich war- 南巡
nán xún Inspektionsfahrt in
den Süden die Wirtschaftsson- Sein letzter Kraftakt: Der alte Deng in ¸¹
Sh‘nzhèn, Januar 1992.
derzonen 深圳 Sh‘nzhèn und
珠海 Zhãh|i in der unmittelbaren Nachbarschaft Hongkongs bzw.
Macaos (und fuhr anschließend nach Shanghai). Gerade sie hatten
seinen Gegnern immer wieder Argumente zur Kritik der Reformpolitik geliefert, denn hier hatten sich durch die Ansiedlung
inwischen Tausender Hongkonger Betriebe auch die sogenannten
dekadenten Hongkonger gesellschaftlichen Verhältnisse eingestellt
- Bars, Rotlichtbezirke und Korruption.
In direktem Angriff auf diese Argumentation ließ sich der alte
Deng gerade durch diese Städte des Bösen, in die Börse von 深圳
Sh‘nzhèn, auf die neuen Hochhäuser und in Fabriken dort führen,
wo er die wirtschaftliche Entwicklung und die entsprechende Politik der dortigen Parteifunktionäre unaufhörlich lobte und dem ganzen Land als Vorbild empfahl. Anschließend forderte er in
Shanghai die dortigen Funktionäre ebenfalls auf, beherzt
voranzugehen und auf der Halbinsel 浦东 PßdÇng eine Wirtschaftssonderzone einzurichten. Entsprechende Kapitalmengen
stellte die Zentralregierung anschließend in großer Menge zur
Verfügung.
Nach kurzem Zögern, ausgelöst durch den anhaltenden Widerstand der Kreise um 陈云 Chén Yún, griffen die neuen Machthaber
um 江泽民 Ji~ng Zém§n und dann auch die zentrale Pekinger
Parteipresse diese letzte Weichenstellung des alten Deng auf und
propagierten sie im ganzen Land.
Ein Satz Dengs, den er schon Jahre zuvor in der ideologischen
Auseinandersetzung zur Entmachtung der Maoisten gebraucht
282
LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
hatte172, kam gerade im Zusammenhang mit dieser Inspektion zu
ganz neuen und diesmal landesweit durchschlagenden Ehren: 致
富光荣 zhì fù gu~ng róng Reich sein ist ehrenvoll. Mit diesen vier
Zeichen wischte der alte Mann alle Ideologien und Ängste, sie zu
übertreten, beiseite und rührte an den Nerv der damals 1,2 Milliarden Chinesen oder, wie es eine Rückschau anläßlich seines 100.
Geburtstages im August 2004 formulierte:
Dengs Aufruf, wonach reich sein ehrenvoll ist, setzte eine Massenkultur frei, die alles angriff, was bisher war. Alle, landauf
und landab, gingen in die Wirtschaft [下海 xià h|i - stürzten
sich ins Meer] und sahen im Geschäftemachen [经商 j§ng
sh~ng] ihre größte Aufgabe.173
Diesem seither weltweit bekannten Aufruf fügte Deng ausdrücklich
hinzu: Es macht nichts, wenn einige Leute und einige Gegenden
zuerst reich werden174 - ein Freibrief zum Geldverdienen ohne
Ende.
Jedenfalls sahen und sehen das Millionen Chinesen so und
lassen ihrem wirtschaftlichen Ziel des Reich Werdens seit den
frühen neunziger Jahren freien Lauf.
Zu ihnen gehörten als erste die Funktionäre des Regimes, die
Machthaber in China,, die die politischen Rahmenbedingungen
bestimmen - von der Zentrale ganz oben bis in die Regionen ganz
ganz unten, dem Parteisekretär im Bauerndorf, vom Minister über
Žº
172
So erzählte es Deng jedenfalls dem amerikanischen Journalisten Mike
Wallace, der ihn am 2.9.1986 interviewte, ein Gespräch, das auch in die
Dèng Xi|op§ng wén xu|n Ausgewählten Werke mit einging (Band 3, S. 171172).
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Ž A¼½¾¿@ ÀÁÂÃÄÅÆÇÈɺÊËÌÍÎÏÐÑÒÓÔÕ
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Ö×>ÔØ= Ù>ÚÛ= ÇÜÈÝÞ
. ß
Qí lù ZhÇng Guó: Zh§ shi fèn z0 jù jué yí wàng China am
ñ Scheideweg: Die
Intellektuellen weigern sich zu vergessen, in : îïð Shì jiè zhÇu k~n,
173
31.8.2004.
174
òÎóèôÙÎóèõö÷½øÆ ràng y§ bù fen rén, y§ bù fen dì qã
xi~n fù q0 lai.
283
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CHINESISCHE GESCHICHTE
die Amtsleiterhierarchie bis zum Fabrikdirektor - jeder begann
Geschäfte zu machen, die nach dem Prinzip funktionierten: Gewinne für mich, Verluste für die Allgemeinheit.
Dazu gehörte es auch, im Rahmen seines jeweiligen Machtbereichs die günstigsten Bedingungen für wirtschaftliche Transaktionen zu schaffen. Als ergiebigster Partner dabei erwiesen sich die
aus dem Ausland hereinkommenden Investoren, denn sie besaßen
das für Geschäfte nötige, in China immer noch fehlende Kapital
sowie das know-how in Technik und Entwicklung. Eine administrative Hürde nach der anderen räumten die Machthaber ihnen und
sich selbst beiseite, um den Weg für die hereinströmenden Dollars
zu verbreitern.
Dabei hatten sie nach Dengs Süd-Inspektion Jahr für Jahr grössere Erfolge, und die seit seit der Industrialisierung in Europa
vorherrschende Sicht Chinas als des größten Marktes der Welt
begann sich im wahrsten Sinne des Wortes für China auszuzahlen:
Ab Mitte der neunziger Jahre flossen jährlich vierzig bis fünfzig
Milliarden Investitions-Dollars ins Land hinein, Zehn-, ja Hunderttausende ausländisch finanzierter Fabriken entstanden und produzierten in joint venture-Form oder ganz in ausländischem Besitz
stehend Spielzeug, Textilien, Elektro- und einfache elektronische
Geräte für den Export, bald aber auch PKW, Pharmazeutika,
chemische Grundstoffe und Investitionsgüter, die ihren Absatz auf
dem chinesischen Markt finden sollten.
Indes brachten Europäer, Amerikaner, Koreaner, Taiwaner und
schließlich auch Japaner nicht nur Kapital nach China. Genauso
bedeutsam für die weitere wirtschaftliche Entwicklung war der
damit einhergehende Import und die Verbreitung von Produktionsund Vermarktungs-know-how, das rasch Eingang auch in rein
chinesische Betriebe fand (und findet) und dort einen erheblichen
Beitrag zur Modernisierung der Produktpaletten leistete.
Gegen Ende der neunziger Jahre waren insgesamt um die 800
Milliarden Dollar ausländischer Direktinvestionen in China
angelegt worden. Etwa die Hälfte der Importe und Exporte nach
und aus China entfielen auf Unternehmen, die mit ausländischem
Kapital und know-how arbeiteten.
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LERN-UNTERLAGEN
CHINESISCHE GESCHICHTE
Dieses rasante Wachstum und die bald erreichte starke, ja
dominierende Stellung ausländischer Interessen in China verstärkten den Druck auf die Machthaber, diesen Interessen mehr Spielraum zu gewähren, so daß Renditen auf das eingesetzte Kapital
überhaupt erst möglich werden konnten. Überall und ständig
stießen die internationalen Investoren nämlich auf Beschränkungen
ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit zugunsten einheimischer
Konkurrenten und zu ungunsten ihrer eigenen freien Entfaltung.
Und im Exportgeschäft bestand immer die Gefahr, daß Exportmärkte in Amerika und Europa unilateral geschlossen wurden.
Hier hatte das ausländische und chinesische Verlangen seinen
Ursprung, China in eine internationale Handelsorganisation einzubinden. Die Ausländer hofften, sich dadurch den chinesischen
Markt vollständig zu öffnen und die Chinesen, es Protektionisten
in Amerika und Europa zu erschweren, Produkte made in China
durch einseitige Maßnahmen fernzuhalten.
Wie 150 Jahre zuvor, zur ideologischen Rechtfertigung des
Opiumkrieges verlangten die Ausländer Freihandel, Gleichberechtigung und Rechtssicherheit in China, kurz, eine Beschneidung der
bislang unumschränkten, willkürlichen Verfügungsgewalt der
Herrschenden über ihren Staat. Getrieben von diesen und den
eigenen Interessen nahm die Parteiführung Zug um Zug ihren
Einfluß auf die Wirtschaft und damit zusammenhängende Bereiche
der chinesischen Gesellschaft zurück und beschränkte sich mehr
und mehr darauf, die Entwicklung mit makroökonomischen Mitteln
wie der Geldpolitik zu steuern.
Der Beitritt Chinas zur World Trade Organisation (WTO) Ende
2001 war in diesem Prozeß ein wichtiger Meilenstein: Erstmals in
seiner Geschichte hat sich das Land damit einem System von
Regelungen unterworfen, die zwar in China gelten, aber nicht mehr
unilateral in Peking aufgestellt und überwacht werden, sondern
deren Zustandekommen und Durchsetzung vom Zusammenspiel
internationaler Kräfte, der WTO-Mitglieder, abhängt.
Damit ist die Politik der Öffnung, die Mao 1971 mit der
Einladung des amerikanischen Präsidenten Nixon nach China
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CHINESISCHE GESCHICHTE
einleitete und die Deng Anfang der achtziger Jahre um die
Komponente 改革开放 g|i gé k~i fàng Reform und Öffnung des
Wirtschaftssystems ergänzte, endgültig umgesetzt.
Das chinesische Volk war, wie Mao 1949 bei der Staatsgründung sagte, aufgestanden. 2001 nun hat es einen entscheidenden
Schritt hinaus in die Welt getan. Wie die damit lebt und leben wird,
wenn 1,3 Milliarden selbstbewußte Menschen, ein Viertel der
Erdbevölkerung, den als ihnen zustehend empfundenen Platz in
dieser Welt einnehmen und wie sie das anstellen, ist ein Thema
nicht mehr für dieses Geschichtsbuch, sondern für den laufenden
Unterricht am Ostasieninstitut der FH Ludwigshafen.
O
完
ùú Xiù Cai erscheint monatlich, aus aktuellem Anlaß öfter.
Herausgeber: Ostasieninstitut der FH Ludwigshafen, Dr. Jörg-M. R udolph.
Veranwortlicher Redakteur: Dr. Jörg-M. Rudolph. Anschrift: Ostasieninstitut der
Fachhochschule Ludwigshafen, Rheinuferstraße 6, 67061 Ludwigshafen. Tel.
0621-586670, Fax 5866777, email: [email protected]
Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Ansicht der
Herausgeber wieder.
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