Zeittafel Am östlichen und westlichen Pruthufer in Höhe der Stadt Czernowitz und auf den Hügeln westlich des Pruths wurden Spuren prähistorischer Siedlungen entdeckt. Ab etwa 1500 v. Chr. siedeln Skythen in der nördlichen Bukowina. In der Zeit der großen Völkerwanderungen ziehen Hunnen, Ostgoten, slawische Wenden, Avaren und Magyaren durch das Land. Vermutlich nutzen alle die Furt, die den Pruth durchquerbar macht und an der später der Ort Czernowitz entsteht. Ab dem 12. Jahrhundert herrschen die Walachen über das Land. Um 1360 entsteht das moldauische Fürstentum mit Sitz in dem nahe gelegenen Ort Sereth. 1395 · In einer Huldigungsurkunde wird die Zwingburg Cecina, auf einem Hügel im Hinterland von Czernowitz, erwähnt. Reste der Burg sind heute noch vorhanden. 1408 · Der Marktflecken Czernowitz wird erstmalig in einer Urkunde genannt. Hier befindet sich eine Zollstation an einer Handelsstraße, die die Furt als Pruthübergang nutzt. 1488 · Czernowitz ist als Mittelpunkt eines gleichnamigen Kreises in verschiedenen Urkunden benannt. 1509/1531/1537 · Polnische Truppen zerstören die kleine Stadt. 1709 · Schwedische Soldaten, die gegen ein russisches Heer kämpfen, zerstören den Ort erneut. Armeeverbände die Bukowina, die 1775 zusammen mit Galizien Österreich eingegliedert wird. Die Bukowina wird zunächst von Lemberg aus verwaltet. Zu dieser Zeit leben in Czernowitz 338 Familien zumeist in Lehmhütten. 1783 · Der griechisch-orthodoxe Bischofssitz wird nach Czernowitz verlagert. 1786 · Erste Grundschulen und eine Klerikalschule entstehen. Die österreichischen Behörden siedeln gezielt Zuwanderer, vor allem deutschsprachige Kolonisten aus Schwaben, Böhmen und Nordungarn an. In zunehmendem Maße wandern auch Juden vor allem aus Russland ein. In den Folgejahren werden mehrere Kasernen in Czernowitz gebaut und die ersten lokalen Behörden angesiedelt. Der Bau von Steinhäusern wird durch langjährige Steuerbefreiungen für die Bauherren gefördert. Erste städtische Strukturen entstehen. 1789 · Das Judenordnungspatent tritt auch in der Bukowina in Kraft. Juden erhalten das Recht auf freie Berufswahl und dürfen Ackerboden pachten. Ab 1792 dürfen sie deutsche Familiennamen annehmen. Nach und nach wurden ihnen alle Bürgerrechte gewährt, so durften sie sich bilden, wählen und mussten keine Sondersteuern mehr entrichten. 1832 · Czernowitz erhält die volle Selbstverwaltung. Der Magistrat kann damit über seine Einnahmen selbst bestimmen. 1833 · Das städtische Krankenhaus wird eröffnet. 1740 · Kosaken brandschatzen Czernowitz. 1848 · Das neue Rathaus wird fertig gestellt, in dem auch heute noch der Bürgermeister residiert. 1774 · In der Folge des russisch-türkischen Krieges, den Russland gewinnt, besetzen österreichische 1849 · Die Bukowina wird ein eigenständiges Kronland mit Czernowitz als Hauptstadt. 174 _Czernowitz.indb 174 05.08.2005 17:31:26 Uhr 1853 · Die Stadt zählt 9 700 Einwohner, die in 1 070 Häusern wohnen. Sie hat ein Kreisamt, ein Zivilgericht, ein Kriminalgericht, das Militär-BrigadeKommando, die Landesverwaltung, zahlreiche Schulen und eine Armen-Instituts-Kommission. 1864 · Seit jenem Jahr tagte in Czernowitz der Bukowiner Landtag, der anfänglich 31 Abgeordnete zählte. 1875 · Die Universität wird mit drei Fakultäten und zunächst 800 Studenten eröffnet. 1900 · Czernowitz hat 65 800 Einwohner. Es ist eine prosperierende Stadt, mit vorzüglichem Bildungssystem, einem funktionierendem Gesundheitswesen und ersten sozialen Einrichtungen. Mit Plätzen und Parks, Sportanlagen, einem großen Bahnhof, einer elektrischen Straßenbahn, Hotels, modernen Geschäften und Handelshäusern sowie Zeitungsredaktionen. Es ist eine Stadt des Bürgertums. Manche Bürger waren durch die beginnende Industrialisierung bereits reich geworden. 1910 · In Czernowitz leben 87 113 Einwohner. Als Umgangssprache geben Deutsch 48,4 %, Ruthenisch (Ukrainisch) 17,9 %, Polnisch 17,4% und Rumänisch 15,7 % an. 1914 · Beginn des 1. Weltkrieges. Bis 1917 wird Czernowitz drei Mal von russischen Truppen besetzt und von österreichischen und bayrischen Regimentern zurückerobert. 1918 · Der 1. Weltkrieg endet. In der Stadt gibt es erhebliche Kriegsschäden. Die Brücken über den Pruth sind gesprengt, der Bahnhof und zahlreiche Häuser beschädigt oder zerstört. Zum Ende des Jahres eignet sich Rumänien die Bukowina und Bessarabien sowie Teile Siebenbürgens an. Rumänien verdoppelt damit sein Territorium. 1922 · Die Regierung und die Verwaltungen im Nationalstaat Rumänen betreiben eine brutale Politik der Rumänisierung. Rumänisch ist als einzige öffentliche Sprache zugelassen. In den Verwaltungen, bei Gericht, in vielen Schulen, an der Universität, im Theater darf nur rumänisch gesprochen werden. Wer nicht ausreichend rumänisch spricht, muss erhebliche Nachteile in Kauf nehmen: Beamte, Richter und Lehrer werden entlassen, Rechtsanwälte verlieren ihre Zulassung bei Gericht; 31 von 35 Professoren der Czernowitzer Universität verlassen diese und die Stadt. Alle offen werdenden Stellen werden mit Rumänen besetzt. Das Theater verödet, viele Zeitungen stellen ihr Erscheinen ein. Es erfolgt eine Umschichtung der Sozialleistungen und der Wirtschaftsförderung, die nun ausschließlich der rumänischen Bevölkerung zu Gute kommen. Industriebetriebe und Handelshäuser müssen bevorzugt Rumänen beschäftigen. Insbesondere viele jüdische Familien müssen erhebliche wirtschaftliche Einbußen hinnehmen, ihr Sozialstatus sinkt beträchtlich. Erstaunlicher Weise steht diesem Abstieg, der neben den Juden besonders die Ukrainer trifft, kein adäquater Aufstieg der rumänischen Bevölkerung entgegen. 1933 · Nach dem Sieg der Nationalsozialisten in den Wahlen zum Deutschen Reichstag wehen am Deutschen Haus und an manchen Privathäusern von Volksdeutschen in Czernowitz Hakenkreuzfahnen. Hitler hat hier viele Anhänger. Auch die rumänische, faschistische „Eiserne Garde“ findet in Czernowitz Unterstützung. Die ethnischen Gruppen stehen sich nun ablehnend, ja feindlich gegenüber. Die Gemeinschaft der Bürger der Stadt, die in 150 Jahren unter österreichischer Herrschaft gewachsen war, ist nach nur 15 Jahren im rumänischen Nationalstaat zerbrochen. 1938 · Die wirtschaftliche „Marginalisierung“ der jüdischen Einwohner von Czernowitz ist weitgehend 175 _Czernowitz.indb 175 05.08.2005 17:31:27 Uhr abgeschlossen. Ein Drittel von ihnen hat die rumänische Staatsbürgerschaft verloren, sie leben als weitgehend rechtlose Ausländer in der Stadt. 1939 · Der Hitler-Stalin-Pakt, der eine Abtretung der nördlichen Bukowina mit Czernowitz an die Sowjetunion vorsieht, wird unterzeichnet. Im September 1939 beginnt mit dem Überfall der deutschen Armeen auf Polen, dem sich die sowjetischen Truppen anschließen, der 2. Weltkrieg. Polnische Flüchtlinge erreichen die Stadt Czernowitz. 1940 · Im Juni 1940 besetzen die Sowjets die nördliche Bukowina und Czernowitz. Die Rumänen verlassen angesichts der gewaltigen Übermacht diese Gebiete fluchtartig. Die volksdeutsche Bevölkerung – 30 000 Personen aus Czernowitz, insgesamt etwa 90 000 Menschen aus der gesamten Bukowina – werden innerhalb weniger Monate evakuiert. Im damaligen Sprachgebrauch werden sie „heim ins Reich“ geholt. Im sowjetischen Czernowitz herrschen Chaos, Willkür und Gewalt; die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Brennmaterial ist schwierig. Not und Verelendung sind die Folgen. Es kommt zu Verhaftungen und Deportationen. Etwa 5 000 Menschen werden nach Sibirien verschleppt. Unter ihnen sind auch 3 500 Juden. Nur wenige kehren 1946/47 und nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 zurück. 1941 · Im Juni 1941 beginnt Deutschland den Krieg gegen die Sowjetunion. Dieser „Blitzkrieg“ verläuft zunächst sehr erfolgreich. Die sowjetischen Truppen werden rasch zurückgedrängt. Die Divisionen in Czernowitz geraten in Gefahr durch deutsche und rumänische Soldaten – Rumänien hatte sich zwischenzeitlich mit Deutschland verbündet – großflächig eingekesselt zu werden. Innerhalb weniger Tage Anfang Juli 1941 verlassen die Sowjets Czernowitz und die Bukowina und ziehen sich über Pruth und Dnjestr weit in die Ukraine zurück. Am 4. Juli 1941 rücken rumänische Truppen in Czernowitz ein. Es kommt zu Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung. In den Dörfern der Bukowina werden bei Pogromen zahlreiche Juden getötet. Am 6. Juli 1941 erreichen eine Kompanie der deutschen SD-Einsatzgruppe D und eine deutsche Polizeieinheit Czernowitz. Am nächsten Tag beginnt die systematische Verfolgung und Ausrottung der jüdischen Bevölkerung. Innerhalb von sechs Wochen werden 3 000 Juden ermordet; zumeist durch Erschießen am Ufer des Pruths. Am 11. Oktober 1941 erklärt der rumänische Magistrat das alte Judenviertel der Stadt und einige angrenzende Straßen zum Ghetto. 50 000 jüdische Menschen aus der Umgebung werden dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Ab sofort ist es Pflicht den gelben Judenstern zu tragen. Noch im selben Monat beginnen die Deportationen in das von Rumänien verwaltete Transnistrien. 29 000 Juden werden bis Mitte November 1941 aus dem Czernowitzer Ghetto dorthin deportiert. 1942 · Im Juni 1942 erfolgen erneut Deportationen nach Transnistrien und über den Bug. Aus Czernowitz sind 5 000 Juden betroffen. Die in Czernowitz verbliebenen 15 000 Juden müssen in der Stadt und in rumänischen Arbeitslagern Zwangsarbeit leisten. 1944 · Im März 1944 erreichen sowjetische Truppen Transnistrien und befreien die überlebenden Juden. Diese machen sich zu Fuß auf den Weg in ihre Heimatorte. Im April erreichen die sowjetischen Soldaten auch Czernowitz. In der Stadt wird nicht gekämpft, sie bleibt unzerstört. Etwa 8 000 Juden aus Czernowitz haben die Deportationen überlebt. Weitere 7 000 überlebten in der Stadt und in den Arbeitslagern in Rumänien. 1945 · Die Sowjetunion hält die Bukowina besetzt. Personen, die aus Czernowitz ausreisen wollen, dürfen 176 _Czernowitz.indb 176 05.08.2005 17:31:28 Uhr dies über den Zeitraum eines Jahres tun. Die Rumänen und die meisten der überlebenden Juden verlassen ihre Heimat, viele in Richtung Bukarest. 1946 · Die nördliche Bukowina mit Czernowitz wird von der Sowjetunion endgültig annektiert und der Sowjetrepublik Ukraine zugeschlagen. Die polnische Bevölkerung wird nach Polen ausgesiedelt. Die Ukrainer aus Czernowitz – von denen viele für eine freie Ukraine kämpfen wollen – übersiedelt man in andere Staaten des sowjetischen Reiches. Damit ist Czernowitz eine weitgehend entvölkerte Stadt. Die unzerstörten Häuser stehen wie eine Theaterkulisse, in der kein Stück mehr spielt. ab 1947 · Das sowjetische Tschernowzy füllt sich wieder mit Bewohnern, die aus allen Teilen der Sowjetunion hierher umgesiedelt werden. Die Einwohnerzahl wächst rasch bis Mitte der 1960er Jahre rund 270 000 Bürger in der Stadt leben. Menschen, die die Geschichte von Czernowitz nicht kennen, nicht an die Traditionen anknüpfen können. Um die alte Stadt wird ein Ring von neuen Wohnsiedlungen – überwiegend Plattenbauten – errichtet. Ein Industriegürtel schließt sich an. Tschernowzy wächst auf das nordöstliche Pruthufer, Sadagora wird eingemeindet. Militärische Einrichtungen dominieren die Stadt und das Umland. 1986 · Die öffentliche Sprache in der Stadt ist ausschließlich russisch. Nur im privaten Bereich wird ukrainisch und von kleinen Minderheiten rumänisch, deutsch oder jiddisch gesprochen. Die Religionen sind unterdrückt, die Russisch-Orthodoxe Kirche unter Auflagen und Einschränkungen geduldet. Kulturelle Veranstaltungen und Publikationen sind nur im Rahmen der Vorgaben aus den Moskauer Zentralen von Partei und Regierung möglich. Zeitungen und Fernsehen werden zensiert. Reisefreiheit existiert nicht. 1988/89 · Glasnost und Perestroika zeigen auch in Czernowitz Wirkung. Die Bürger der Stadt engagieren sich zunehmend für eine freie Republik Ukraine. Versammlungen und Demonstrationen nehmen zu. Ab 1991 · Nach dem Zerbrechen der Sowjetunion entsteht die eigenständige Republik Ukraine. Tscherniwzy ist neben Lwiw (Lemberg) die „westlichste“ Stadt dieses Staates. Die Kirchen werden den Religionsgemeinschaften zurückgegeben. Die Gläubigen bekennen sich wieder zu ihrem Christen- oder Judentum. Die jüdische Gemeinde zählt zurzeit (2005) etwa 4 000 Mitglieder. Es existieren neben ukrainischen, russische, rumänische und jüdische Schulen. Es erscheinen unzensierte Zeitungen. Reisen ins Ausland sind möglich. Die Stadt kann von Touristen jederzeit und ohne Einschränkungen bereist werden. In den letzten Jahren ist ein NostalgieTourismus entstanden. Die Besucher kommen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, aus den USA und aus Israel. Für die verarmte Region ist dies ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor. Die Industriebetriebe sind nach dem Fortfall des Marktes Sowjetunion zusammengebrochen; viele Tausend Arbeitsplätze verloren gegangen. Die Einnahmen der öffentlichen Hand reichen nicht aus, die Sozialprobleme der Bevölkerung zu lösen, geschweige denn, die stark baufällige Stadt zu sanieren. Trotzdem ist Tscherniwzy eine Stadt des Aufbruchs. Besonders die jungen Menschen sind nicht entmutigt, besuchen Schulen und die Universität, lassen sich in Berufen ausbilden und streiten für eine freie, demokratische Ukraine. 2004/2005 · An der „Orangenen Revolution“ beteiligen sich mit Demonstrationen, die über sechs Wochen lang täglich im November und Dezember 2004 stattfinden, bis zu 30 000 Menschen in Tscherniwzy. Sie demonstrieren gegen die Wahlfälschungen und für den Präsidenten Juschtschenko. Nachdem dieser Präsident durchgesetzt ist, hoffen die Bürger 177 _Czernowitz.indb 177 05.08.2005 17:31:29 Uhr der Stadt auf eine bessere Zukunft, auf Wirtschaftsund Sozialreformen, die nachhaltig wirken, auf einen erfolgreichen Kampf gegen die Korruption und die Schattenwirtschaft. Und sie hoffen, den Anschluss an den Westen zu finden, demnächst in die EU aufgenommen zu werden. Bildnachweis Archiv Eduard Kasparides, München: S. 18–24, 37, 39–56, 59–62, 84 Archiv des Ch. Links Verlages, Berlin: S. 69, 75 Archiv Roland Links, Leipzig: S. 57, 130, 136 o., 165 Archiv Molodyj Bukovinec, Czernowitz: S. 167 Archiv Edith Schütrumpf, Hohen Neuendorf: S. 70, 79, 147, 148 Archiv Helmut Braun, Köln: S. 17, 33–35, 66, 68, 73, 82, 83, 86–104 Bayerische Staatsbibliothek, München: S. 76 Bernd Böttcher, Czernowitz: S. 77, 110, 116, 131, 135, 155, 159 Helmut Kusdat, Wien: S. 151 Wassyl Kyjaschko, Czernowitz: S. 160 Oleg Ljubiwsky, Czernowitz: S. 144, 168 Sergij Osatschuk; Czernowitz: S. 154 Peter Palm, Berlin: S. 6, 30 Thomas Reck, Berlin: S. 113, 114 o., 124, 126, 149, 150, 152 Gisela Ries, Bonn: S. 114 u., 115, 117–123, 125, 132 o., 136, 137 u., 138–143, 145, 146, 162 Stefanie Stegmann, Berlin: S. 127, 132 u., 161, 166 Oliver Stenschke, Göttingen: S. 80, 133 Karin Wieckhorst, Leipzig: S. 128, 158 178 _Czernowitz.indb 178 05.08.2005 17:31:30 Uhr