Leseprobe - Verlag Karl Alber

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Alber 48689 / p. 1 /5.2.2015
VERLAG KARL ALBER
A
Alber 48689 / p. 2 /5.2.2015
Das Werk von Alfred North Whitehead ist einer der letzten großen
Metaphysik-Entwürfe im 20. Jahrhundert. Dabei erfüllt das Konzept
der Erfahrung eine doppelte, zentrale Funktion. Während die individuelle Erfahrung den methodischen Ausgangspunkt des Philosophierens
bildet, wird zugleich der Erfahrungsbegriff zum ontologischen Grundkonzept universalisiert: Jeder Prozess in der Welt ist erfahrungshaft.
Auf diese Weise bietet Whiteheads organistische Philosophie die Möglichkeit, das gesamte Universum unter dem Interpretationsmuster des
Organismusparadigmas zu verstehen. Ein solches organistisches Verständnis der komplexeren Erfahrungsformen führt zugleich zu neuen
Perspektiven für eine erfahrungsbasierte Metaphysik.
Der Autor:
Aljoscha Berve, Jahrgang 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Seit 2012 ist er Geschäftsführer und stellvertretender Vorsitzender
der European Society for Process Thought e. V.
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Aljoscha Berve
Spekulative Vernunft,
symbolische Wahrnehmung,
intuitive Urteile
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Whitehead Studien
Whitehead Studies
Herausgegeben von
Godehard Brüntrup (München)
Christoph Kann (Düsseldorf)
Franz Riffert (Salzburg)
2
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Aljoscha Berve
Spekulative
Vernunft,
symbolische
Wahrnehmung,
intuitive Urteile
Höhere Formen der Erfahrung
bei A. N. Whitehead
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Alber 48689 / p. 6 /5.2.2015
Gefördert aus Projektmitteln des Strategischen Forschungsfonds der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise GmbH, Trier
Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48689-4
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Für Andrea
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Vorbemerkung
Das vorliegende Buch ist eine geringfügig überarbeitete Fassung
meiner im Sommersemester 2013 von der Philosophischen Fakultät
der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angenommenen Dissertationsschrift. Das Dissertationsvorhaben wurde von der Studienstiftung
des Deutschen Volkes mit einem dreijährigen Promotionsstipendium
unkompliziert und wissenschaftsnah gefördert, was für die Fertigstellung des Projekts eine unschätzbare Hilfe war. Der Strategische
Forschungsfonds der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat die
Drucklegung durch eine Projektmittelfinanzierung des Druckkostenzuschusses gefördert und so das Erscheinen dieses Buchs im Rahmen
der Reihe Whitehead Studien des Verlags Karl Alber maßgeblich unterstützt.
Dieses Buch gäbe es nicht ohne die mannigfaltige Unterstützung
vieler Menschen, denen allen angemessen zu danken an dieser Stelle
leider unmöglich ist. Einige besonders wichtige Personen seien hier,
stellvertretend für viele, hervorgehoben. An erster Stelle möchte ich
meinem Betreuer und Doktorvater Prof. Christoph Kann danken, der
dem Projekt stets mit Rat und Tat zur Seite stand und mit seinen geduldigen Anregungen maßgeblichen Anteil an der Form der Arbeit genommen hat. Auch Prof. Michael Hampe, der das Zweitgutachten verfasst
hat, gebührt mein Dank für seine Expertise und wertvolle Hinweise.
Unter allen Anregungen, die für die endgültige Form dieses Buchs
wichtig waren, haben mir besonders die Gespräche mit Prof. Friedrich
Uehlein viel anfängliche Orientierung gegeben. Die Arbeit freundschaftlich begleitet hat Helmut Maaßen, mit Sachkenntnis und Ermunterung in mühsamen Phasen. Vorschläge und Ideen, aber auch konstruktive Kritik vieler weiterer Kollegen und Freunde sind in diese
Arbeit eingeflossen. Lukas Trabert und Julia Pirschl vom Verlag Karl
Alber haben in unkomplizierter Zusammenarbeit dafür gesorgt, dass
daraus schließlich auch ein Buch wurde. Ihnen allen möchte ich danken.
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Vorbemerkung
Ganz besonders aber danke ich meiner Familie, die immer da war,
wenn es nötig war. Für all den selbstverständlichen Beistand, der keinen Dank erwartet, bin ich am meisten dankbar.
Düsseldorf, im November 2014
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Aljoscha Berve
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Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
0.1. Problembereich und Forschungsstand . . . . . . . . . . .
0.2. Zielsetzung und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . .
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie . . .
1.1. Whiteheads spekulative Kosmologie . . . . . . . . . . . .
1.1.1. Philosophie als Approximation ans Ungefähre . . .
1.1.2. Die philosophische Methode der organistischen
Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2. Metaphysische Grundkonzepte . . . . . . . . . . . . . .
1.2.1. Der Organismusbegriff . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.2. Kreativität und Prozess . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.3. Der Erfahrungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.4. Wert und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.5. Die Konstitution des wirklichen Einzelwesens . . .
1.3. Zwischenfazit: Anthropomorphe Strukturen in Whiteheads
Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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33
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung . . . . . . . . . . .
2.1. Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1. Grundlagen des Whitehead’schen Vernunftbegriffs
2.1.2. Theoretische Vernunft und Aufgabenbereiche des
Vernunftbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3. Stellenwert und Kritik des Vernunftbegriffs in
Whiteheads Philosophie . . . . . . . . . . . . .
2.2. Symboltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1. Grundlagen des Symbolbegriffs . . . . . . . . . .
2.2.2. Whiteheads Symbolbegriff . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.2.3. Symbolisierung als ontologische Funktion . . . . .
2.2.3.1. Kausale Wirksamkeit . . . . . . . . . . .
2.2.3.2. Präsentative Unmittelbarkeit . . . . . . . .
2.2.3.3. Symbolischer Bezug der Wahrnehmungsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3. Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung . . .
2.3.1. Die Struktur von Prozeß und Realität . . . . . . .
2.3.2. Die Anfänge von personaler Identität und
Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.2.1. Die Kategorie der begrifflichen Umkehrung .
2.3.2.2. Die Kategorie der Umwandlung . . . . . .
2.4. Propositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.1. Der Propositionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.2. Die ontologische Struktur des Propositionskonzepts .
2.4.2.1. Propositionen und propositionale
Empfindungen . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.2.2. Binnendifferenzierung der Propositionsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.2.3. Die emotionalen Muster propositionaler
Empfindungen . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.3. Die Stellung des Propositionsbegriffs in der
organistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . .
2.4.3.1. Anwendungsbereiche des Propositionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.3.2. Der Propositionsbegriff im Kontext von
Whiteheads metaphysischem Gesamtkonzept
2.5. Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.1. Hinführung zum Bewusstseinsbegriff . . . . . . .
2.5.2. Einflüsse auf Whiteheads Bewusstseinsentwurf . . .
2.5.3. Der Bewusstseinsbegriff außerhalb von Prozeß und
Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.4. Der Bewusstseinsbegriff in Prozeß und Realität . .
2.5.4.1. Die subjektive Form als Kontrast zwischen
Affirmation und Negation . . . . . . . . .
2.5.4.2. Bewusste Wahrnehmungen . . . . . . . .
2.5.4.3. Intuitive Urteile . . . . . . . . . . . . . .
2.5.5. Form und Funktion des Bewusstseins in der
organistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . .
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233
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Inhalt
2.6. Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der
organistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . .
2.6.1. Menschliche Erfahrung unterhalb der Schwelle des
Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.6.2. Menschliches Bewusstsein . . . . . . . . . . . . .
271
271
279
3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie . . . . 287
3.1. Zwischen Universaltheorie und anthropologischem Entwurf 287
3.2. Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person . . . . . . . . . 291
Fazit
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
316
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323
Sachregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
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Einleitung
0.1 Problembereich und Forschungsstand
Bei philosophischen Fragestellungen wird mitunter wie selbstverständlich vorausgesetzt, der zu untersuchende Problembereich biete sich
bereits klar und eindeutig dar. In der Spezifikation des eigenen Aufgabenbereichs kann es dann nur darum gehen, methodische Einschränkungen vorzunehmen und thematische Schwerpunkte zu setzen. Besonders bei einem Denker wie Alfred North Whitehead griffe ein
solcher Ansatz jedoch zu kurz. Aus der Formulierung der Aufgabenstellung ergibt sich in einem Rückschluss auch die Textur, nach der
man die massive Sammlung unserer Erfahrungen erst in klare Problembereiche einteilt; eine Welt, die in unserem Erfassen bereits nach
eindeutigen, ohne Reflexionen und Interpretationshypothesen begreifbaren Fragestellungen strukturiert wäre, gibt es nicht.
Besonders deutlich macht diese Erfahrung, wer versucht, das Bild
der menschlichen Erfahrungswelt in Whiteheads Philosophie nachzuvollziehen. Auf den ersten Blick ist uns der Umfang einer solchen
Untersuchung klar. Wer wir selber sind und was wir können, wissen
wir aus unserer umfassenden, alltäglichen Selbsterfahrung. Diese Einsicht ist unmittelbar und vorphilosophisch. Was der philosophischen
Interpretation noch zu tun bliebe, wäre, diese Erfahrungssammlung
durch ein angemessenes Begriffsgerüst in treffende Kategorien zu sortieren und jeweils zu bestimmen, wie sich die einzelnen Phänomene
unserer Selbsterfahrung mit Whiteheads abstraktem kosmologischen
Grundkonzept der wirklichen Einzelwesen erklären lassen. Hier zeigt
sich aber nun deutlich, dass sich ein arbeitsfähiges Bild des Problembereichs erst aus der Aufgabenstellung ergibt: An keiner Stelle in
Whiteheads Werk wird eine konzise Vorstellung der menschlichen Erfahrungskapazitäten artikuliert. Mehr noch, selbst eine anthropologische Kernkompetenz, also genau dasjenige, was den Menschen als
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Einleitung
Menschen definiert, bleibt unausgesprochen. Während etwa Aristoteles den Menschen als zoon politikón bestimmt, von der mittelalterlichen Scholastik bis zu René Descartes der Mensch als eine Verbindung
von körperlicher und geistiger oder seelischer Substanz dargestellt
wird und Immanuel Kant in der Nachfolge John Lockes den Personenbegriff in der Beschreibung des menschlichen Selbst zur philosophischen Vokabel macht, findet sich in der gesamten organistischen Philosophie Whiteheads keine vergleichbare paradigmatische Verdichtung
des Menschen auf ein essentielles Funktions- oder Wesensmerkmal.
Vielmehr wird der Ursprung fast aller Charakteristika unserer Selbsterfahrung, die in der organistischen Philosophie thematisiert werden,
bereits auf fundamentaleren Ebenen organismischer Prozesse verortet,
sodass es fast unmöglich wird, trennscharf zwischen den einfachen Formen der Erfahrung und der Erfahrung menschlicher Individuen zu differenzieren; statt kategorischer Unterscheidungen beschreibt Whitehead graduelle Übergänge von Erfahrungsphänomenen. Befragt man
die organistische Philosophie auf exakte philosophische Menschenkonzepte und sucht in ihr nach Strukturen, welche die eigenen anthropologischen oder psychologischen Konzepte stützen können, so droht
die Gefahr einer einseitigen Überinterpretation, in der letztlich nur
diejenige Form bestätigt wird, die man mit den impliziten Vorannahmen seiner Untersuchung erst in Whiteheads Kosmologie hineingetragen hat. Auf diese Weise formt bereits die Aufgabenstellung den
Problembereich der menschlichen Erfahrungswelt, der bei Whitehead
selber etwas amorph bleibt. Die Forschung ist mit diesem Umstand auf
verschiedene Arten umgegangen, zumeist abhängig von dem Kontext,
in dem sie die organistische Philosophie behandelt hat.
Auf bestimmte Weise ist das Verhältnis vieler Interpreten zu
Whiteheads Erklärung des Bereiches menschlicher Erfahrungsphänomene zwiespältig. Einerseits führt bei einer Philosophie, die sich um
einen zum metaphysischen Grundkonzept erhobenen Erfahrungsbegriff herum aufbaut, kein Weg an einer Verbindung dieser ontologischen Ebene mit der Ebene unserer lebensweltlichen Erfahrung vorbei.
Andererseits verleitet der Mangel einer bündigen ›menschlichen Natur‹ und die in verschiedene Konzepte zersplitterte Darstellung der
komplexeren Formen des Erfahrungsprozesses in dieser Philosophie
viele Interpreten zu einer unvollständigen oder selektiven Behandlung
des Themenkomplexes, die pflichtschuldig einzelne Aspekte heranzieht, ohne aber nach einem kohärenten Gesamtzusammenhang zu
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Problembereich und Forschungsstand
fragen. Ein solcher Umgang mit dem bereits vage skizzierten Problembereich der menschlichen Erfahrungswelt ist in der Forschungsliteratur
zu häufig und zugleich thematisch zu heterogen und unergiebig, um
hier ausführlich behandelt werden zu können. Insgesamt ist die Menge
der sich mit diesem Themenkreis intensiver beschäftigenden Literatur
übersichtlich und lässt sich anhand der verschiedenen Fragestellungen
und Stoßrichtungen recht anschaulich in Themenkomplexe strukturieren.
Eine Untersuchung von Whiteheads Beschreibung des Menschen
kann durchaus innerhalb des Rahmens einer umfassenderen Fragestellung stattfinden. Das Konzept der Gesellschaften individueller Erfahrungsprozesse ist in der Forschung immer wieder als Interpretationsparadigma für menschliche Gesellschaften verwendet worden,
wobei die Phänomene unserer Alltagserfahrung von den ontologischen
Grundannahmen der elementaren Prozessdynamik hergeleitet werden
müssen. Solche Untersuchungen stützen sich meist auf das Werk
Abenteuer der Ideen, in dem Whitehead selber eine Anzahl zivilisatorischer Ideale darstellt, mit deren Hilfe die Entwicklung menschlicher
Zivilisationen verständlich werden soll. Besonders David L. Hall hat in
The Civilization of Experience – A Whiteheadian Theory of Culture
den Versuch unternommen, aus der organistischen Philosophie eine
Kulturtheorie zu entwickeln. Der Nachteil dieser Interpretationsrichtung für das Verständnis der menschlichen Erfahrungswelt liegt paradoxerweise in dem großen Umfang ihres Untersuchungsbereichs:
Während unzweifelhaft der Mensch für Whitehead immer auch eine
kulturelle Identität besitzt und durch die Teilhabe an spezifischen gesellschaftlich vermittelten Symbolkodizes eine unleugbare gesellschaftliche Prägung erwirbt, werden die diese Eigenschaften bedingenden Modi der menschlichen Erfahrung, die üblicherweise als kognitive
Kapazitäten begriffen werden, meist nur summarisch abgehandelt. Wie
genau also die von Whitehead an verstreuten Stellen eingeführten
Konzepte von Wahrnehmung, Bewusstsein und Personalität, die zur
Erklärung der Erfahrungswelt des Menschen integral sind, zusammenwirken, wird in diesen Arbeiten meist nicht geklärt.
Das Bedürfnis, aus einem metaphysisch universellen Erfahrungsbegriff eine spezifisch menschliche Form der Wahrnehmung als
Sonderfall des Gesamtkonzeptes herauszupräparieren und so der abstrakten Theorie mögliche Anwendungsbereiche zu erschließen, ist die
Motivationsquelle einer weiteren Gruppe von Forschungsliteratur.
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Einleitung
Eine frühe und zugleich ausführliche Arbeit zum Wahrnehmungsbegriff in der organistischen Philosophie stammt von Paul F. Schmidt:
In Perception and Cosmology in Whitehead’s Philosophy untersucht er
den Zusammenhang zwischen dem abstrakten Erfahrungsbegriff, der
im ontologischen Grundkonzept der wirklichen Einzelwesen angewandt wird, und der menschlichen Wahrnehmung. Seine Lesart der
organistischen Philosophie ist häufig innovativ. Das Buch stellt einen
der ersten Versuche dar, Whiteheads Philosophie kreativ zu erweitern
und ein umfassendes Verständnis des Wahrnehmungsbegriffes aus seiner Kosmologie zu extrahieren; der Autor erachtet die organistische
Philosophie sichtlich eher als einen noch nicht vollendeten Diskurs
der Gegenwartsphilosophie denn als abgeschlossenes Werk der Tradition. Seine Untersuchung ist gründlich, sie versucht nicht, Anschluss an
andere philosophische Spielarten zu finden und so Elemente in Whiteheads Denken hineinzutragen, die mit der Intention seiner Philosophie
nur schwer vereinbar sind. Neuere Untersuchungen zum Bereich des
Kognitiven bei Whitehead konzentrieren sich zumeist nicht primär auf
den Wahrnehmungs-, sondern eher auf den Bewusstseinsbegriff. Einer
der wichtigsten Gründe für diese strategische Begriffsorientierung
liegt in der Rolle, die dem Bewusstseinsbegriff in den modernen Kognitions- und Neurowissenschaften zukommt. Während David Ray Griffins ausführliche Behandlung des Bewusstseins in Whitehead’s Radically Different Postmodern Philosophy viele interdisziplinäre Diskurse
einbezieht, bleibt sie dennoch im Wesentlichen eine Whiteheadexegese. Eine ganz andere Rezeption erfährt Whiteheads Bewusstseinsentwurf in der an die analytische Philosophie angelehnten Position,
die Tobias Müller und Heinrich Watzka in ihrem Sammelband Ein
Universum voller ›Geiststaub‹ ? Der Panpsychismus in der aktuellen
Geist-Gehirn-Debatte entwickeln. Im Panpsychismus – mitunter auch
als Panprotopsychismus oder Panexperientialismus bezeichnet –
nimmt die organistische Philosophie zwar eine bedeutsame, aber keineswegs alternativlose Stellung ein. An der Schnittstelle zwischen Philosophie, Biologie, Physik und Neurowissenschaften versucht der Panpsychismus, Bewusstsein als höherstufige mentale Eigenschaft zu
beschreiben und so diskursive Verbindungen zu anderen Fachbereichen
zu knüpfen. Eine größere Nähe zu Whiteheads Werk bewahrt Ralph
Preds äußerst gründliche und wohlgerundete Untersuchung in Onflow: Dynamics of Consciousness and Experience, in welcher er auf
der Basis der Werke von Whitehead, William James und John Searle
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Problembereich und Forschungsstand
versucht, Verbindungslinien zu gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen aufzufinden. Die wahrscheinlich eigenständigste Fortentwicklung des Whitehead’schen Bewusstseinsbegriffs
bietet Jason Brown an, der in Process and the Authentic Life: Toward a
Psychology of Value eine eigene, an der Prozessphilosophie orientierte
prozesspsychologische Konzeption entwirft, die ausführlich moderne
hirnphysiologische Erkenntnisse berücksichtigt.
In dieser Position überschneiden sich zwei Fragestellungsbereiche
der Forschung. Neben den kognitiven Kapazitäten seines Erfahrungsbegriffs ist auch Whiteheads Organismusbegriff immer wieder auf seine Bedeutung für die Erklärung des Menschen untersucht worden. Mit
dem Organismusparadigma beschreibt Whitehead nicht nur die Ebene
des im klassischen Sinne Biologischen, sondern auch die Ebene der abstrakten Elementarprozesse und das Universum als Ganzes. Deshalb bietet sich die organistische Philosophie für eine Herleitung komplexer
biologischer Organismen aus einfacheren, im üblichen Wortsinn anorganischen Strukturen ganz natürlicherweise an. Eng verwandt mit
der Perspektive derjenigen Interpretationen kognitiver Erfahrungsbegriffsstrukturen, die moderne neurowissenschaftliche Erkenntnisse
berücksichtigen, ist etwa Elmar Buschs in Viele Subjekte, eine Person –
Das Gehirn im Blickwinkel der Ereignisphilosophie A. N. Whiteheads
durchgeführter Versuch, mit Whiteheads Philosophie eine Hirntheorie
zu entwickeln, die auch im medizinischen Bereich anwendbar ist. Eine
gründliche Untersuchung von Whiteheads Theorie des lebendigen Körpers unternimmt Michael Hampe in Die Wahrnehmungen der Organismen, wobei er nicht versucht, die organistische Philosophie auf eine
Anschlussfähigkeit an andere wissenschaftliche Disziplinen hin abzuklopfen, sondern die verschiedenen Bereiche der Whitehead’schen
Philosophie angemessen darzustellen. Das Organismusparadigma und
die Rolle des Menschen als Organismus in Whiteheads Philosophie
wird von Reto Luzius Fetz in Whitehead: Prozeßdenken und Substanzmetaphysik ausführlich behandelt. Dabei macht vor allem Fetz’ Vergleich der organistischen Philosophie Whiteheads mit dem aristotelischen Substanzbegriff die Problembereiche eines den Menschen als
Einheit verstehenden Konzepts distinkter Erfahrungsprozesse deutlich.
Seine Hauptleistung ist der Nachweis, wie schwer sich die unserem lebensweltlichen Selbstverständnis zugrundeliegende unmittelbare Einheitserfahrung in Whiteheads Philosophie ausdrücken lässt.
Derjenige Teil der Forschungsliteratur, der sich ausführlich mit
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Einleitung
den von der organistischen Philosophie verwendeten Einheitskonzepten der menschlichen Erfahrungswelt beschäftigt, ist überschaubar. Für
Maria-Sibylla Lotter in Die metaphysische Kritik des Subjekts und für
Michael Hampe in seiner bereits angeführten Arbeit stellt der Personenbegriff so etwas wie den Kulminationspunkt der Komplexitätssteigerung dar, die den Weg des Erfahrungsbegriffs von den abstrakten
Theoriegrundlagen bis zu den speziellen Formen der bewussten Erfahrung auszeichnet. Auch Elmar Busch besetzt in seiner auf eine Hirntheorie hin orientierte Untersuchung Whiteheads den Personenbegriff
stark. Hampe und Busch sehen beide in der Person des Whitehead’schen Systems sowohl eine komplexe emotionale Einheitserfahrung als auch eine körperliche Identität; die Unmöglichkeit, in der organistischen Philosophie sinnvoll von einer bloß geistigen oder bloß
körperlichen Einheit zu sprechen, verweist stets wieder auf den engen
Zusammenhang mit dem Organismusparadigma. Insgesamt gibt es
nur wenige Untersuchungen zum Personenbegriff in der organistischen Philosophie; ein kluger Aufsatz von John Bennett mit dem Titel
Whitehead and Personal Identity ist zu erwähnen. Zwar gestaltet
Whitehead selbst den Personenbegriff nicht zu einem praktisch anwendbaren Beschreibungsinstrument des menschlichen Individuums
aus, doch lassen sich durchaus Interpretationslinien aus seiner eher
technischen Begriffsdefinition gewinnen. Anders sieht es mit einer
weiteren philosophischen Begrifflichkeit aus, mit der traditionellerweise das Phänomen der menschlichen Individualität beschrieben wird,
nämlich dem Selbstbegriff. Auch wenn die Termini ›Selbst‹ und ›Person‹ einen ähnlichen Bezugsbereich haben, unterscheiden sich ihre
Verwendungskontexte; kann der Personenbegriff noch eine juristische
und ethische Bedeutungsebene besitzen, verweist der Selbstbegriff
eher auf das Gebiet der Psychologie. Viele psychologische Termini wie
Selbstbewusstsein, Selbstwert oder Selbstkonzept beruhen auf einem
Selbstbegriff. Aus Whiteheads Philosophie lässt sich keine Psychodynamik herauslesen, einen eine reflexive geistige Aktivität beschreibenden Selbstbegriff verwendet er nicht explizit. Dennoch haben Ernest Wolf-Gazo in seinem Aufsatz Negation and Contrast: The
Origins of Self-Consciousness in Hegel and Whitehead und Stascha
Rohmer in Whiteheads Synthese von Kreativität und Rationalität versucht, einen impliziten Selbstbegriff in der organistischen Philosophie
plausibel zu machen; beide sehen Parallelen zwischen Hegel und
Whitehead, weshalb die Suche nach einem Selbstbegriff in der organis20
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Problembereich und Forschungsstand
tischen Philosophie, der mit Hegels Selbstbegriff vergleichbar wäre,
verständlich ist.
Am weitesten vorgedrungen in dem Unterfangen, eine psychologisch anwendbare Interpretation zu Whiteheads Philosophie zu liefern, ist vielleicht Craig Eisendrath in seiner Monografie The Unifying
Moment: The Psychological Philosophy of William James and Alfred
North Whitehead, in der er die psychologisch fundierten Schriften von
James mit dem metaphysischen Entwurf Whiteheads kontrastiert. Wie
Eisendrath in seinem Vorwort anmerkt, dient eine solche Analyse dem
besseren Verständnis beider Denker: Der Bezug auf William James gibt
dem abstrakten System Whiteheads exemplarische Anwendungsbereiche, während Whiteheads kosmologische Überlegungen die philosophisch eher in der Luft hängenden Positionen James’ theoretisch
unterfüttern. Damit implizit verbunden ist das Eingeständnis, aus
Whiteheads Werk alleine keine spezifische Erklärung oder gar allgemeine Theorie für konkrete psychologische Phänomene gewinnen
zu können.
Betrachtet man die verschiedenen Zugangsweisen zum breiten
Problembereich der menschlichen Erfahrungswelt in Whiteheads organistischer Philosophie, so fällt die Uneinheitlichkeit im Umgang mit
diesem Themenkomplex auf. In der Forschungsliteratur hat keine
Schulenbildung im engeren Sinne stattgefunden, die eine allgemein
akzeptierte, praktisch anwendbare Forschungsmeinung ergäbe, und
umfassende Arbeiten sind selten. Die Gründe hierfür sind offensichtlich. Whiteheads weitgehender – und in Prozeß und Realität nahezu
vollkommener – Verzicht auf praktische Beispiele und Festlegungen,
ebenso wie die Verstreuung seiner Darstellung über das Gesamtwerk
erschweren ein umfassendes Verständnis und haben viele Interpreten
davon abgehalten, auch nur eine vollständige Untersuchung seiner
Kosmologie in Bezug auf diesen Problembereich zu wagen. Auch darf
berechtigterweise bezweifelt werden, ob sich die eher an metaphysischen Fragestellungen interessierte Philosophie Whiteheads zu einer
eindeutig auf den komplexen Bereich der menschlichen Erfahrungsebene anwendbaren psychologischen Konzeption verdichten lässt. Vielen an praktisch verwendbaren Ergebnissen interessierten Forschern
scheint es gewinnbringender, die organistische Philosophie ganz pragmatisch auf eine von außen in sie hereingetragene Begriffskonstellation hin abzufragen und mit der Interpretation eines Teils von Whiteheads komplexer Darstellung zufrieden zu sein. So führt gerade die
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Einleitung
Offenheit seines philosophischen Systems zu einem Mangel an ausführlichen Untersuchungen über den Bereich der menschlichen Erfahrungswelt.
0.2 Zielsetzung und Vorgehensweise
Der festgestellte Mangel soll in diesem Buch behoben werden, indem
das philosophische Werk Whiteheads daraufhin untersucht wird, ob es
eine kohärente Konzeption des Bereichs menschlicher Erfahrung beinhaltet. Die Rede von der ›menschlichen‹ Erfahrung ist möglichst
unterminologisch zu verstehen: Keinesfalls sollen anthropologische,
biologische oder psychologische Menschenkonzepte referiert oder begründet werden. Vielmehr ist die Wahl des Begriffs gewissermaßen
eine Verlegenheitsentscheidung: Whitehead selbst redet häufig in lockerer Weise von ›unserer‹ Erfahrung. Damit lässt sich zwar eine generalisierende Betrachtung anstellen, die erste Rückfrage einer systematischen Untersuchung aber müsste lauten: Wer sind denn ›wir‹ ? Die
Begriffe des Menschen und der menschlichen Erfahrungswelt sollen,
unbelastet durch terminologische Verwendungen in anderen Wissenschaften und Kontexten, lediglich als eine etwas verbindlichere Formulierung von ›unserer‹ Erfahrung und Erfahrungswelt fungieren.
Menschliche Erfahrung soll also im Kern, ganz naiv, heißen: eine Form
der Erfahrung, die der Verfasser und der Leser dieses Buches teilen.
Dieser Vorbemerkung eingedenk, lautet die leitende Fragestellung:
Wie ist Whiteheads Umgang mit dem komplexen Themenbereich der
menschlichen Erfahrungswelt philosophisch zu verstehen? Wie setzt er
sich mit einzelnen Phänomenen unserer Selbsterfahrung auseinander
und was möchte er mit seiner Darstellung eigentlich erklären können?
Den Verfasser motiviert die Überzeugung, eine Interpretation finden
zu können, die sowohl der Komplexität und Vielschichtigkeit der organistischen Philosophie Whiteheads gerecht wird als auch, so weit wie
möglich, der Forderung nach einer Anwendbarkeit auf praktische Problemstellungen.
Bei dieser Aufgabenstellung ist es besonders wichtig, eine angemessene inhaltliche und begriffliche Eingrenzung zu finden. Wie
die thematische Vielfalt der Forschungsliteratur bereits anzeigt, ist eine
genaue Definition des mit der menschlichen Erfahrungswelt beschäftigten Problembereichs schwierig. Deutlich wird dieser Umstand, so22
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Zielsetzung und Vorgehensweise
bald man versucht, das weitreichende und unklar begrenzte Problemfeld überhaupt terminologisch adäquat fassen zu wollen. Suchte man
etwa nach einer ›Konzeption des Menschen‹ in Whiteheads Philosophie, so klänge das wie der Versuch, eine ›menschliche Natur‹ nachweisen zu wollen. Während im Begriff des Menschen immer die Konnotation mit dem Organismus des menschlichen Körpers mitschwingt
und dieser so auf einen biologischen oder medizinischen Kontext verweist, deuten Begriffe wie ›Person‹, ›Selbst‹ oder ›Ich‹ in Richtung der
Psychologie. Generell sind Begriffe wie ›Körper‹ und ›Geist‹ für eine
Whiteheadinterpretation nur eingeschränkt geeignet, da es eines der
erklärten Ziele Whiteheads ist, die Dichotomie zwischen beiden zu unterbinden; die Erfahrungswelt des Menschen soll also weder auf einer
im eigentlichen Sinne biologischen Ebene noch als ›Geistesaktivität‹
verstanden werden. Doch wieso sollte die Untersuchung der menschlichen Erfahrungswelt sich überhaupt auf den menschlichen Organismus oder dessen kognitiven Kapazitäten, auf die innere Psychodynamik eines menschlichen Individuums beschränken? Endet seine
Lebenswelt hier? Prägen nicht auch seine Umgebung, also Gesellschaft
und Kultur, den Menschen eminent? Dieses Vorhaben steht also vor
dem Problem, den Gegenstandsbereich seiner Untersuchung klar abgrenzen und bereits in der Begriffswahl ihrer thematischen Festlegung
die Konnotationen reflektieren zu müssen, die auf diese Weise in sie
hineingetragen werden. Wer ›wir‹ sind, ist uns recht unmittelbar einsichtig; die Essenz dieses höchst vielseitigen Phänomenkomplexes in
einem fachterminologischen Gerüst fassen zu wollen, ist weit komplizierter. In Whiteheads Philosophie werden Menschen nicht als individuelle Substanzen verstanden, sondern als komplexe, von ihrer Umwelt nicht trennscharf unterscheidbare Gesellschaften abstrakt kleiner
Elementarprozesse. Deshalb ist, zusätzlich zu der dem Thema geschuldeten begrifflichen Uneindeutigkeit, die genaue Abgrenzung dessen,
was einen Menschen ausmacht, vom Gesamtzusammenhang des Universums schon innerhalb der Darstellungsstrukturen der organistischen Philosophie schwierig. Um dem teilweise abstrakten Charakter
von Whiteheads Denken gerecht zu werden, soll also in der Ausgangsfragestellung so wenig spezifische Terminologie wie möglich von außen in die Untersuchung hineingetragen werden.
Deshalb wird das Untersuchungsfeld auf die Ebene der menschlichen Erfahrungswelt eingegrenzt. Dadurch bleibt die Möglichkeit gewahrt, Anknüpfungspunkte für etwaige Folgeuntersuchungen mit spe23
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Einleitung
zifischen, konkreteren Fragestellungen zu bieten, ohne selbst aber
durch aus anderen Disziplinen übernommene Fachterminologie inhaltliche oder begriffliche Ambivalenzen zu maskieren. Insoweit Whiteheads Philosophie begrifflich an andere philosophische Konzepte oder
Traditionen anschließt, kann ein Vergleich angestellt werden; hauptsächlich jedoch soll versucht werden, dem Darstellungsweg Whiteheads zu folgen und die verstreuten Teildarstellungen ausführlich
zusammenzufassen, um so sein Kernkonzept der menschlichen Erfahrung herauszuarbeiten. Es bietet sich an, zunächst aufzuführen, welche
im weitesten Sinne zur Sphäre der menschlichen Erfahrungswelt gehörenden Themenbereiche in einem solchen Vorhaben nicht berücksichtigt werden sollen, um ein genaueres Bild davon zu gewinnen, wie
die Rede von der menschlichen Erfahrungswelt verstanden werden soll.
Wenngleich Whitehead seine eigene Philosophie als ›organistische
Philosophie‹ bezeichnet und den Organismusbegriff als Paradigma seiner Metaphysik verwendet, soll der menschliche Organismus, also der
biologische Körper des Menschen, kein zentraler Gegenstand der Untersuchung sein. Auch die Einflüsse von Kultur und Zivilisation auf
den Menschen sollen nicht thematisiert werden; der Fokus der Arbeit
wird nicht auf den sozialen Aspekten der menschlichen Erfahrungswelt
liegen, sondern auf den Erfahrungskapazitäten des Menschen als Individuum, mithin keine anthropologischen oder sozialwissenschaftlichen
Fragestellungen behandeln. Ja, sogar der Begriff des Menschen ist eigentlich bereits eine konkretisierende Auslegung der systematischen
Darstellung Whiteheads, denn in der abstrakten Konzeption der höheren Erfahrungsphasen, die er in Prozeß und Realität vornimmt, wird
der Mensch nicht klar als derjenige Organismus identifiziert, dem diese
höheren Formen der Erfahrung exklusiv zukämen. Dennoch hat Whitehead, zumindest in seiner Bewusstseinskonzeption, eindeutig den
Menschen als Bezugsobjekt vor Augen – wenngleich er offensichtlich
im Grundsatz bereit wäre, die meisten Charakteristika komplexer Erfahrungsformen auch anderen Organismen zuzusprechen, so sich berechtigte Anzeichen für eine solche Forderung fänden. Wo jedoch die
Grenzen zwischen den menschlichen Erfahrungskapazitäten und den
Erfahrungskapazitäten bestimmter höherer Tiere verlaufen, lässt er offen. Auch von solchen biologischen Unterscheidungen wird diese Arbeit Abstand nehmen. Es scheint eher, als ob ihr Untersuchungsbereich
sich der kognitionswissenschaftlichen Sphäre annäherte. Diese Vermutung der thematischen Nähe ist zulässig; die thematische Abgren24
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Zielsetzung und Vorgehensweise
zung dieser Arbeit mit den Fragestellungen der Kognitionswissenschaften zu identifizieren, ist es nicht. Im Kern bleibt Whiteheads
Philosophie ein umfangreicher metaphysischer Entwurf, den es unverhältnismäßig verböge, wenn man ihn auf Konzepte des kognitionswissenschaftlichen Diskurses, wie körperliche und mentale Zustände, hin
untersuchte. Whitehead hat eben kein Interesse an einer erschöpfenden Theorie der kognitiven Kapazitäten des Menschen oder seiner Psychodynamik. Vielmehr möchte er in allen Teildarstellungen immer
wieder Verbindungslinien zu anderen Aspekten seiner Kosmologie ziehen. Letztlich verweisen alle Untersuchungen der menschlichen Erfahrungswelt stets auf die metaphysische Grundkonstruktion, mit der sie
jeweils auf verschiedene Weisen verknüpft sind. Dass Whitehead eine
Vorstellung davon hat, wie die Erfahrungs- und Wahrnehmungskapazitäten eines menschlichen Individuums philosophisch beschreibbar
sind, ist unzweifelhaft. Welche genauen Formen diese Vorstellung aber
besitzt, muss sich in einer ausführlichen Untersuchung der von ihm
selber verwendeten Begrifflichkeiten und Konzepte erweisen.
Aus dieser Zielsetzung ergibt sich die Vorgehensweise dieses
Buchs. Da sich die Darstellungen der verschiedenen Aspekte menschlicher Erfahrung über das philosophische Gesamtwerk Whiteheads
aufteilen, wird die Textgrundlage aus beinahe dem gesamten Textkorpus der organistischen Philosophie bestehen. Die einzige methodische
Einschränkung besteht in der Konzentration auf Whitehead als Philosophen. Seine Bedeutung als Mathematiker und alle Implikationen,
die sich aus Vergleichen von Methode und Inhalt seiner beiden Rollen
ergeben, bleiben unberücksichtigt.
Zentral für die behandelte Fragestellung ist Whiteheads Hauptwerk Prozeß und Realität, doch finden sich erstaunlich viele Darstellungen konkreter Phänomene höherer Erfahrungsformen in kleineren
Schriften. Deshalb werden Die Funktion der Vernunft für die Untersuchung des Vernunftbegriffs und Kulturelle Symbolisierung für eine
Interpretation des Symbolbegriffs sowie des Wahrnehmungsbegriffs
im Fokus stehen. In Abenteuer der Ideen und Denkweisen werden zwar
keine für diese Arbeit relevanten eigenständigen Phänomendarstellungen verhandelt, doch zur Komplementierung und Illustrierung einzelner Teilkonzepte der organistischen Philosophie oder zur Kontrastierung bestimmter Begriffe in verschiedenen Darstellungskontexten
bieten die beiden Werke viele wichtige Passagen. Weitere Schriften
Whiteheads, etwa Die Ziele von Erziehung und Bildung, Wie entsteht
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Einleitung
Religion? und Der Begriff der Natur, werden stichpunktartig Verwendung finden, ohne aber maßgeblichen Einfluss auf die Gesamtuntersuchung zu erlangen. Die Breite der Textgrundlage ist der Weise geschuldet, in der Whitehead den Bereich der Phänomene menschlicher
Erfahrung in seinem Werk behandelt. Während die verschiedenen Darstellungen jeweils in sich geschlossen sind, fehlt ihnen ein verbindendes Element, das sie als Teile eines Gesamtkonstruktes auswiese und
eine Struktur formulierte, die jedem Teilbereich eine eindeutige Position zuordnete. Die methodische Herausforderung besteht darin, die
einzelnen, über das Gesamtwerk verstreuten Untersuchungen und Begriffsbestimmungen nachzuvollziehen und eine Interpretationsstruktur zu finden, die sowohl Whiteheads Intentionen gerecht wird und
jederzeit den Rückbezug auf die metaphysische Grundstruktur seiner
Philosophie leisten kann als auch ein handhabbares Gesamtverständnis
seines Umgangs mit den menschlichen Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen ermöglicht. Ob sich letztlich aus der über verschiedene
Werke mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten verteilten
universellen Kosmologie Whiteheads, die in vielen Fällen vage und anwendungsunspezifisch ist, eine praktisch verwendbare Theorie der
menschlichen Erfahrungswelt herauspräparieren lässt, darf zumindest
als unsicher gelten; bereits der Nachweis, wo die Möglichkeiten, aber
auch die Grenzen und Probleme der Whitehead’schen Konzeption liegen, wäre ein Erkenntnisgewinn. Deshalb sollen die einzelnen Darstellungen zunächst auf ihren philosophischen Eigenwert hin untersucht
werden und erst im Fortgang in der Weise einer immer weitere Kreise
ziehenden Synthese auf den größtmöglichen gemeinsamen Nenner gebracht werden, ohne dabei die Positionen Whiteheads zu entstellen
oder zu einseitig und dogmatisch auszulegen.
Die Struktur des Buchs versucht, diese methodische Vorgehensweise umzusetzen. Wenngleich der Themenbereich, so schwierig er
auch inhaltlich präzise zu fassen ist, nur einen spezifischen Ausschnitt
aus der gesamten Kosmologie Whiteheads umfasst, so ist es nötig, zunächst einmal knapp die metaphysische Grundstruktur der organistischen Philosophie zu erläutern. In einem ersten Kapitel wird eine Übersicht über die Methode der organistischen Philosophie gegeben.
Anschließend können die inhaltlichen Besonderheiten des kosmologischen Entwurfs Whiteheads untersucht werden. Eine Metaphysik, die
den unzweifelhaft aus der menschlichen Selbstbeschreibung entlehnten Erfahrungsbegriff zu einer ontologischen Prämisse, ja, zu einem
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Zielsetzung und Vorgehensweise
philosophischen Paradigma universalisiert, erweckt den dringenden
Verdacht, bereits ihrer fundamentalen Struktur nach einen anthropomorphen Charakter zu haben. Um die Grundlage für die spätere Untersuchung zu schaffen, wird im ersten Teil der Arbeit das System der
organistischen Philosophie auf anthropomorphe Strukturen hin untersucht. Der Organismusbegriff, Kreativität, Ästhetik und Werthaftigkeit werden jeweils in einem Kapitel behandelt. Daraus ergibt sich ein
ganzes Bündel an Eigenschaften des Erfahrungsbegriffs, die in der Konzeption des abstrakten wirklichen Einzelwesens zusammengeführt
werden und bereits den Kern vieler Qualitäten enthalten, die sich erst
in höheren Formen der Erfahrung entfalten und dort zu besonders prononcierter Bedeutung gelangen werden. Auf Grundlage dieser Charakterisierung des Erfahrungsbegriffs in Whiteheads kosmologischem
Schema kann anschließend in einem Zwischenfazit dem Anthropomorphismusverdacht gegen die organistische Philosophie angemessen
nachgegangen werden.
Der zweite Teil des Buchs ist eine Untersuchung über die im Werk
Whiteheads verteilten Darstellungen verschiedener Phänomene der
menschlichen Erfahrungswelt. Jedes Kapitel widmet sich einem bestimmten Aspekt der höheren Erfahrungsformen. Dabei folgt die Auswahl der behandelten Aspekte dem Inhalt der Textvorlagen von Whitehead; ein vollständiges System, in dem jede der Einzeldarstellungen
eine unverzichtbare, genau zugewiesene Aufgabe erfüllte und sich aus
allen zusammen ein abgeschlossenes Gesamtkonzept ergäbe, wird auf
diese Weise nicht entwickelt. Tatsächlich haben einige Texte Whiteheads die gleichen Hauptbegriffe, behandeln diese aber aus verschiedenen Perspektiven heraus, sodass in der Analyse auch mögliche Redundanzen und Inkompatibilitäten nachgewiesen werden müssen.
Erschwert wird dieses Vorhaben durch den Umstand, dass etwa mit
dem Vernunftbegriff und der Symboltheorie nicht bloß Kapazitäten
höherer Erfahrungsformen bezeichnet werden sollen, sondern beide
Konzepte darüber hinaus allgemeinere Anwendungsgebiete in der organistischen Philosophie abdecken sollen. Deshalb gilt es in den diese
Konzepte behandelnden Kapiteln, den ihnen von Whitehead zugedachten Gesamtrahmen zu untersuchen und davon den spezifisch auf die
menschliche Erfahrung bezogenen Bereich abzusetzen.
Der Vernunftbegriff, unzweifelhaft der Sphäre menschlicher
Geistesaktivität entlehnt, wird von Whitehead in Die Funktion der Vernunft zu einer bereits in den Grundlagen seines metaphysischen Ent27
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Einleitung
wurfes verankerten Ordnungsdynamik universalisiert, die als Handlungen regulierende Lebensmethode den chaotischen Zerfallskräften
im Universum entgegenarbeitet. In der Form der theoretischen – oder
spekulativen – Vernunft tritt diese Ordnungsdynamik als gestalterisches Prinzip hinter theoretischem Denken hervor, mithin als eine Vernunft auf der Ebene höchst bewusster menschlicher Reflexion. Die
zwei Vernunftformen unterscheidet Whitehead auch versinnbildlichend an zwei klassischen griechischen Figuren in die odysseische
und die platonische Vernunft; in welcher Beziehung beide zueinander
stehen und welche Rolle sie für den Menschen spielen, wird in dem
entsprechenden Kapitel erörtert.
Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der hauptsächlich in Kulturelle Symbolisierung aufgestellten Symbolisierungstheorie Whiteheads. Symbolische Bezüge zwischen verschiedenen Erfahrungen bilden in der organistischen Philosophie eine wichtige Form der Erkenntnis, aber auch eine der Hauptquellen für Irrtümer. Sprache, Kunst und
Kultur beruhen für Whitehead auf komplexen Symbolkodizes, aber
bereits auf den fundamentalen Ebenen der Erfahrung lassen sich symbolische Bezüge feststellen. Für diese Arbeit ist die Symbolisierungstheorie in Kulturelle Symbolisierung interessant, weil eines ihrer
Hauptanwendungsgebiete in der menschlichen Wahrnehmung liegt.
Tatsächlich erläutert Whitehead hier den Wahrnehmungsbegriff ausführlicher als in seinem Hauptwerk Prozeß und Realität. Zwischen den
beiden Wahrnehmungsmodi der kausalen Wirksamkeit und der präsentativen Unmittelbarkeit wird durch symbolische Bezüge vermittelt,
die menschliche Erfahrungswelt ist also in eminenter Weise auf symbolische Wahrnehmungen gegründet. Sowohl zu unserer unbewussten
emotionalen Seite als auch zu unseren bewussten Sinneswahrnehmungen haben wir einen emotionalen Zugang.
Ein gänzlich anderer Zugang zur menschlichen Erfahrungswelt
wird im dritten Teil von Prozeß und Realität gewählt. Ohne auf uns
lebensweltlich bekannte Phänomene zu rekurrieren, entwickelt Whitehead hier in einem technisch-formalen Darstellungsgang aus den einfachen, metaphysisch fundamentalen Grundkonzepten seiner Erfahrungsprozesse höhere Formen der Erfahrung, die schließlich in einer
Theorie des Bewusstseins kulminieren. An diesem Punkt sollten sich
Phänomene unserer bewussten Erfahrung durch die komplexe Konzeption höherer Phasen der Erfahrung auf die abstrakten Grundstrukturen
der organistischen Philosophie zurückführen lassen. Der Nachvollzug
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Zielsetzung und Vorgehensweise
des Weges von den einfachen Empfindungen bis hin zum Bewusstsein
erstreckt sich über drei Kapitel. Das erste beschäftigt sich mit dem
Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung. Damit sind vor allem
die Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung gemeint; beide sind inhaltlich recht abstrakt und dienen dazu, begrifflich
erfasste Alternativen zum real Bestehenden und das Erfassen ganzer
Nexūs beschreiben zu können. Hier werden bereits die Weichen für
spätere, komplexere Formen der Erfahrung gestellt.
Das nächste Kapitel befasst sich mit der auf dem bereits Erarbeiteten aufbauenden Ebene der Erfahrungsformen, dem Konzept der Propositionen. Dieses Konzept ist eine wichtige Gelenkstelle auf dem Weg
zum Bewusstsein, denn hier verankert Whitehead sowohl die Grundlagen der wissenschaftlichen Theoriebildung als auch die von Wahrnehmung und Vorstellung sowie die Auftrennung der Welt in eine
subjektive Innenperspektive und eine als Raum der Objekte verstandene Außenperspektive. Auch ein symbolischer Bezug ließe sich als eine
propositionale Empfindung deuten. Beinahe alle Bereiche der menschlichen Lebenswelt fußen, insoweit Whitehead sie eingehender thematisiert hat, auf dem Konzept der Propositionen. Dieses ist allerdings
komplex und wird von Whitehead nochmals in weitere Subformen unterschieden. Über die bloße Interpretation der technischen Struktur
propositionaler Empfindungen hinaus versucht dieses Kapitel, den Propositionsbegriff innerhalb der Gesamttheorie Whiteheads zu kontextualisieren und Anwendungsgebiete der propositionalen Empfindungen zu erschließen.
Ihren Abschluss findet die Darstellung des Weges zu höheren Formen der Erfahrung in der Theorie der bewussten Empfindungen, mit
der sich das folgende Kapitel auseinandersetzt. Bewusste Empfindungen sind, ihrer formalen Struktur nach, Reintegrationen propositionaler Empfindungen, die Ebene des Bewusstseins ist für uns Menschen
aber auch ein mit expliziten Selbsterfahrungskorrelaten verbundener
Bereich. Der Anspruch der Bewusstseinsuntersuchung muss also sein,
die Funktion der bewussten Empfindungen aus Whiteheads systematischer Darstellung in allen Verästelungen und Facetten nachzuvollziehen und die sich daraus ergebende Form hinsichtlich ihrer Kohärenz
und Adäquatheit kritisch zu bewerten sowie in Verbindung mit den
Erkenntnissen der anderen Kapitel des zweiten Teils zu setzen. Diese
Untersuchung beginnt mit der Erklärung des Affirmations-NegationsKontrastes, der die formale Definition des Bewusstseins bildet. Was das
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Einleitung
Subjekt fühlt, wenn es eine bewusste Empfindung hat, ist die Kontrastierung eines möglicherweise wahren propositionalen Empfindens mit
demjenigen Ausschnitt der Realität, von dem die entsprechende Proposition ursprünglich ausgesagt wurde. Bewusste Empfindungen sind
also Urteile über propositionale Empfindungen. Hier wird deutlich,
dass bewusste Empfindungen Weiterentwicklungen propositionaler
Empfindungen sind; in ihnen kommt zur vollen Entfaltung, was im
Konzept der Propositionen bereits im Kern angelegt ist. Auch die in
der Theorie der propositionalen Empfindungen begonnene Aufteilung
des Empfindungsspektrums in Wahrnehmungen und Vorstellungen
findet in der Bewusstseinstheorie ihren Abschluss. Interessant ist aber
nicht diese Distinktion, sondern die nuancierte Binnendifferenzierung,
die Whitehead innerhalb der bewussten Wahrnehmungen und bewussten Vorstellungen noch vornimmt. Auch der von Whitehead hier entwickelte Urteilsbegriff muss im Kontext dieser Bewusstseinsstruktur
verständlich werden. Schließlich stellt sich die Frage, ob die detaillierte
Entwicklung höherer Formen der Erfahrung, die Whitehead in Prozeß
und Realität unternimmt, mit den Darstellungen in Die Funktion der
Vernunft und Kulturelle Symbolisierung eine kohärente Gesamtkonzeption ergibt und unsere lebensweltliche Selbsterfahrung adäquat
wiedergibt.
Aus den Ergebnissen der Untersuchungen im zweiten Teil werden
in einem Zwischenfazit die Formen menschlicher Erfahrung in Whiteheads Philosophie rekonstruiert. Dabei bietet es sich an, eine Aufteilung in unbewusste beziehungsweise vorbewusste Erfahrungen einerseits und bewusste Erfahrungen andererseits vorzunehmen. Auf der
Ebene der unbewussten Erfahrungen kann in der organistischen Philosophie die Grundlage der menschlichen Emotionalität vermutet werden, wenngleich eine genauere Darstellung hierzu bei Whitehead nicht
ausgeführt wird; über die eminente Bedeutung des unbewussten Erfahrungshintergrundes lässt er allerdings keinen Zweifel. Bewusste Empfindungen werden in der organistischen Philosophie mit einer weit expliziteren Sammlung an praktischen Anwendungen aus dem Bereich
der menschlichen Erfahrung versehen. So finden Sinneswahrnehmungen für Whitehead im Bereich des Bewusstseins statt. Auch logischrationales Denken unter Anleitung der theoretischen Vernunft, das
jeder wissenschaftlichen Theoriebildung zugrunde liegt, ist ein immer
wieder erwähnter Anwendungsbereich bewusster Empfindungen.
Der dritte Teil des Buchs umfasst zwei Kapitel, in denen der Frage
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Zielsetzung und Vorgehensweise
nachgegangen wird, wie Whitehead den Menschen innerhalb seiner
Kosmologie verortet. Dabei sind zwei Aspekte, die jeweils in einem
Kapitel abgehandelt werden, zu unterscheiden: Erstens muss geklärt
werden, welchen Status der Mensch innerhalb des Organismusgefüges
der Welt einnimmt. Da Whitehead das Organismusparadigma universell auf alle Prozesswirklichkeiten, vom abstrakten wirklichen Einzelwesen bis zum Universum als Ganzem, anwendet und auch den
Erfahrungsbegriff sowie dessen Charakteristika wie Vernunft und
Wahrnehmung in einem viel weiteren Anwendungsgebiet als dem des
Menschen nutzt, darf mit Berechtigung gefragt werden, was denn genau die Stellung des Menschen innerhalb dieses Entwurfs kennzeichnet. Zweitens existiert eine Vielzahl an philosophischen und alltagsgebräuchlichen Begriffen, mit denen das menschliche Individuum
häufig charakterisiert wird. Auch wenn Whitehead in seiner Kosmologie häufig Neologismen oder abstrakte Terminologie verwendet,
muss sich die organistische Philosophie der Frage stellen, in welcher
Weise sie mit anderen, populären und wirkmächtigen Begriffskonzepten kompatibel ist. Tatsächlich nutzt Whitehead den Subjektbegriff an
zentraler Stelle seines philosophischen Entwurfs, doch bezeichnet er
damit nicht den Menschen, sondern ganz allgemein jedes wirklich Seiende. Wie er hingegen konkreter auf den Menschen bezogene Begriffe
wie ›Person‹ und ›Ich‹ nutzt, um das Phänomen eines andauernden
Subjekts erklären zu können und welche Relevanz diese Begriffe für
seine Philosophie einnehmen, ist an dieser Stelle zu untersuchen.
Aus den drei Teilen des Buchs sollte sich ein ausreichend klares
Bild der Konzeption menschlicher Erfahrung ergeben, die in Whiteheads organistischer Philosophie angelegt ist. In einem abschließenden
Fazit bleibt zu klären, welche Schlussfolgerungen sich aus diesem Bild
ergeben. Kann ein Interpretationsmuster gefunden werden, das Whiteheads Umgang mit den verschiedenen behandelten Aspekten der höheren Erfahrungsformen als ein philosophisch konsequentes Vorgehen
verständlich macht? Aus dieser Interpretation ergeben sich eine Einordnung und Bewertung der Weise, in der Whitehead die menschliche
Erfahrungswelt behandelt, und ein Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf.
Abschließend verdient der Umgang mit technischen und terminologischen Aspekten eine kurze Erwähnung. Um den Lesefluss einer auf
Deutsch verfassten Arbeit nicht durch Sprachwechsel zu unterbrechen,
wird das Werk Whiteheads, das mittlerweile fast vollständig in deut31
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Einleitung
scher Übersetzung vorliegt, soweit möglich auch auf Deutsch zitiert. In
den Zitatangaben findet sich jeweils der Verweis auf die englische
Originaltextstelle und wichtige Begriffe werden bei erstmaliger Erwähnung zusammen mit dem in Parenthesen nachgestellten Originalbegriff eingeführt. Nach Möglichkeit wird die jeweilige deutsche Standardübersetzung verwendet; in einigen Fällen nutzt Whitehead ein und
denselben englischen Fachterminus in verschiedenen Werken, doch geben die entsprechenden deutschen Übersetzungen ihn uneinheitlich
wieder; in diesen Fällen wird, soweit möglich, konsequent eine Übersetzung verwendet.
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