Damit wächst die Chance der Entdeckung von Strukturen, die sich gewissermaßen nur noch als Überreste in unserem Quellenbefund darstellen, es können sich auch neue Sichtweisen auf alte Probleme ergeben, die es gerade ermöglichen, die Besonderheiten der – evolutionär sozusagen unwahrscheinlichen– antiken Kultur aufzudecken'. Nicht zu erkennen ist jedoch, daß die Aufnahme anthropologischer Ansätze in die Althistorie eine spezifische Methode darstellte bzw. daß sie prinzipielle methodische Konsequenzen hätte° 3 . Einerseits kann es nicht einen Rückfall hinter die Standards der Quellenkritik geben, wie sie sich seit dem vorigen Jahrhundert durchgesetzt haben, andererseits kann es in der Althistorie nicht um die Erschließung neuer, bisher von der Forschung nicht herangezogener Quellenbestände gehen, die möglicherweise den Einsatz neuer Methoden erforderten; und schließlich können für die Verwendung anthropologischer Kategorien und Vergleichsmaterialien in der Althistorie prinzipiell nur die gleichen Maßstäbe gelten, die für jedes theoriegeleitete und komparatistische historische Arbeiten gelten: es zählt allein die Interpretationsleistung und die Integrationsleistung gegenüber dem Quellenbefund. Nur die Tatsache, daß in der (deutschen) Althistorie auf ein bestimmtes Erkenntnispotential bisher weitgehend verzichtet worden ist, rechtfertigt es überhaupt, Aufsätze unter dem Titel »Alte Geschichte und Sozialanthropologie« zu schreiben. Es gilt, sie durch die Forschungspraxis überflüssig zu machen. Diese Feststellungen unterscheiden sich im Prinzip nicht von denjenigen von Historikern der frühen Neuzeit, die für eine Kooperation von Historie und Sozialanthropologie plädieren und sie selbst auch praktizieren. Vgl. u. a. Keith Thomas, History and Anthropology. In: Past and Present 2 4 (1 9 6 3 ), S. 3-24; Edward P. Thompson, Volkskunde, Anthropologie und Sozialgeschichte. In: Ple beijsche Kultur. S. 290-318,375-378; Natalie Z. Davis, Anthropology and Histo ry in the 19 8o's. In: Journal of Interdisciplinary History 12,2 (1 9 81), S. 267-275. 6, Dies dürfte für die Historie insgesamt gelten (vgl. Anm. 62). Falls Medick, Missionare (s. Anm. 1), unter dem Einfluß anthropologischer Arbeiten nicht nur einen Wandel in der Darstellungsweise (vgl. Lawrence Stone, The Revival of Narrative. In: Past and Present 85 ( 1 979), S. 3-24), sondern grundsätzliche Veränderungen des methodischen und theoretischen Zugriffs suggerieren möchte, kann er nicht überzeugen, zumal er an den entscheidenden Punkten in Metaphorik ausweicht (Jürgen Kocka, Zurück zur Erzählung? In: Geschichte und Gesellschaft o (i984), S. 404, Anm. 1 4 )– ähnlich übrigens wie der immer wieder zitierte Clifford Geertz, vgl. z.B. dessen Aufsatz über den balinesischen Hahnenkampf (Dichte Beschreibung, S. 202-260). 31 8 WINFRIED SCHULZE Mikrohistorie versus Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema* Ich möchte meinem Beitrag drei Vorbemerkungen vorausschikken: I. Der Kontext der hier entwickelten Überlegungen ist natürlich die neuere Diskussion um die anthropologische Dimension in der Geschichte, wie dies der letzte Historikertag gezeigt hat**. Es ist nicht die vorrangige Absicht dieses Beitrags, die laufende Diskussion kritisch zu bewerten, obwohl dies zuweilen unvermeidbar ist. Wichtiger erscheint mir im Kontext unserer Arbeitsgruppe »Theorie der Geschichte«, aktuelle Richtungsveränderungen der Geschichtsschreibung auf ihren theoretischen Inhalt hin zu überprüfen. 2. Zum anderen habe ich das Thema deshalb aufgegriffen, weil es auf dem Umweg über die Begriffe von Mikrohistorie und Makrohistorie möglich erschien, ein zentrales methodologisches Problem zu behandeln, das bislang als solches wohl erkannt, aber überhaupt nicht theoretisch untersucht worden ist. Insofern will ich die aktuelle Debatte für die Untersuchung einer vernachlässigten methodologischen Fragestellung nutzen. 3. Mir scheint für die Diskussion einer anthropologisch orientierten Geschichtswissenschaft nicht unwichtig zu sein, in welchem Quellenmaterial der Historiker seine fachliche Sozialisation erlebt hat. Ich vermute, daß hier Unterschiede bestehen zwischen einem Historiker des 1 9 120. Jahrhunderts und einem Historiker des 16./1 7 . Jahrhunderts. Die hochinstitutionalisierte Geschichte der industrialisierten Nationalstaaten und ihre Überlieferung macht möglicherweise für die kleinen Einheiten weniger sensibel als die Erfahrung der lokal-regional geprägten Geschichte der vorindustriellen Epoche. Ich versuche also, das Problem Mikro/Makrohistorie vor dem Hintergrund der eigenen Beschäftigung mit einer Reihe von Fragen der politischen und Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit anzugehen und hoffe, * Dieser 1 9 8 5 abgeschlossene Beitrag verweist auf den Berliner Historikertag 1984. "" Vgl. Bericht über die 3S. Versammlung deutscher Historiker in Berlin 1984. Stuttgart 1 9 8 5 , besonders S. 249ff. 319 diese Erfahrung in die methodologische Diskussion vermitteln zu können. Ich kann meinen heutigen Beitrag zu unserer Arbeit da beginnen, wo ich meinen letzten Beitrag aufhören ließ. Ich zitierte bei unserer Tagung im Herbst 1979 einen damals gerade erschienenen Artikel des englischen Sozialhistorikers Lawrence Stone, der unter dem Titel The Revival of Narrative den Versuch unternahm, eine sich damals abzeichnende Veränderung in der Sozialgeschichtsschreibung der westlichen Welt zu erklären'. Stone war aufgefallen, daß sich eine Verlagerung von den großen strukturgeschichtlich orientierten Werken der sechziger Jahre zu einer Art von Geschichtsschreibung ergeben hatte, die er durch eine stärkere Beachtung des narrativen Elements charakterisieren wollte und die er als »histoire pointilliste« bezeichnete. Ich will nun nicht die Diskussion dieser Statements verfolgen, die sich damals in »Fast and Present< und anderswo ergab. Wichtig erscheint mir hier vor allem, daß sich alle Kritiker und Kommentatoren darüber einig waren, daß es nicht der »revival of narrative history« war, der der richtig beobachteten Formveränderung der Geschichtsschreibung zugrunde lag'. Insofern ergab dieser Streit kaum mehr für die Frage von narrativer und/oder analytischer Geschichtsschreibung als die fachnotorisch gewordene Einsicht in eine sich abzeichnende Neuorientierung eines Teils der Geschichtsschreibung. Wesentlich erscheint mir an dieser neueren Entwicklung der Geschichtsschreibung, daß sich eine beachtliche Umorientierung in Themenstellung und historischer Methodik ergeben hat, die ich hier zum Gegenstand der Diskussion machen möchte. Mit der gebührlichen Verzögerung hat diese Entwicklung seit wenigen Jahren auch die Bundesrepublik Deutschland erfaßt, hat zu einer Reihe von kritischen Veröffentlichungen geführt und ist erfreulicherweise auch zum Leitthema des letzten Historikertages gemacht worden'. L. Stone, The Revival of Narrative. Reflections an a New Old History. In: Past and Present 8 5 ( 1 979), S. 3-24. Ich verweise auf meinen Beitrag in: R. Koselleck/H. Lutz/Jörn Rüsen (Hrsg.), Theorie der Geschichte. Bd. 4 : Formen der Geschichtsschreibung. München 1 9 82, S. 290-319. Zu nennen ist hier E. Hobsbawm, The Revival of Narrative. Some Comments. In: Past and Present 86 (1 9 80), S. 3 -8 und Ph. Abrams, History, Sociology, Historical Sociology. In: Past and Present 8 7 (1980), S. 3 -16 und C. Ginzburg, A Comment. In: Journal of Interdisciplinary History, 12 (1 9 80, S. 277-278. 3 Bislang ist das Problem von narrativer und analytischer Geschichtsschreibung vor allem von der Arbeitsgruppe »Theorie der Geschichte« thematisiert 320 Worum geht es nun bei dieser Auseinandersetzung? Wie immer läßt sich eine eindeutige Antwort nicht geben, verschiedene Probleme überlagern sich dabei. Vordergründig geht es um die Berechtigung eines geschichtswissenschaftlichen Ansatzes, der als Historische Anthropologie schon zu definitiv beschrieben wäre, der etwas vorsichtiger vielleicht als neues Interesse der Historiker (oder einiger Historiker) an anthropologisch affizierten Fragestellungen zu beschreiben wäre. In dieser akademischen Version wäre diese Fragestellung wahrscheinlich relativ problem- und folgenlos in das allgemeine System wissenschaftlicher Arbeit integriert worden – so wie dies ja auch bislang mit Anregungen in Richtung auf eine historische Anthropologie geschehen ist4 – wenn nicht zugleich dieser Ansatz mit einer kritischen Spitze gegen jene Version historischer Sozialwissenschaft versehen worden wäre, wie sie in Bielefeld und in Berlin festgemacht werden kann. Nachdem schon anläßlich der Bände von Jürgen Kuczynski über die Geschichte des Alltags des deutschen Volkes berechtigte Kritik von Hans-Ulrich Weh1er geäußert worden war, warf auch Jürgen Kocka 1 9 82 in einem Rezensionsartikel im Merkur den sich auf die Geschichte des Alltags konzentrierenden Historikern im Bereich der Arbeitergeschichte vor, »mit einem anti-analytischen Vorurteil« aufzutreten und dabei den Eindruck zu erwecken, »als ob sie worden. Vgl. J. Kocka/Th. Nipperdey (Hrsg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 3 ). München 1979. Vgl. zum Historikertag auch Geschichte und Gesellschaft io (1984) 3: Sozialgeschichte und Kulturanthropologie. In diesem Zusammenhang ist es auch von Interesse, daß in der westeuropäisch-amerikanischen Geschichtswissenschaft die neue Problematik der schwierigen Synthetisierung immer kleinerer Detailergebnisse deutlich erkannt worden ist. Verwiesen sei hier auf eine Folge von Sonderheften des Journal of Interdisciplinary History, Bd. 12,1981-8z, und die dort publizierten Artikel von Bernard S. Cohn, Natalie Z. Davis, Carlo Ginzburg und Theodor K. Rabb. Vgl. auch Bernard S. Cohn, History and An thropology. The State of the Play. In: Comparative Studies in Society and History zz (1 9 80), S. 1 9 8-221. Ein Kommentar von Fran6ois Furet zur Lage der französischen Geschichtswissenschaft Beyond the Annales. In: Journal of Modern History 55 (1983), S. 389-400. Das Problem der Synthetisierung von Spezialforschung diskutiert der interessante Sammelband von G. Klingenstein u. H. Lutz (Hrsg.), Spezialforschung und ,Gesamtgeschichte«. Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der Frühen Neuzeit. München 1982, bes. S. 3 oo ff. Ich verweise hier auf durchaus unterschiedliche Anregungen von Thomas Nipperdey, August Nitschke und aus dem Umkreis der universalhistorischen Zeitschrift >Saeculum, Vgl. R. Sprandel, Historische Anthropologie. Zugänge zum Forschungsstand. In: Saeculum 27 (1976), S. 121-142. 321 über einen direkten, nicht analytischen Zugang zur historischen Wirklichkeit verfügten.« 5 Angesichts einer zum Teil heftig vorgetragenen Kritik am Modernisierungsparadigma Bielefeldscher Prägung und an der damit verbundenen Neigung zu bloß technologischer »Begriffsverwaltung« blieb Kocka die deutliche Antwort nicht schuldig: »Schnell wird da die explizite Konstellationsanalyse als mechanistisch verurteilt und Verschwommenheit zum Programm gemacht, wie sich an der unpraktischen Aufblähung des Begriffs Kultur zeigen läßt. Manchmal hat man das Gefühl, die Aufhebung der klaren Trennung von Begriffen werde als Positivum empfunden, nicht als Verlust an Differenzierungskraft. Bisweilen scheint vergessen zu sein, was die Theoriedebatte in den letzten anderthalb Jahrzehnten ins Bewußtsein gehoben hat: daß nämlich jede, auch die anschmiegsamste Interpretation selektiv ist und die Selektion auch von Gesichtspunkten und Prämissen gelenkt würde, welche der Quelle (oder der zu entschlüsselnden Erfahrung) nicht immanent sind, sondern vom Interpreten an sie herangetragen werden. >Thick description< und das Feldforschungsparadigma der Ethnologen werden als Alternativen beschworen, teilnehmende Beobachtung als Zugang zum fait social total. Das klingt nach einer neuen Art von »Holismus« – so schließt Kocka diese Schelte, »gegen den man ein wenig Weber-Lektüre empfehlen möchte« 6 . Dieser deutlichen Kritik ist hinzuzufügen, daß die neueste Phase der Auseinandersetzung zwischen strukturorientierter Sozialgeschichtsschreibung und anthropologisch orientierter Erfahrungsgeschichte – so etwa im letzten Heft von >Geschichte und Gesellschaft< (1 9 8 4 ) – noch einmal die Diskrepanzen zwischen beiden Lagern deutlich machte, wohl auch in Vorbereitung der Diskussion des Berliner Historikertages im Oktober 1985. Wenn ich einmal diese letzte Phase der Auseinandersetzungen kurz resümiere, so geht es um einige Hauptpunkte. Hans Medick möchte ich hier wegen seiner relativ expliziten Position herausgreifen. Dabei ist zu betonen, daß sich seine Kritik nicht allein gegen die deutsche Sozialgeschichtsschreibung richtet, J. Kocka, Klassen oder Kultur? Durchbrüche und Sackgassen in der Arbeiter geschichte. In: Merkur 36 (1982), S. 955-965, hier S. 957• 6 Ebd.; das kritische Zitat Hans Medicks findet sich in seinem Beitrag »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 10 (1 9 8 4 ), S. 295- 3 1 9 , hier S. 2 9 6, der auf einem 1 9 82 in Bielefeld gehaltenen Vortrag beruht. 322 sondern gegen das sie beeinflussende Gesamtkorpus angloamerikanisch-europäischer Sozialwissenschaft. Der Kern der Vorwürfe scheint darin zu liegen, daß in der bisherigen weberianisch orientierten Sozialgeschichte »dem Problem der Kultur bzw. der kulturellen Prägung und Konkretisierung, Umsetzung und Generierung von Strukturen und Handlungszusammenhängen« und dem Niederschlag dieser Vorgänge in der Erfahrung einzelner Menschen wenig oder keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Ein weiterer Vorwurf bezieht sich auf das vermeintliche Kontinuitätssyndrom in dieser modernen Sozialgeschichte, die in ihrem Drang zur Unterordnung des historischen Materials unter das Modernisierungskonzept unsensibel geworden sei für Diskontinuitäten, Brüche und Widerstände in der Geschichte. Einen dritten Vorwurf kann man schließlich in der Behauptung sehen, daß in der modernen Sozialgeschichte die Vermittlung von objektiven und subjektiven Momenten des historischen Prozesses lediglich vordergründig durch die Kombination von hermeneutischen und analytischen Verfahren gelöst worden sei, während das Konzept der »kulturellen Äußerungen« eine adäquatere Vermittlung zwischen individueller Erfahrung und struktureller Determinierung biete7. Die neuen Themen einer anderen, jetzt ganz »neuen« Sozialgeschichte sind die »Wiederentdeckung des vergessenen Alltags«, die Volkskultur in ihren vielfältigen Äußerungen, die Lebensweise, die Geschichte der Geschlechterbeziehungen und der Familiengeschichte als Schnittpunkt von Emotionen und materiellen Interessen, um einen von Medick und Sabean verwendeten Titel zu benutzen'. Doch deckt diese Charakterisierung noch nicht das Spezifikum dessen ab, was hier intendiert ist. Wichtiger als diese, zum Teil ja schon traditionellerweise behandelten Themen ist die Frage des dabei verwendeten methodischen Ansatzes. Medick hat sehr deutlich gezeigt, daß es weniger um einen weiteren Aspekt wissenschaftlicher Behandlung eines Themas im Rahmen des traditionellen Methodenkorpus geht, sondern vielmehr »um die Erarbeitung einer alternativen Perspektive«, die auf den subjektiven Faktor im historischen Prozeß zielt, die agency, also das Wahrnehmungs- und 7 Ebd., S. 297. H. Medick u. D. Sabean, Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthro pologische und historische Beiträge zur Familienforschung. Göttingen 1984. 323 Handlungszentrum im historischen Prozeß und die methodischen Konsequenzen dieser Entscheidung. Hier ist der Punkt, an dem von Medick Anleihen bei der Ethnologie gemacht werden, die eingangs schon erwähnten Verfahren der »dichten Beschreibung« sind hier einzuordnen. Doch darauf wird später noch zurückzukommen sein. Diese Diskussion läßt sich sicherlich aus vielerlei Blickwinkeln kommentieren und für die methodologische Reflexion aufbereiten. Jürgen Kocka hat dies zuletzt unter dem Aspekt der von mir eingangs erwähnten Forderung nach mehr Erzählung getan und gezeigt, welch unterschiedliche Begriffe von Erzählung hier die Diskussion belasten. Er hat daraus die Konsequenz gezogen, für eine neue Form historischen »Argumentierens« zu plädieren. Ich möchte diese Diskussion zunächst nur aus einer bestimmten Perspektive heraus kommentieren. Natürlich fällt auf, daß die neue Geschichtsschreibung anthropologischer Orientierung beinahe ausschließlich auf die Mikroebene konzentriert ist. Sowohl die inzwischen kanonisierten Autoren der neuen Bewegung wie die in Princeton lehrende Natalie Zemon Davies und der Italiener Carlo Ginzburg wie auch vereinzelte deutsche Beispiele zeigen », daß das Interesse dieser Geschichtsforschung nicht mehr vorrangig der Gesamtgesellschaft oder relativ großen Teileinheiten höherer Komplexität wie Territorien, ganzen Stadtgesellschaften, der Arbeiterbewegung, sondern kleinräumigen Einheiten bis hinunter zur erwähnten agency selbst gilt. Medick sagt selbst, daß die Ansprüche seines Ansatzes »z.B. in historischen Mikro-Analysen kleiner gesellschaftlicher Einheiten einzulösen sind, etwa eines Dorfes, einer Stadt oder eines Betriebes«", und sein Gewährsmann Clifford Geertz widmet der mikroskopischen Qualität der einschlägigen Forschung be' J. Kocka, Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation. In: Geschichte und Gesellschaft to (1 9 8 4 ), S. 395-408. Einen guten Überblick über ihre Arbeiten vermittelt ihr Sammelband Socie ty and Culture in Early Modern France. London 1 975 . Für Carlo Ginzburg vgl. sein Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt a. M. 197 9 und ders., Spurensicherungen. Uber verborgene Geschichte, Kunst und so ziales Gedächtnis. Berlin 198 3 . Für Deutschland vgl. den in Anm. 8 zitierten Sammelband von Medick u. Sabean; Berdahl u.a., Klassen und Kultur. Sozialan thropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung und R. v. Dülmen/ N. Schindler (Hrsg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen All tags (16.2o.Jahrhundert). Frankfurt a.M. 1984. " H. Medick, Missionare im Ruderboot, S. 314. 32 4 sondere Aufmerksamkeit". Natalie Zemon Davies beschäftigt sich seit vielen Jahren beinahe ausschließlich mit einer Stadtgesellschaft und analysiert in dieser Stadt Einzelprobleme gesellschaftlicher und konfessioneller Bewegung, David Sabean hat sich ca. zehn Jahre lang mit einem einzigen schwäbischen Dorf über einen sehr langen Zeitraum beschäftigt, dessen social discourse er jetzt zum Gegenstand eines ganzen Buches gemacht hat x3 . Carlo Ginzburg erhob eine einzige Figur zum Gegenstand seiner Untersuchung über einen häretischen Müller im späten i6. Jahrhundert, Le Roy Ladurie untersuchte ebenfalls ein einzelnes Dorf (Montaillou) bzw. eine einzelne Stadt (Romans) 14 . Zuweilen waren gar die Gegenstände der Analyse noch kleinräumiger, so wie bei Arthur Imhof, der in seinem neuesten Buch Die verlorenen Welten über weite Strecken den Erfahrungsbereich eines Mannes, des nordhessischen Bauern Johannes Hoos an der Wende vom 1 7 . zum i B. Jahrhundert ausmißt, diesen freilich zum Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen makrohistorischer Art macht 15 . An der absichtsvollen Begrenzung der Untersuchungen dieser Forschungsrichtung auf die Mikroebene wird also insgesamt nicht zu zweifeln sein. Mir scheint, daß mit diesem neuen Zugriff auf das historische Material ein methodisches Verfahren, wenn nicht neu entwikkelt, so doch programmatisch in den Vordergrund gestellt wurde, dessen Validität in der historischen Forschung bislang kaum reflektiert wurde. Natürlich hat die in der Darstellung des Historikers zu bewältigende Fülle von Einzelbeobachtungen immer schon methodische Reflexionen provoziert. Ich erinnere nur an die Ordnung des historischen Stoffes unter bestimmte loci in den Magdeburger Centurien, um ein Beispiel aus der Konstitutionsphase unserer Wissenschaft zu zitieren'', oder an die methodischen Überlegungen in Carl Friedrich Biedermanns C. Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973, hier besonders 5.2-3o: Thick Description: Towards an Interpretative Theory of Culture. Eine deutsche Übersetzung dieses Aufsatzes in: ders., Dichte Be schreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1983, S. 7-43. '1 Sabean, Power in the Blood. Village Discourse in Early Modern Germa ny. Cambridge 1985. E. Le Roy Ladurie, Karneval in Romans. Stuttgart 1982 (frz. Paris 1979). A. E. Imhof, Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vor fahren – und warum wir uns heute so schwer damit tun. München 1984. H. Scheible, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Gütersloh 1966. 325 materialreicher Kulturgeschichte des 18.Jahrhunderts' 7. In dem methodisch einleitenden Artikel der Ersch-Gruber'schen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von 1818 versichert uns Gruber in echt enzyklopädischer Haltung, daß das Allgemeine hier nicht eher dargestellt werden kann, »als bis alles Einzelne und Besondere zur völligen Beglaubigung dargestellt ist«. Nebenbei sei bemerkt, daß Grubers Systematik die Geschichte unter die anthropologischen Wissenschaften plaziert'. Für die politische Geschichtsschreibung des 1 9 120. Jahrhunderts hat sich das Problem von Mikrohistorie und Makrohistorie nicht gestellt. Die Handlungseinheiten der großen Geschichte waren in diesem Sinne Einheiten, die zwar der Makroebene zuzurechnen sind, die jedoch methodisch als Mikroeinheiten behandelt wurden. Ich bin mir bewußt, daß dies eine etwas pauschale Formulierung ist, doch im Sinne der Deutlichkeit des Arguments will ich sie einmal so stehenlassen. Diese Grundhaltung war um so unproblematischer, als mit der Landes- und Ortsgeschichte ein Bereich zur Verfügung stand, der den Interessen lokal und regional interessierter Fachleute und Liebhaber immer offenblieb, seinerseits aber darauf verzichtete, seine Ergebnisse mit gleichem Geltungsanspruch in die große Wissenschaft einzuspeisen, eine Beobachtung, die sich heute noch manchmal in der unsinnigen Trennung von Landesgeschichte und allgemeiner Geschichte wiederholt und auch dort nicht geklärt ist' 9 . In gleicher Weise übte die sogenannte Kulturgeschichte in dieser Hinsicht lange Zeit eine Entlastungsfunktion aus. Gerade ein Blick auf die Praxis dieser Methode gegen Ende des 1 9 . Jahrhunderts kann zeigen, daß ein methodisch völlig ungeklärtes Verhältnis zwischen der Einzelbeobachtung in engerer raumzeitlicher Begrenzung und der synthetisierenden Bewertung einer ganzen Epoche bestand. Johannes Janssens bekannter Geschichte des deutschen Volkes seit dein Ausgang des Mittelalters wurde von Eduard Fueter zu Recht vorgeworfen, durch eine Fülle von disparaten Einzelbeobach' 2 Karl Biedermann, Deutschland im z8.Jahrhundert. Bd. , Leipzig 1854, S. VIIf. und Bd. 2, Leipzig 1858, S. VII f. ' 8 J. G. Gruber, Uber encyklopädische Studien, ein Bedürfnis unserer Zeit. In: Ersch-Gruber (Hrsg.), Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge. Erster Theil, Leipzig 1818, S. XIX. '" Zu dieser Problematik vgl. einige Beiträge in P. Fried (Hrsg.), Probleme und Methoden der Landesgeschichte. Darmstadt 1 97 8, so von K. Bosl, Heimat- und Landesgeschichte als Grundlage der Universalgeschichte. S. 1 73-189 und v. a. den Beitrag von K. G. Faber, Was ist eine Geschichtslandschaft? ebd., S. 390-424. 326 tungen ein Gesamtbild erstellen zu wollen, das gleichwohl falsch sein müsse". Ein Blick in die Zeitschrift für Kulturgeschichte, die seit 18 5 6 erscheint und in die frühen Bände des Archivs für Kulturgeschichte (seit 1903) bestätigt diese Beobachtung". Wohl zu Recht ist in England der Sozialgeschichte eines G. M. Trevelyan vorgeworfen worden, mit einer völlig unzureichenden Mischung von realhistorischen Details, chronikalisehen und literarischen Bemerkungen sozialgeschichtliche Entwicklungen beschreiben zu wollen". Kurz: Die ältere Geschichtsschreibung verfügte – sieht man einmal von den Anfängen quantifizierender Forschung ab – über kein abgesichertes Verfahren zur Konstruktion von Ergebnissen auf der staatlichen oder gesellschaftlichen Makroebene aus der Ebene der Details heraus. Ich will jetzt nicht die verschiedenen Wege beschreiben, wie die Geschichtswissenschaft zu einem klareren Verständnis des Zusammenhangs von Detail und Synthese gekommen ist. Im Hintergrund steht sicher die mit wachsender Professionalisierung zunehmende Beobachtungsschärfe in der Nachfolge der großen Aktenpublikationen und die ebenfalls zunehmende Bedeutung eines schärferen, naturwissenschaftlich beeinflußten Wissenschaftsbegriffes zunächst sicher im Bereich der Wirtschaftsgeschichte, etwa der städtischen Finanzgeschichte, der Agrargeschichte, der territorialen Verwaltungsgeschichte usw., um nur einige mir vertraute Bereiche zu nennen. Ich glaube, " Eduard Fueter, Geschichte der Neueren Historiographie. 2. Aufl. München, Berlin 1936. S. 574: »Die Gewohnheit, Notizen der verschiedenartigsten Natur unkritisch zu kompilieren, und der Glaube, es lasse sich aus bloßer Summierung von Einzelzügen ... eine kulturhistorische Schilderung aufbauen, ist der älteren kulturgeschichtlichen Richtung überhaupt eigen.« " Zur Stellung der Kulturgeschichte am Ende des 1 9 . Jahrhunderts G. Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland. In: HZ zo8 (1 969 ), S. 3 20-3 6 3 , hier bes. S. 3 z6 ff. Oestreich verweist auf die Gothein'sche Definition von Kulturgeschichte, die diese von der politischen Geschichte absetzen sollte und sich deutlich auf das Einzelne konzentrierte, »in dem diese Kräfte zu typischer Entfaltung kommen, – Der Beitrag An unsere Leser der Herausgeber des Archivs für Kulturgeschichte in Bd. 9, 19 1o, S. 1- 3 macht die Schwierigkeiten deutlich, die sich der Kulturgeschichte angesichts einer zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaft stellten. Zur weiteren Entwicklung dieser Richtung vgl. H. Lutz, Kultur, Kulturgeschichte und >Gesamtgeschichte«. In: Klingenstein–Lutz (Hrsg.), Spezialforschung, S. 2 9 1 ff. " So die Kritik von Lawrence Stone z.B. an Trevelyan, die im Prinzip in die gleiche Richtung geht wie die Kritik Futters an Janssen. L. Stone, Social Change and Revolution in England 1 540–.(64 0. London 1965, S. XV. 327 daß Schmollers Bemerkungen über den Zusammenhang von induktiver und deduktiver Methode hier ihren Platz haben und eine bedeutsame Veränderung markierena3. Aus all diesen Anregungen heraus ergab sich in der modernen Geschichtswissenschaft vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg die allgemeine Tendenz zur weiteren Verschärfung der Beobachtungskriterien. Hier ist der Strom der französischen Regionalmonographien der Annales-Schule ebenso zu erwähnen wie die Detailstudien zur deutschen Parteien- und Verbandsgeschichte, die Spezialarbeiten der Ständeforschung und die neuere städtische und territoriale Reformationsgeschichtsschreibung. In all den genannten Gebieten läßt sich das Spannungsverhältnis zwischen Einzelfall und Syntheseversuch mit gesamtgesellschaftlicher Gültigkeit vorzüglich zeigen, wenn auch in den wenigsten Fällen die konkrete Relation zwischen Einzelfall und Synthese aufgezeigt wurde. Die zweibändige Ancien regime-Darstellung Pierre Gouberts zögert überall, von französischen oder typischen Beobachtungen zu sprechen. Sie häuft verbale Entschuldigungen, wenn doch endlich einmal das Risiko übernommen wird, eine Gesamtzahl etwa für bäuerlichen bzw. bürgerlichen Landbesitz, für die Feudalquote oder ähnliches zu geben'''. Der amerikanische Historiker Robert Darnton spricht angesichts der relativen Dichte der französischen Regionalstudien sogar von einer Verschwörung der Ausnahmen, um die Regel zu widerlegen' 5 . Auch die Reformationsgeschichte ist in eine Vielzahl von städtischen Reformationsgeschichten aufgelöst worden und belegt diesen allgemeinen Entwicklungstrend der historischen Forschung. Dies ist freilich zugleich ein Gebiet, in dem die bewußtesten Versuche einer Verbindung von Einzelforschung und Syntheseversuch gemacht worden sind, exemplarisch soll hier nur die von Möller ausgelöste DisG. Schmoller, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volks wirtschaftslehre. z. Aufl. Leipzig 1904, S. 343. Vgl. Pauline R. Anderson, Gustav v. Schmoller. In: H. U. Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker II, Göttingen 197 S. 39-65, hier bes. S. 5 8 f. P. Goubert, L'Ancien reime. Bd. 1: La socii.ti. Paris 1969, z.B. S. io6f. und S. 6, wo er im Hinblick auf das Ancien regime schreibt: »La methode de bescartes ... est Pantithese probable de l'Ancien regime.« ' 5 R. Darnton, The Great Cat Massacre and other Episodes in French Cultural History. New York 198 4 , S. 23: »The density of monographs can make French social history look like a conspiracy of exceptions trying to disprove rules.,, Darnton zeigt sich in der Einleitung dieses Buches als von Geertz beeinflußter Historiker. 3z8 kussion über »Reichsstadt und Reformation« genannt werden'. Dabei bleibt freilich die Frage zunächst offen, ob nach ungefähr zwei Jahrzehnten intensiver Detailforschung auf diesem Gebiet noch ein Syntheseversuch unternommen werden kann. Das Ergebnis dieses umfassenden Trends zur Differenzierung in Einzelbereiche ist auf der einen Seite ein ungleich höheres Maß an genauer Beobachtung. In einzelnen Fällen können wir das Patriziat einer deutschen Stadt im 16. Jahrhundert nach Namen, Alter, Besitz und Steuerleistung analysieren' 7 , wir verfügen über die Einsicht in eine große Zahl von Bibliotheken des t6. Jahrhunderts in Deutschland oder des 18. Jahrhunderts in Frankreich'', kennen die Mitglieder von Lesegesellschaften oder kennen den Kreis der Paten sächsischer Arbeiter im vormärzlichen Leipzig' 9 , um nur einige Beispiele aus einer beeindruckenden Fülle von Detailforschungen zu nennen. In einzelnen Fällen dürften die Computerausdrucke der Quellenaufnahme einen größeren Umfang erreicht haben als die historischen Quellen selbst. Auf der anderen Seite hat dieser Spezialisierungs- und Segmentalisierungsprozeß zu einer problematischen Relativierung der großen historischen Handlungseinheiten geführt, ja hat auch herausragende Ereignisse der neueren Geschichte betroffen. Ich verstehe darunter die Tatsache, daß angesichts widersprüchlicher Detailergebnisse die Formulierung von generellen Aussagen außerordentlich erschwert worden ist. Die jeweiligen Verarmungs- oder Verelendungsdebatten oder die Belastungsdebatten (etwa im Zusammenhang des Deutschen Bauernkriegs und der Französischen Revolution) zeigen dies sehr deutlich. H. Chr. Rublack, Forschungsbericht Stadt und Reformation. In: B. Möller (Hrsg.), Stadt und Kirche im 16.Jahrhundert. Gütersloh 1978, S. 9-26. ' 7 Als Beispiel kann dienen I. Batori u. E. Weyrauch, Die bürgerliche Elite der Stadt Kitzingen. Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte einer landesherrli chen Stadt im 16.Jahrhundert. Stuttgart 1 9 82, bes. S. 205 ff. ' s Ich verweise auf ein einschlägiges Forschungsvorhaben von Dr. Erdmann Weyrauch, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Für Frankreich vgl. D. Mornet, Origines intellectuelles de la Revolution fran faise 1 71 9-1787. Paris 1947, S. 18 7 ff. als Beispiel für viele Spezialforschungen. Als neuerer Einblick in die einschlägige Forschung vgl. Jean Queniart, Alphabetisierung und Leseverhal ten der Unterschichten in Frankreich im 18.Jahrhundert. In: Gumbrecht/Reichardt/Schleich (Hrsg.), Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. Bd. 2, München 1 9 81, S. 113-146. " H. Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersu chungen über das Leipziger Proletariat während der Industriellen Revolution. Berlin 1978. 32 9 Wesentlicher aber erscheint mir noch, daß dieser methodische Trend zu einer tendenziellen Auflösung komplexer historischer Ereignisse geführt hat, wenn ich dies einmal so formulieren darf. Gemeint ist damit der sich noch verstärkende Trend zur zeitlichen und regionalen Aufsplitterung von Ereignissen wie etwa der Englischen Revolution des 1 7 . Jahrhunderts, der Französischen Revolution oder der Mexikanischen Revolution 3 '. In allen Fällen hat die Forschung einen sehr erheblichen Perspektivenwechsel vollzogen. Während in der älteren Forschung die jeweiligen Zentralebenen und deren vereinheitlichender Blickwinkel eindeutig dominierten, haben sich in der neueren Forschung die einzelnen Phasen oder Segmente der Revolution verselbständigt. Dies wurde erleichtert auf der einen Seite durch einen starken revisionistischen Trend gerade angelsächsischer Prägung (ich erinnere nur an die von Alfred Cobban ausgelöste Mythosdebatte) 3 ` oder an die umstrittene Interpretation der Zusammensetzung des »langen Parlamentes», dessen aufwendige sozialstrukturelle Untersuchung für einen englischen Historiker nichts weiter als die Tatsache erbracht hatte, daß die Anhänger des Königs im Schnitt ca. zwei Jahre jünger waren als die Anhänger des Parlaments. Daß es nach solchen Zahlenspielen erheblich schwieriger war, von einer bürgerlichen Orientierung der Parlamentsanhänger zu sprechen, zeigt die ausführliche Debatte dieses Ergebnisses in der englischen Geschichtswissenschaft 32 . Ähnliches läßt sich für den Bereich der Französischen Revolution zeigen, wo die Einzelanalyse bestimmter Felder der Sozialgeschichte dazu geführt hat, die Kontinuitäten zwischen Ancien regime und Revolution und nachrevolutionärer Gesellschaft stärker zu betonen33. Was ich mit diesen Beispielen sagen will, ist, daß der notwen3 ° Es bedarf m.E. keiner detaillierten Belege für diese Beobachtung. Zu bekannt sind die Thesen über die »drei Revolutionen von 1 7 8 9 «, die Differenzen zwischen den Vorgängen im House of Commons und in den counties oder zwischen der morelensischen Bauernbewegung unter Zapata und den Gruppierungen um Pancho Villa. " A. Cobban, The Myth of the French Revolution, zuletzt in: E. Schmitt (Hrsg.), Die Französische Revolution. Anlässe und langfristige Ursachen. Darmstadt 1973, S. 170-194. 3 ' Zuletzt dazu den Beitrag von Steven D. Antler, Quantitative Analysis of the Long Parliament. In: Past and Present 5 6 (1 97 2), S. 154-157. 33 So die These von R. Reichardt u. E. Schmitt, Die Französische Revolution – Umbruch oder Kontinuitäten. In: Zeitschrift für Historische Forschung 7 (198o), S. 257-320. 330 dige und sicherlich zu begrüßende und sich immer mehr vertiefende Spezialisierungsprozeß einen oft grotesken Revisionismus gebiert, weil er über keine adäquate Methodologie für den Zusammenhang von Mikro- und Makroebene verfügt. Um ein extremes Beispiel zu zitieren: Es gibt aus der englischen Lokalforschung des Jahrhunderts die Beobachtung, daß sich in bestimmten Quellenbeständen – etwa Kirchenbüchern, Besitzwechsel- und Abgabendokumenten – überhaupt keine Hinweise auf die Revolution selbst finden. Darf daraus der Schluß gezogen werden, daß dieses Ereignis im Dorf keinen Niederschlag gefunden habe? Sicher nicht, denn der gleiche Historiker, der diese Dorfstudie durchgeführt hat (Alan Macfarlane), hat zugleich das ausführliche Tagebuch des Dorfpfarrers gefunden, der uns ein Dorf in religiösen Kämpfen, politischem Engagement, Hunger und Krankheit sehr plastisch beschrieben hat34. Deutlicher könnte die begrenzte Perspektive einzelner Quellengattungen nicht vorgeführt werden. Dies ist – um einem naheliegenden Mißverständnis vorzubeugen – nicht nur eine Frage des Zeitpunkts, an dem der angehäufte Bestand quantitativer Taten in qualitative Aussagen umschlägt, sondern das schließt auch die wesentlichere Frage ein, ob ein Tatbestand, den der Historiker quantitativ sicher richtig minimalisiert, damit auch als Faktor im historischen Prozeß ausfällt. Oder muß nicht, und wenn ja, wieweit, das falsche Bewußtsein der Zeitgenossen über diesen minimalisierten Faktor mit einbezogen werden in die Analyse des jeweiligen Problems. Ein schönes Beispiel ist hier der sogenannte »erreur d'imputation«, von dem Georges Lefebvre sprach, als er feststellte, daß die kurzfristige ökonomische Krise vor der Revolution, die dem König angelastet wurde, gar nicht von diesem verschuldet, sondern konjunkturbedingt war. Trotzdem wurde sie dem König angelastet, eine Fehlleistung der Zeitgenossen von beachtlicher historischer Wirkung35. Gewissermaßen als Beiprodukte des eben angeführten Segmentalisierungsprozesses haben sich einige Gebiete herausge3> D. J. Macfarlane, The Family Life of Ralph Josselin, a Seventeenth Century Clergyman. An Essay in Historical Anthropology. Cambridge 1 970, und ders. (Hrsg.), The Diary of Ralph Josselin, 1616-1683. Oxford 1976. 35 Ernest Labrousse zeigt diesen Widerspruch zwischen öffentlicher Meinung und ökonomischer Realität auf in La crise de l'economie francaise ä la fin de l'Ancien regime et au debut de la Revolution, zuletzt in Schmitt (Hrsg.), Die Französische Revolution, S. 4 8-9 8, hier S. 93-94- 33 schält, die nun gewissermaßen zu Geburtshelfern der oben erwähnten anthropologischen Geschichtsbetrachtung geworden sind. Es ist dies zum einen die verfeinerte Lokalgeschichtsforschung, wie sie in England mit den Namen von W. G. Hoskins und Alan Everitt verbunden ist, und vor allem die Weiterentwicklung der Methoden der historischen Demographie, die bald die Grenzen der aggregativen Methode überschritt und sich daranmachte, ganze Familienverbände zu »rekonstituieren«. Alan Macfarlane schätzte den Aufwand dieser Rekonstitutionsmethode hundertmal höher als den der einfachen aggregativen Methode ein 36 . Louis Henrys Buch aus dem Jahre 1958 über die normannische Gemeinde Crulai war hier die Pilotstudie, der bald viele andere folgen sollten. Es war der Vorteil dieser Studien, daß sie nicht nur, wie die schon erwähnten Regionalstudien, Menschenleben als nüchterne Zahlen bereitstellten, sondern statistische Daten mit Namen und oft genug sogar mit hinlänglich belegbaren Schicksalen verbanden. Damit war ein ganz entscheidender Vorteil erzielt gegenüber jener Auffassung, die Francois Furet noch 1 9 6 3 geäußert hatte, daß nämlich »les classes inferieures« nur in den unpersönlichen Datenmengen wiederzufinden seien, oder jener noch weitergehenden Auffassung, daß man über die Unterschichten vergangener Jahrhunderte einfach nichts sagen könne, weil man überhaupt keine Quellen habe. Wesentlich war, daß die Historiker der vorrevolutionären Epoche – diese tragen die oben angesprochene Forschung bislang vor allem – jetzt Menschen mit Namen und individuellen Geschichten wiederfanden. Menschen, deren Verhältnis zur Arbeit, zur Familie, zur Obrigkeit, zur Konfession ermittelbar wurde, deren mobiler und immobiler Besitz rekonstruierbar war, deren Biographie zuweilen sogar greifbar wurde. Ich denke, es bedarf hier kaum außerwissenschaftlicher Motive, die freilich auch hierbei eine Rolle spielen, um zu erkläse Macfarlane, Reconstructing Historical Communities. Cambridge 1977, S. 2o 7 ff. Diese Arbeit ist die beste Einführung in die praktischen und theoretischen Probleme historischer »cornmunity-Studien, Vgl. auch ders., History, Anthropology and the Study of Communities. In: Social History 5 ( 19 77), S. 631 bis 6 5 2, ein guter Überblick über die methodischen Probleme der neueren Studien auf dem Gebiet der historischen Lokalforschung. Der Zahlenvergleich zwischen beiden Methoden ebd., S. 6 43 . Für Hoskins sei exemplarisch verwiesen auf sein Local History in England. a. Aufl. London 1 97 2, für Alan Everitt auf sein The Community of Kent and the Great Rebellion, 16 4 o-1660. Leicester 1966 und ders., The Local Community and the English Civil War. Historical Association Pamphlets, G. 70, London 1969. 332 ren, daß allein diese forschungsimmanente Möglichkeit zur Erforschung von Menschen, die bislang in ihrem Einzelschicksal nicht erkennbar waren und deren Rolle damit verkannt worden war, einen besonderen Reiz ausübte. Ich bekenne mich jedenfalls sehr gerne dazu, und man könnte geradezu die List der Vernunft in der historischen Forschung am Werke sehen, wenn eine Richtung der Geschichtsschreibung, der der Historismus noch mangelnde Ehrfurcht vor dem Individuum vorwarf, jetzt dazu beiträgt, unser Wissen von Menschen unendlich zu vergrößern, gerade in seiner historischen Individualität. Die Einsicht in diese Veränderung der Geschichtsschreibung sollte Anlaß bieten, in der Diskussion jener Faktoren, die die Entwicklung von Historiographie vorantreiben, nicht nur die sozialen und politischen Horizontänderungen, sondern auch innerwissenschaftlich-meihodische Innovationsschübe stärker zu berücksichtigen. Zudem läßt sich gerade auch an der Geschichte der Familienrekonstitutionsmethode zeigen, wie das hier gesammelte Datenmaterial herangezogen wurde, um qualitative Fragen der historischen Demographie zu klären, also etwa das Problem der zunehmenden Geburtenbeschränkung in der vorindustriellen Gesellschaft. Hier liegt geradezu ein Idealfall einer mikroanalytisch angelegten Forschung vor, die Fragen der Makrostruktur zu klären vermochte37. Ich habe damit vor allem zeigen wollen, daß der Forschungsprozeß unserer Wissenschaft bestimmte immanente Ansatzpunkte bot, um sich dem Problem der Mikrohistorie zu nähern. Hier ist nicht allein auf modernisierungskritische Ausgangspositionen zu rekurrieren, wie dies Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehlcr zu tun scheinen, sondern auf die Dynamik der Forschung selbst, die hier zumindest mit herangezogen werden muß. Es ist nun sowohl von Vertretern der neuen anthropologisch orientierten Geschichtsforschung wie auch von ihren Kritikern auf den wunden Punkt solcher Forschungen verwiesen worden, der in der Frage der Repräsentativität solcher Arbeitsergebnisse liegt. Jürgen Kocka zieht Hans Rosenberg als Kronzeugen dafür heran, daß »das Partikulare nicht viel Sinn hat, wenn es nicht zu dem Universalen in Beziehung gesetzt wird«, und Hans-Ulrich Wehler warf in einem Zeitschriftenartikel der 37 Guter Überblick über diese Probleme bei A. E. Imhof, Einführung in die Historische Demographie. München 1 977, bes. S.18; für die quantitativen Aspekte vor allem Macfarlane, History, anthropology and the Study of Commu nities. 333 Alltagsgeschichte vor, über kein »Synthesekonzept« zu verfügen, mit dem sich divergierende Alltagsgeschichten überzeugend zusammenfassen ließen38. In der Tat, hier bewahrheitet sich die alte Erfahrung, die uns schon Johann Gustav Droysen lehrte 39 : »Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen, aus dem es hervorgeht und das Ganze aus diesem Einzelnen, in dem es sich ausdrückt.« Wie läßt sich nun die aus der Entwicklung des Forschungsprozesses selbst hervorgehende Mikroskopierung mit dem Allgemeinheitsgebot verbinden, wenn wir nicht in Positionen zurückfallen wollen, die am Detail um seiner selbst willen interessiert sind. Diese Frage ist keineswegs neu. Sie ist immer wieder dann gestellt worden, wenn auf der Basis schmaler Materialgrundlagen weitreichende Interpretationen entwickelt worden sind, doch läßt sich sehr leicht zeigen, daß solche Diskussionen im allgemeinen keine methodologische Klärung der Frage gebracht haben, wie denn nun der Zusammenhalt von Einzelbeobachtungen und Gesamtinterpretationen zu sehen ist. Trotz praktischer Lösungsversuche bleibt das methodische Problem das gleiche: Ist es methodisch zureichend, daß wir ein Bündel übereinstimmender Befunde zu einem Problembereich zu einer stimmigen Aussage zusammenfassen dürfen, solange keine widersprechenden Befunde vorliegen? Wie müssen – falls doch vorhanden – divergierende Aussagen gewichtet werden? Bedarf es einer vergleichbaren Anzahl, gleicht die größere regionale Streuung fehlende Belegmengen aus? Jeder Historiker wird auf seinem Arbeitsgebiet eine Fülle solcher Problemlagen kennen, die zwar forschungspragmatisch »gelöst« wurden, indem sich bestimmte Auffassungen im Diskurs der beteiligten pragmatischen Fachkollegen durchsetzten, doch wird man kaum behaupten können, daß die Historie über akzeptierte Verfahren verfüge, wie Einzelbelege zu synthetisierenden Aussagen zusammengestellt werden können. Im Rahmen der neueren Diskussion sind bislang einige Überlegungen zur Lösung dieses Problems angeboten worden. Dies ist einmal das schon erwähnte Verfahren der »dichten BeschreiJ. Kocka, Historisch-anthropologische Fragestellungen — ein Defizit der Hi storischen Sozialwissenschaft? Thesen zur Diskussion. In: G. A. Süssmuth (Hrsg.), Historische Anthropologie. Göttingen 1984, S. 73-83, hier 5. 80. H.-U. Wehler in: Die Zeit Nr. 1 9 vom 3.5. 1 985, S . 64. J. G. Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. v. R. Hübner, 4. Aufl. D armstadt 1 960, S. 25. 334 bung« von Clifford Geertz, dessen Leistung es sein soll, aus der verdichteten Beschreibung sozialer Verhaltensweisen durch den dabei vorgenommenen Perspektivwechsel auf eine systematische Ebene zu gelangen. Da Hans Medick nun diese Passage in einem anderen Argumentationszusammenhang – in der Abwehr des Historismusvorwurfes – formulierte, will ich auf Geertz selbst zurückgreifen, der sagt, daß es sein Ziel sei, »to draw large conclusions from small, but very densely textured facts« 4°. Wenn ich die weiteren Ausführungen zu dieser speziellen Frage recht verstanden habe, so liegt es in der Spezifik seines Ansatzes, kein Rastersystem bereitzustellen, in das das Detail abgelegt werden kann. Seine Theorie, so sagt er, schwebt so nah über der »dichten Beschreibung«, daß eine Trennung wenig sinnvoll wäre. Die Generalisierung soll nicht zu einem eigenen System werden, sie findet in den untersuchten Fällen statt und artikuliert sich in der Beschreibung selbst. Gemessen an den uns vertrauten Diskussionen über gesellschaftliches und politisches Verhalten ist dies eine ungewohnte Äußerung, die sich kraß jenem wissenschaftlichen Diskurs entzieht, der uns vertraut ist. Die Frage ist, ob nicht in dem von Geertz entwickelten Verfahren gewissermaßen Sollbruchstellen verborgen sind, die die stillschweigende Infusion von Theorien und damit dieses Verfahren erst ermöglichen. Ich habe jedenfalls nach der Arbeit mit diesem Text und Medicks Nutzung dieses Textes den Eindruck, daß in der Webstruktur der »dichten Beschreibung« selbst schon der theoretische Faden steckt, der so auffällig ist, daß es am Schluß keiner eigenen theoretischen Bemühungen mehr bedarf, um ihn zu erkennen, da er in den Webvorgang des Textes eingegeben worden ist. Doch ich will noch eine weitere »Mikrotheorie« vorstellen. Der italienische Meister der historischen Miniatur, Carlo Ginzburg, hat sie in der französischen Zeitschrift Les Ddbats 1981 zusammen mit Carlo Poni veröffentlicht; der einzige Aufsatz, der bisher – soweit ich sehe – den Begriff Mikrohistorie im Titel trägt. Für Ginzburg und Poni ist das Aufkommen mikroskopischer Studien eine Reaktion auf das Zerbrechen von Fortschrittsgläubigkeit, einer Art wissenschaftlicher Sublimierung des Rückzugs in das Private und persönlich Erlebte. Zur Lösung des Problems der Bedeutung des Details rekurriert nun Ginzburg auf den von einem italienischen Kollegen (Edoardo Geertz, Interpretation of Cultures, S. z8. 335 Grendi) ausgeborgten Begriff des »normalen Außergewöhnlichen« 4 '. Er glaubt, daß angesichts der üblichen Deformation der Überlieferung gerade der unteren sozialen Schichten das statistisch nicht Bedeutsame, also vielleicht Einmalige möglicherweise mehr enthüllen kann als das tausendfach Stereotype. Ohne nähere Angaben über die Gründe für eine Auffassung erhoffen Ginzburg/Poni damit Spuren und Indizien für die verborgene Realität ihrer Gegenstände zu gewinnen. Diese Mikrohistorie, »science de v&u« genannt, hat für die Autoren wesentliche Vorteile. Einmal gewinnt sie in der Enge ihrer Objekte die Einsicht in eine Lebenswelt, die sonst unzugänglich gewesen wäre. Zum anderen, und hier scheinen sich Ginzburg/Poni, Geertz und Medick zu treffen, verschafft sie die Kenntnis jener verborgenen Regeln, nach denen diese Lebenswelt funktionierte. In einer sehr allgemeinen Form hat auch Wolf 1.epenies zu der Frage des Verhältnisses von historischer Anthropologie und makrohistorischen Prozessen Stellung genommen, wenn er vorschlug, historische Veränderungen im Makromaßstab, etwa Epochenschwellen, auf die mögliche Veränderung elementarer Verhaltensweisen, die gleichermaßen das Substrat solcher Veränderungen bilden könnten, hin zu untersuchen". Ich will in diesem Kontext nicht mehr eingehen auf den von D. Peukert angebotenen Rekurs auf Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns und die dort anvisierte Differenzierung von systematischer und lebenswirklicher Logik 43 . Ich sehe im Moment noch keine Möglichkeit, wie die hier entwickelte Perspektive einer mehrdimensionalen Analyse von Alltagshandlungen in konkrete historische Forschung umgesetzt werden kann. Wenn man aus diesen Angeboten im Hinblick auf die Frage, wie vom Detail auf die Syntheseebene zu gelangen ist, die Summe zieht, scheint die gemeinsame Antwort in der Erkenntnis zu liegen, daß im einzelnen Verhalten von Individuen und Gruppen jeweils mehr steckt als nur die nackte Handlung selbst. Es 4 ' C. Ginzburg u. C. Poni, La micro-histoire. In: Les Debats 17 (1 9 81), S. 133 bis 136, eine deutsche Übersetzung jetzt in Geschichtswerkstatt 6, Mai 1985, S. 48-52. W. Lepenies, Probleme einer Historischen Anthropologie. In: R. Rürup (Hrsg.), Historische Sozialwissenschaft. Göttingen 1977,5. 126-15 9 , hier S. 131. 43 D. Peukert, Neuere Alltagsgeschichte und Historische Anthropologie. In: Süssmuth (Hrsg.), Historische Anthropologie, S. 57-72, bes. S. 6 3 ff. 336 enthält immer ein schwer quantifizierbares Moment an Vergesellschaftung, da das jeweilige Handeln gesellschaftlich bedingt und vermittelt ist. M. E. muß diese Beobachtung in der weiteren Strategie der Mikrohistorie genutzt werden, wovon noch zu sprechen ist. Man könnte also formulieren, daß jede soziale Handlung oder jeder mikrohistorische Gegenstand immer auch ein Kommentar über die Bedingung seiner selbst ist. Diese Erkenntnis ist freilich überhaupt nicht neu. Zumindest seit die Abwehr des Neokantianismus gelungen ist, der die Erkenntnis des Individuellen der Geschichte, die Erkenntnis des Allgemeinen aber den Naturwissenschaften zuweisen wollte, hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß der Gegenstand historischer Erkenntnis als ein Aggregat »historischer« und »systematischer« Partikel aufgefaßt werden kann". Ich will zum Schluß kommen und versuchen, den potentiellen Stellenwert von Mikrohistorie zu bestimmen. Dabei ist zunächst zu fragen, was ist Mikrohistorie bezogen auf ihre Handlungseinheiten? Wichtiger als eine Zahlenangabe oder die genaue Angabe des gesellschaftlichen Orts scheint mir dabei zu sein, daß als Gegenstand der Analyse eine soziale Einheit ausgewählt wird, die es von ihren Quellenbeständen her erlaubt, sie umfassend und in möglichst großer Äußerungsbreite zu studieren. Das kann eine Familie, kann ein Dorf, können Teilgruppen einer Stadt, aber auch ad hoc entstehende Einheiten sein. Darüber hinaus glaube ich, daß nicht nur die wie immer entstehende kleine Gruppe als Gegenstand gesehen werden darf, sondern auch Phänomene wie einzelne Verhaltensweisen in ihrer Veränderung und Erfahrungsinnovationen selbst, jedenfalls soweit sie quellenmäßig greifbar gemacht werden können. Kriterium müßte die quellenmäßig dokumentierbare soziale Spannweite der gewählten Gruppe oder des gewählten Gegenstandes sein, deren Lebensweise, deren Verhaltensformen, deren Normen sichtbar werden müssen. Ich vermute, daß die Grenzen viel öfter durch die Quellenlage gezogen werden als durch andere systematische Kriterien. Bei der wichtigen Frage nach der Handlungseinheit der Mikrohistorie mag uns vielleicht die Diskussion helfen, die in der Soziologie und in der Anthropologie selbst über die sogenann«4 Ich habe versucht, diesem Zusammenhang nachzugehen in Soziologie und Geschichtswissenschaft. Einführung in die Probleme der Kooperation beider Wis senschaften. München 1974, S. 178ff. 337 ten Community-Studien geführt worden ist, also jene Fülle von Studien, in denen soziale Probleme wie Mobilität, Devianz, Suizidanfälligkeit, Religiosität und anderes auf der Gemeindeebene untersucht worden sind. In der soziologischen Selbstkritik ist betont worden, daß die Gemeinde nicht der Mikrokosmos der Nation ist, selbst wenn es jene amerikanische Gemeinde geben mag, deren Wahlergebnisse immer mit dem Ausgang der nationalen Präsidentenwahlen übereinstimmen. In der Soziologie haben sich neue Formen der Begrenzung der zu untersuchenden Akteure durchgesetzt, etwa im Konzept der Aktionsgruppe, des »social drama« oder der »Quasigruppe«, oder etwa im Begriff des »network«. Damit wurde versucht – so kann man resümieren –, der dem Gemeindekonzept fehlenden Komplexität sozialer Prozesse gerecht zu werden und die willkürliche Grenzziehung einer Gemeinde durch Kriterien zu ersetzen, die sich im sozialen Prozeß selbst ergeben 45 . Für die historische Arbeit scheint mir daraus die Nutzanwendung gezogen werden zu können, daß die Mikroeinheit mit der Makroebene verknüpft werden muß, d. h. der Zugriff auf die Mikroeinheit muß gelenkt werden durch eine theoretisch geordnete gesamtgesellschaftliche Fragestellung, die es erlaubt, das evtl. ermittelte Ergebnis zu verorten. Der oben erwähnte immerwährende »Überschuß« an Vergesellschaftung, der in der Mikrohistorie steckt, muß hier sein methodisches Pendant finden, indem diese inhärente Vergesellschaftung theoretisch explizit gemacht wird. Diese Prinzipien gelten sowohl für die Analyse alltäglicher Reproduktion im ökonomischen und kulturellen Bereich wie auch für die besonderen Ereignisse des sozialen Handelns, also soziale Sanktionen oder soziale Konflikte. Jeder soziale Konflikt sagt, so ist meine eigene Erfahrung, mindestens ebensoviel über den gesellschaftlichen Kontext aus wie über den Konflikt und seinen Verlauf selbst. Freilich darf das verwendete theoretische Lenkungskonzept nicht jene spezifische Qualität außer Kraft setzen, die die Stärke des mikroanalytischen Ansatzes ist. Es ist zu befürchten, daß die von Wehler gewünschte »theoriegeleitete, rational disziplinierte und dennoch anschaulich-konkret geschriebene Alltagsgeschichte« 46 sich nur mehr in eingeschränktem Maße die Fähigkeit bewahren kann, im unvermittelten Zugriff auf ihr Material innovativ zu wirken. 4 ' Hinweise auf diese Konzepte bei Macfarlane, History, Anthropology and the Study of Communities, S. 636ff. " Vgl. Kocka, Historisch-anthropologische Fragestellungen, S. 80. 338 Alles Fragen in der Geschichte verläuft unaufhebbar theoriegelenkt, d. h. es wird aus einem Potential gespeist, dessen Sättigungsgrad über dem des untersuchten Gegenstands liegt. Insofern ist nicht einzusehen, warum nicht die Erforschung der Mikroeinheit nach einem ähnlichen Verfahren ablaufen soll. Das intendierte Verstecken der forschungsleitenden Konzepte gegenüber dem Eingeborenen (wie dies hoffentlich der Ethnologe tut) macht keinen Sinn angesichts der Natur unseres Quellenmaterials. Etwas anderes scheint mir dagegen zu sein, die im mikroanalytischen Zugriff offensichtlich größere Dignität der empirischen Quellenbefunde für den Forschungsprozeß zu nutzen. Wir Historiker können daraus lernen, die Widersprüchlichkeit unseres Untersuchungsobjektes nicht vorschnell aufzulösen, sondern mehr Beharrlichkeit beim Knacken der kulturellen Codes zu entwickeln, sie in ihrer Widersprüchlichkeit ernster zu nehmen. Es muß gefragt werden, ob nicht die Struktur der alteuropäischen Gesellschaft – um dieses Beispiel herauszugreifen – selber eine methodische Verpflichtung beinhaltet, ihre vormoderne Segmentierung ernster zu nehmen. Zu verweisen wäre hier auf die Selbstinterpretation der frühmodernen Gesellschaft als eines Gemeinwesens, das sich aus »Konsoziationen« kleiner Einheiten, der Haushalte, zusammensetzt, um etwa auf Althusius zu rekurrieren. Die Frage ist also, ob nicht dieser Struktur der untersuchten Gesellschaft auf ihrem langen Weg von der klassischen »Ökonomie des Hauses« zur Nationalökonomie nicht auch durch ein methodisches Verfahren Rechnung getragen werden sollte, das bewußter die Möglichkeiten von Mikro- und Makroebene und ihres Wechsels nutzt. Es scheint dies eine Möglichkeit zu sein, dem sicherlich falschen Eindruck einer unilinearen Entwicklung zur Moderne zu begegnen und die vielfältigen Brüche und Widerstände festzuhalten, ohne sie zu verabsolutieren47. Schwierigkeiten bereitet die Einordnung der anthropologischen Fallstudie – also der intendierten »dichten BeschreiWenn ich recht sehe, dann ist es gerade dieser Eindruck eines vorschnell konstruierten Wegs in die Moderne, der in vielfacher Weise zum Ansatzpunkt kritischer mikroanalytischer Fragen geworden ist. Die hier sichtbar werdende Tendenz, nach verborgenen oder offenen Widerständen zu fragen, alternative Möglichkeiten historischer Entwicklung zu suchen, mag auch mit der unbestreitbaren Tatsache zusammenhängen, daß der historische Weg in die Moderne bislang überwiegend auf der Makroebene historischen Geschehens konstruiert worden ist und in seinen mentalen Wirkungen und Konstituierungen kaum gesehen wurde. 339 bung« – in die uns vertraute Methodologie, weil Geertz und Medick den Eindruck erwecken, hier ein neues methodologisches Verfahren zu benutzen. Allein die definierenden Bemerkungen von Geertz lassen daran zweifeln. Er sagt nämlich, die »dichte Beschreibung» sei nicht die Realität selbst, sie sei interpretativ, sie rette das im sozialen Diskurs Gesagte in dauerhaften Ausdrücken und sie sei mikroskopisch, d. h. auf einen raumzeitlich begrenzten Tatbestand gerichtet. Es scheint angesichts des hier skizzierten Denkvorganges erwägenswert, ob in diesem Fall nicht ein idealtypisches Vorgehen vorliegt, wenn auch in einer dimensional begrenzten und inhaltlich spezifizierten Variante. Wenn der Idealtypus die Steigerung bestimmter Elemente der Realität nach bestimmten Regeln ist, könnte man die Mikrostudie anthropologischer Observanz in Ergänzung zu der Schiederschen Systematik des Idealtypus, die zwischen Gestalttypus, Verlaufs- und Strukturtypus unterschied, als Strukturierungstypus bezeichnen, d. h. als Typus der Entstehung von sozialer Wirklichkeit. Schließlich noch eine letzte Bemerkung. Die vergleichsweise sehr offene und deutliche Diskussion um die anthropologisch orientierte Analyse von Geschichte sollte sich stärker davon beeindrucken lassen, daß wir zumindest in der für mich überschaubaren Geschichte des vorrevolutionären Europa noch ein beachtliches Paket ungelöster Fragen zu tragen haben. Generell läßt sich dieses Defizit der Forschung damit bezeichnen, daß wir die Erklärung der großen säkularen Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft überwiegend einer Beobachtungsebene verdanken, die diese Prozesse weit über den Köpfen der Menschen formuliert. Die von Lepenies geforderte Neusetzung von Epochenschwellen von der Makro- auf die Mikroebene spricht diesen Mangel ebenfalls an. Nicht zuletzt deshalb wird heute den sensibleren Kategorien des sozialen Wissens, der Zeiterfahrung oder der Erweiterung des Kulturbegriffes der Vorzug gegeben, denn hier scheint das wirkliche Problem einer in die Tiefe zielenden Forschung zu liegen. Unter vielen Fragen wäre etwa die Frage nach den Gründen der erstaunlichen Dauerhaftigkeit der vorrevolutionären Ordnung zu stellen, eine Frage, die sich gerade nach Jahrzehnten intensiver Krisenforschung im Bereich der europäischen Frühen Neuzeit aufdrängt. Die bislang entwickelten Strategien, das Ancien regime entweder als bloße Vorgeschichte der Revolution zu sehen oder als harmonische Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu be3 40 trachten, scheinen mir bislang wenig überzeugend zu sein. Zur Lösung dieser und anderer Fragen kann ein mikrohistorischer Ansatz in der erwähnten theoretischen Einbindung einige Möglichkeiten bieten, denn vermutlich liegen in ihm Ansätze, die konkrete Rezeption von Herrschaft, Unrecht, ökonomischer Neuerung, kirchlicher Kontrolle, neuem Wissen, sozialer Mobilität und partieller Sicherheit zu erforschen, die eine Voraussetzung für die Lösung dieser großen Frage wäre. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage muß also lauten, nicht Mikrohistorie versus Makrohistorie, sondern Mikrohistorie als erkenntnisförderndes Element von Makrohistorie.