Neuartige Klimaregulierung: Die Energiewende verleiht Flügel

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Visualisierungen: Falkeis Architects
FACHBEITRAG
PLANUNG
Das «Active Energy Building»
im Zentrum von Vaduz
soll mehr Energie erzeugen,
als es selbst benötigt.
Neuartige Klimaregulierung
Die Energiewende verleiht Flügel
Mit sieben beweglichen Flügeln an der Fassade wird das «Active Energy Building» in Vaduz geheizt und
gekühlt. Phasenwechselmaterial speichert die Energie. Die Wiener Architekten Anton und Cornelia Falkeis
haben mit der Hochschule Luzern neue Techniken entwickelt. Auch die Solar-Panels folgen dem Sonnenlauf.
Von Stefan Gyr
W
ie eine Raumstation in einer fernen
­Galaxie wirkt das neue Mehrfamilienhaus im Zentrum von Vaduz. Die gesamte Südseite und ein Grossteil der Dachfläche
sind mit Photovoltaik-Panels verkleidet. An der
Ost- und Westseite wurden sieben grossflächige
Klima-Flügel angebracht, eine zum Patent an­
gemeldete Neuentwicklung zur Regulierung der
Raumtemperatur.
Entworfen wurde das Bauwerk im Hauptort des
Fürstentums Liechtenstein von den Wiener Architekten Anton Falkeis und Cornelia Falkeis-Senn.
Mit ihrem Projekt gingen sie aus einem international ausgeschriebenen Wettbewerb als Sieger
hervor. Die Bauherren, der Bankier Peter Marxer
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und seine Frau Renate, wünschten sich ein visionäres, energiesparendes Gebäude. Das ehr­
geizige Ziel: Das «Active Energy Building», so der
Name des Gebäudes, soll nicht nur durch erneuerbare Energien versorgt werden, sondern auch
mehr Energie erzeugen, als es selbst verbraucht.
Die überschüssige Energie wird an umliegende
Häuser abgegeben oder ins Stromnetz eingespeist.
Wie eine Sonnenblume
Um den Stromertrag zu steigern, wurden die Photovoltaik-Panels an einen Solar-Tracker angeschlossen. Dieser hat die exakt errechneten Sonnenstandskoordinaten der nächsten Jahrhunderte
eingespeichert und gibt die Daten an einen Motor weiter, der die Panels in den jeweils optimalen Winkel hochklappt und im 5-Minuten-Takt hydraulisch nachstellt. Dadurch wandern die Photovoltaikelemente mit der Sonne, womit laut
Anton Falkeis bis zu 40 Prozent mehr Strom gewonnen wird. Zudem ist die gesamte Anlage mit
einer Wetterstation verbunden. Melden die
Sensoren der Steuerungstechnik eine zu geringe
Sonneneinstrahlung oder hohe Windgeschwin­
dig­keiten, fährt sie in die Ruheposition zurück,
und die Panels werden flach an das Dach angelegt.
Zur Klimatisierung des Gebäudes entwickelte
Falkeis in Zusammenarbeit mit Ludger Josef FiNr. 1, Freitag, 8. Januar 2016
FACHBEITRAG
PLANUNG
scher und seiner Forschungsgruppe an der Hochschule Luzern bewegliche Fassadenelemente mit
Latentwärmespeichermodulen. Vier dieser sieben
Flügel werden zur Speicherung von Wärme und
damit zum Heizen eingesetzt, drei speichern Kälte
und dienen so zum Kühlen. Mit dem Sonnenaufgang öffnen sich die auf der Westseite angelegten Heizflügel. Wie eine Sonnenblume folgen sie
dem Sonnenlauf, um einen optimalen Einstrahlungswinkel zu bewahren. Wenn der Speicher­
voll ist, legen sie sich wieder an das Gebäude an.
So wird die Wärme an die Frischluft der Wohnraumlüftung abgegeben. Die Kühlflügel sind an
der Ostseite des Gebäudes angesetzt und öffnen
sich nur nachts. Die Wärme wird in den Himmel
abgestrahlt. Auch wenn im Sommer die Nachttemperaturen noch hoch sind, kann durch den
Strahlungsaustausch und die spezielle Beschichtung Wärme abgegeben und Kälte gespeichert
werden.
Gefüllt sind die Klima-Flügel mit sogenanntem
Phase-Change-Material (PCM), das eine hohe
­Kapazität zur Speicherung von Wärme und Kälte
hat. Möchte man in einem Gebäude Energie speichern, arbeitet man gewöhnlich mit Wasser oder
Salzlösungen, da diese Energie besser speichern
können als jedes andere Medium, das in der Baubranche verwendet wird. Phase-Change-Material
kann beim Übergang von einem in einen anderen Aggregatzustand Wärme aufnehmen oder abgeben. Es weist eine fünf Mal höhere Speicherfähigkeit als Wasser auf und kann Energie auf
diese Weise effizienter speichern und auch
wieder freigeben. Bislang wurde PCM vor allem
in der Medizin und Technologie eingesetzt.
Bei geringer Sonneneinstrahlung
werden die Solarpanels flach
an das Dach angelegt.
Das Attikageschoss wird von der
Familie der Bauherrschaft bewohnt.
Paraffin für den Phasenwechsel
«Wir haben einen innovativen Bauherrn, der sich
bereit erklärt hat, sich auf ein Experiment einzulassen und etwas Neues, noch nie Dagewesenes
auszuprobieren», erklärte Architekt Anton Falkeis
gegenüber dem österreichischen «Standard».
«Daher haben wir uns entschieden, bei diesem
Haus mit PCM zu arbeiten. Nach vielen Berechnungen und Laborversuchen sind wir schliesslich
bei einem speziellen, für unseren Bedarf bestens
geeigneten Paraffin gelandet.» Für die Heiz- und
die Kühlflügel werden unterschiedliche Sorten
des aus Palmöl gewonnenen Paraffins verwendet, jeweils mit geeignetem Schmelzpunkt. Der
Phase-Change-Punkt, an dem das Paraffin gefriert und sich wieder verflüssigt, liegt bei 21 Grad
Celsius für die Kühl- und bei 32 für die Heiz­
elemente.
«Die Heiz- und Kühlflügel sind als Unterstützung und Optimierung zu verstehen», sagt FalkNr. 1, Freitag, 8. Januar 2016
eis, der auch am Institut für Architektur an der
Universität für angewandte Kunst in Wien unterrichtet. Mit einer Fläche von 39 Quadratmetern
können diese Fassadenelemente nur einen Teil
der Klimaregulierung übernehmen. Die Klima-Flügel machen 10 Prozent der Heiz- und 16 Prozent
der Kühlleistung aus. Der Grossteil der Energie
wird durch Geothermie und Photovoltaik erzeugt.
Das neuartige Plusenergiehaus in Vaduz stiess
auch am 10. internationalen Fachkongress über
«Advanced Building Skins» in Bern auf grosses
Interesse. Nadège Vetterli vom Departement Technik und Architektur an der Hochschule Luzern
stellte dort das Projekt vor. Mit einer thermischen
Gebäudesimulation sei das Energiesparpotenzial
durch den Einsatz der Latentwärmespeicher­
module berechnet worden, erklärt Vetterli. Mit
diesem von der Hochschule Luzern mitentwickelten System können nach ihren Angaben 9 Prozent des Nutzenergiebedarfs für die Raumheizung
und 16 Prozent für die Raumkühlung eingespart
werden.
➝
baublatt 25 FACHBEITRAG
PLANUNG
Die beweglichen Solarpanels und PCM-Flügel
seien «eine Movable Skin, die das Attikageschoss
umspannt», sagt Vetterli. Für die thermische Gebäudesimulation wurde nach ihren Angaben das
Programm «IDA ICE» in der Version 4.51 verwendet. Damit sei auch die optimale Regelung der
Flügelbewegungen zur Maximierung der Energiegewinne bestimmt worden. Eine Sensitivitätsanalyse wurde für die Regelung der Flügelöffnung
sowie für die Luftströmung durch die Flügel vorgenommen. Um die Simulationsberechnungen
und das Verfahren zur Klimatisierung des Gebäudes zu überprüfen, erstellte die Forschungsgruppe am Standort in Vaduz einen Testaufbau.
Dieser Mock-up wurde mit einem Heiz- und einem Kühlflügel ausgestattet. Auf diese Weise
konnten unter anderem fehlerhafte Verhaltensweisen des Systems ermittelt werden.
Strahlung, Leitung und Konvektion
Bei den Heiz- und Kühlflügeln kommen laut Vetterli alle drei Wärmetransportmechanismen zum
Tragen: Strahlung, Leitung und Konvektion. Bei
Sonnenschein werden die Heiz-Flügel ausgeklappt, und die speziell beschichteten PCM-Elemente nehmen die Solarstrahlung auf – das Latentspeichermaterial beginnt zu schmelzen. Die
26 baublatt
Bild: Roland Korner, Close Up AG
In Vaduz erstellte
die Forschungsgruppe
einen Testaufbau.
Der Mock-up wurde
mit einem Heiz- und
einem Kühlflügel
ausgestattet.
Energie wird von der Strahlung auf das Aluminium übertragen und durch Wärmeleitung zum
PCM transportiert. Das Material schmilzt vom
Rand her nach innen. Die Flügel werden eingeklappt, sobald die Sonneneinstrahlung zu gering
wird oder alles PCM geschmolzen ist. Besteht im
Haus Wärmebedarf, wird die Raumluft durch die
Flügel geleitet. Das Phasenwechselmaterial beginnt vom Rand her zu erstarren. Die Energie wird
durch Wärmeleitung vom PCM an das Aluminium
und von dort durch erzwungene Konvektion an
die strömende Luft übertragen.
Besteht im Gebäude Kühlbedarf, werden die
Kühlflügel mit warmer Raumluft durchströmt. Das
feste PCM schmilzt dadurch vom Rand des inneren Wärmeübertragerrohrs her. Die Wärme wird
von der Luft über erzwungene Konvektion an das
Aluminium übertragen und durch Wärmeleitung
an das PCM weitergegeben. In der Nacht werden
die Flügel ausgeklappt und die Wärme wird über
Strahlung, idealerweise bei wolkenfreiem Himmel, an die Umgebung abgegeben. Dadurch erstarrt das PCM wieder vom äusseren Rand des
Moduls, und kann am Tag erneut für Kühlzwecke
eingesetzt werden.
Nach der Fertigstellung birgt das Energiehaus
zwölf Wohnungen mit jeweils zwei bis sechs Zim-
mern und einer Gesamtnutzfläche von knapp
2000 Quadratmetern. Ausser dem Attikageschoss, das von der Familie für den Eigenbedarf
genutzt wird, stehen elf Wohnungen für Mieter
zur Verfügung. Die genauen Baukosten möchte
Marxer für sich behalten. Nur so viel verriet der
Bauherr dem «Standard»: «Ein konventioneller
Bau hätte sicher maximal die Hälfte dieses Wohnhauses gekostet.» Dennoch sollen sich gemäss
Marxer die Mietpreise im für Vaduz üblichen Bereich von 20 bis 25 Schweizer Franken pro Quadratmeter bewegen.
Teil eines Häuserverbunds
In den nächsten zwei Jahren soll das Projekt wissenschaftlich begleitet werden. Die Erkenntnisse
werden in die Bauforschung einfliessen. Die Vision des Architekten: «Eines Tages wird das ‹Active Energy Building› Teil eines grossen Smart
Grids sein», sagt Falkeis. Das Gebäude soll mit
den benachbarten Häusern zu einem lokalen
Cluster verbunden werden, in dem untereinander
Wärme, Kälte und Energie getauscht werden
kann. Aktiv Energie produzierende Gebäude, die
einen Häuserverbund oder sogar einmal ganze
Quartiere versorgen, könnten laut Falkeis ein Zukunftsmodell sein. ■
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