HANNS-SEIDEL-STIFTUNG E.V. BERICHTE AUS DEM AUSLAND 10 / 2007 Politischer Bericht aus Brüssel Senats- und Parlamentswahlen in Belgien am 10. Juni 2007 12. Juni 2007 Angela Ostlender Verbindungsstelle Brüssel 1 Herausgeber: Büro für Verbindungsstellen Washington, Brüssel, Moskau/ Internationale Konferenzen Verantwortlich: Ludwig Mailinger Adresse: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Lazarettstr. 33 80636 München Tel.: +89 1258-202 oder -204 Fax: +89 1258-368 E-Mail: [email protected] Mit Namen gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder; die Autoren tragen für ihre Texte die volle Verantwortung. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. 2 SENATS- UND PARLAMENTSWAHLEN IN BELGIEN AM 10. JUNI 2007 Alle vier Jahre finden in Belgien gleichzeitig Senats- und Parlamentswahlen statt. Bei den Parlamentswahlen werden die 150 Sitze des Parlaments der Regionen Flandern und Wallonien auf 10 Provinzen verteilt. Insgesamt erhalten die flämischen Provinzen 79 und die wallonischen Provinzen 49 Mandate. Die Region Brüssel besetzt 22 Mandate, jeweils 11 von jeder Sprachengemeinschaft. In Belgien gibt es seit Ende der 70er Jahre keine nationalen Parteien mehr, diese sind den verschiedenen Sprachgemeinschaften zugeordnet. Auch wenn es Anfangs noch enge Bindungen zwischen den ideologischen Parteifamilien der verschiedenen Landssprachen gab, handelt es sich um eigenständige Parteien mit eigenen Strukturen und Statuten. Dementsprechend gehören dem Parlament und dem Senat auch viele Fraktionen an - diesmal sind es zehn. Es ist zwar ungewöhnlich, aber denkbar, dass bei einer Regierungskoalition nicht unbedingt beide politischen Schwestern mit im Boot sitzen. 60 Prozent der Bevölkerung leben in Flandern, daher ist das flämische Wahlergebnis meist auch ausschlaggebend für die nationale Regierungsbildung. Zur Wahl in Belgien waren über 7.7 Millionen Bürger aufgerufen. Da in Belgien Wahlpflicht herrscht, lag die Wahlbeteiligung bei über 90%. Enthalten haben sich 5,1% der wahlberechtigten Bürger. ENDE DER ÄRA GUY VERHOFSTADT - WAS KOMMT NACH „VIOLETT“ ? Mit dem gestrigen Urnengang dürfte die Ära des belgischen Premierministers Guy Verhofstadt fast auf den Tag genau nach 8 Jahren zu Ende gegangen sein. Seine liberalsozialistische sog. „violette“ Regierung schaffte es nicht, das Ruder nach den bereits im Oktober 2006 verlorenen Kommunalwahlen wieder fest in die Hand zu nehmen. Verhofstadt übernahm in seiner Abschiedsrede, die er noch am Wahlabend hielt, persönlich die Verantwortung für die Niederlage und reichte seinen Rücktritt ein. Er wies aber auch darauf hin, dass die Liberalen mit landesweit insgesamt 41 Sitzen zwar knapp aber weiterhin die stärkste Parteifamilie bilden. Der liberale Wahlkampf stützte sich zum einen auf die Bildung eines neuen Sozialpaktes mit vielfachen Steuererleichterungen für Niedriglohnverdiener sowie auf eine begrenzte Weiterführung der Regionalisierung von Staatskompetenzen. Der Trend der Kommunalwahlen vom Oktober 2006 und die zahlreichen Wahlprognosen haben sich bestätigt: Als klare Sieger der Nationalwahlen vom 10. Juni 2007 gingen wie erwartet die flämischen Christdemokraten (CD&V) mit landesweit 18,53% der Stimmen und 30 Parlamentssitzen hervor. Dies sind acht Sitze mehr, als bei der vergangenen Wahl im Jahre 2003. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird der neue Premierminister Belgiens Yves Leterme heißen, derzeit noch flämischer Ministerpräsident, der auch mit 19,5 % als Senatskandidat das beste Einzelergebnis erzielte. Dass Leterme damit ein anlässlich seines Amtsantritts gegebenes Versprechen bricht, nicht für eine nationale Position zu kandidieren, scheint seine Wählerschaft nicht zu stören. Leterme erklärte seinen Meinungswandel damit, dass es nur so gelinge, die angekündigte weiterreichende flämische Autonomie durchzusetzen und mehr Sicherheit und Gerechtigkeit für ganz Flandern zu erzielen; dies war auch Leitthema des Wahlkampfes seiner Partei. In der Wahlnacht hatte er bereits eine umfangreiche Staatsreform angekündigt, bei der weitere föderale Kompetenzen an die Regionen abgeben werden sollen. Auf wallonischer Seite wird allerdings seit Monaten bereits darüber diskutiert, ob ein so offensichtlich flämisch-nationalistisch denkender Politiker Premierminister aller Belgien werden könne. Der 47-jährige Ministerpräsident aus Ypern, Sohn eines wallonischen Vaters und einer flämischen Mutter, war in den vergangenen Jahren mehrmals wegen anti-wallonischer Äußerungen stark kritisiert worden. Aber vieles 3 wird in Belgien ja bekanntlich nicht so heiß gegessen wie es gekocht wird. Auf der anderen Seite hat Leterme es in nur drei Jahren vollbracht, die stark angeschlagene CD&V wieder zur Spitzenpartei des Landes zu machen. Das erreichte Ergebnis ist das beste seit 1981. Auch als flämischer Ministerpräsident hat er Weitsicht bewiesen. Leterme steht nun voraussichtlich die schwierige Aufgabe der Regierungsbildung bevor, die Belgien noch eine Weile beschäftigen dürfte. Diese verlangt von ihm auch andere Qualitäten, als der Wahlkampf: Sein Talent zur Polemik und seinen ausgeprägten Sinn für Satire hat er bereits unter Beweis gestellt. Nun muss er zeigen, dass er auch diplomatisches Feingefühl besitzt. . NACHSTEHEND DIE WAHLERGEBNISSE IM ÜBERBLICK Sitzverteilung Abgeordnetenkammer (nach Wahlen vom 10. Juni 2007) Front National; 1 Vlaams Belang; 17 CD&V/N-VA; 30 Lijst Dedecker; 5 Groen; 4 Ecolo; 8 CDH-CSP; 10 SP.A/Spirit; 14 MR; 23 PS; 20 Open VLD; 18 Stimmenanteil Abgeordnetenkammer 2007 und 2003 in % 20 18,5 18 16,31 16,03 14,91 16 14 13,02 12,5 11,4 12 11,8 1211,59 10,9 10,3 2007 10 2003 8 6,1 6 5,47 5,1 4 3,06 4 4 2,47 2 1,98 2 0 l na at io tN Fr on s m aa Vl js tD ed Be la ec ke ng r n ro e Li o Ec ol G t iri /S p SP .A n pe O PS VL D R M SP HC CD CD &V / NVA 0 4 Sitzverteilung Senat (nach Wahlen vom 10. Juni 2007) Front National; 1 Vlaams Belang; 5 CD&V/N-VA; 9 Lijst Dedecker; 1 Groen; 1 Ecolo; 2 CDH-CSP; 2 SP.A/Spirit; 4 MR; 6 PS; 4 Open VLD; 5 Stimmenanteil Senat 2007 und 2003 in % 25 19,4 20 16,31 16,03 15 15,5 13,02 12,4 12,3 11,4 2007 11,911,3 10,2 10 2003 10 5,9 5,5 5,8 5 3,6 3,2 3,4 2,47 2,3 2,3 0 l na at io tN Fr on s m aa Vl Li js tD ed Be ec la ke ng r n ro e o Ec ol G t iri /S p SP .A n pe O PS VL D R M SP HC CD CD &V / NVA 0 FLANDERN WÄHLT RECHTS UND STRAFT REGIERUNGSPARTEIEN AB „Rechtsruck in Flandern, aber kein schwarzer Sonntag“, nannte es eine belgische Tageszeitung. Nachdem der Triumph von CD&V/N-VA und das schlechte Abschneiden von Open VLD, aufgrund der letzten Wahlprognosen erwartet wurden, zählen die Niederlage der flämischen Sozialisten SP.A/Spirit aber auch der überraschende Wahlerfolg der Lijst Dedecker zu den großen Überraschungen im Norden des Landes. Die Sozialisten, die noch vor vier Jahren das historische Ergebnis von 14,91% erzielt hatten, kamen nur noch auf 10,3% und verloren 9 ihrer Parlamentssitze. Weiter auf dem Vormarsch befindet sich der rechtsextreme Vlaams Belang, der seine Position als zweitstärkste Kraft in Flandern bestätigen konnte. Die Rechtsradikalen legten knapp zu, verlieren aber trotzdem einen Sitz im Parlament. Dieser könnte einem zweiten Sieger im rechten Lager zuteil werden: JeanMarie Dedecker, antiroyalistischer rechtsliberaler Populist, ehemals von der VLD vor die Tür gesetzt und auch bei CD&V/N-VA unerwünscht, holte sich mit seiner neu gegründeten Lijst Dedecker (LDD) auf Anhieb 5 Sitze im Parlament. Ein Bündnisangebot des Vlaams Belang hatte dieser jedoch im Vorfeld abgelehnt. 5 WALLONIEN: MR ERSTMALS STÄRKSTE KRAFT - ECOLO GROSSER GEWINNER In Wallonien gewann Ecolo als einzige Partei eine nennenswerte Anzahl von Stimmen dazu und erhält damit 4 zusätzliche Sitze im belgischen Abgeordnetenhaus. Mit dem herben Verlust von fast drei Prozent verliert die die PS 5 ihrer Parlamentssitze. Der MR unter dem Vorsitz von Didier Reynders verbuchte geringe Einbußen von etwas mehr als 1%, was den Verlust des bei der letzten Wahl hinzugewonnenen Sitzes bedeutet. Doch hat er seinen Traum erfüllt und durchbricht zum ersten Mal die 60-jährige Vormachstellung der Sozialisten. Die wallonische cdH unter der Führung von Joëlle Milquet konnte indessen den großen Wahlerfolg ihrer flämischen Schwesterpartei CD&V nicht nachahmen, verzeichnete aber ein Plus von 0,63% und gewinnt 2 zusätzliche Sitze in der Abgeordnetenkammer. NÄCHSTE ETAPPEN DER REGIERUNGSBILDUNG Gesetzlich reicht der föderalen Regierung eine einfache Mehrheit im Parlament von 76 Sitzen, die mit einer Koalition aus Christdemokraten und Liberalen, die gemeinsam 81 Sitze innehaben, erreicht wäre. Um sein ehrgeiziges Projekt der Staatsreform durchführen zu können, benötigt Leterme jedoch mindestens eine Zweidrittelmehrheit, d.h. 101 von den 150 Parlamentssitzen. Gegen eine Koalition mit den Liberalen spricht jedoch das schlechte Wahlergebnis in Flandern und dass beide Parteien historisch immer in Opposition gegeneinander standen. Die flämischen Sozialisten haben sich nach dem Rücktritt ihres Vorsitzenden bereits selbst eine „Oppositionskur“ verordnet. Ob sich die wallonischen Sozialisten jedoch nach mehr als 50-jähriger Regierungsbeteilung so einfach aus dem Rennen kicken lassen, ist sehr fraglich. In der Opposition würden sie das Regieren sicherlich eminent erschweren. Bliebe die Frage nach einer Kombination aus Christdemokraten, Liberalen und Grünen, die in dieser Form einzigartig wäre und 93 Sitze vereinigen könnte. Die historische Version einer christdemokratisch-sozialistischen Koalition, die 41 Jahre lang bis 1999 ununterbrochen die Regierungsmehrheit stellte, käme nur auf 74 Sitze. Einen Sitz mehr hätte die aktuelle „violette“ Koalition aus Liberalen und Sozialisten. Einige Beobachter setzten auch auf eine gewagte Kombination von Liberalen, Sozialisten und Grünen mit 87 Sitzen, die sich jedoch in der Vergangenheit nicht bewährt hatte. Außerdem würde hier der Wählerentscheid vollends außer Acht gelassen. Leterme wird daher ggf. auch neue Prioritäten setzen müssen: Will er „nur“ regieren oder will er unbedingt seine Staatsreform durchsetzen? Hier stellt sich auch die Frage, wie viel Staatsreform notwendig ist, um den nationalistischen Kartellpartner N-VA zu behalten? Für eine Zwei-Drittel-Mehrheit käme vielleicht auch die Liste Dedecker in Frage? Doch alles hat einen Preis. Die Vorsitzenden der stärksten Parteien der jeweiligen Landesteile, d.h. CD&V für Flandern und MR für Wallonien, wurden am Vormittag des 12. Juni zu ersten Gesprächen im Königspalast erwartet. In den nächsten Tagen wird Albert II offiziell einen sog. Informator benennen, der die ersten Konsultierungen vornimmt und Verhandlungen führt. Hierbei handelt es sich in der Regel um einen erfahrenen Politiker. Von der CD&V wurde bereits AltPremier Jean-Luc Dehaene ins Gespräch gebracht. Auf der Grundlage des Berichts des Informators wird durch den König ein Regierungsbildner beauftragt. Dieser hat die Aufgabe, ein Regierungsabkommen auszuarbeiten, das die wichtigsten Ziele und Objektive der künftigen Regierung enthält. Er leitet auch die Verhandlungen um die Besetzung von Minister- und Staatssekretärsposten. Dies dürfte jedoch noch in weiter Ferne liegen. Wie bei jeder Wahl gibt es auch diesmal Gewinner und Verlierer, aber - auch wenn der Wähler immer Recht hat - hätte er die Karten nicht schlechter verteilen können. Die Zeichen 6 stehen auf Kollision: In Flandern haben sich rund 80% der Bürger für Mitte-Rechts Parteien entschieden - in Wallonien rund 60% für Mitte-Links. Ein Beispiel ist die geplante Staatsreform, bei der die flämischen Wahlsieger unbedingt weitere Zuständigkeitsbereiche für die Regionen fordern, während die französischsprachigen Parteien allesamt eher mit beiden Füssen auf der Bremse stehen. Selbst der kleinste gemeinsame Nenner liegt in weiter Ferne. Würden die Parteien Bereitschaft zeigen, einen Teil ihrer Parteiprogramme zu verleugnen, so wäre ein Kompromiss „à la Belge“ möglich. Verharren die potentiellen Partner jedoch auf ihren Positionen, wird guter Rat teuer sein. Brüssel, den 12. Juni 2007 Angela Ostlender, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Europapolitischen Dialog 7