ESSEN Sarah Weibel (l.), Florian Sprenger (M.) und Seraina Fritzsche (r.) hatten die Idee mit dem Gratis-Kühlschrank. Jedermann kann sich mit Gemüse, Salat oder Brot bedienen. In den Kühlschrank STATT IN DEN ABFALL Oft landen gute Esswaren im Müll. Die Mitglieder des Vereins RESTESSBAR sammeln noch geniessbare Lebensmittel und stellen sie Menschen gratis zur Verfügung – ein Einsatz, der Sinn macht. Text Leandra Graf Fotos Stephan Rappo G eduldig stehen einige Stammkunden in der Warteschlange. Es ist 9.30 Uhr, und die beiden Kühlschränke, die etwas versteckt in einem Hinterhof der Winterthurer Altstadt stehen, werden an diesem Morgen mit Verspätung aufgefüllt. Ein Kühlschrank lässt sich nicht öffnen: «Da hat wohl jemand am Schloss herumgemurkst», sagt Sarah Weibel, während sie sich mit viel Fingerspitzengefühl daran macht, das Schloss zu knacken und die Codezahlen wieder richtig einzustellen. Die 29-jährige Studentin der Geschichte und Religionswissenschaften ist Vorstandsmitglied und eine von rund 30 freiwilligen Helferinnen und Helfern des Winterthurer Vereins RestEssBar, der die übrig gebliebenen Lebensmittel vom Vortag bei vier Detailhändlern täglich abholt und der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung stellt. Die frische Ausbeute von monatlich rund 70 Abholtouren mit dem Veloanhänger füllt jeweils gut zwei Kühlschränke und ist in der Regel innert ein, 52 Schweizer Familie 18/2015 zwei Stunden weg. Über die Internetseite www.restessbar.ch können sich Interessierte den Code der Kühlschrankschlösser schicken lassen, um sich mit Obst, Gemüse und Brot zu bedienen. Mit Freunden, die selber nicht in Saus und Braus leben, darunter Seraina Fritz- Zwei Millionen Tonnen Lebensmittel­ werfen Schweizer jährlich weg. sche (30, IV-Rentnerin) und Florian Sprenger (32, selbständiger Informatiker und Spielplatzbauer), gründete sie den Verein vor etwas mehr als einem Jahr. Auslöser war einerseits die schockierende Zahl von über zwei Millionen Tonnen produzierter Lebensmittel, die in der Schweiz gemäss Foodwaste.ch (siehe auch Seite 54) jährlich weggeworfen werden, andererseits ein Film über den Deutschen Raphael Fellmer, der mit seiner Familie ein konsequentes Leben als Konsumverweigerer und Nutzer des Überflusses der Gesellschaft führt. «Per SMS luden wir Bekannte zum Nachtessen ein, um darüber nachzudenken, was wir zu einer Verringerung dieses Abfallbergs beitragen könnten», erzählt Sarah Weibel. So kamen sie auf die Idee mit dem Gratis-Kühlschrank, die überraschend rasch Wirkung zeigte. Die nahe Bäckerei Riboli und der Bio-Laden L’Ultimo Bacio waren sofort dabei, etwas später kamen zwei Filialen eines ungenannt sein wollenden Grossverteilers dazu. «Wir kamen auf die Welt», sagt Seraina Fritzsche, «das gibt alles viel mehr zu tun, als wir annahmen.» Sie gingen von zwei Abholtouren pro Woche aus, nun sind es zwanzig. Zudem müssen die Internetseiten bewirtschaftet, die Freiwilligen koordiniert werden. Auf der Website ist ein Spendenkonto vermerkt, denn die Gruppe ist ohne finan­ ➳ Schweizer Familie 18/2015 53 ESSEN ESSEN Franz Jenni versorgt alleinerziehende Mütter aus der Nachbarschaft. 1 aussortierte, unförmige Früchte Wo Essen verloren geht Vom Feld auf den Teller: Die sechs Stationen, wo Lebensmittel auf der Strecke bleiben. 2 Überproduktion Transportverluste Den Code für das Schloss gibt es über das Internet (o.). Seraina Fritzsche kontrolliert Nüsslisalat. 3 zu grosse Portionen 4 In der Schweiz wird ein Drittel aller produzierten Lebens­ mittel verschwendet. Im Jahr sind das rund 2 Millionen Tonnen. Gemäss den Berech­ nungen des Vereins Foodwaste in Bern findet die ganze Menge Platz in 140 000 Lastwagen. Aneinandergereiht ergibt das eine Kette von Zürich bis ­Madrid. Fast die Hälfte der ver­ schwendeten Lebensmittel (45 Prozent) geht aufs Konto der Privathaushalte, pro Per­ son und Tag 320 Gramm. Das entspricht fast einer ganzen Mahlzeit. An folgenden Orten gehen Lebensmittel verloren: 1 In der Landwirtschaft: Obst und Gemüse, das nicht der Norm entspricht und beim Er­ zeuger aussortiert wird oder durch unverschuldete Ernte­ verluste (13 Prozent Verluste). 2 In der Verarbeitungsindustrie: Überproduktion (30 Prozent Verluste). der letzte Schluck in der Flasche abgelaufene Produkte FAKTEN ZUM VERLUST VON LEBENSMITTELN Als Food Waste werden Le­ bensmittel bezeichnet, die für den Konsum produziert wur­ den und auf dem Weg vom Feld zum Teller verloren gehen oder weggeworfen werden. Tellerreste 5 3 Im Grosshandel: Produkte, 3) die auf dem Weg zum Verbrau­ cher durch zu lange Transport­ wege oder falsche Lagerung verderben (2 Prozent Verluste). 4 In der Gastronomie: Es werden zu grosse Portionen serviert (5 Prozent Verluste). 5 Im Detailhandel: Abgelau­ fene Produkte (5 Prozent Verluste). 6 Im Haushalt: Planloser Ein­ kauf, zu viel gekocht, Resten nicht verwertet (45 Prozent Verluste). Ungeniessbare Rüstabfälle gelten nicht als Food Waste. Foodwaste.ch ist eine unab­ hängige Informationsplattform, gegründet 2012 in Bern. Die Vereinsmitglieder wollen durch verschiedene Aktivitäten helfen, den Abfallberg zu verringern. Sie engagieren sich aus Liebe zum Essen und weil sie der An­ sicht sind: «Wer weiss, woher sein Essen kommt und wie viel Einsatz und Liebe mit dessen Herstellung verbunden ist, trägt auch Sorge dazu.» Damit auch künftige Generationen Gele­ genheit haben, Lebensmittel wertzuschätzen. Auf ihrer Website publiziert Foodwaste die gesammelten Fakten und 6 einfache, doch wirksame Vorschläge zur individuellen Verbesserung der «Haushaltsbilanz». Zum Beispiel: l Nicht mit leerem Magen einkaufen. l Einen Einkaufsplan erstellen. l Kleine Verpackungen oder un­ verpackte Lebensmittel kaufen. l Leicht verderbliche Artikel in kleinen Mengen, dafür öfter, frisch und saisonal einkaufen. l Richtig lagern (konkrete Tipps für verschiedene Lebensmittel). l Rezepte für die Verwertung von Resten oder altem Brot. l Wissen, was die unterschied­ lichen Formulierungen des Ablaufdatums von Lebensmit­ teln bedeuten: «Zu verbrauchen bis» zeigt an, nach welchem Datum ein kor­ rekt gelagertes Produkt ge­ sundheitsschädlich werden könnte. Gesetzlich vorge­ schriebenes Sicherheitsdatum bei leicht verderblichen, ge­ kühlt gelagerten Lebensmit­ teln wie Fisch, Hackfleisch, Produkten mit rohen Eiern. «Mindestens haltbar bis» ist eine Qualitätsgarantie des Herstellers. Es sagt aus, wie weggeworfene Essensreste lange ein Produkt bei korrekter Lagerung seine spezifischen Eigenschaften haben sollte (die Cremigkeit eines Joghurts etwa). Dieses Datum ist meist grosszügig gewählt, die Pro­ dukte in der Regel länger halt­ bar. Da sollte man auf seine eigenen Sinne vertrauen. So­ lange Geruch, Geschmack und Optik stimmen, ist das Produkt durchaus geniessbar. «Zu verkaufen bis»: Dieses Da­ tum wird im Detailhandel auf leicht verderblichen Produkten angebracht, um diese bei Be­ darf rechtzeitig aussortieren und allenfalls zu herabgesetz­ tem Preis verkaufen zu können. Aktionen von Foodwaste: Beispielsweise kommen ein­ mal im Jahr am Food-WasteForum Expertinnen und Exper­ ten aus Wirtschaft, Forschung, Politik und Zivilgesellschaft zusammen, um aktuelle Her­ ausforderungen unseres Er­ nährungssystems zu themati­ sieren. www.foodwaste.ch zielle Mittel gestartet. Kühlschränke und Veloanhänger fanden sie per Internetaufruf. «Wir versuchen möglichst wenig zu kaufen», sagt Florian Sprenger. Wichtig für die Initianten war ein erster Kontakt mit den Beamten der Lebensmittelkontrolle, die sie gut beraten und ihnen keine unnötigen Steine in den Weg gelegt haben. Die Gruppe haftet solidarisch für die Lebensmittelsicherheit. Daher müssen Reste von privaten Spendern abgelehnt werden. Und verderbliche Waren wie ren und zu kontrollieren. Heute sind sehr viele Erdbeeren dabei, da wird jede Box geöffnet und auf schimmlige Exemplare geprüft. Sarah Weibel schneidet das vertrocknete Kraut der Frühlingszwiebeln ab, das meist sowieso nicht gebraucht würde: «Der Rest ist noch völlig in Ordnung.» Ihre Freundin Seraina öffnet Zellophanver­ packungen von Rucola, Spinat und Nüssli­ salat, riecht daran und bettet das Blatt­ ➳ ANZEIGE Ein Drittel aller Lebensmittel geht verloren. Das entspricht der Ladung von 140 000 Lastwagen. Fleisch und Milchprodukte kommen nicht ins Sortiment, da durch Transport und ständiges Öffnen der Kühlschränke eine lückenlose Kühlkette nicht gewährleistet ist. Sie hätten gerne Fleisch angeboten, sagt Florian Sprenger. «Doch wir sind froh, dass unser Projekt so gut läuft, und machen, was möglich ist. » Und das ist viel: Die freiwilligen Helferinnen und Helfer, die sich übers Internet anmelden, sind bei jedem Wetter unterwegs, um die Waren bei den Spendern abzuholen. Es gilt, die Kühlschränke täglich zu reinigen, die frischen Lebensmittel vor dem Einfüllen zu sortie- ZURÜCK ZU EINER SCHMERZFREIEN BEWEGUNG. Mit medizinischer Kompetenz, modernsten Therapie­ formen, familiärer Betreuung, erstklassiger Hotellerie und der einzigartigen Lage am See unterstützen wir Ihr Ziel: Zurück zur Gesundheit. www.klinik­schloss­mammern.ch 54 Schweizer Familie 18/2015 Illustration: foodwaste.ch ESSEN Franco Oberholzer ist auf Stellensuche und froh über das Angebot. Die Zwiebeln werden vor der Weitergabe gerüstet. Studentin Esther bedient sich oft im Kühlschrank (u.). gemüse in offene Kistchen um. Gewisse Rüstabfälle eignen sich als Futter für kleine Nagetiere, diese Abfälle landen in einer Extrabox, die auch fleissig geleert wird. Es braucht Zeit, die beiden grossen ­Veloladungen dieses Morgens einzuräumen. Weisse Spargeln aus Griechenland sind dabei. «Die sind sehr begehrt», weiss Sarah. Auch Gemüse, das nicht unbedingt Saison hat, wie etwa Tomaten oder Peperoni. «Mir persönlich wäre es auch lieber, ausschliesslich Bio-Gemüse aus der Umgebung anzubieten. Doch wir nehmen gerne, was wir bekommen», sagt Florian Sprenger pragmatisch. Selten bleibt etwas liegen, vielleicht mal ein eher unbekanntes Gemüse wie Pastinaken. Dass viele Menschen dieses Angebot nötig haben und nutzen, demonstriert die mittlerweile weiter angewachsene Warteschlange. Offensichtlich hat sich rasch herumgesprochen, dass die Kühlschränke Anfang April vom Hinterhof am Obertor an die Obergasse 23 umgezogen sind. Der frühere, etwas knapp bemessene Standort ist dem Verein von Hassan Kandil überlassen worden, über dessen türkischen Gemüseund Sandwichladen auch der Strom lief. Den neuen, grösseren Platz stellt eine Anwohnerin zur Verfügung. 56 Schweizer Familie 18/2015 Es ist eine gemischte Kundschaft, die sich regelmässig mit dem Gratis-Essen versorgt. Etwa die tamilische Hausfrau, die zweimal pro Woche Obst und Gemüse für ihre fünfköpfige Familie holt. Sie lebt seit 14 Jahren in der Schweiz, spricht sehr gut Deutsch und will künftig als Helferin bei der RestEssBar mitmachen. Auch der Jeder von uns verschwendet allein im Haushalt durchschnittlich 320 Gramm Lebensmittel pro Tag. 75-jährige Franz Jenni, der des Lobes voll ist und zwei grosse Taschen mit allerlei frischen Waren füllt: «Das ist nicht nur für mich, sondern auch für meine halbe Nachbarschaft, bestehend aus alleinerziehenden Müttern, die keine Zeit haben, selber vorbeizukommen.» Studentin Esther fährt zweimal wöchentlich mit dem Velo vor und freut sich an diesem Morgen besonders über die Topfkräuter. Mit den eingepackten Lebensmitteln versorgt sie auch ihren im Studium befindlichen Freund. Sie sagt dasselbe wie alle andern hier: «Wir sind sehr froh um den Zustupf.» Es ist ein niederschwelliges Angebot, das allen Menschen offensteht. Niemand muss beweisen, dass er in Not ist, oder einen Antrag stellen. «Das ist das Schöne daran», freut sich Seraina Fritzsche mit ihren Freunden. Sie haben eines ihrer ­Ziele erreicht: das Bewusstsein zu schaffen, dass alle etwas tun können gegen die Verschwendung von Lebensmitteln. Die Winterthurer fanden Gefallen an der sinnvollen Aktion, der städtische Wett­ bewerb «Klima-Landsgemeinde» sprach dem Verein den mit 5000 Franken dotierten 1. Preis zu. Damit können die mit dem Projekt gewachsenen Unterhaltskosten gedeckt werden. Und das gute Beispiel macht Schule: Inzwischen sind RestEssBars in ­St. Gallen, Schaffhausen, Kreuzlingen und Frauenfeld sowie die Luzerner Gruppe «Food Save» gegründet worden. ● Informationen zum Verein Standorte, Zugangcode, Spenden oder Hilfe über www.restessbar.ch