April 2015, Schweizer Familie

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ESSEN
Sarah Weibel
(l.), Florian
Sprenger (M.)
und Seraina
Fritzsche (r.)
hatten die Idee
mit dem
Gratis-Kühlschrank.
Jedermann
kann sich
mit Gemüse,
Salat oder Brot
bedienen.
In den Kühlschrank
STATT IN DEN ABFALL
Oft landen gute Esswaren im Müll. Die Mitglieder des Vereins
RESTESSBAR sammeln noch geniessbare Lebensmittel und stellen sie
Menschen gratis zur Verfügung – ein Einsatz, der Sinn macht.
Text Leandra Graf Fotos Stephan Rappo
G
eduldig stehen einige Stammkunden in der Warteschlange. Es ist
9.30 Uhr, und die beiden Kühlschränke, die etwas versteckt in einem
Hinterhof der Winterthurer Altstadt stehen, werden an diesem Morgen mit Verspätung aufgefüllt. Ein Kühlschrank lässt
sich nicht öffnen: «Da hat wohl jemand
am Schloss herumgemurkst», sagt Sarah
Weibel, während sie sich mit viel Fingerspitzengefühl daran macht, das Schloss zu
knacken und die Codezahlen wieder richtig einzustellen.
Die 29-jährige Studentin der Geschichte und Religionswissenschaften ist
Vorstandsmitglied und eine von rund
30 freiwilligen Helferinnen und Helfern
des Winterthurer Vereins RestEssBar, der
die übrig gebliebenen Lebensmittel vom
Vortag bei vier Detailhändlern täglich abholt und der Allgemeinheit kostenlos zur
Verfügung stellt. Die frische Ausbeute von
monatlich rund 70 Abholtouren mit dem
Veloanhänger füllt jeweils gut zwei Kühlschränke und ist in der Regel innert ein,
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Schweizer Familie 18/2015
zwei Stunden weg. Über die Internetseite
www.restessbar.ch können sich Interessierte den Code der Kühlschrankschlösser
schicken lassen, um sich mit Obst, Gemüse und Brot zu bedienen.
Mit Freunden, die selber nicht in Saus
und Braus leben, darunter Seraina Fritz-
Zwei Millionen
Tonnen Lebensmittel­
werfen Schweizer
jährlich weg.
sche (30, IV-Rentnerin) und Florian
Sprenger (32, selbständiger Informatiker
und Spielplatzbauer), gründete sie den
Verein vor etwas mehr als einem Jahr.
Auslöser war einerseits die schockierende
Zahl von über zwei Millionen Tonnen
produzierter Lebensmittel, die in der
Schweiz gemäss Foodwaste.ch (siehe auch
Seite 54) jährlich weggeworfen werden,
andererseits ein Film über den Deutschen
Raphael Fellmer, der mit seiner Familie
ein konsequentes Leben als Konsumverweigerer und Nutzer des Überflusses der
Gesellschaft führt. «Per SMS luden wir
Bekannte zum Nachtessen ein, um darüber nachzudenken, was wir zu einer Verringerung dieses Abfallbergs beitragen
könnten», erzählt Sarah Weibel.
So kamen sie auf die Idee mit dem Gratis-Kühlschrank, die überraschend rasch
Wirkung zeigte. Die nahe Bäckerei Riboli
und der Bio-Laden L’Ultimo Bacio waren
sofort dabei, etwas später kamen zwei Filialen eines ungenannt sein wollenden
Grossverteilers dazu. «Wir kamen auf die
Welt», sagt Seraina Fritzsche, «das gibt alles viel mehr zu tun, als wir annahmen.»
Sie gingen von zwei Abholtouren pro Woche aus, nun sind es zwanzig. Zudem
müssen die Internetseiten bewirtschaftet,
die Freiwilligen koordiniert werden. Auf
der Website ist ein Spendenkonto vermerkt, denn die Gruppe ist ohne finan­ ➳
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ESSEN
ESSEN
Franz Jenni
versorgt alleinerziehende
Mütter aus der
Nachbarschaft.
1
aussortierte,
unförmige Früchte
Wo Essen
verloren geht
Vom Feld auf den Teller:
Die sechs Stationen,
wo Lebensmittel auf der
Strecke bleiben.
2
Überproduktion
Transportverluste
Den Code für das
Schloss gibt es
über das Internet
(o.). Seraina
Fritzsche kontrolliert Nüsslisalat.
3
zu grosse
Portionen
4
In der Schweiz wird ein Drittel
aller produzierten Lebens­
mittel verschwendet. Im Jahr
sind das rund 2 Millionen
Tonnen. Gemäss den Berech­
nungen des Vereins Foodwaste
in Bern findet die ganze Menge
Platz in 140 000 Lastwagen.
Aneinandergereiht ergibt das
eine Kette von Zürich bis
­Madrid. Fast die Hälfte der ver­
schwendeten Lebensmittel
(45 Prozent) geht aufs Konto
der Privathaushalte, pro Per­
son und Tag 320 Gramm. Das
entspricht fast einer ganzen
Mahlzeit.
An folgenden Orten gehen
Lebensmittel verloren:
1 In der Landwirtschaft: Obst
und Gemüse, das nicht der
Norm entspricht und beim Er­
zeuger aussortiert wird oder
durch unverschuldete Ernte­
verluste (13 Prozent Verluste).
2 In der Verarbeitungsindustrie: Überproduktion
(30 Prozent Verluste).
der letzte
Schluck in
der Flasche
abgelaufene
Produkte
FAKTEN ZUM VERLUST VON LEBENSMITTELN
Als Food Waste werden Le­
bensmittel bezeichnet, die für
den Konsum produziert wur­
den und auf dem Weg vom Feld
zum Teller verloren gehen oder
weggeworfen werden.
Tellerreste
5
3 Im Grosshandel: Produkte,
3)
die auf dem Weg zum Verbrau­
cher durch zu lange Transport­
wege oder falsche Lagerung
verderben (2 Prozent Verluste).
4 In der Gastronomie: Es
werden zu grosse Portionen
serviert (5 Prozent Verluste).
5 Im Detailhandel: Abgelau­
fene Produkte (5 Prozent
Verluste).
6 Im Haushalt: Planloser Ein­
kauf, zu viel gekocht, Resten
nicht verwertet (45 Prozent
Verluste). Ungeniessbare
Rüstabfälle gelten nicht als
Food Waste.
Foodwaste.ch ist eine unab­
hängige Informationsplattform,
gegründet 2012 in Bern. Die
Vereinsmitglieder wollen durch
verschiedene Aktivitäten helfen,
den Abfallberg zu verringern.
Sie engagieren sich aus Liebe
zum Essen und weil sie der An­
sicht sind: «Wer weiss, woher
sein Essen kommt und wie viel
Einsatz und Liebe mit dessen
Herstellung verbunden ist, trägt
auch Sorge dazu.» Damit auch
künftige Generationen Gele­
genheit haben, Lebensmittel
wertzuschätzen. Auf ihrer
Website publiziert Foodwaste
die gesammelten Fakten und
6
einfache, doch wirksame
Vorschläge zur individuellen
Verbesserung der
«Haushaltsbilanz».
Zum Beispiel:
l Nicht mit leerem Magen
einkaufen.
l Einen Einkaufsplan erstellen.
l Kleine Verpackungen oder un­
verpackte Lebensmittel kaufen.
l Leicht verderbliche Artikel in
kleinen Mengen, dafür öfter,
frisch und saisonal einkaufen.
l Richtig lagern (konkrete
Tipps für verschiedene
Lebensmittel).
l Rezepte für die Verwertung
von Resten oder altem Brot.
l Wissen, was die unterschied­
lichen Formulierungen des
Ablaufdatums von Lebensmit­
teln bedeuten:
«Zu verbrauchen bis» zeigt an,
nach welchem Datum ein kor­
rekt gelagertes Produkt ge­
sundheitsschädlich werden
könnte. Gesetzlich vorge­
schriebenes Sicherheitsdatum
bei leicht verderblichen, ge­
kühlt gelagerten Lebensmit­
teln wie Fisch, Hackfleisch,
Produkten mit rohen Eiern.
«Mindestens haltbar bis» ist
eine Qualitätsgarantie des
Herstellers. Es sagt aus, wie
weggeworfene
Essensreste
lange ein Produkt bei korrekter
Lagerung seine spezifischen
Eigenschaften haben sollte
(die Cremigkeit eines Joghurts
etwa). Dieses Datum ist meist
grosszügig gewählt, die Pro­
dukte in der Regel länger halt­
bar. Da sollte man auf seine
eigenen Sinne vertrauen. So­
lange Geruch, Geschmack und
Optik stimmen, ist das Produkt
durchaus geniessbar.
«Zu verkaufen bis»: Dieses Da­
tum wird im Detailhandel auf
leicht verderblichen Produkten
angebracht, um diese bei Be­
darf rechtzeitig aussortieren
und allenfalls zu herabgesetz­
tem Preis verkaufen zu können.
Aktionen von Foodwaste:
Beispielsweise kommen ein­
mal im Jahr am Food-WasteForum Expertinnen und Exper­
ten aus Wirtschaft, Forschung,
Politik und Zivilgesellschaft
zusammen, um aktuelle Her­
ausforderungen unseres Er­
nährungssystems zu themati­
sieren. www.foodwaste.ch
zielle Mittel gestartet. Kühlschränke und
Veloanhänger fanden sie per Internetaufruf. «Wir versuchen möglichst wenig zu
kaufen», sagt Florian Sprenger.
Wichtig für die Initianten war ein erster
Kontakt mit den Beamten der Lebensmittelkontrolle, die sie gut beraten und ihnen
keine unnötigen Steine in den Weg gelegt
haben. Die Gruppe haftet solidarisch für
die Lebensmittelsicherheit. Daher müssen
Reste von privaten Spendern abgelehnt
werden. Und verderbliche Waren wie
ren und zu kontrollieren. Heute sind sehr
viele Erdbeeren dabei, da wird jede Box
geöffnet und auf schimmlige Exemplare
geprüft. Sarah Weibel schneidet das vertrocknete Kraut der Frühlingszwiebeln ab,
das meist sowieso nicht gebraucht würde:
«Der Rest ist noch völlig in Ordnung.» Ihre
Freundin Seraina öffnet Zellophanver­
packungen von Rucola, Spinat und Nüssli­
salat, riecht daran und bettet das Blatt­ ➳
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Ein Drittel aller
Lebensmittel geht
verloren. Das entspricht
der Ladung von
140 000 Lastwagen.
Fleisch und Milchprodukte kommen nicht
ins Sortiment, da durch Transport und
ständiges Öffnen der Kühlschränke eine
lückenlose Kühlkette nicht gewährleistet
ist. Sie hätten gerne Fleisch angeboten, sagt
Florian Sprenger. «Doch wir sind froh, dass
unser Projekt so gut läuft, und machen,
was möglich ist. » Und das ist viel: Die freiwilligen Helferinnen und Helfer, die sich
übers Internet anmelden, sind bei jedem
Wetter unterwegs, um die Waren bei den
Spendern abzuholen. Es gilt, die Kühlschränke täglich zu reinigen, die frischen
Lebensmittel vor dem Einfüllen zu sortie-
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Schweizer Familie 18/2015
Illustration: foodwaste.ch
ESSEN
Franco Oberholzer
ist auf Stellensuche
und froh über das
Angebot.
Die Zwiebeln
werden vor der
Weitergabe gerüstet.
Studentin Esther
bedient sich oft
im Kühlschrank (u.).
gemüse in offene Kistchen um. Gewisse
Rüstabfälle eignen sich als Futter für kleine
Nagetiere, diese Abfälle landen in einer
Extrabox, die auch fleissig geleert wird.
Es braucht Zeit, die beiden grossen
­Veloladungen dieses Morgens einzuräumen. Weisse Spargeln aus Griechenland
sind dabei. «Die sind sehr begehrt», weiss
Sarah. Auch Gemüse, das nicht unbedingt
Saison hat, wie etwa Tomaten oder Peperoni. «Mir persönlich wäre es auch lieber,
ausschliesslich Bio-Gemüse aus der Umgebung anzubieten. Doch wir nehmen
gerne, was wir bekommen», sagt Florian
Sprenger pragmatisch. Selten bleibt etwas
liegen, vielleicht mal ein eher unbekanntes Gemüse wie Pastinaken. Dass viele
Menschen dieses Angebot nötig haben
und nutzen, demonstriert die mittlerweile
weiter angewachsene Warteschlange. Offensichtlich hat sich rasch herumgesprochen, dass die Kühlschränke Anfang April
vom Hinterhof am Obertor an die Obergasse 23 umgezogen sind. Der frühere,
etwas knapp bemessene Standort ist dem
Verein von Hassan Kandil überlassen
worden, über dessen türkischen Gemüseund Sandwichladen auch der Strom lief.
Den neuen, grösseren Platz stellt eine Anwohnerin zur Verfügung.
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Schweizer Familie 18/2015
Es ist eine gemischte Kundschaft, die
sich regelmässig mit dem Gratis-Essen
versorgt. Etwa die tamilische Hausfrau,
die zweimal pro Woche Obst und Gemüse
für ihre fünfköpfige Familie holt. Sie lebt
seit 14 Jahren in der Schweiz, spricht sehr
gut Deutsch und will künftig als Helferin
bei der RestEssBar mitmachen. Auch der
Jeder von uns
verschwendet allein
im Haushalt
durchschnittlich
320 Gramm Lebensmittel pro Tag.
75-jährige Franz Jenni, der des Lobes voll
ist und zwei grosse Taschen mit allerlei
frischen Waren füllt: «Das ist nicht nur für
mich, sondern auch für meine halbe Nachbarschaft, bestehend aus alleinerziehenden Müttern, die keine Zeit haben, selber
vorbeizukommen.» Studentin Esther fährt
zweimal wöchentlich mit dem Velo vor
und freut sich an diesem Morgen besonders über die Topfkräuter. Mit den eingepackten Lebensmitteln versorgt sie auch
ihren im Studium befindlichen Freund.
Sie sagt dasselbe wie alle andern hier:
«Wir sind sehr froh um den Zustupf.»
Es ist ein niederschwelliges Angebot,
das allen Menschen offensteht. Niemand
muss beweisen, dass er in Not ist, oder
einen Antrag stellen. «Das ist das Schöne
daran», freut sich Seraina Fritzsche mit
ihren Freunden. Sie haben eines ihrer
­Ziele erreicht: das Bewusstsein zu schaffen, dass alle etwas tun können gegen die
Verschwendung von Lebensmitteln. Die
Winterthurer fanden Gefallen an der
sinnvollen Aktion, der städtische Wett­
bewerb «Klima-Landsgemeinde» sprach
dem Verein den mit 5000 Franken dotierten 1. Preis zu. Damit können die mit dem
Projekt gewachsenen Unterhaltskosten gedeckt werden. Und das gute Beispiel macht
Schule: Inzwischen sind RestEssBars in
­St. Gallen, Schaffhausen, Kreuzlingen und
Frauenfeld sowie die Luzerner Gruppe
«Food Save» gegründet worden.
●
Informationen zum Verein
Standorte, Zugangcode, Spenden oder Hilfe
über www.restessbar.ch
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